Rezension zu "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann


Rezension / Literaturbericht, 2006

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Rezensionzu Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann

Einst lebte ein rechtschaffener Poet, der sich schon als Jüngling in der Kunst geübt hatte, allerlei schöne Geschichten zu erzählen und damit Alt und Jung erfreute.[1] Einmal aber erzählte er eine Geschichte, die war so schön, dass das ganze Volk ihm andächtig lauschte und ihn feierte, ganz, als wenn er ein König wäre. Da ward ihm ein wenig ängstlich zumute, denn er fürchtete des Landes grimmige Wächter über die wahrhaft hohe Literatur, die sich begierig auf die stürzten, welchen das Volk seine Gunst schenkte. Wie war er aber erstaunt, als diese Wächter ob seiner Geschichte in lauten Jubel ausbrachen, ihn reich mit Lob bedachten und ihm gar einen goldenen Schlüssel überreichten, mit welchem er das Tor zum Reich der Literatur öffnen konnte. Dort errichtete er sich von dem Gold, das ihm das Volk aus lauter Dankbarkeit geschenkt hatte, ein prächtiges Schloss, und da sitzt er noch heute und erzählt seine Geschichten.

Märchenhaft anmutend, aber wahr. Na ja, fast. Ein Schloss hat sich der junge Schriftsteller Daniel Kehlmann von dem Geld, das er mit dem Verkauf seines vierten, sehr deutschen Romans Die Vermessung der Welt verdient hat, noch nicht geleistet; bloß eine größere Wohnung. „Sonst wäre es stillos“[2]. Gut 600.000 mal hat sich die fiktive Doppelbiographie der beiden großen deutschen Forscher Alexander von Humboldt (1769 – 1858) und Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) seit ihrem Erscheinen im Oktober 2005 verkauft. Aber wie macht man das: Wochenlang Platz eins der Spiegel-Bestseller-Liste belegen und von den Feuilletons landauf, landab als guter Literat[3] gefeiert zu werden? Eine befriedigende Erklärung für dieses in Deutschland äußerst seltene Phänomen kann niemand geben. So bleibt nur, viele mögliche Gründe anzuführen, die alle ein bisschen stimmen.

Spannung, Witz und Literarizität. Das sind ja gleich drei Dinge auf einmal. Das geht nun wirklich nicht? Doch!

Spannung …

Da wäre zunächst die Tatsache, dass es – auch – um Mathematik, Naturwissenschaften und das Abenteuer Reisen geht, alles Themen für „große Jungs“.[4] Ende des 18. Jahrhunderts, zu Beginn des Wissenschaftszeitalters in Deutschland, schifft sich Alexander von Humboldt nach Lateinamerika ein. Mit seinem ewigen Assistenten, dem Franzosen Aimé Bonpland, vermisst und kartographiert er diesen noch weitgehend unerforschten Kontinent. Dabei untersucht und systematisiert er alles, was ihm irgendwie über den Weg läuft. Um die damals herrschende Theorie des Neptunismus zu widerlegen und um zu beweisen, dass es einen Kanal zwischen Amazonas und Orinoko gibt, geht er bis an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit und darüber hinaus.

Carl Friedrich Gauß dagegen geht körperlicher Arbeit, der und die Welt so weit wie möglich aus dem Weg. Kaum je aus dem Königreich Hannover gekommen, vermisst er die Welt genauer und umfassender, als Humboldt es je vermocht hätte: Er beweist am heimischen Schreibtisch, dass der Raum sich krümmt und die Zeit sich dehnt. Und selbst bei seinem ungeliebten Broterwerb als Landvermesser misst er genauer und rechnet besser als sein (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) Antipode Humboldt.

1828, als beide längst den Zenit ihrer Schaffenskraft überschritten haben, treffen sich die mittlerweile alt gewordenen Wissenschaftler anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses in Berlin. Während Gauß dort die Erkenntnis, dass „sein Leben hinter ihm“ liegt [261], einen zufriedenen Lebensabend ermöglicht, lehnt sich Humboldt gegen diese Erkenntnis auf und muss doch während seiner letzten, zur Farce gewordenen Forschungsexpedition nach Russland schmerzvoll erfahren, was es heißt, die Fäden nicht mehr selbst in der Hand zu halten, sondern an die nachfolgende Generation abgeben zu müssen.

Diese bewegenden Lebensläufe erzählt Kehlmann äußerst knapp, fast skizzenhaft, in verschränkten Rückblenden, bevor er sie schließlich in der Erzählgegenwart wieder zusammenführt und zuletzt ganz ineinander verschmelzen lässt. Im Laufe der Erzählung tauchen immer wieder Figuren ein zweites Mal auf,[5] etliche Szenen und Motive werden erneut aufgegriffen und variiert,[6] auch finden sich Gauß oder Humboldt in einer früher bereits ähnlich erlebten Situation, erleben sie nun aber aus einer anderen Perspektive.[7] Die Fäden des Netzes, das die Erzählung umspannt, sind an zwei in zueinander konträrem Verhältnis stehenden Punkten geknüpft: Zeit(lichkeit) bzw. Geschichtlichkeit und Ewigkeit, Genie und Alltag, Beherrschung und Beherrschbarkeit der inneren und äußeren Welt, Rationalität und Magie, Sinnlichkeit und Abstraktheit, Freiheit und Zwänge, Armut und Reichtum, Pragmatismus und Idealismus, Abenteuer und Normalität. Das alles gibt dem Roman eine spielerische Note. Kehlmann zeigt was er kann, ohne anzugeben, was, nebenbei bemerkt, zu diesem souverän-bescheiden scheinenden[8] Autor auch gar nicht recht passen würde.

… Witz ….

Sein hochgradig artifizieller Stil ist dabei kein bisschen anstrengend, sondern spannend und sehr, sehr komisch. Mit viel Witz und Ironie zeigt er, wie schnell man von den Höhenflügen der Genialität in die Niederungen des Alltags stürzen kann. Immer wieder prallen Erhabenheit und Normalität, Pathos und Lächerlichkeit aufeinander: Wenn beispielsweise justament dann, wenn Gauß erkennt „was Bewegung [ist], was ein Körper, was vor allem der Raum, der sich [aufspannt]“ der Heißluftballon, in dem er diese Erkenntnis gewinnt, „in das Holzgestell eines Heustapels [kracht]“ [67]. Wenn Gauß’ Kollege Martin Bartels „atemlos heim[kommt] und [erzählt], dass in einer der Kutschen der Herzog liege, bei Jena angeschossen, blutend wie Vieh, im Sterben. Alles sei verloren.“, und Gauß „seine Zeitung zusammen[faltet] und meint, „dann könne er ja heimgehen.“ [152]. Wenn Humboldt „etwas von der Ehre, hierzusein [sagt, von] seinem Respekt vor der liberalen Idee, von der Freude, die Sphäre einer drückenden Despotie verlassen zu haben“, der U.S.-amerikanische Präsident Thomas Jefferson ihm daraufhin jedoch nur auf die Schulter schlägt und ihn fragt „ob er schon gegessen habe“ [212]. Solche kleinen, feinen, ironisch-distanzierten Passagen blitzen im Text immer wieder auf.

Komisch ist auch Gauß’ meist schon beleidigende Direktheit und Humboldts Unverständnis seiner Umwelt gegenüber. Der große Mathematiker und Astronom lässt fast jeden, der nicht ebenso intelligent ist wie er selbst, wissen, was er von ihm hält: Nämlich gar nichts. Oder noch weniger. So macht der Herr Professor nicht nur seinen Studenten klar, dass sie „von allen Menschen, die er je getroffen hatte, … die dümmsten“ [154] sind. Auch Goethe wird von ihm als „Esel …, der sich anmaß[t], Newtons Theorie des Lichts zu korrigieren“ tituliert [158]. „Der wahre Entdecker Südamerikas“ [219] dagegen bemüht sich, gut mit seinen Mitmenschen auszukommen. Allerdings verstehen diese Mitmenschen den Preußen nicht immer, und er versteht nicht, warum sie ihn nicht verstehen. So wundert er sich darüber, auf seiner Lateinamerika-Expedition keine einheimischen Führer mehr zu finden, nachdem er für Forschungszwecke drei mumifizierte Leichen aus einer Höhle auf sein Boot genommen hat [121], und ärgert sich über Bonpland, der sich nicht an die Abmachung hält, während ihrer immerhin fünf Jahre dauernden Reise keine einzige Frau näher, (um nicht zu sagen, sehr nah) kennenzulernen. Komisch ist auch Humboldts absolute Humorlosigkeit. [50, 111].

… und Literarizität

Die Vermessung der Welt ist jedoch mehr als Abenteuerroman, komischer Roman und fiktive Doppelbiographie zweier großer deutscher Naturwissenschaftler. Sie ist „Literatur“; das heißt: Hochliteratur. Keine Unterhaltungsliteratur, von Trivialliteratur gar nicht erst zu sprechen.

Dieses bis ins Detail konstruierte Sprachkunstwerk bricht mit vorherrschenden Leseerwartungen und ‑gewohnheiten, behandelt en passant Grundthemen der menschlichen Existenz wie Freiheit und Sklaverei, Autonomie und Abhängigkeit, Altern und die Frage nach dem Glück, wirft aber letztendlich mehr Fragen auf, als es beantwortet.

Die völlig gegen jede Lesegewohnheit verstoßende, fast durchgängige Verwendung des Konjunktiv I ist zu Beginn leicht irritierend. Doch schon nach wenigen Seiten hat man sich richtiggehend mit dieser Form der indirekten Rede angefreundet.[9] Allein, weil Kehlmann den Leser vor endlos langen, womöglich im falschen Ton (weil zu modern, zu altertümelnd, zu pathetisch oder zu trivial) gehaltenen Monologen und Dialogen verschont. Seine Helden liefern sich stattdessen immer wieder kurze verbale Schlagabtausche, deren markante und witzige Formulierungen das Herz eines jeden höher schlagen lassen, der sich auch nur ansatzweise an Schönheit und Präzision von Sprache erfreuen kann. „Was für ein Abend! Fast hätte er nicht heimgefunden, und um von dem faulen Personal hereingelassen zu werden, habe er das ganze Haus wachläuten müssen. So dreckige Straßen [wie in Berlin; DG] gebe es kein zweites Mal. / Er sei vermutlich etwas weiter herumgekommen, sagte Humboldt scharf. Und er versichere ihm, es gebe dreckigere. Und es sei ein großer Fehler, sich einfach [vom Naturforscherkongress; DG] zu entfernen, wenn so viele Leute zusammenkämen, mit denen man Projekte in die Welt setzen könne. / Projekte, schnaubte Gauß. Gerede, Pläne, Intrigen. Palaver mit zehn Fürsten und hundert Akademien, bis man irgendwo ein Barometer aufstellen dürfe. Das sei nicht Wissenschaft. / Ach, rief Humboldt, was sei Wissenschaft denn dann? / … Ein Mann allein am Schreibtisch. Ein Blatt Papier vor sich, allenfalls noch ein Fernrohr, vor dem Fenster der klare Himmel. … / … Dieser Mann am Schreibtisch, sage Humboldt, brauche natürlich eine fürsorgliche Frau, die ihm die Füße wärme und Essen koche, sowie folgsame Kinder, die seine Instrumente putzten, und Eltern, die ihn wie ein Kind versorgten. … Und eine Mütze, damit ihm nie die Ohren schmerzten. / Gauß fragte, wen er damit meine. / Er meine das ganz allgemein [247 f.].“

Die indirekte Rede umgeht aber nicht nur die Schwierigkeit des unangemessenen Tons und sorgt für Tempo und Witz. Sie passt auch deswegen, weil „der Schreiber die Distanz aus[drückt] zu dem, was er berichtet. Er kennzeichnet es als etwas, dessen Wahrheit er nicht selber verbürgen kann.“[10] Und Kehlmann möchte sich keineswegs für das verbürgen, was er seine Figuren sagen und tun lässt. Im Gegenteil, er lässt nicht nur vieles aus Gauß’ und Humboldts Leben weg und verleiht anderem großes Gewicht, sondern er schmückt aus, was niemand so genau wissen kann, und erfindet selbst noch einiges dazu. So sind beispielsweise Goethes Ratschläge zur Erziehung der Humboldtbrüder oder Gauß’ Reise nach Königsberg zu Kant freie Erfindungen des Autors, wie man in Interviews nachlesen kann,[11] eine dem Text nachgestellte Erläuterung wie beispielsweise eine Zeittafel oder die Lebensläufe der Protagonisten gibt es nicht.

Auch wenn es dem Leser zunächst in den Fingern kribbelt, nachzuschlagen, ob sich dieses oder jenes tatsächlich so zugetragen hat, erkennt er schnell: Darauf kommt es gar nicht an. Die entscheidende Frage ist nicht, ob Humboldts Mutter tatsächlich Goethe konsultiert hat oder ob Gauß je in Königsberg bei Kant war, um diesem seine Idee des gekrümmten Raums vorzutragen. Sie lautet vielmehr: Warum lässt Kehlmann Goethe einen Rat geben, den „keiner [versteht]“ [19], und warum lässt er Kant, alt und dement, von „Wurst und Sterne[n]“ [97] sprechen, statt auf Augenhöhe mit Gauß zu debattieren?

„Wurst und Sterne“: Die Tragik des Alterns

Was „Wurst und Sterne“ betrifft, so führen sie geradewegs zu einem der zentralen Themen des Buches: dem Altern. Kehlmann buchstabiert nicht nur an Gauß und Humboldt, sondern auch an etlichen (Spiegel- und Stellvertreter-) Figuren wie Lichtenberg [27], Georg Forster [28], Bougainville [39], Gauß’ Mutter [54], dem Herzog von Braunschweig [144], dem Erstbesteiger des Vulkans Jorullo [208 f.], Wilhelm von Humboldt [241] und Bonpland [291] die verschiedenen Facetten des Alterns und Altseins durch: den körperlichen und geistigen Verfall, die Unfähigkeit, diesen Verfall hinzunehmen, das Festhalten an alten Ideen [281] und Forschungsmethoden [275], das Sich-Selbst-Historisch-Werden, das plötzliche Bemitleidetwerden [274, 276], die Einsamkeit, weil Freunde und Familie gestorben sind, und schließlich das Aufgeben von Idealen und Hoffnungen.

Bei den dement gewordenen großen Geistern Kant und Bougainville zeigen sich körperlicher und geistiger Verfall auf besonders brutale Art und Weise. Aber schon Gauß weiß, als er mit Anfang Zwanzig die Disquisitiones Arithmeticae verfasst hat, dass er im ersten Moment nach deren Vollendung den Zenit seines geistigen Schaffens überschritten hat [92]. Wie Humboldt (und auch Georg Forster [28]) wird er sich nach und nach selbst historisch, so, als wären der junge Gauß und der junge Humboldt fremde Personen, deren Taten und Werke auf untrennbare Weise mit dem eigenen Leben verknüpft sind, die aber mit dem alten Gauß und dem alten Humboldt nichts mehr zu tun haben. [19, 92, 150 f.].

Gauß kann, wenn auch spät, das Alter akzeptieren, und wird und so dazu fähig, der nachfolgenden Generation Platz zu machen. Er beginnt mit dem jungen Experimentalphysiker Wilhelm Weber eine für beide Seiten fruchtbare Zusammen-arbeit [272 ff.]. Humboldt dagegen verkörpert die Unfähigkeit, sich sein Alter einzugestehen, und den Platz für Jüngere zu frei zu machen. Wie der Erstbesteiger des Vulkans Jorullo, „ein alter Herr namens Don Ramón Espelde“, der „darauf [besteht], die Expedition anzuführen“ und Humboldt „den Ratschlag [gibt], nicht direkt in die Sonne zu schauen und bei jedem Aufsetzen des rechten Fußes die Madonna von Guadaloupe anzurufen“, dann aber „immer wieder aus[rutscht] oder … vor Erschöpfung nicht weiter [kann].“ [208 f.], wird er bei der Besteigung des Magnetbergs in Russland, wo er sich „einige Male … von Ehrenberg stützen lassen [muss]“ [278], zur Bremse statt zum Motor der Exkursion, und sinnbildlich gesprochen, des Fortschritts, für den er als junger Mann stand. Von seinen angeblichen Helfern wird Humboldt schließlich nach und nach immer rücksichtsloser entmündigt [264 – 291].

Auch wenn Humboldt meint, „Der Wechsel von Wetter und Jahreszeiten … mach[t] die eigentliche Schönheit dieser Breiten aus. Der Vielfältigkeit der tropischen Flora steh[t] in Europa das jährliche Schauspiel einer wiedererwachenden Schöpfung gegenüber“ [223], so ist es Gauß, der den Zyklus von Wachsen, Blühen, Sterben und Wiedererwachen zu neuem Leben, den Kreislauf des Lebens, auch beim Menschen erkennt und akzeptiert. Der Roman selbst endet schließlich auch damit, dass Gauß’ Sohn Eugen unfreiwillig einen Neuanfang wagen muss, und zunächst ängstlich, dann aber hoffnungsfroh seiner Zukunft in Amerika entgegenfährt. Ironischerweise zeigt auch Eugen, gerade herausgetreten aus dem Schatten des Vaters und damit erwachsen geworden [295], ein untrügliches Zeichen fürs Altern: er fängt an, seinem Vater ähnlich zu werden [299].

Die Freiheit, die ich meine

Paradoxerweise beschert ausgerechnet sein durch äußere Umstände erzwungener Aufbruch nach Amerika Eugen die lang ersehnte innere Freiheit. Gerade die im Roman immer wieder thematisierten politischen Verhältnisse im Europa nach der Restauration, die auf Unterdrückung und Unmündigkeit der Bürger zielen: Ihm ermöglichen sie den Neuanfang. Damit reist er unter umgekehrten Vorzeichen auf Humboldts Spuren.

Denn Humboldt hätte, betrachtet man die äußeren Umstände, Preußen nie verlassen müssen. Ihn treibt vor allem das seinem Bruder gegebene Versprechen, nach Südamerika zu gehen, eine Gegend zu bereisen, in die bis dahin kaum Forscher vorgedrungen waren [22]. Alt geworden, schreibt Wilhelm an Alexander: „Nach und nach … mussten wir begreifen, dass das eigentliche Ziel unserer Bemühungen nicht der Kosmos, sondern bloß der andere war. Deinetwegen wollte ich Minister werden, meinetwegen musstest du auf den höchsten Berg und in die Höhlen, … für mich hast du Südamerika entdeckt, und nur Dummköpfen, die nicht verstehen, was ein Leben in Verdoppelung bedeutet, würde das Wort Rivalität einfallen: Weil ich existierte, hattest du der Erforscher eines Weltteils zu werden, alles andere wäre nicht angemessen gewesen.“ [266]. Und Humboldt erforscht diesen Weltteil gründlich.

Aber nicht erst in der rauhen Wildnis Südamerikas misst er wie besessen alles, was „nicht Füße und Angst genug hatte, ihm davonzulaufen [69].“ Schon als Kind beginnt er damit, und als junger Mann gerät gar in Ekstase bei wichtigen Messungen, die er noch nicht einmal selbst vornimmt [39]. Denn im Messen sieht Humboldt eine Möglichkeit, der Welt Ordnung und Struktur zu verleihen und ihr so etwas von ihrem Schrecken zu nehmen. „Zahlen [bannen] Unordnung [50].“ „Wann immer einen die Dinge [erschrecken, ist] es eine gute Idee, sie zu messen [22].“

Bei seinen Messungen, wie bei seiner Forschung insgesamt, benutzt Humboldt seinen Körper immer wieder als eines unter vielen möglichen Forschungs-instrumenten [32, 132] und lotet bei seiner Arbeit bewusst die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit aus. Denn das erscheint ihm, neben seinem eisernen Willen und seiner Rastlosigkeit, als einzige Möglichkeit, sein Begehren nach den „Knaben“ [264] und die Leere, die sich sonst in ihm breit machen könnte, zu bekämpfen. Zudem sind die Grenzen, auch wenn er sich das selbst kaum eingestehen mag, von Lust und Schmerz für Humboldt manchmal kaum zu unterschieden [32, 104, 132, 167]. Seinem Bruder bekennt er später, dass er „immer allein gewesen [war], … vor der Langeweile aber … Todesangst [hatte] [264].“

Dennoch ist Humboldts Expedition mehr als ein rein von Ängsten und Zwängen getriebenes Unterfangen mit der Absicht, „vor sich selbst davon[zu]laufen [87].“ Der Wunsch, die Neue Welt zu erforschen, entspringt auch dem in sich nicht weiter begründbaren Verlangen nach Wissen, dem Motor der Wissenschaft und des Fortschritts schlechthin. „Man [will] wissen, … weil man wissen [will]“, teilt Humboldt dem eher pragmatisch veranlagten Bonpland mit. Immer wieder lässt Kehlmann seine Genies reflektieren, was Wissenschaft ist, wie weit sie gehen darf, ob sie bestimmten Zwecken dienen soll oder darf. Er zeigt, dass Wissenschaft nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern an bestimmte institutionelle, politische und persönliche Bedingungen geknüpft ist, die den Veränderungen der Zeit unterliegen. Mit Wissenschaft sind hier vor allem die Naturwissenschaften gemeint, deren Verbreitung die Aufklärung eine Lanze gebrochen hat und deren Fortschritte seit der Industrialisierung sich wohl am stärksten auf das Leben des Einzelnen und ganzer Gesellschaften auswirken.

Welches Wissen schafft die Wissenschaft?

Wissenschaft ist sowohl für Humboldt als auch für Gauß eine persönliche Form der Lebensbewältigung und, im wörtlichen Sinne, Welterschließung [136, 268]. Gauß, der fast autistische Züge aufweist und den alltäglichen Anforderungen seiner Mitmenschen hilflos gegenübersteht, fühlt sich bei der Arbeit an den Disquisitiones so wach wie nie. „Die Zahlen entführten einen nicht aus der Wirklichkeit, sie brachten sie näher heran, machten sie klarer und deutlicher wie nie. / Die Zahlen begleiteten ihn jetzt immer. Er vergaß sie nicht einmal, wenn er die Huren besuchte.“ [86]. Und auch Humboldt fühlt sich auf seiner Lateinamerikareise, trotz allem Unbill, so lebendig wie danach nie mehr in seinem ganzen Leben [283].

Allerdings haben die beiden einen höchst unterschiedlichen Zugang zur Welt, die sie vermessen. Humboldt muss den Raum, den er misst, durchschreiten, er muss die Welt be-greifen. Gauß bleibt daheim, aber in seinem Kopf vermisst er das ganze Universum. Einig sind sich die beiden höchstens darin, dass das Irrationale, Mystische seinen festen Platz hat in dieser berechenbaren Welt [13, 21, 260, 282].

Im Laufe der Jahre ändern aber sowohl der Theoretiker, der die Zahlen sinnlich erfasst, als auch der Empiriker, der die Sinnlichkeit meidet wie der Teufel das Weihwasser, ihre Einstellung der Wissenschaft gegenüber. Sehen sie als junge Männer in großen wissenschaftlichen Entdeckungen noch eine Möglichkeit, der eigenen Vergänglichkeit zu trotzen, indem sie ein Werk für die Ewigkeit erschaffen [51, 155, 237], das der Menschheit von Nutzen sein wird [238 f.], geben beide am Ende ihres Lebens diese Vorstellung auf.

„[Er (Humboldt, DG)] glaube nicht mehr, dass es die Nachwelt interessieren werde, er zweifle auch an der Bedeutung der Flussreise selbst [264].“ „Die Dinge sind, wie sie sind, und wenn wir sie erkennen, sind sie genauso, wie wenn es andere tun oder keiner. … Man [darf] die Leistungen eines Wissenschaftlers nicht überschätzen, der Forscher [ist] kein Schöpfer … ihm [folgen] andere, die mehr, und wieder andere, die noch mehr [wissen], bis schließlich alles wieder [versinkt] [291].“

Humboldt spricht damit nicht nur der eigenen wissenschaftlichen Leistung den Sinn ab, sondern verneint den Sinn der Forschung überhaupt und gibt damit seine noch auf dem Naturforscherkongress vertretene Position von einer endlichen, abschließbaren Forschung auf, der es eines Tages gelingen kann, die Welt ganz zu verstehen und damit ihre Probleme zu lösen [238 f.]. Auch Gauß meint im Alter: „Der Verstand form[t] gar nichts und versteh[t] wenig. … Die Welt [kann] notdürftig berechnet werden, aber das [heißt] noch lange nicht, dass man irgend etwas versteh[t] [220].“ Fortschritt in der Wissenschaft bedeutet also noch lange keinen Fortschritt für die Menschheit.

Ein Leben in Extremen

Und Genialität bedeutet nicht Glück. So verschieden die beiden Männer auch sind, gemeinsam ist ihnen das Extreme ihrer Charaktere. Gauß ist extrem intelligent, extrem sinnlich, extrem gleichgültig der Welt gegenüber, extrem ungerecht, und er gibt sich seinen Gefühlen voll hin. Seine absolute Absage an jedwedes menschliche Miteinander beschert ihm eine Freiheit ohne Glück. Humboldt ist extrem rastlos, extrem verklemmt, und auch extrem der „Zivilisation“ verpflichtet („Motto: nicht ohne meine Uniform“), leugnet bzw. verdrängt er jede Emotion, die nichts mit seiner Forschung zu tun hat, so gut es. Noch am Ende der Welt ganz Staatsbeamter der preußischen Krone, beraubt er, der große Gegner der Sklaverei, sich seiner eigenen Freiheit. Vom Savoir-vivre des Franzosen Bonpland sind diese beiden einsamen, einander diametral entgegengesetzten Deutschen dabei gleich weit entfernt. Eine Identifikation ist nicht nur, weil es sich um große Namen und historische Figuren handelt, nicht möglich, sondern vor allem wegen dieses Lebens der Extreme.

Aber dass man jemanden nicht vollständig versteht, heißt ja nicht, dass man ihn nicht mögen kann. Auch rätselhafte Wegbegleiter können einem ans Herz wachsen. Warum sollte das bei literarischen Figuren anders sein als bei Menschen? Oder Büchern? Die Vermessung der Welt begleitet einen auch deswegen noch eine ganze Weile, weil sie so viele Fragen aufwirft, deren Beantwortung sie schuldig bleibt: Wieviel Geheimnis und Poesie steckt in unserer heutigen, technisierten Welt? Welche geistigen Hürden, die ein wahrhaftes Einlassen auf fremde Menschen und Kulturen verhindern, tragen eigentlich wir mit uns herum? Wieviel Freiheit ist dem Glück zuträglich? Was ist die Aufgabe der Wissenschaft? Was die der Literatur? Wie kann ein erfülltes Leben aussehen? Was heißt es, Deutscher zu sein? Wie wird man wohl in zweihundert Jahren über uns denken? Wie viel Idealismus braucht man, um sich in der Welt zurechtzufinden? Und überhaupt: Wann erscheint eigentlich das nächste Werk von Daniel Kehlmann?

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006.

Sekundärliteratur

Der Verfasserin dieser Arbeit sind keine literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Vermessung der Welt bekannt. Als Anregung dienten die folgenden Portäts, Interviews und Rezensionen aus verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.

Porträts

Anonymus: Kehlmanns Welt [Autorenportät zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Wiener, Oktober 2005.

Ijoma Mangold: Der red so komisch [Autorenportät zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Süddeutsche Zeitung, 09.02.2006.

Interviews mit Daniel Kehlmann

Felicitas von Lovenberg: Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2006.

Matthias Matussek, Mathias Schreiber, Olaf Stampf: „Mein Thema ist das Chaos“, in: Der Spiegel, 05.12.2005.

Klaus Nüchtern, Klaus Taschwer: „Ich kann nicht rechnen“, in: Falter, 23.09.2005.

Wolfgang Paterno: „Am liebsten würde ich das Buch in die Ecke schmeißen.“ in: Profil, 02.06.2006.

Kirsten Schmidt: Die Größe und Komik des Deutschseins, in: Hamburger Morgenpost, 29.09.2005.

Rezensionen

Anonymus: Forscher in Absurdistan [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Focus, 17.10.2005.

Anonymus (ag): Genial [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Facts, 13.10.2005.

Anonymus: Weltklasse – Das Geheimnis von Daniel Kehlmann [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: stern, 29.12.2005.

Anonymus (R. v. S.): Wenn ein Zauberer schreibt [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Bunte, 08.06.2006.

Henriette Ärgerstein: Treffen der Weltvermesser [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Rheinischer Merkur, 17.11.2005.

Andreas Bernard: Das Prinzip Daniel Kehlmann [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 24.03.2006.

Till Briegleb: Kanonenkugeln über Göttingen [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Financial Times Deutschland, 30.09.2005.

Sebastian Domisch: Der Raum im Geist [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: daz, 24./25.09.2005.

Urs Jenny: Duett der Solipsisten [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Spiegel Special Bücher 2005, Nr. 6/05.

Martin Krumbholz: Das Glück – ein Rechenfehler [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.10.2005.

Felicitas von Lovenberg: Vermessung eines Erfolgs [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.2006.

Martin Lüdke: Doppelleben, einmal anders [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Frankfurter Rundschau, 28.09.2005.

Ijoma Mangoldt : Da lacht der Preuße, und der Franzose staunt. [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Süddeutsche Zeitung, 24.09.2005.

Marius Meller: Die Weisheit der Wissenslücke. [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Der Tagesspiegel, 24.09.2005.

Peter Mohr: Humboldt trifft Gauß [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Wiener Zeitung, 14.10.2005.

Wolfgang Paterno: Feingeist und Grobian [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Profil, 26.09.2005

Manfred Schneider: Vermessene Messlust [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Literaturen, Oktober 2005.

Gustav Seibt: Eine Eule auf Panoramaflug [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006 und: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Gelesen von Ulrich Matthes, 5 CDs, Rowohlt bei Deutsche Grammophon Gesellschaft, in: Süddeutsche Zeitung, 15.12.2005.

Hubert Spiegel: Der Schrecken der Welt lässt sich messen, aber nicht bannen [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.2005.

Claudia Voigt. Krümmung des Lebens [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Kultur Spiegel, September 2005.

Hubert Winkels: Als die Geister müde wurden [Rez. zu:] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Reinbek 222006, in: Die Zeit, 13.10.2005.

Weitere Literatur

Peter Gallmann, Horst Sitta: Deutsche Grammatik, Zürich 42004.

[...]


[1] Genaugenommen handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine Mischform aus Rezension und literaturwissenschaftlicher Analyse. Daher werden Belegstellen im Primärtext mit einer Seitenangabe [in eckigen Klammern] versehen; weitere Anmerkungen werden zur besseren Lesbarkeit als Fußnote angefügt. Manche Ausführungen sind ausführlicher als es bei einer Rezension Usus ist, vieles wird oberflächlicher behandelt, als bei einer literaturwissenschaftlichen Arbeit üblich.

[2] Wolfgang Paterno: „Am liebsten würde ich das Buch in die Ecke schmeißen.“ in: Profil, 02.06.2006, S. 3.

[3] Anmerkung des Dozenten bei der Besprechung: Literat war ursprünglich ein abwertend verwendeter Begriff, im Sinne von „Schreiberling“

[4] Felicitas von Lovenberg: Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2006, S. 3.

[5] [Andres del Rio: 34/200, der Kapitän: 195/209, Bessel: 156/268].

[6] [z. B. die eigene Position bestimmen: 42/225, die Pausen: 54/89/155/299, der Drachenbaum 47/301, „das Nichts in Humboldts Seele“: 144 f./286, das Leben in Verdoppelung 33/266, Humboldts Mutter als Erscheinung in der Höhle 74/255, die Welt wird erst durch die Vermessung wirklich: 136/268 u. v. a.].

[7] [208/278, 247/290, 95/244, 274/276].

[8] „souverän-bescheiden scheinend“ und nicht „souverän-bescheiden“, da der Eindruck der Verfasserin nur auf Interviews beruht.

[9] Viele Ausrufe sind so kurz, dass man sie kaum eindeutig der direkten oder indirekten Rede zuordnen kann, z. B. S. 41: „Und was jetzt?“, S. 73: „Zum Teufel, rief Humboldt“, S. 128 „Ja wie?“, S. 157 „Ja gut“, S. 159 „Na ja“, S. 211 „Ganz richtig!“, „Abscheulich“, S. 233 „Großer Gott“ u. v. m.

[10] Peter Gallmann, Horst Sitta: Deutsche Grammatik, Zürich, 42004, S. 43.

[11] Klaus Nüchtern, Klaus Taschwer: „Ich kann nicht rechnen“, in: Falter, 23.09.2005, S. 2.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Rezension zu "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann
Hochschule
Universität des Saarlandes
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
15
Katalognummer
V110693
ISBN (eBook)
9783640088553
Dateigröße
483 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rezension, Hauptseminar, Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt
Arbeit zitieren
Dorothea Goeth (Autor:in), 2006, Rezension zu "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110693

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