Erlebnisweisen depressiver Menschen


Hausarbeit, 2000

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Depression
2.1 Begriffsdefinition
2.2 Historische Begriffsentwicklung
2.3 Endogene Depression
2.4 Somatogene Depression
2.4.3 Genetische Ursachen
2.4.2 Neurochemische Ursachen
2.4.3 Neuroendokrine Ursachen
2.5 Psychogene Depression

3 Erlebnisweisen depressiver Menschen
3.1 Psychisches Erleben depressiver Menschen
3.1.1 Die Angst
3.1.2 Die Schuldgefühle
3.1.3 Das Zeiterleben
3.1.4 Innere Leere und Aggression
3.1.5 Denkhemmung und Grübelzwang
3.2 Das soziale Erleben
3.2.1 Interpersonaler Aspekt
3.2.2 Interaktionaler Aspekt
3.3 Das physische Erleben

4. Depression eine Wohlstandskrankheit

5. Schluß

6. Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In dieser Hausarbeit mit dem Thema „Erlebnisweisen depressiver Menschen“ werde ich zunächst den Begriff Depression erklären. Nachfolgend werde ich eine kurze historische Herleitung des Begriffes vornehmen. Daran anschließend werde ich, zum besseren Verständnis der Krankheit, eine nosologische Kategorisierung der Depression angehen. Beginnend mit der endogenen, fortfahrend mit der somatogenen Depression, werde ich versuchen die verschiedenen Aspekte, der psychogenen Depression darzustellen. Darauf folgend und überleitend in den Hauptteil, werde ich die psychischen, sozialen, hierbei insbesondere den kommunikativen Aspekt berücksichtigend, und die physischen Erlebnisweisen depressiver Menschen darstellen. Abschließend werde ich in einem kurzem Exkurs versuchen, mich der Frage anzunähern ob die Depression eine Wohlstandskrankheit ist.

Wenn es an diesem Fachbereich noch notwendig ist, darauf hinzuweisen, daß die männliche Formulierung, der besseren Lesbarkeit halber, auch der weiblichen Form entspricht, so ist dies hiermit geschehen.

2 Depression

2.1 Begriffsdefinition

Laut Duden stammt der Begriff der Depression aus dem lateinischen und bedeutet übersetzt ins deutsche soviel wie Niedergeschlagenheit, traurige Stimmung (vgl. Duden 1990, S.174). Die Depression beschreibt also einen emotionalen Zustand, „der durch große Traurigkeit, Besorgtheit, Gefühle der Wertlosigkeit und der Schuld, sozialem Rückzug, Schlafstörungen, Appetitmangel, sexuelles Desinteresse und entweder Lethargie oder Agitiertheit gekennzeichnet ist.“ (Davison/Neale 1996, S.761). In der DSM (Diagnostic and Statistic Manual) -IV -Klasifikation, dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, wird diese Störung als Major Depression, oder auch als Unipolare Depression, bezeichnet. Die Depression kann aber auch ein Symptom einer anderen psychischen Erkrankung sein. „Eine Hauptschwierigkeit beim Begriff >Depression< liegt darin, daß er sowohl als Konstrukt, wie auch als Bezeichnung spezifischer Verhaltensereignisse verwendet wird.“ (Davidson nach Benesch 1995, S.143), wodurch die Schwierigkeit einer eindeutigen Klassifikation der Krankheit bzw. ihrer verschiedenen Ausprägungen deutlich wird.

2.2 Historische Begriffsentwicklung

Bereits vor dreitausend Jahren, so ist es überliefert, behandelten ägyptische Priester eine Krankheit, deren Beschreibung auf die Depression zutrifft. Es wird der Zustand von Menschen beschrieben welche nach einem Verlustereignis in eine niedergeschlagene Stimmung verfallen „die lange anhalten und in Phasen immer wieder auftreten kann.“ (Nuber 1992, S.11). Im 8. Jahrhundert v. Chr. beschreibt Homer die Not eines depressiven Menschen in der „Ilias“ (vgl. Hell 1992, S. 25). In der Bibel lesen wir im 1. Buch Samuel die Geschichte vom ersten König der Juden Saul, dessen Schwermütigkeit bis hin zum erweiterten Suizid führt (vgl. Die Bibel 1982, S.240-270). In den Hippokratischen Schriften beschreibt Hippokrates depressive Symptome und sieht die Ursache in der Melancholie, der Begriff stammt aus dem griechischen, was so viel bedeutet wie „schwarz Galle“. Mit jener Schwarzgalligkeit wird dem Leiden ein Theorem gegeben und die Krankheit erstmalig benannt. Im Mittelalter nannte man diesen Zustand dann „Acedia“, was übersetzt Trägheit bedeutete (vgl. Hell 1992, S.26). Die mannigfaltigen Überlieferungen von negativen Gemütszuständen lassen also auf eine lange Geschichte der Depression, der Depressivität bzw. der Melancholie als Unter- bzw. Urform schließen.

Im folgenden werde ich versuchen die Depressionszustände nosologisch zu kategorisieren und ihre Ursachen und Konsequenzen darzustellen.

2.3 Endogene Depression

Endogene Depressionen entstehen im Inneren des Körpers, sind also nicht durch äußerliche Einflüsse ausgelöst oder beeinflußbar. Diese Depressionsform bedarf also keines erkennbaren Auslösers. Man unterscheidet zwischen Unipolarer, also einer „aus mehreren depressiven Phasen oder auch nur aus einer einzigen Krankheitsphase“ (Stange 1999, S.184) bestehenden Krankheitszeit, und bipolarer Depression, d.h. daß es hierbei zwei Pole gibt und sich „depressive und manische Krankheits- zeiten“ (Stange 1999, S.177) abwechseln, welche eine „Unterform der affektiven Störung“ (Hell 1992, S.41) darstellen. Nach DSM-IV und ICD-10, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene diagnostische Grundlage für die Einschätzung von Depressionen, deuten folgende Merkmale auf das Vorhandensein einer Unipolaren oder Major Depression, zumindest aber drei der folgenden neun Symptome, neben depressiver Stimmung oder dem Verlust an Freude, hin: „

1. Traurige, niedergeschlagene Stimmung.
2. Appetit- und Gewichtsverlust oder gesteigerter Appetit und Gewichtszunahme.
3. Schlaflosigkeit; Einschlafschwierigkeiten; nächtliches Aufwachen und anschließende Schlaflosigkeit; frühes morgendliches Erwachen; bei manchen depressiven Patienten auch das Bedürfnis, den größten Teil des Tages zu verschlafen.
4. Veränderung des Aktivitätsniveaus in Richtung auf Lethargie (psychomotorische Hemmung) oder Agitiertheit.
5. Verlust von Interesse und Vergnügen an gewohnten Aktivitäten.
6. Antriebsverlust, große Müdigkeit.
7. Negatives Selbstkonzept; Selbstvorwürfe und Selbsttadel; Gefühle der Wertlosigkeit und Schuld.
8. Klagen über oder Anhaltspunkte für Konzentrationsschwierigkeiten wie verlangsamtes Denken und Unentschlossenheit.
9. Wiederkehrende Todes- Suizidgedanken.“(Davison/Neale 1996, S.254). Die major Depression ist die am häufigsten auftretende Variante der Depression, respektive die am häufigsten Diagnostizierte. Allerdings ist hierzu anzumerken, daß „noch vor wenigen Jahrzehnten keine Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Formen der affektiven Störungen vorgenommen“ (Davison/Neale 1996, S.254) wurde, was dazu führen könnte, daß Ärzte noch immer der Einfachheit halber eine Major Depression diagnostizieren. Durch die Differenzierung von affektiven Depressionsformen findet nun auch die larvierte, also maskierte Depression eine stärkere Beachtung als Krankheitsform. „...die >bipolaren< oder zyklischen Formen wurden stärker herausgehoben“ (Benesch 1995, S.148) und haben dadurch höhere Behandlungschancen. Eine bipolare Depression liegt vor wenn aufgrund gehobener bzw. gereizter Stimmung und manischen Phasen, weitere drei, respektive vier, der folgenden Merkmale, in ausreichender Maße, die zu einer Beeinträchtigung der sozialen Funktion des Erkrankten führen, diagnostiziert werden können: „

1. Erhöhung des Aktivitätsniveaus - bei der Arbeit, in sozialer oder sexueller Hinsicht.
2. Ungewöhnliche Geschwätzigkeit, schnelle Rede.
3. Ideenflucht oder der subjektive Eindruck, daß die Gedanken rasen.
4. Es wird weniger als die übliche Zeit an Schlaf benötigt.
5. Übertriebenes Selbstwertgefühl; die Überzeugung, über besondere Talente, Macht und Fähigkeiten zu verfügen.
6. Ablenkbarkeit; die Aufmerksamkeit gleitet leicht ab.
7. Übermäßige Beteiligung an Aktivitäten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit negative Auswirkungen haben, z.B. unbedachte Ausgaben.“ (Davison/Neale 1996, S.255).

Eine weitere Form der endogenen Depression stellt die Spät- oder Altersdepression dar, diese hat im Gegensatz zu Depressionen in der ersten Lebenshälfte eine Besonderheit. „Viele Inhalte des depressiven Erlebens entsprechen der Wirklichkeit, seien es nun Vitalstörungen oder die Erkrankungsangst, das verminderte Denkvermögen oder die Schlafstörung“ (Haase zit. n. Benesch 1995, S.146). Wobei es sich hierbei allerdings um real mögliche Ängste handelt und der Betroffene sozusagen am Erlebten erkrankt. Der Begriff endogen bringt laut Stange allerdings auch zum Ausdruck, „daß man noch nichts Genaues über die Entstehung bzw. Ursache weiß“ (Stange 1999, S.178).

2.4 Somatogene Depression

Somatogene Depressionen sind körperlich bedingte bzw. verursachte Formen der Depression. Da die Psyche nicht unabhängig von der Physis betrachtet werden kann, ist davon auszugehen, daß Formen der Depression, insbesondere Bipolare, biologische Ursachen haben können. Im folgenden werde ich die Ursachen, der Einstufung von Davison/Neale folgend, zwischen drei Möglichkeiten, den genetischen, mitunter auch den endogenen zugerechneten, den neurochemischen und denen des neuroendokrinen Systems, unterscheiden.

2.4.1 Genetische Ursachen

Untersuchungen in der Zwillingsforschung lassen Rückschlüsse darauf zu, daß affektive Störungen vererbbar sind. Bei bipolar depressiv Verwandten ersten Grades wird das Risiko zu erkranken auf 10 bis 20% (Hays zit. n. Davison/Neale 1996, S. 269) geschätzt. James und Chapman fanden heraus, daß „die Konkordanzrate für die bipolare Störung bei eineiigen Zwillingen 72%“ (Davison/Neale 1996, S.270) beträgt. Egeland’s nicht replizierte Untersuchungen nach der Ursache ergaben, daß es sich hierbei um ein dominantes Gen des elften Chromosoms handeln könnte (ebd.) Allerdings bleibt bis zur endgültigen Klärung der Vererbbarkeit von bipolaren, respektive affektiven Störungen, die endgültige Auswertung des menschlichen Genoms abzuwarten.

2.4.2 Neurochemische Ursachen

Im wesentlichen geht der neurochemische Ansatz von zwei Theorien aus, zum einen von der Noradreanlin-Theorie und zum anderen von der Serotonin-Theorie. Diese beiden Botenstoffe bilden zusammen mit dem Noradreanlinen Antagonisten, dem Adrenalin, eine wichtige Grundlage für die neurochemische Funktion des menschlichen Körpers. Die Noradrenalin-Theorie geht davon aus, „daß ein niedriger Noradrenalin-spiegel zu einer Depression führt und ein hoher zur Manie“ (Davison/Neale 1996, S.270), die Serotonin-Theorie ist der Ansicht, „daß ein niedriges Niveau an Serontonin,(...) die neurale Aktivität in anderen neurochemischen Systemen, (...) starke Veränderungen in der Aktivität der anderer Neurotransmitter zuläßt, und daher sowohl Manie als auch Depression verursacht.“ (Davison/Neale 1996 S.270). Beide Theorien bildeten den Grundstock für die medikamentöse Depressionsbehandlung. Auch in diesem Fall entwickelt sich der Stand der Forschung menschlicher Rezeptorenforschung ständig weiter und wird über kurz oder lang neue Erkenntnisse neurochemischer Prozesse im menschlichen Körper liefern können.

2.4.3 Neuroendokrine Ursachen

Das Lymbische System, der Sitz der menschlichen Emotionen im Gehirn, steht unter direktem Einfluß der Trias Hypothalamus-Hypophyse- Nebennierenrinde. Es wird angenommen, daß der vom Hypothalamus regulierte Hormonhaushalt direkt auf die vegetativen Störungen, wie z.B. Schlafstörungen und Appetitverlust, von depressiv Erkrankten, einen nicht geringen Einfluß ausübt. Wie durch Untersuchungen nach dem bio- logischen Depressionstest DST (Dexamethason-Suppressions-Test), bei dem der Kortisolspiegel gemessen wird, herausgefunden wurde, ist „die Verbindung Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde bei Depression überaktiv.“ (Davison/Neale 1996, S.272). Bei depressiven Menschen ist der Gehalt des Hormons Kortisol stark erhöht, und sinkt nach Ende der Krankheitsphase wieder ab. Carroll und Polland gehen davon aus, daß es sich hierbei „um eine unspezifische Reaktion auf Streß handelt“ (Davison/Neale 1996, S.272). Hohe Kortisolspiegel können darüber hinaus Serotoninrezeptoren vermindern und dadurch die noradrenergenen Rezeptoren beeinflussen, was sich dann wiederum auf die Produktion von Schilddrüsenhormonen auswirken kann, was letztlich bei „Patienten eine Manie auslösen“ (Davison/Neale 1996, S.273) kann. Abschließend bleibt festzustellen, daß trotz aller Forschung in diesem Bereich die philosophische Frage von Ursache und Wirkung nicht vollends beantwortet werden kann. Es ist nicht mit Sicherheit festzustellen, welches Glied der kausalen Kette von Gründen und Ursachen in welcher Reihenfolge von Symptomen auftritt bzw. wie sie sich gegenseitig beeinflussen.

2.5 Psychogene Depression

Psychogene Depressionen sind seelisch verursachte oder bedingte Depressionen. Hierzu zählen die reaktiven Depressionen, wie z.B. die Umzugsdepression, die Postpartum-Depression, die Entlastungs- depression, die Entwurzelungsdepression oder auch die Erschöpfungs- depression (vgl. Benesch 1995, S.146ff), um nur einige zu nennen. Besonderes Merkmal dieser Depressionsformen ist es, daß ein konkretes Ereignis die Krankheit auslöst, also z.B. Verlust eines nahestehenden Menschen, des Arbeitsplatzes, der Wohnung etc., bzw. als übermächtig empfundener Streß oder stark nachlassender Streß usw. Auch neurotische Depressionsformen gehören zu dieser Gruppe ebenso wie die saisonale Depression.

3 Erlebnisweisen depressiver Menschen

In diesem Kapitel werde ich versuchen die Erlebnisweisen depressiver Menschen darzustellen, dazu werde ich drei Formen des Erlebens unterscheiden, das psychische, das soziale und physische Erleben während der Krankheit.

3.1 Psychisches Erleben depressiver Menschen

Das psychische Erleben ist während der Dauer der Krankheit stark verändert, im folgenden werde ich nach verschiedenen Formen des Erlebens von Depression Betroffener akzentuieren.

3.1.1 Die Angst

Das psychische Erleben und die Wahrnehmung des Selbst depressiver Menschen ist deutlich verändert. Jeder Depression immanent sind „...Befürchtungen (Phobien) oder Ängste bis hin zu Panikattacken ohne erkennbaren Grund.“ (Stange 1999, S.42). Das Auftreten von un- bestimmten Angstgefühlen, sozusagen irrationaler Angst, wenn man die Emotion Angst rational setzen würde, gegenüber bestimmten Angstgefühlen gesunder Menschen bei denen die Angst, wie etwa bei der Furcht objektgerichtet ist oder zumindest situativ begründbar zu sein scheint, ist je nach Beschaffenheit der einzelnen Personen ein haupt- sächliches Wesensmerkmal der Krankheit (vgl. Battegay 1991, S.133). Die Angst ist sozusagen das Leitsymptom der Krankheit schlechthin. So beschreibt beispielsweise der an einer Depression erkrankte niederländische Psychologieprofessor Kuiper in seinem Buch ‘Seelen- finsternis’ die Angst vor der Angst metaphorisch, die „Angst ist wie ein Ungeheuer, das sich in der Zimmerecke versteckt und Beine hat wie eine Heuschrecke.“ (Kuiper 1991, S.178). Auch der amerikanische Literatur- wissenschaftler und Soziologe Styron berichtet davon, daß ihn während seiner Erkrankung, nebst anderen Symptomen, vor allem ein Gefühl von „erstickender Angst“ (Styron 1991, S.18) gepeinigt hatte. Bei ihm wuchs sich die Angst in „erschreckende, sprunghafte Angstanfälle“ (ebd. S.46) aus. Goldmann-Posch schildert ebenfalls eindringlich, wie ihre Angst sich „...breitmacht in meinem Bauch, unerbittlich heraufkriecht durch den Magen, die Brust, den Hals bis in die Zungenspitze, (...). Und schließlich packt sie mit ihren hundert Armen alles, was sie erwischen kann, rast, wütet, pocht, schüttelt meinen Körper, der ihr ganz und gar verfallen ist.“ (Goldmann-Posch 1987, S.23). An anderer Stelle spricht sie vom „Bilderbuch der Angst“ (ebd. S.58) in welches sie schaue, wenn sie während der Nacht, von Angst getrieben, keinen Schlaf findet. Auf das Phänomen der Schlaflosigkeit werde ich weiter unten näher eingehen. Die Psychologin Woggon berichtet in ihrem Buch, in welchem sie Berichte depressiver Patienten veröffentlicht hat, von einer Patientin deren Angst- gefühle sich ins wahnhafte steigerten und die „in ständiger innerer Panik“ (Woggon 1998, S.112) nur mit Mühe ihren Lebens- und Arbeitsalltag bewältigen konnte. Vor allem wenn die Erkrankten mit sich alleine sind, wächst „...sich die Angst oft zu einem Zustand von Panik aus,...“ (Kuiper 1991, S.126).

3.1.2 Die Schuldgefühle

Viele Patienten erleben während der Zeit ihrer Erkrankung Schuldgefühle, welche zumeist dadurch entstehen, daß die Patienten frühere oder aktuelle Ereignisse überbewerten oder aber sich die Wahrnehmung so verändert, daß sie „schuldhaftes Verarbeiten des krankheitsbedingten Nichtkönnens oder Versagens; Versündigungsideen, teilweise sogar Selbstanschuldigungen ohne Grund.“ (Stange 1999, S.44) bei sich erleben, die sich bis hin zu Wahnideen steigern können, bei denen der „Zeiger der Schuld“ (Stange 1999, S.45) ausschließlich auf sie selbst gerichtet ist. So erinnert sich Kuiper bei der Fahrt zu seinem zweiten Klinikaufenthalt an seinen Onkel Dirk und seine Tante Nel, die vor Jahren in derselben Klinik verstarben, trotz mehrmaligem Bittens der beiden sie zu besuchen, tat er dies nicht. In seiner Einweisung in eben diese Klinik im niederländischen Bloemendaal sieht er nun, von schweren Schuldgefühlen heimgesucht, die gerechte Strafe Gottes für dieses Unterlassen (vgl. Kuiper 1991, S.143 & S.156). Ein weiteres Beispiel für die Schuldgefühle des Psychologen während seiner Krankheit waren jene, in denen er der festen Überzeugung war, seine Frau „Noortje nicht so behandelt zu haben, wie sie es verdient hätte.“ (Kuiper 1991, S.164), auch quälen ihn Selbstvorwürfe, seine Mitarbeiter nicht adäquat behandelt zu haben (Kuiper 1991, S.158). Ein weiteres Beispiel für Schuldgefühle während einer Depression führt die Professorin für Psychologie Woggon an, sie berichtet von einer schwerkranken Patientin, die seit dem frühen Kindergartenalter und mit steigendem Alter zunehmend „schwere Schuldgefühle und Versagensängste“ (Woggon 1998, S.25) im Verlauf ihrer Krankheitsphase entwickelt hat. Bei Styron entwickelt sich aus dem Gefühl des Selbsthasses oder dem Mangel an Selbstachtung das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit (vgl. Styron 1991, S.12), was schließlich zum Abbau des Selbstbewußtseins führt und schlußendlich die ideale Voraussetzung für Schuldgefühle darstellt. Das auftretende Schuldgefühle ganze Lebensbereiche depressiver Menschen, bis hin zur Sexualität beeinflussen, zeigt die folgende Aussage Kuipers während seines ersten Klinikaufenthaltes: „Für mich gab es keine Sexualität mehr, ich kannte sie nur noch in Form von Schuldgefühlen.“ (Kuiper 1991, S.108).

3.1.3 Das Zeiterleben

Während der Krankheit ist häufig das „Zeiterleben gehemmt und verlangsamt.“ (Hell 1994, S.52). Hell schildert in seinem Buch den Erlebnisbericht eines Patienten von von Gebsattel, dieser Patient hat ein Gefühl der Gehetztheit. Die Zeitrelationen werden völlig verwischt, die Zeit wird als etwas wertvolles an sich betrachtet, ohne das dabei die Zeit auch nur ansatzweise sinnvoll genutzt werden würde. Der Patient erlebt das sein als war, die Gegenwart als Vergangenheit, die Zeit „...gerinnt zu etwas Gewesenem, ja zu etwas Verwesendem.“ (Hell 1994, S.53). Die Zukunft scheint da ausgeschlossen, im Denken eines Erkrankten nicht vorkommend. In der Tat scheint es so zu sein, daß sich „fast alle depressiv Erkrankten hauptsächlich mit Zurückliegendem“ (Hell 1994, S.53) beschäftigen. Styron untermauert dies, indem er eine Phase seiner Erkrankung beschreibt „in der jegliches Gefühl von Hoffnung verschwunden ist und mit ihm auch jede Zukunftsperspektive“ (Styron 1991, S.57). Eine weitere Bestätigung dieser These des Zeiterlebens findet sich in Kuipers Erlebnisbericht, er erinnert sich während seiner Krankheit an die Zeit von vor dreißig, vierzig Jahren und ihm scheint es, als seien nur Stunden seitdem ins Land gezogen (vgl. Kuiper 1991, S.154). Den dazu konträren Aspekt des Nicht-vergehen-wollens der Zeit, schildert Kuiper indem er seine, nur durch die Angst unterbrochene, Langeweile folgendermaßen auf den Punkt bringt „Den Stillstand der Zeit habe ich als eines der quälendsten Symptome meiner Krankheit erfahren.“ (Kuiper 1991, S.168). Ein weiterer Aspekt des veränderten Zeiterlebens ist die Veränderung des Schlafmusters. So berichtet eine Patientin, ebenfalls Psychologin von Beruf, daß sie nach anfänglicher Schlaflosigkeit im Verlauf der Krankheit, wenn es die äußeren Umstände zuließen „12 bis 14 Stunden pro Tag“ (Woggon 1998, S.26) schlief. Auch Kuipers Schlafbedürfnis war zwischen seinen beiden Klinikaufenthalten stark erhöht, so beschreibt er wie er „bis Mittags zwölf Uhr im Bett“ (Kuipper 1991, S.125) liegen bleibt, oder sich regelrecht ins Bett flüchtet und am Abend froh ist ins Bett gehen zu können, was mit der, der Krankheit eigenen, Antriebslosigkeit zusammenhängt. Wie ein Schleier hängt die bleierne Wirklichkeit vor dem Erleben „... stehend, sprechend, gehend, und doch so tief im Schlaf.“ (Kuiper 1991, S.121) erklärt Kuiper sein verschobenes Zeiterleben und sieht die Zeit seiner Krankheit rückblickend von einem Schleier des Schlafes umhüllt. Der Verlauf der Depression wird von vielen Patienten, in Bezug auf das Schlafverhalten ähnlich zum Ausdruck gebracht. Phasen des Durchwachens zu Beginn der Krankheit, bis hin zu einem dazu völlig konträren, gesteigerten Schlafbedürfnis im weiteren Verlauf.

Schlafstörungen gehören ebenfalls zum veränderten Lebensrythmus, so berichtet eine Patientin von „einem Schlaf der aus Hunderten von Stücken zu bestehen schien.“ (Goldmann-Posch 1987, S.19).

3.1.4 Innere Leere und Aggression

Die Innere Leere, das „Absterben aller Gefühle“, das „Gefühl der Gefühllosigkeit“ (Stange 1999, S.43) prägt das psychische Erleben während einer Depression. Die Erkrankten sind nicht mehr in der Lage Gefühle zu empfinden. Die Depression erweist sich „in ihrer tiefsten Tiefe als das genaue Gegenteil von lebendiger Trauer, Wut, oder Tragik. Sie ist Gefühllosigkeit, Nicht-traurig-sein-können, existentielle Leere.“ (Hell 1994, S.59). Es ist ein Teufelskreis den ein Patient da erlebt, er „ist in sich selbst gefangen, eingeschlossen in sein eigenes Inneres“ (Kuiper 1991, S.199), es ist ein Gefängnis der Leere, ein „Gefühl der Gefühllosigkeit“ (Woggon 1998, S.63) sozusagen. Aus diesem Gefühl der Leere entwickelt sich ein Gefühl des sich selber Fremdseins, was bei einigen Patienten auch Aggressionen zur Folge hat. So berichtet beispielsweise Goldmann- Posch, daß sie im Verlaufe ihrer Krankheit beim baden ihres Sohnes Mordgelüste bekommt (vgl. Goldmann-Posch 1987, S.102). Die Wahrscheinlichkeit allerdings, daß solche Phantasien von depressiven Menschen in die Tat umgesetzt werden sind eher gering. In den allermeisten Fällen handelt es sich eher um Aggressionen gegen sich selbst, diese können zwar bis hin zum Suizid führen, in einzelnen Fällen auch bis zum erweiterten Suizid, eine Gefährdung für die Mitmenschen sind Depressionspatienten aber nicht. Auch Kuiper machte dieselbe Erfahrung mit seiner Tochter woraufhin er freiwillig den ersten Klinikaufenthalt antrat. Bei seinem zweiten Klinikaufenthalt ging er, von wahnhaften Vorstellungen getrieben, einen Pfleger körperlich an (vgl. Kuiper 1991, S.168).

3.1.5 Denkhemmung und Grübelzwang

Bei schwer depressiven Menschen ist festzustellen, „daß sie vermehrt Mühe haben, etwas im Gedächtnis zu behalten.“ (Hell 1994, S.45). Kuiper beispielsweise ist der festen Überzeugung unter Demenz zu leiden, da er nur unzureichend in der Lage dazu war, bei der Geschirrausgabe in der Klinik, an der sich alle Patienten beteiligten, die Mahlzeiten den jeweils dazu vorgesehen Patienten darzureichen, sah er darin „eine Bestätigung meiner Demenz.“ (Kuiper 1991, S.112). Auch war er nicht mehr dazu in der Lage einfachste Denkvorgänge in gewohntem Maße zu bewerkstelligen. Ein weiteres „eigentümliches Paradox depressiven Erlebens ist der Zwang ‘denken zu müssen, ohne denken zu können’,“ (Hell 1994, S.45). Die Gedanken sind nicht mehr frei, sondern drehen sich um ein und dasselbe Problem, sie stecken fest, zumeist in der Vergangenheit. Das Problem hierbei ist, daß die Patienten sehr wohl in der Lage sind ihren eigenen Zustand zu reflektieren. Sie bekommen alles mit, was um sie herum geschieht, können es aber nur unzureichend im Gedächtnis aufnehmen, behalten oder verarbeiten. Ein Patient berichtet von der Beeinträchtigung seiner Gedächtnisfunktion und verminderter Konzentrationsfähigkeit, die ihm während seiner Krankheit zu schaffen machte. Er war während der Krankheit nicht mehr in der Lage dazu, die einfachsten reflektiven Vorgänge zu bewältigen (vgl. Woggon 1998, S.67ff).

3.2 Das soziale Erleben

Durch die Veränderung des psychischen Erlebens depressiver Menschen werden auch die zwischenmenschlichen Beziehungen zwangsläufig modifiziert. So ziehen sich als gesellig bekannte Menschen im Verlaufe der Krankheit immer mehr in sich selbst zurück und scheuen den Kontakt zu anderen Menschen. „Der depressive Patient trägt selbst zu seiner Vereinsamung bei.“ (Kuiper 1991, S.218), schildert Kuiper seine eigene Erfahrung im Umgang mit seinen Mitmenschen und seinem sozialen Umfeld. Durch das Entfremdungserleben fliehen viele Erkrankte in die Isolation. Depressive Patienten fühlen sich in der Gegenwart anderer Menschen fremd, da sie sich ja selbst nicht mehr kennen und leiden mögen, können sie unmöglich in Interaktionssituationen bestehen. Eine Patientin berichtet wie sie sich von den Blicken fremder Menschen im öffentlichen Raum regelrecht durchschaut fühlt, sie berichtet von den Blicken ganz bestimmten Menschen, denen sie sich ausgesetzt fühlt. (vgl. Hell 1994, S.57). Stange stellt hierzu fest, daß die „Blickgehemmtheit als Form der depressiven Kommunikationsstörung (...) in verschieden starker Ausprägung bei fast allen depressiven Erkrankungen vorhanden“ (Stange 1999, S.49) ist.

Im folgenden werde ich, der Klassifizierung Daniel Hells folgend, zwei wesentlichen Aspekte der zwischenmenschlichen Kommunikation depressiv Erkrankter darstellen, da die Kommunikation ein wesentlicher Bestandteil der Interaktion und damit die Grundlage des Sozialverhaltens darstellt.

3.2.1 Interpersonaler Kommunikationsaspekt

Darunter versteht Hell „die Wirkung eines depressiven Menschen auf seinen unmittelbaren Sozialpartner“ (Hell 1994, S.65). Hell stellt fest, daß die Gesprächspartner von depressiven Menschen stark verunsichert sind. Das kann soweit führen, daß diese gesunden Gesprächspartner nach einer Interaktion mit einem Erkrankten dazu neigen, sich leer zu fühlen, also genau dessen Symptome übernehmen. Auch Hell begegnet diesem Aspekt in seinen Therapiestunden und kann sich dem nur schwer entziehen. Der Psychoanalytiker Benedetti hält diese Identifikation mit dem Patienten sogar für unabdingbar, um ein „gestaltendes Eingreifen möglich“ (Hell 1994, S.68) zu machen. Die natürliche Reaktion der Gesprächspartner ist dann der Rückzug, da sie es vermeiden wollen in die negative Erlebniswelt mit hineingezogen zu werden, was beim depressiven Menschen dann wiederum zu Vereinsamung führt, wenn der wichtigste Kommunikationspartner eben keiner mehr ist. Andererseits treten „bei weitergeführten Kontakten vermehrt Rechtfertigungs- und Selbst- behauptungsversuche der Partner auf“ (Hell 1994, S.71), um sich ihrerseits den aufkommenden Schuldgefühlen zu entziehen. Im Gegensatz zum erkrankten Lebensgefährten haben die Angehörigen „in aller Verunsicherung eine mehr oder weniger ausgeprägte Emotionalität zur Verfügung, die ihnen auch hilft, mit der Bedrohung fertig zu werden.“ (Hell 1994, S.76).

Der Umgang mit Freunden verändert sich ebenfalls, so ist bei Kuiper beispielsweise die Wahrnehmung so verändert, daß er seine alten Bekannten und sogar seinen besten Freund nicht mehr wiedererkennt. In der festen Überzeugung sein alter Freund Allen sei jemand anderes, stößt er diesen vor den Kopf indem er ihn dazu auffordert, ihn zu verlassen und ihm de facto die Freundschaft aufkündigt. (vgl. Kuiper 1991, S.135). Dieses Rückzugsverhalten ist bei Erkrankten im Verlaufe ihrer Depression typischerweise zu beobachten. Wenn auch dieses Beispiel Kuipers ein extremes ist, so ist dieses Verhalten eher selten und nur bei äußerst schweren Formen von Depressionen der Fall.

3.2.2 Interaktionale Aspekte

Unter den interaktionalen Aspekten versteht Hell „die eigentlichen Wechselwirkungen zwischen depressiven Patienten und ihren Partnern“ (Hell 1994, S.77). Verhaltensforscher, wie etwa Coyne, Hautzinger, Hoffmann oder Linden, unterscheiden zwischen drei Komponenten depressiver Interaktion, dem Appellationsverhalten, dem Hostilitäts- verhalten und dem Deprivationsverhalten (vgl. Hell 1994, S.78).

3.2.2.1 Das Appellationsverhalten

Das Appellationsverhalten ist ein Aufruf zu einem bestimmten Verhalten.

Die unter Depression leidende Person sendet auf verschiedene Art und Weise aus Verzweiflung und Hilflosigkeit einen Hilfeschrei aus. Der Interaktionspartner reagiert daraufhin mit Mitgefühl, Mitleid oder mit Anteilnahme. Diesem Schema vorausgesetzt ist, daß Sender und Empfänger die Botschaft des jeweiligen Gegenüber verstehen, was unter Partnern vorauszusetzen ist (vgl. Hell 1994, S.78).

3.2.2.2 Das Hostilitätsverhalten

Das Hostilitätsverhalten ist ein feindseliges Verhalten des Erkrankten gegenüber seinem Interaktionspartner (vgl. hierzu auch Kuiper 1991, S.135). Auch Dysphorisches Verhalten, wie Larmoyanz zählt Hell hierzu. Dieses Verhalten führt beim Partner respektive der Partnerin zum Eindruck des Abgewiesenwerdens, woraufhin beim Partner Enttäuschung und Ärger ausgelöst werden können (vgl. Hell 1994, S.78).

3.2.2.3 Das Deprivationsverhalten

Das Deprivationsverhalten beschreibt den Umstand, wie sich der depressive Patient dem Interaktionspartner entzieht. Durch das entziehende und damit abweisende Verhalten des Erkrankten, zieht sich der Partner ebenfalls zurück und dämpft seine Erwartungshaltung an den Depressiven Partner. In diesem Falle findet dann keine, oder eine nur auf das nötigste reduzierte, Kommunikation statt. Was dann wiederum zu Verunsicherung, Vereinsamung und Entfremdung beider Interaktionspartner führt (vgl. Hell 1994, S.78).

Diese ambivalenten Komponenten führen in ihrer Folge zu einem veränderten Rollenverhalten der Beziehungspartner, da die Erkrankten teilweise nicht mehr in der Lage dazu sind, ihre Rolle in der Partnerschaft wahrzunehmen, so zum Beispiel als Sexualpartner, Erziehungspartner oder eben als Gesprächspartner, was für den gesunden Partner erhöhten sozialen Streß bedeutet, da er „auch noch die sozialen Pflichten des Depressiven übernehmen muß.“ (Hell 1994, S.80). Das soziale Verhalten an Depression Erkrankter ist nachhaltig gestört, soziale Kontakte sind auf ein Minimum reduziert, obwohl die Erkrankten ein hohes Bedürfnis nach Bestätigung haben, ziehen sie sich in sich selbst zurück. Battegay resümiert diese Ambivalenz folgendermaßen: „Die Depressiven sind - in ihrer narzißtischen Leere - zugleich erwartende und sich jegliche Lebensfreude versagende.“ (Battegay 1991, S.126).

3.3 Das physische Erleben

Grundsätzlich ist die Depression eine psychische Erkrankung, die aber körperliche Beeinträchtigungen zur Folge haben kann, welche sich dann wiederum auch auf das psychische Erleben auswirken können. Es gibt, wie weiter oben beschrieben, aber auch die larvierte Depression, d.h. das es vorkommen kann, daß sich die Depression hinter körperlichen Symptomen versteckt und nicht primär als Depression diagnostiziert werden kann. Depressiv erkrankte können unter einer Vielzahl von körperlichen Störungen leiden. Stange nennt eine Reihe solcher körperlicher Symptome die bei einer Depression auftreten können. So sind dies Beispielsweise: Appetitstörungen; Atemnot; verschlechtertes Sehvermögen und Lichtempfindlichkeit; Blasenstörungen bis hin zur Inkontinenz; Ohrenschmerzen, Geräuschempfindlichkeit oder Ohrgeräusche, ähnlich dem Tinitus; Haut- und Nasenschleimhäute können in Mitleidenschaft gezogen sein, was von Mundgeruch über Nasenbluten bis hin zu blasser Haut führen kann; Herzbeschwerden; Kopfschmerzen; Kreislaufstörungen; Magen-Darm-Beschwerden; Muskelverspannungen; Schlafstörungen (s.o.), Müdigkeit und Erschöpfbarkeit; Libido- und Potenzstörungen; Veränderung der Tränen- und Schweißsekretion bis hin zu Störungen des vegetativen Nervensystems (vgl. Stange 1999, S.37-39).

4 Depression - eine Wohlstandskrankheit?

In diesem Kapitel möchte ich nun versuchen mich der Frage anzunähern, ob die Depression eine Zivilisationskrankheit ist. Mir ist bewußt, daß es mit dem mir vorliegenden Material und dem Nichtvorhandensein einer eigenen, oder von jemand anderem durchgeführten, empirischen Untersuchung mit dieser Fragestellung, nur unzureichend möglich ist, diese Frage wissenschaftlich abzuhandeln. Die folgenden Ausführungen können daher bestenfalls eine Annäherung an eine Fragestellung sein, die im Rahmen einer empirischen Untersuchung zu klären wäre, dies würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Frage nach der Häufigkeit des Auftretens von Depression im gesellschaftlichen Kontext,stellte sich mir während der Recherche für diese Hausarbeit und bestätigte sich im Lesen der Literatur der betroffenen Personen insofern, als daß die Erlebnisberichte von Kuiper, Goldmann-Posch, Styron und vielfältig auch bei Woggon von besser situierten Bürgern aus entwickelten Wohlstandsgesellschaften stammen. Natürlich steht im Hintergrund immer auch die Frage: Gibt es die Depression nur dort oder wurde sie einfach nur dort untersucht, was nahe liegt, da mir keine Untersuchungen über die Häufigkeit des Auftretens von Depressionen beispielsweise in Afrika bekannt sind. Meiner Fragestellung zugrunde liegt die Annahme, daß insbesondere Menschen mit hoher Intelligenz und gutem sozialen und kulturellen Habitus und solche Menschen, welche über ein hohes Maß an ökonomischen Kapital verfügen von dieser Krankheit heimgesucht werden. Da es ein hervorstechendes Merkmal der Krankheit ist, unter Denk- hemmung und Grübelzwang zu leiden, denke ich, ist zumindest nicht auszuschließen, daß für die Gruppe der Menschen mit hohem kulturellen Kapital und damit einhergehenden besonderen reflektivem Vermögen, diese Annahme zutrifft. Europäische und Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, daß in den 80iger Jahren in Amerika ca. 10% der Bevölkerung „an einer behandlungsbedürftigen Depressionen“ (Goldmann- Posch 1987, S.138) gelitten haben. Der schwedische Sozialforscher Hagnell hat bei einer Untersuchung in der kleinen südschwedischen Ortschaft Lundby herausgefunden, daß die Anzahl der Depressionen deutlich angestiegen ist, „bei Männern im Alter zwischen 20 und 30 Jahren erhöhten sich die Depressionen gar um ein Zehnfaches.“ (Goldmann- Posch 1987, S.139). Die Gründe für die Zunahme von Depressionen sieht der Basler Depressionsforscher Kielholz am zunehmenden Tempo des Lebens, der raschen technischen Entwicklung, der ständigen Veränderung in fast allen Teilbereichen des Lebens. Aus diesen beiden Untersuchungen ergibt sich also ein Anstieg der Depressionen in den letzten zwanzig Jahren. Es ist also davon auszugehen, daß Soziale Umstände die Entstehung von Depressionen befördern. Eine Studie mit 43.000 Menschen aus fünf Kontinenten ergab, daß die Prävalenzrate bis 1980 bis um das Siebzehnfache angestiegen ist, diese Untersuchung gilt allerdings nur für Industriestaaten. Als Ursache für die hohe Zunahme wurde „der moderne Lebenszuschnitt, die Hektik, Zivilisationskrankheiten, die Oberflächlichkeit der Lebenshaltungen und der Mangel an sinnvoller Beschäftigung“ (Benesch 1995, S.145) angegeben. Diese Untersuchung spräche also für die These, von Depression als Wohlstandskrankheit, wobei mir hierbei die Gegenprobe nicht bekannt ist, also eine Vergleichbare Studie in sogenannten schlechter entwickelten Nationen. Es läßt sich also konstatieren, daß sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte fördernd auf die Entstehung von Depressionen auswirken. Die These, daß die Depression eine Wohlstandskankheit ist, läßt sich weder widerlegen, noch läßt sie sich mit dem mir vorliegenden Material belegen. Für die Untersuchungen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse läßt sich feststellen, daß die Epidemiologie der Krankheit maßgebend auf die Ergebnisse Einfluß hat. Um es mit Dörner/Plog zu sagen: „Wir wissen nicht, warum Menschen depressiv werden.“ (Dörner/Plog 1996, S.234).

5 Schluß

Depressionen beeinflussen die Erlebnisweisen Erkrankter nachhaltig, so ist das Nicht-Trauern-können eines der Hauptmerkmale unter denen die Patienten leiden. Depressiven Menschen fehlen die Emotionen um mit Schwierigkeiten fertig zu werden oder einfach auch nur mit dem Alltag umgehen zu können. Die ständigen Ängste, denen unter Depression leidende Menschen ausgesetzt sind, lassen die Betroffenen sich in sich zurückziehen und sich von ihrer Umgebung abkapseln. Die Gründe dafür sind vielschichtig, neben den häufig auftretenden Ängsten schildern viele Betroffene die, mitunter daraus erwachsenden, Schuldgefühle als eine Hauptlast der Krankheit. Das veränderte Zeiterleben, geprägt durch ein Verharren in der Vergangenheit erschwert zusätzlich eine Auseinander- setzung mit der Gegenwart bzw. der Zukunft. Die für nicht an Depression leidende Menschen so wichtige Hoffnung ist bei depressiven Menschen nicht mehr vorhanden. Die Innere Leere und die Aggressionen gegen sich selbst und andere, sowie der Rückzug in die eigene kleine Welt erschweren die Fortführung des normalen, von früher gekannten Lebens. Vor allem Interaktionsschwierigkeiten und die daraus resultierenden Kommunikationsprobleme sind in schweren Phasen der Krankheit unüberwindliche Barrieren für Erkrankte um am, für depressive, eigentlich so wichtigen sozialen Leben teilzuhaben. Erschwerend hinzu kommen für viele Patienten, neben den psychischen Leiden, noch körperliche Beschwerden welche die Krankheit um ein vielfaches potenzieren können. Ein Zusammenhang zwischen der Krankheit Depression und sozialem Status und Umfeld, läßt sich wissenschaftlich nicht belegen. Allerdings weisen empirische Untersuchungen drauf hin, daß es einen Zusammenhang zwischen der Lebenssituation und der Krankheit geben könnte. Doch solange noch nicht eindeutig bewiesen werden kann, welche Ursachen Depressionen haben, bzw. welche psychischen und physischen Faktoren in welchem Zusammenhang stehen, damit eine Person depressiv erkrankt oder nicht, wird es nahezu unmöglich sein, die Frage, ob Depression eine Wohlstandskrankheit ist, eindeutig wissenschaftlich klären zu können.

6 Literaturverzeichnis

Battegay, R. (1991). Depression. Bern, Stuttgart, Toronto; 3. Auflage

Benesch, H. (1995). Enzyklopädisches Wörterbuch Klinische Psychologie und Psychotherapie. Weinheim

Davison, G.C., Neale, J.M. (1996). Klinische Psychologie. Weinheim 4. Auflage

Die Bibel (1982). In heurigem Deutsch. Stuttgart 2. Auflage

Dörner K., Plog U. (1996). Irren ist menschlich. Bonn 1. Auflage der Neuausgabe

Duden (1990). Das Fremdwörterbuch Band 5. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 5. Auflage

Goldmann-Posch, U. (1987). Tagebuch einer Depression. München

Hell, D. (1994). Welchen Sinn macht Depression?. Hamburg

Kuiper, P.C. (1991). Seelenfinsternis. Frankfurt a.M.

Stange, K.-H. (1999). Lebensfinsternis Depression - Ein Ratgeber. Darmstadt

Styron, W. (1991). Sturz in die Nacht. Köln

Woggon, B. (1998). Ich kann nicht wollen! Berichte depressiver Patienten. Bern

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Erlebnisweisen depressiver Menschen
Hochschule
Fachhochschule Erfurt
Veranstaltung
Lebensfinsternis Depression
Note
1,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
23
Katalognummer
V102134
ISBN (eBook)
9783640005239
Dateigröße
374 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erlebnisweisen, Menschen, Lebensfinsternis, Depression
Arbeit zitieren
Achim Seyboth (Autor:in), 2000, Erlebnisweisen depressiver Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102134

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