ADHS - eine kritische Bestandsaufnahme


Vordiplomarbeit, 2008

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffserklärung

3. Diagnose
3.1 Zum Begriff
3.2 Die Diagnose bei ADHS
3.3 Kritik an der Diagnose

4. Ursachenzuschreibung
4.1 Der medizinisch- biologische Ansatz
4.1. 1 Kritik an dem medizinisch- biologischen Erklärungsversuch
4.2 Die Lebenswelt der Kinder- tiefenpsychologisch individueller Diskurs
4.2.1 Die „Schnellfeuerkultur“
4.2.2 Die Anforderungen der Schule
4.2.3 Familiäre Strukturen
4.2 Gründe für die Anerkennung des medizinischen Modells

5. Medikation
5.1 Geschichtlicher Hintergrund
5.2 Wirkungsweise
5.3 Kritik an der Medikamentenvergabe

6. Die Gefahr der Stigmatisierung

7. ADHS und Schule- Umgangsmöglichkeiten

8. Fazit

9. Quellen

10. Anhang

1. Einleitung

„Immer dann, wenn sich das Verhalten oder einzelne Verhaltensweisen eines Menschen erheblich von dem unterscheiden, was die Mitglieder der Gemeinschaft als akzeptabel und tolerierbar betrachten, wird diese Abweichung als „Störung“ vom „Normalen“ abgegrenzt und durch gezielte Maßnahmen zu korrigieren versucht.“[1]

Seit Mitte der 80er Jahre haben sich amerikanische Ärzte darauf geeinigt, die von der „Norm“ abweichende Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen von Kindern, wie hohe Impulsivität, motorische Unruhe und mangelnde Aufmerksamkeit als eine spezifische Erkrankung zu bezeichnen. Als Ursache wurde eine angeblich genetisch bedingte Stoffwechselstörung im Gehirn verantwortlich gemacht. Diese Vorstellung wurde schnell von Psychiatern und Ärzten in vielen Ländern übernommen. Seitdem hat die Anzahl der Kinder, bei denen diese als Aufmerksamkeitsdefizit -, Hyperaktivitätsstörung

(ADS bzw. ADHS) bezeichnete Erkrankung diagnostiziert wurde, explosionsartig zugenommen. Allein in den USA stieg die Anzahl der als behandlungsbedürftig eingeschätzten Kinder von unter einer Million im Jahr 1990 auf zehn Millionen im Jahr 2000.[2] Diese Zahlen zeigen das Ausmaß, welche die Verhaltensauffälligkeit in unserem Kulturkreis eingenommen hat.

Seitens vieler Wissenschaftler wird die Diagnose und Behandlungspraxis von ADHS heftig kritisiert. Sie sehen die Gefahr in einer Biologisierung sozialer Probleme, welche die tatsächlichen Ursachen für das Verhalten der Kinder und die Interessen hinter einer solchen Entwicklung verschleiern.

In dieser Arbeit möchte ich den derzeitigen ADHS Diskurs einer kritischen Analyse unterziehen und mich vor allem der Frage widmen, ob es sich bei dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom wirklich um eine durch einen Gendefekt verursachte Erkrankung handelt oder die auffälligen Verhaltensweisen vieler Kinder aus ihrer Lebenssituation resultieren.

Beginnen werde ich die Arbeit mit einer Begriffserklärung, um anschließend die Diagnose und die Ursachenzuschreibung von ADHS näher zu untersuchen und kritisch zu betrachten. Dabei möchte ich die zwei Hauptstränge des Diskurses abhandeln.

Dies ist zum Einen der biologisch- medizinische Ansatz, welcher davon ausgeht, dass der Ursprung von ADHS in der Physiologie des Kindes liegt, und zum Anderen der individuumszentrierte Diskurs.

Wissenschaftler, die sich dem individuumszentrierten Diskurs anschließen gehen davon aus, dass der Ursprung von ADHS in der Lebenswelt des Kindes zu suchen ist. Sie forschen nach den psychosozialen Gründen der Auffälligkeiten, bezeichnen ADHS nicht als Krankheit, sondern als eine Reaktion der Kinder auf ihre Umwelt und ihre schwierige Lebenslage. Dabei möchte ich vor allem die scheinbar bewiesene biologische Ursache für ADHS kritisch betrachten, um anschließend auf die kulturelle Erzeugung von ADHS einzugehen.

Des Weiteren möchte ich kurz auf die Therapie von ADHS in der gesellschaftlichen Praxis eingehen und dies kritisch beleuchten.

Anschließend analysiere ich die Folgen für die Kinder, welche entstehen können, wenn sie als krank abgestempelt werden. Dabei gehe ich kurz auf die Theorie des Labelling Approach ein.

Zudem werde ich zum Schluss Umgangsmöglichkeiten mit ADHS in der Schule aufzeigen und die Arbeit mit einem Fazit abschließen.

2. Begriffserklärung

ADHS steht für Aufmerksamkeits- Defizit- Syndrom mit Hyperaktivität. Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wird, zeigen Verhaltensweisen, die von hoher Ablenkbarkeit, motorischer Unruhe und Impulsivität geprägt sind.[3] Unter einem Syndrom versteht man in der Medizin ein Krankheitsbild, das sich aus dem Zusammentreffen verschiedener, charakteristischer Symptome ergibt.[4]

3. Diagnose

3.1 Zum Begriff

Allgemein bezeichnet eine Diagnose das Ergebnis einer unterscheidenden Beurteilung.

Erzeugt wird der Prozess durch eine vorausgehende Irritation darüber, dass ein Verhalten nicht den Erwartungen entspricht. Für eine Diagnose wird ein intersubjektives Kategoriensystem benötigt. Eine Diagnose ist demnach eine Zuordnung zu Kategorien von Exklusion und Inklusion.[5]

Der Autor und Sozialwissenschaftler Matthias Wenke fasst dies wie folgt zusammen:

„Wir, die Ärzte und die Gesellschaft als Ganzes haben es nötig, der Welt eine Ordnung zu geben, und wir tun dies unter anderem mittels Diagnosen. Diagnosen und diagnostische Instrumente sind Teil institutionalisierter Erklärungsroutinen. Man kann generell sagen, dass alle Formen von Beobachtung, also Diagnosen, aber auch Verstehensprozesse, auf Unterscheidungen und deren Benennung basieren und das mit diesen Unterscheidungen neue Figur- Grund- Verhältnisse im intersubjektiven Feld und somit neue Dinge geschaffen werden.“[6]

3.2 Die Diagnose bei ADHS

Die Symptome, die bei ADHS auftreten sind ein hohes Maß an Impulsivität, eine ununterbrochene Suche nach intensiver Stimulation, eine Neigung zu Rastlosigkeit und Ungeduld sowie eine sehr aktive, wechselnde Aufmerksamkeitsspanne.[7]

Im DSM (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) werden unter dem Titel ADHS den drei Teilbereichen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität verschiedene Verhaltensmerkmale zugeordnet.[8] (Liste s. Anhang)

Zudem müssen für das Aussprechen einer ADHS Diagnose noch vier weitere Kriterien erfüllt sein. Dazu zählt z.B., dass die Symptome unter zwei situativen Bedingungen, also intern (zu Hause) und extern (z.B. in der Schule) auftreten und das einige der auffälligen Verhaltensweisen bereits vor dem siebten Lebensjahr aufgetreten sind.

ADHS gilt in der Medizin als Krankheit und trotzdem existiert kein medizinischer Test, mit dem ADHS eindeutig nachgewiesen werden kann.[9]

Die ADHS Diagnose ist eine Ausschlussdiagnose, d.h. es müssen differential- diagnostisch alle anderen möglichen psychiatrischen (z.B. Depressionen, Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen) oder organischen Ursachen (z.B. Hirnverletzungen) für das auffällige Verhalten ausgeschlossen werden, bevor das Etikett ADHS vergeben wird.

Eine Diagnose sollte prinzipiell in vier Schritten erfolgen[10]:

1. Anamnese (Vorgeschichte einer Krankheit)
2. organischer Befund
3. psychologische Tests
4. Verhaltensbeobachtungen

3.3 Kritik an der Diagnose

Aufgrund undurchsichtiger und fragwürdiger Verfahren wird vermehrt Kritik an dem Diagnoseverfahren für ADHS geübt. Kritisch wird vor allem das Fehlen eines eindeutigen Testverfahrens beäugt.

Zudem ist die Formulierung der Kriterien für eine ADHS Diagnose äußerst ungenau definiert. So heißt es z.B. „Das Kind zappelt häufig mit Händen oder Füßen“[11] An dieser Stelle stellt sich die Frage, wer definiert was häufig ist und was nicht. Der Arzt, welcher die ADHS Diagnose stellt, handelt demnach nach seinem bloßen subjektiven Empfinden.

Oft werden die Diagnose Kriterien der „ADHS Liste“ nach einer einmaligen Beobachtung des Kindes in Form eines Fragebogens bloß abgehakt. In der Praxis sieht dies so aus, dass eine ADHS Diagnose bereits als gerechtfertigt gilt, wenn sechs Merkmale der Liste auf das Kind zutreffen.[12]

Nicole Raschendorfer stellt sich an dieser Stelle die Frage, was so grundsätzlich anders an einem Kind sein kann, das sechs Merkmale zeigt (ADHS Positiv) im Vergleich zu einem anderen Kind, dass fünf Merkmale zeigt (ADHS negativ).[13]

Bemerkenswert hierbei ist, sowie es Gerald Hüther betont, dass die Liste der ADHS Symptome in den letzten Jahren immer länger geworden ist. Mittlerweile umfasst diese Liste nahezu alles, was am Verhalten eines Kindes auffallen kann.[14]

Des Weiteren ist zu bedenken, dass es von der Umwelt abhängt, in der sich ein Kind bewegt, ob sein Verhalten als störend empfunden wird.[15] So wird es in einer ländlichen Umgebung, in der sich das Kind frei bewegen kann, kaum von Belang sein, dass es sich nicht ruhig beschäftigen kann und impulsives Verhalten zeigt. In der eingeengten Stadt könnte dies allerdings zum Problem werden.

Die Ergebnisse, die über die ADHS Fragebögen erzielt werden, beschreiben demnach vielmehr den Belastungsgrad derjenigen Personen, die in Beziehung mit dem Kind stehen, als das tatsächliche Verhalten des Kindes.[16]

Hinzu kommt noch, dass es zwischen den verschiedenen Ländern auffallende Unterschiede in der Diagnosepraxis gibt. Bedenkenswert ist, dass die ADHS Diagnose in Japan und China völlig unbekannt ist, in den USA hingegen etwa neun Prozent der Kinder (das sind viereinhalb Millionen) die Diagnose ADHS erhalten (Stand 1997).[17]

Dies zeigt eindrucksvoll, dass die ADHS Problematik in erster Linie sozial produziert

wird.[18]

Wenke ist der Ansicht, dass es sich bei ADHS um eine Modediagnose handelt, die oft in Minutenschnelle und in 80% der Fälle zu Unrecht gestellt wird. Zudem gibt Wenke zu bedenken, dass die Diagnose zum „Instrument eines Wolfsgesetzes“ der Leistungsgesellschaft werden kann, die jeden aussondert und als Krank abstempelt, der nicht als genügend standardisierbar erscheint.[19]

Aufgrund der aufgeführten Tatsachen scheint es eindeutig angebracht zu sein, eine ADHS Diagnose äußerst skeptisch zu betrachten.

4. Ursachenzuschreibung

In der Debatte über Erklärungsansätze für das ADH Syndrom lassen sich deutlich zwei Hauptstränge ausmachen. Zum Einen gibt es den antiindividuellen biologisch- medizinischen Mainstream und zum Anderen den individuumszentrierten tiefenpsychologischen Diskurs.[20]

Im Folgenden möchte ich das medizinische Erklärungsmodell darstellen und kritisch hinterfragen. Des Weiteren werde ich im Bezug darauf den tiefenpsychologischen Diskurs vorstellen und die Lebensbedingungen der Kinder beleuchten, welche ADHS typisches Verhalten hervorrufen können.

4.1 Der medizinisch- biologische Ansatz

Durch die Entwicklung neuer bildgebender Untersuchungsmethoden konnte in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Daten zu Stoffwechselprozessen im Gehirn gesammelt werden. Damit schien sich ein Traum vieler Wissenschaftler zu erfüllen, nämlich psychische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten auf organische Ursachen zurückführen zu können.[21]

Wissenschaftler und Hirnforscher gehen davon aus, dass der Ursprung von hoher Ablenkbarkeit, motorischer Unruhe und Impulsivität in der Physiologie des Kindes zu suchen ist. Dabei richtet sich ihr Blick in erster Linie auf das Gehirn. Denn dort werden alle Reize, die über die Sinnesorgane aufgenommen werden, verarbeitet. Dabei spielen die so genannten Neurotransmitter eine entscheidende Rolle. Sie leiten die Reize weiter und übergeben somit Informationen von einem Nerv auf den anderen.

Im Zusammenhang mit dem ADH Syndrom ist häufig von den Neurotransmittern Dopamin und Noradrenalin die Rede.[22]

Eine mögliche Erklärung für ADHS lautet, dass bei den Kindern, die an einer Verhaltensstörung leiden, in bestimmten Gehirnregionen ein Mangel an Dopamin besteht und Nervenzellen, die mit diesem Botenstoff arbeiten, Reize deshalb nicht weiterleiten können. Wiederum andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass es sich bei ADHS nicht um einen Mangel eines Botenstoffes handelt, sondern vielmehr eine Fehlfunktion des Transport- Systems vorliegt. Vermutet wird eine verminderte Dopamin- Ausschüttung, bei eigentlich ausreichendem Vorhandensein des Stoffes.[23]

Als Ursache für diese Auffälligkeiten in der Gehirnregion werden zwei Möglichkeiten genannt. Zum Einen die genetische Disposition, die davon ausgeht, dass ein oder mehrere defekte Gene für die Veränderungen im Stoffwechsel des Gehirn zuständig sind.

Verstärkt wurden diese Annahmen durch Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien. Das häufige Auftreten von ADHS bei mehreren Kindern in der Familie sowie bei Zwillingen scheint dafür zu sprechen, dass ADHS vererbt wird.[24] Jedoch wäre es an dieser Stelle auch angebracht zu überdenken, ob das Auftreten von ADHS bei Geschwisterkindern nicht an die gleichen Sozialisationsbedingungen, in welchen sie aufwachsen, geknüpft ist.

Zum Anderen ziehen einige Wissenschaftler als zweite Ursache für die Entstehung von ADHS Schädigungen des Gehirns vor oder kurz nach der Geburt in Betracht.[25]

Die Dopaminmangelhypothese wurde inzwischen durch alle möglichen Untersuchungen an betroffenen Kindern, an Tieren und Zellkulturen geprüft, modifiziert und erweitert. Somit hatte die Verhaltensstörung nun endlich eine klar definierte Ursache, ein Dopamindefizit im Gehirn, welcher sich scheinbar durch eine einfache Maßnahme, nämlich durch ein Medikament namens Ritalin beheben ließ. Das Störungsbild wurde fortan als Krankheit angesehen.[26]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ursachen für ADHS in medizinischer Sicht als unveränderbar gelten. Eine wirkliche Heilung der Krankheit ist nach diesem Erklärungsmodell nicht möglich.[27]

[...]


[1] Hüther Gerald, 2005: 11

[2] Ebd. S. 11

[3] Raschendorfer Nicole, 2003: 7

[4] Band 5: Das Fremdwörterbuch

[5] Wenke Matthias, 2006: 40

[6] Wenke Matthias, 2006: 40

[7] De Grandpre Richard, 2002: 18

[8] Raschendorfer Nicole, 2003: 17

[9] Raschendorfer Nicole, 2003: 17

[10] Wenke Matthias, 2006:66

[11] Raschendorfer Nicole, 2003: 19

[12] Ebd. S.19

[13] Raschendorfer Nicole, 2003: 20

[14] Hüther Gerald, 2002: 21

[15] GEW Regional Köditz, Michael S. 11

[16] Raschendorfer Nicole, 2003: 20

[17] Wenke Matthias, 2006: 67

[18] Wenke Matthias, 2006: 67

[19] Ebd. S. 69

[20] Wenke Matthias, 2006:82

[21] Von Lüpke Hans, 2002: 43

[22] Raschendorfer Nicole, 2003: 12

[23] Ebd. S. 13

[24] Von Lüpke Hans, 2002: 43

[25] Raschendorfer Nicole, 2003: 13

[26] Hüther Gerald, 2002: 18

[27] Raschendorfer Nicole, 2003: 13

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
ADHS - eine kritische Bestandsaufnahme
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
30
Katalognummer
V112510
ISBN (eBook)
9783640108442
ISBN (Buch)
9783640123735
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ADHS, Bestandsaufnahme
Arbeit zitieren
Christina Happ (Autor:in), 2008, ADHS - eine kritische Bestandsaufnahme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112510

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