Ausgewählte Werke der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur im Kontext


Hausarbeit, 2003

41 Seiten, Note: bestanden


Leseprobe


0. Gliederung

1. Einleitung

2. Charakterisierung der phantastischen Literatur
2.1. Geschichtliche Entwicklung der phantastischen Literatur
2.2. Der Zusammenhang zwischen Realität und Wirklichkeit
2.3. Spezifische Elemente der phantastischen Literatur

3. Phantastische Kinder- und Jugendliteratur
3.1. Die Besonderheiten der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur
3.2. Phantastische Kinder- und Jugendliteratur im Vergleich zu anderen für Kinder verfasste Gattungen
3.3. Unterschiede zwischen phantastischer Kinder- und Jugendliteratur mit vergleichbaren Werke für Erwachsene
3.4. Zielsetzung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur

4. Vergleichende Darstellung phantastischer Kinder- und Jugendgeschichten mit der phantastischen Literatur für Erwachsene
4.1. Abenteuerreisen in ferne Welten
4.1.1. Die unendliche Geschichte – Ende
4.1.2. Lippels Traum – Maar
4.1.3. Sofies Welt – Gaarder
4.1.4. Harry Potter – Rowling
4.2. Die unheimliche Begebenheit
4.2.1. Peter Schlemihls wundersame Geschichte – Chamisso
4.2.2. Timm Thaler – Krüss
4.2.3. Der Sandmann – Hoffmann
4.3. Neugierde und langer Heimweg
4.3.1. Kinder auf der Landstraße – Kafka
4.3.2. Nils Holgerssons wunderbare Reise auf den Wildenten – Lagerlöf
4.3.3. Nuni. Die Geschichte eines langen Heimwegs, bei dem die Sterne halfen – Mühlenhaupt
4.4. Märchenhafte Erlebnisse und Phantasiewelten
4.4.1. Alice im Wunderland – Carroll
4.4.2. Madru oder der große Wald – Hetmann
4.4.3. Der blonde Eckbert – Tieck

5. Schlusswort

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In den letzten Jahren zeichnete sich eine Veränderung auf dem Markt der Kinder- und Jugendliteratur ab. Phantastische Erzählungen erfreuen sich einer immer größeren Nachfrage. Besonders deutlich wird diese Entwicklung an dem immensen Erfolg der Bücher über den Zauberer Harry Potter von Joanne K. Rowling, in denen ein Junge, der ohne Eltern, als ungeliebtes Kind bei Onkel und Tante aufwächst, eine geheime Doppelexistenz in einer Welt der Zauberer und Hexen hat. Es besteht ein deutliches Interesse an Erzählungen, in denen das Wunderbare und die Magie mit einer realistischen Alltagsbeschreibung kombiniert wird.

Bereits Jahre vor dem Erscheinen des Harry Potter kündigte sich eine Entwicklung an, in der das realistische Kinder- und Jugendbuch zu Gunsten von phantastischen Erzählungen immer mehr in den Hintergrund geriet. Während noch bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts das realistische Kinderbuch, das Themen aus dem nahem Lebenskreis des Kindes oder auch von Kindern aus anderen Ländern behandelt, bevorzugt gelesen wurde, konnte in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur am Anfang der achtziger Jahre eine deutliche Veränderung ausgemacht werden. So sprechen die literarischen Erfolge Michael Endes in dieser Zeit für sich.

Die phantastische Kinder- und Jugendliteratur hat jedoch eine längere Tradition. Große Meisterwerke dieser Erzählform, zu denen Alice im Wunderland von L. Carroll, Peter Pan von J. Barrie und nicht zuletzt Nils Holgerssons wunderbare Reise auf den Wildenten von Selma Lagerlöf zählen, fanden in Deutschland zunächst zwar nicht die gleiche Verbreitung wie in ihren Ursprungsländern, bekamen jedoch im Laufe der Jahre einen Zuwachs an Popularität. Das Buch Pipi Langstrumpf von Astrid Lindgren, das in den vierziger Jahren erschien, wurde hingegen sofort ein weitverbreiteter Erfolg, löste bei den Kinder Begeisterung und bei den Erwachsenen Diskussionen über die phantastische Kinder- und Jugendlektüre aus.[1]

Die vorliegende Hausarbeit verfolgt die Zielsetzung das Genre der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur anhand ausgewählter Werke im Kontext darzustellen. Um eine Vergleichsmöglichkeit zu bieten, werden zudem phantastische Erzählungen der Erwachsenenliteratur vorgestellt.

Zu Beginn der Hausarbeit wird die Gattung der phantastischen Literatur charakterisiert, auf die geschichtliche Entwicklung und die spezifischen Elemente eingegangen. Im dritten Kapitel erfolgt eine Überleitung zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Es sollen hierbei die Besonderheiten dieser für junge Leser verfaßten Literatur aufgezeigt werden und die Unterschiede zu anderen Genres der Kinder- und Jugendliteratur sowie zu den phantastischen Werken für Erwachsene verdeutlicht werden. Auch auf die Zielsetzung, die phantastische Bücher für Kinder in pädagogischer Hinsicht verfolgen, wird kurz eingegangen. Im vierten Kapitel werden dann ausgewählte Werke für Kinder vorgestellt und der themenverwandten Literatur für Erwachsene gegenübergestellt. Anhand der Beispiele sollen nicht nur die Unterschiede verdeutlicht, sondern auch ein Überblick der bekannten phantast- ischen Werke der Literaturgeschichte gegeben werden.

2. Charakterisierung der phantastischen Literatur

Der Begriff und die Theorie der Phantastik sind sehr vieldeutig und wenig fassbar, was auf die geschichtliche Entwicklung zurückzuführen ist. Die begriffliche Ent- stehung geht auf eine Besprechung des Literaturhistorikers Ampère zurück, der im Jahr 1828 die Fantasiestücke E.T.A. Hoffmanns nicht mit der Bezeichnung fantaisie kennzeichnete, da ihm dieser Begriff nicht geeignet schien, etwas so Düsteres zu kennzeichnen, sondern das Wort fantastique wählte. Seitdem nennt man in Frankreich Literatur, die mit Hoffmanns Werken vergleichbar ist, contes fantastiques.

Im historischen Kontext wurden mit dem Begriff Phantastik Werke beschrieben, in denen eine existenzielle Verunsicherung durch Konfrontation mit übersinnlichen Mächten oder unheimlichen Begebenheiten thematisiert wurde. Die beängstigende Atmosphäre wurde hervorgerufen durch den Zusammenschluss nicht erklärbarer Erscheinungen mit der gewohnten Alltäglichkeit, was meistens aus der Sichtweise einer sich bedroht fühlenden Person geschildert wurde.[2]

Es handelt sich bei vielen phantastischen Werken um Rahmenerzählungen, in denen ein fiktiver Erzähler einem fiktiven Publikum von einem ungewöhnlichen Abenteuer berichtet.

Die Phantastik sucht ihre Motive, wie z.B. den Magier, den Teufel und den Doppelgänger in der uralten Tradition, zu der die mündlich überlieferten Volkssagen, die Schriften der Theologen, Philosophen und der Historiker zählen.[3]

Im Unterschied zum Märchen wird in der phantastischen Erzählung ein klarer Bezug zur Realität deutlich. Der Handlungsrahmen weist einen dominierenden Realitätsbezug auf, der durch verifizierbare Handlungen unterstrichen wird, jedoch plötzlich und unvermittelt einen Einbruch durch das Irreale erhält. Dieses Irreale scheint den empirischen Alltagserfahrungen zu widersprechen und mit kausal- rationalen Gesetzmäßigkeiten nicht zu erklären sein. Auf diese Weise wird die Wirklichkeit und ihre Sicherheiten fundamental in Frage gestellt. Ein Gefühl des Unbehagens, das sich bis zur existentiellen Angst hin steigert, wird hervorgerufen. Mittels der Gegenüberstellung der alltäglichen Welt, die als das Vertraute zu verstehen ist, mit dem Irrealen und Fremdartigen, wird ein Konflikt zwischen dem Realen und dem Möglichen erzeugt. So wird durch das Phantastische die Destruktivität der modernen Welt, der man durch ihre zunehmende Unüber- schaubarkeit ohnmächtig gegenübersteht, kritisiert. Die `Helden` der phantastischen Prosa bleiben auf der einen Seite ihren Träumen und Hoffnungen von einer erfüllten Identität und auf der anderen Seite den gespenstischen Vorgängen, durch die sie sich verfolgt fühlen, treu.[4]

Das Phantastische hat eine Affinität zum Tragischen. Das Schicksal, das der `Held` in der phantastischen Erzählung erleiden muss, sei es Tod, Wahnsinn oder Ver- wandlung, ereilt ihn nicht nur von außen. Er scheint vielmehr ein geheimer Verbündeter zu sein und kommt seinem Verführer mindestens die Hälfte des Weges entgegen.[5] Das hierbei ein großer Unterschied zu der phantastischen Literatur für Kinder besteht, wird im dritten Kapitel näher erläutert.

2.1. Geschichtliche Entwicklung der phantastischen Literatur

Die Phantastik zeigt sich als ein verhältnismäßig junger Zweig der dichterischen Fiktion. In historischen Zeiten des Umbruchs und der Lockerung der Werte, wenn die Tradition verfällt und die Unsicherheit zunimmt, eignet sich die phantastische Erzählweise als Mittel, die allgemeine Stimmung abzubilden.

So erreichte die Phantastik zu Zeiten der französischen Revolution ihren ersten Höhepunkt. Es kamen im literarischen Schaffen die Orientierungsängste zum Ausdruck, die sich daraus erübrigten, dass die ordnungsstiftenden Instanzen von Staat, Adel, Klerus und Kirche in ihrer Funktion hinterfragt und entmachtet wurden. Damit einher ging das Bedürfnis, gegen alte, erstarrte Ordnungen aufzubegehren und sie durch etwas Neues abzulösen. Das Gefühl, von der Kraft strukturierender Kräfte, die dem Leben Sinn und Halt geben, verlassen zu sein, zeigt sich in der hoffnungslosen, bedrohlichen Situation, die die Hauptfigur der phantastischen Literatur erleidet.

In der Epoche der Romantik wurde ein vollständiger Bruch mit der Tradition der Aufklärung vollzogen. Besonders von A.W. Schlegel, der in den Jahren 1801 bis 1804 in Berlin Vorlesungen über schöne Kunst und Literatur hielt, wurde auf den radikalen Neuanfang hingewiesen und die Aufklärung kritisiert.[6] Diese grund- legenden Veränderungen spiegelten sich in vielen phantastischen Werken wider, deren Verfasser u.a. Tieck, Wackenroder, Novalis und Hoffmann sind.

Schon die literarischen Vorströmungen, die einen Einfluss auf die Romantik ausübten, kündigten an, dass nicht nur naive und märchenhafte Themen zum Ausdruck kommen werden, sondern vor allem auch das Dunkle, Mystisch-Rätselhafte und Metaphysische, dass sich in den Schattenseiten der Natur zeigt.

Einen wichtigen Einfluss auf die Lyrik der vorromantischen Literatur hatten die Dichtungen Ossians. Es zeigte sich schon in literarischen Vorströmungen deutlich ein Geschmackswandel in der Literatur, da die empfindsam-melancholischen Liebesklagen des einfachen Mannes, der in düsterer, nordischer Landschaft beheimatet ist, thematisiert worden sind.[7]

Im Gefolge der industriellen Revolution und den damit einhergehenden technischen, sozialen und kulturellen Veränderungen thematisierte die phantastische Literatur dieser Zeit die Angst vor dem Anonymen und dem kollektiven Zusammenleben einer kapitalistisch orientierten Welt, in der Maschinen zum wichtigen Bestandteil der Arbeitswelt und Lebensumgebung wurden. Die scheinbaren Segensbringer der industriellen Revolution, Kapital und Produktion, wurden in der Phantastik in ihrer Zweischneidigkeit, gleichzeitig Fortschritt und auch Mittel der Entfremdung des Menschen von sich und seiner Umwelt zu sein, entlarvt.[8]

Neue Ausdrucksbereiche erhielt die phantastische Literatur durch die schrecklichen Folgen von zwei Weltkriegen und der gegenwärtig sich vollziehenden elektronischen Revolution. Die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit wird in der modernen Phantastik dadurch dargestellt, dass Mensch zur bloßen Funktion in einem Automatenszenario verkümmert.[9]

Die gesellschaftlichen Umbrüche finden ihren Ausdruck in den Empfindungen einer Hauptfigur, die an Orientierungslosigkeit, Wahnsinn und Angst leidet, was durch die Einwirkung unsichtbarer Mächte bedingt zu sein scheint. In einem real dargestellten Szenario, das alle Aspekte des Bekannten und Vertrauenswürdigen aufweist, ereignen sich Unerklärlichkeiten, die ein diabolisches Ziel zu verfolgen scheinen. Diese Charakterisierung trifft jedoch zum großen Teil nur auf die phantastische Literatur für Erwachsene ein.

2.2. Der Zusammenhang zwischen Realität und Wirklichkeit

Anhand der historischen Entwicklung der phantastischen Literatur für Erwachsene zeigt sich, dass durch Konfrontation der Hauptfigur mit unerklärlichen, über- natürlichen und oft bedrohlichen Ereignissen die immanente Realität kritisiert wird. Unter dem Begriff Realität darf jedoch nicht die absolute und objektive Wirklichkeit verstanden werden. Es handelt sich um epochenspezifische Vorstellungen, anhand derer das Leben der Menschen in ihrem zeitlichen Kontext dargestellt wird.

Die literarische Phantastik spiegelt das Bewusstsein am Ende von kultur- geschichtlichen Entwicklungen wider. Die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit der Menschen zeigt sich in den Gefühlen der Hauptfigur, die mit den von außen in die strukturierte Realität einbrechenden Bedrohungen, kämpfen muss. Es ist jedoch im Erzählverlauf nicht immer eindeutig ersichtbar, ob die vermeintlich über- sinnlichen Erscheinungen nur Empfindungen der Hauptfigur, die unter ihrer labilen Psyche leidet, sind. In dem Verlauf der phantastischen Erzählung wird ein Gefühl der Unsicherheit beim Leser erzeugt, da die übernatürlichen Mächte auch ein Produkt der Phantasie der Hauptfigur sein können. Das Unheimliche verschiebt sich ins Innerseelische, es zeigt sich in den Gefühlen und Phantasien des Protagonisten, bei dem es scheint, als könnte nur er allein die bedrohliche Gefahr spüren.

Die durch eine abweichende Empfindung hervorgerufene Isolation der Hauptfigur zeigt sich z.B. in Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann. Freunde und Familie haben in dieser Erzählung eine vernunftbezogene Sichtweise und können den von schrecklichen Visionen und Alpträumen heimgesuchten Nathanael nicht verstehen. Die Hauptfigur steht also im Zwiespalt zwischen den eigenen Empfindungen, die für den Leser nachvollziehbar dargestellt werden, und der Wahrnehmung von vertrauten Personen, die diese Empfindungen in Frage stellen.

Im Folgenden werden die in der phantastischen Literatur oft wiederkehrenden Elemente dargestellt, die auch in Werken für Kinder als Darstellungsmittel des Unheimlichen angewandt werden.

2.3. Spezifische Elemente der phantastischen Literatur

Um in einer Erzählung eine düstere Atmosphäre darzustellen, wenden viele Verfasser phantastischer Literatur bevorzugt die Aussagekraft dunkler Farben an, um dadurch eine Situation oder eine Figur zu beschreiben. So kommt in vielen Erzählungen eine gehäufte Nennung der Farbe Schwarz vor, um die unheimliche Dunkelheit der Schatten und des Zwielichtes zu beschreiben.

E.T.A. Hoffmann betitelt zum Beispiel seine Sammlung phantastischer Geschichten mit dem Begriff Nachtstücke. Das Walten eines unheimlichen Schicksals versinn- bildlicht Perutz in seiner Geschichte Der Mond lacht dadurch, dass sie während der Nachtzeit spielt. Die traumatisch sich äußernde Mondsucht führt den Einzelnen bei Anbruch der Nacht ins sichere Verderben. Frey, der Zeuge zweier Weltkriege gewesen ist, lässt den Erzähler in der Geschichte Das unbewohnte Haus zur Nachtzeit Zeuge eines Gelages werden, bei dem eine schöne Prostituierte von ihren Freiern erstochen wird. Das unbewohnte Haus zählt zu einer Sammlung, die Frey 1913 unter der Bezeichnung Dunkle Gänge veröffentlicht hat. Der Erzählband Außenseiter wird durch eine Geschichte mit den ungewöhnlichen Namen Hütlein eingeleitet, in der eine Szenerie des Sterbens und Vergehens dargestellt wird. Der Außenseiter dieser Erzählung ist ein Sonderling, der in einem baufälligen Schloss, das von einem von Sümpfen durchzogenen Park umgeben ist, lebt. Das Licht spielt in der Erzählung eine besondere Rolle, da der sonderbare Mann ein Wesen in einem Käfig gefangen hält, das nur durch das eigene, abgestrahlte, phosphoreszierende Licht wahrgenommen werden kann.[10]

Doch der Anblick des Lichts bedeutet für den Sonderling nicht Schönheit oder Helligkeit. Ihm kommt der Gedanke, dass das Wesen aller Stoffe der Verfall ist, was sich in manchen Fällen durch Abstrahlung eines herrlichen Lichts zeigt.[11]

Auch in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur werden dunkle Farben als Ausdrucksmittel der Beschreibung von unheimlichen Begebenheiten angewandt. So hat der elternlose Betteljunge Krabat in Ottfried Preußlers gleichnamigen Roman einen Traum von zehn schwarzen Raben, die auf einer Stange sitzen, während eine Stimme ihn bittet, in die Mühle nach Schwarzkollm zu kommen, die er daraufhin aufsucht: „Da lag sie vor ihm, in den Schnee geduckt, dunkel, bedrohlich, ein mächtiges, böses Tier, das auf Beute lauert.“[12]

Tolkien, der Verfasser des Romans Der Herr der Ringe charakterisiert die Helfer des Bösen mit dunklen Farben: „Sie selbst sehen die Welt des Lichts nicht so wie wir, aber unsere Gestalten werfen in ihrem Geist Schatten, die nur die Mittagssonne zerstört; und in der Dunkelheit nehmen sie viele Zeichen und Formen wahr,...“[13]

Aber nicht nur dunkle Farben kommen in der phantastischen Erzählung zum Ausdruck, um eine Gefahr darzustellen. Die Farbe Rot wird gerne als Kontrast zur Dunkelheit und als Warnhinweis eingesetzt, um auf eine Bedrohung hinzuweisen. Die Erzählung Der schwarze See von Marie Luise Kaschnitz findet zum Beispiel an einem Gewässer statt, das sich rot verfärbt hat. Es handelt sich hierbei um den Albaner See, dessen Farbe sich durch die Einwirkung der unterirdischen Quellen der Via Appia verfärbt haben soll. Die unheimliche Atmosphäre ist dem See jedoch durch den jahrelangen Tourismus verlorengegangen. Erst als Kinder an seinem Ufer eine in eine Baumwurzel verkeilte Frauenleiche finden, beginn erneut der Schrecken. In der Erzählung Ein Traum in Rot von Alexander Lernet-Holenias, die im Jahr vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges verfasst wurde, kommt der roten Farbe ebenso eine besondere Bedeutung zu. Die Gefahr besteht darin, dass über dem Haus des galizischen Gutsherrn Chlodowski ein Fluch zu liegen scheint. Es handelt sich bei diesem Fluch um die unabwendbare Bedrohung der roten Revolution, die von den Steppen der Mongolei heraus, das Ordnungsprinzip der traditionellen Herrschaft zerstören will.[14]

Aber auch schon in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817) tritt der deutliche Einsatz der Farbe Rot zu Tage. Der sich von der gruseligen Gestalt des aus einem Kindermärchen stammende Sandmann verfolgt fühlende Nathanael, erinnert sich in dem Brief an seinen Freund Lothar an die unheimliche Begegnung mit dem Advokaten Coppelius, den er als Kind für den Sandmann gehalten hat. Nathanael bemerkt zu den alchimistischen Experimente des Advokaten mit seinem Vater, dass Coppelius mit „den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme“[15] holte. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung kommt der Farbe Rot als Symbolträger für Gefahr und Bedrohung eine besondere Stellung zu. Heym stilisiert in seiner Erzählung Der Schläfer (1910) den Schlaf zu einer mythischen Figur mit einem dunkelroten Schnabel und kalten Schwingen, dessen Gesang mit einem Ton von krankem Violett beschrieben wird.[16]

Als ein weiteres wichtiges Gestaltungsmittel der phantastischen Erzählung erweist sich die Einfügung von Elementen des im 18. Jahrhundert oft gelesenen Schauerromans. Bereits in Jean Pauls Siebenkäs (1796/97) und Schmelzles Reise nach Flätz (1807) wird der Gespensterglauben thematisiert, der noch in naher Anknüpfung an die Gespenstergeschichten steht. Anklänge an die traditionellen Themen der sogenannten tale of terror finden sich auch in der Erzählung Die Geschichte von dem Gespensterschiff (1826) von Wilhelm Hauff, in der Nacht für Nacht die Toten Matrosen einer gewaltsam ums Leben gekommenen Mannschaft auf einem Schiff zum Leben erwachen und grausame Morde begehen. Aber auch das Gespensterbuch von Johann August Apel und Friedrich Laun weist Merkmale des Schauerromans auf.[17]

Insbesondere das phantastische Kinder- und Jugendbuch thematisiert Geschichten um Gespenster und andere gruselige Gestalten, die entweder der moralischen Abschreckung, dem Gruselspaß oder der Verkörperung von Feindbildern und Existenzängsten dienten. So bekommt der rote Meffi in Doris Jannauschs Erzählung die teuflische Aufgabe, jemanden höllenreif zu ärgern. Dieter Grimm vermenschlicht und verniedlicht in Archi, das Gespensterkind einen spukunbegabten Geist.[18]

Ein weiteres, oft verwendetes Motiv der phantastischen Erzählung ist der Doppelgänger.

[...]


[1] Marquard, S. 75

[2] Meißner, S. 7-8

[3] Paul, S. 12-13

[4] Fuchs, S. 28 f.

[5] Paul, S. 31

[6] Hoffmeister, S. 10

[7] Ebd., S. 28

[8] Freund 1999, S. 11 f.

[9] Freund 1999, S. 11 f.

[10] Freund 1999, S. 98 f.

[11] Freund 1999, S. 98 f.

[12] Ebd., S. 237

[13] Tolkien, Erster Teil: Die Gefährten, S. 235

[14] Freund 1999, S. 108, 220

[15] Kaiser, S. 13

[16] Freund 1999, S. 108, 220

[17] Ebd., S. 77 f.

[18] Freund 1987, S. 30-31

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Ausgewählte Werke der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur im Kontext
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für neuere deutsche und europäische Literatur)
Note
bestanden
Autor
Jahr
2003
Seiten
41
Katalognummer
V32589
ISBN (eBook)
9783638332675
ISBN (Buch)
9783638719599
Dateigröße
631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ausgewählte, Werke, Kinder-, Jugendliteratur, Kontext
Arbeit zitieren
Birgit Brenncke (Autor:in), 2003, Ausgewählte Werke der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur im Kontext, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32589

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