Die Schuld-Sühne-Problematik in Hartmanns 'Erec'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

24 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Aufstieg und Fall
2.1. Konfliktêreundminne
2.2. Falsche Motivation für „Initialâventiure
2.3. Dieâventiureals Sühneweg

3. Die Rolle der Frau
3.1. Enites Part
3.1.1. Enites sozialer Status
3.1.2. Das Schweigegebot
3.1.3. Enitestriuwe
3.2. Spiegelungen für ungerechte Behandlung Enites
3.2.1. Kritik von ‚unten’
3.2.2. Die Oringels-Episode

4. Joie de la curt

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„HARTMANNS EREC STEHT, TROTZ ALLER ARBEIT, die man schon auf ihn verwendet [hat], im ganzen nicht sehr überzeugend vor uns“[1]. Mit diesem Ausspruch verdeutlicht Kuhn die besondere Problematik, der sich dieErec-Forschung gegenüber gestellt sieht. Viele Interpretationsansätze klaffen weit auseinander, und es herrscht noch nicht einmal Einigung darüber, was eigentlich die zentrale Angelegenheit des Werks ist.

Hartmann verfasste seinenErec, der zwar bis heute sehr bekannt, von welchem allerdings nur eine, fast vollständig überlieferte Handschrift vorhanden ist, um 1180 nach Vorlage des französischen RomansErec et Enidevon Chrétien de Troyes. Dabei nahm er einige inhaltliche Veränderungen vor und passte sein Werk dem höfischen Kontext seiner Zeit an.[2]Unter anderem sind in seiner Darstellung der Enite deren ärmliche Verhältnisse um einiges krasser herausgearbeitet, als dies bei Chrétien der Fall ist und er ‚vertauscht’ die Rollen in der Versöhnungsszene (6771-6801): während Erec bei Chrétien Enite verzeiht, entschuldigt er sich in Hartmanns Fassung bei seiner Frau für sein Verhalten, wodurch eine zentrale Frage noch mehr hervortritt: Hat sich Enite an der durch dasverligenim Karnant entstandenen Misere zumindest mitschuldig gemacht und wie stark ist ihre Rolle zu bewerten? „Prüfstein“[3]fast jeder wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Epos ist die Frage mit welcher Begründung Erec Enite mit aufâventiurenimmt und sie schwierigen Prüfungen unterzieht.

Thomas Cramer bezeichnet Enite in seinem Aufsatz zu Recht als „crux interpretationis“[4], da ihre Funktion im Roman und damit die Frage nach ihrer Schuld bis heute streitbar geblieben ist.

Im Folgenden soll sich diese Arbeit damit auseinandersetzen, was im Einzelnen die Gründe für die zweiteâventiure-Sequenz – nach demverligenim Karnant – sind, welchen Zweck diese erfüllt und wie Enite eingebunden ist. Darüber hinaus soll versucht werden zu erörtern, wie stark die Bedeutung von Enite für die Entwicklung des Stücks ist und ob die Frage nach Schuld oder Unschuld überhaupt eine wesentliche Grundlage für einen Interpretationsansatz bietet.

2. Aufstieg und Fall

Bei Hartmann findet man, im Gegensatz zu Chrétien, einen sogenannten „Doppelweg“[5]im Aufbau desErec. Dieser Doppelweg zeichnet sich durch einen zweimaligen Aufstieg und Fall des Helden aus. Die erste Handlungssequenz teilt sich, schematisch dargestellt von Kuhn[6], in vier Episoden, nämlich einmal die Jagd auf einen weißen Hirsch[7], dann die von Erec durch Iders’ Zwerg erfahrene Demütigung, welche Erecs ersten Fall darstellen, und die darauf folgende Einkehr in die arme Behausung von Enites Vater. Diese führen zusammen mit dem Sieg Erecs im Sperberkampf gegen Iders, der gleichzeitig den ersten Wendepunkt darstellt, expositorisch auf den ersten klimaktischen Passus, die Hochzeit von Erec und Enite, die als Krönung die Herrschaft im Karnant übernehmen.

[der König] vuorte si heim ze Karnant
unde gap sîn lant
in ir beider gewalt,
daz er ze künege wære gezalt
und daz si wære künegîn:
er hiez si beide gewaltic sîn. (2918-23)

Das sich zuvor ereignende Turnier dient dazu, die anschließende Herrschaft gesellschaftlich zu rechtfertigen. Diese erworbene hohe soziale Stellung bereitet schließlich den zweiten tieferen Sturz, nach der ihm durch Iders zugefügten Schande, vor und lässt ihn umso stärker erscheinen: Erecverligtsich, fällt also von einer höchstgelegenen gesellschaftlichen Position zum tiefsten Punkt gesellschaftlich geachteten Daseins, womit die zweiteâventiure-Sequenz ausgelöst wird, in welcher der Protagonist kontinuierlich seine Ehre wieder zurückgewinnt.

Kaiser ist der Meinung, dass bei Hartmann die Wichtigkeit des Verdienstes von ritterlicher Ehre dadurch betont wird, dass das Ehepaar Erec und Enite ohne eigenes Zutun die Königswürde von Erecs Vater, dem König von Lac, verliehen bekommt, um diese dann durch ihrverligenwieder zu verlieren. Der Aufstieg des Paares sei unverdient und stünde in keinem Verhältnis zu vorher Geleistetem.[8]Dagegen spricht allerdings die bereits erwähnte Tatsache, dass das vorausgehende Turnier wohl eine gesellschaftlich rechtfertigende Funktion übernimmt. Naheliegender ist, dass Erec und Enite nach der Erlangung ihres königlichen Status nichts mehr dafür tun, um diesen auch weiterhin fundieren zu können.

Die letzte Station Erecs ist dieJoie de la curt, auf deren gesonderte Stellung später in dieser Arbeit eingegangen werden wird.

2.1. Konflikt êre und minne

Durch das ganze Stück hindurch zeigt sich ein deutlicher Konflikt zwischen den beiden ritterlichen Begriffen vonêreundminne, die zumindest für Erec zunächst unvereinbar scheinen. Zuerst erlangt er eine angesehene gesellschaftliche Stellung, um diese im nächsten Schritt durch den Akt desverligenswieder zu verlieren. Das junge Ehepaar schottet sich völlig von der Außenwelt ab und vernachlässigt darüber seine höfischen Pflichten.[9]

Welz bezeichnet die Situation, in der sich Erec nun durch seinverligenbefindet, als „verkehrte Welt“[10], da die Erfüllung von gesellschaftlichen Obligationen für ihn zu einer beschwerlichen Last wird. Er ruht sich sozusagen auf seinen Lorbeeren aus und erbringt keine entsprechenden Leistungen mehr. Als er sich seines Missstandes gewahr wird, ändert er sein Verhalten ins absolute Gegenteil: Er kehrt durch die Krise dem höfischen Leben den Rücken und wendet sich auch von Enite ab[11], was sich durch die Trennung von Tisch und Bett während derâventiurezeigt; Hartmann lässt also keine Andeutung einer echtenminne-Beziehung zwischen Erec und Enite zu.

Erec muss sich nun seineêreerneut verdienen und zeigen, dass er gesellschaftsfähig ist, wozu gehört, dass er das rechte Maß zwischenêreundminnewieder findet.

2.2. Falsche Motivation für „Initial âventiure“

Der gemeinsame[12] Aufstieg und Fall des Ehepaars – Enite ist als Erecs Ehefrau genauso davon betroffen, obwohl sie selbst nicht aktiv dazu beiträgt – ist begründet durch Erecs zunächst offensichtlich falsche Beweggründe für die sogenannte Initialâventiure: er sieht sich durch die ihm von Iders Zwerg zugefügte Schmach in seiner ritterlichen Ehre verletzt und will diese Ehre durch Rache an Iders wiederherstellen, wozu sich ihm der Kampf um den Sperber als Preis für die schönste Dame als Gelegenheit bietet (480-510). Enite, die er zu diesem Plan von dem armen Grafen erbittet, dient ihm zusammen mit den verlangten Waffen hier nur „als Mittel zum Zweck“[13]; Erec ‚bewaffnet’ sich mit Enites Schönheit, welche er zu Anfang völlig sachlich und emotionslos feststellt, was der allgemeinen höfischen Vorstellung, „Schönheit und Minne gehören [...] zusammen“[14]widerspricht. Hartmann drängt Enites äußere Gestalt, die von Chrétien in den höchsten Tönen gepriesen wird, in den Hintergrund, um Rache als Motivation für Erecs ersteâventiurehervorzuheben. Damit wird nicht nur demonstriert, dass Erec einerseits geistig nicht entwickelt genug ist, um die wahren Tugenden eines Ritters zu besitzen, sondern auch, dass er nicht fähig ist, wahreminneals Teil der ritterlichen Tugenden zu erkennen. Erecs Anliegen ist es nicht, durch den Gewinn des Schönheitspreises, dem Sperber, Enite zu ehren, sondern „sînen geiselstreich“ (950) zu rächen.[15]Wortwörtlich äußert sich Erec gegenüber dem besiegten Iders, welchem er auf Bitten das Leben gewährt hat:

ouch hete ich iu immer nâch geriten
ê ir des wæret vermiten
ich enwürde an iu gerochen. (1036-38)

Auch der Zwerg muss eine harte Strafe über sich ergehen lassen, damit Erecs Rache-’gelüste’ befriedet werden. Damit ist seine Ehre aber noch nicht wiederhergestellt: Er hat sie vor der versammelten Hofgesellschaft verloren und will sie vor dieser auch zurückgewinnen, weswegen er Iders dazu zwingt, zum Artushof zu reiten, um sich dort für die den Beteiligten beigebrachte Schande zu entschuldigen (1080ff.).

Die „râche-Motivik“[16]kann so als eine Voraussetzung für den zweiten tiefen Fall, der schließlich zum zweitenâventiure-Weg führt, gesehen werden. Diese zweiteâventiureschließlich ist als Gegenstück zur ersten geprägt von einer „erbermde-Motivik“[17]. Als erste Schlüsselstelle dient die Befreiung des Ritters Cadoc, der von zwei Riesen grundlos gequält und beinahe zu Tode gefoltert wird. Hier verteidigt Erec zum ersten Mal nicht sein eigenes Leben, sondern das eines wehrlosen Unschuldigen.

als diz Êrec ersach,
nû bewegete sritters smerze
sô sêre sîn herze
daz er bî im ê wære erslagen
ê er inz hæte vertragen
und daz ez an sîner varwe schein. (5429-34)

Der Kampf mit den beiden Riesen ist dieses Mal keine Verteidigung aus Gründen der Unter-Beweis-Stellung seiner Ehre; Erec handelt aus einem Gefühl der „Nächstenliebe“[18]heraus. Danach folgt, was als dritter und auch sinnbildlichster Sturz Erecs gesehen werden kann[19], Erecs Scheintod, welcher eine veränderte Einstellung des Helden gegenüberêreundminnebewirkt, die schließlich zur Versöhnung mit Enite führt. Erec kann nun wieder ‚auferstehen’ und ein neues Leben beginnen, was eine Steigerung in derJoie de la curt-Szene erfährt, als er die 80 Witwen aus der Gefangenschaft des Mabonagrin befreit und diesen zusammen mit dessen Geliebten zurück in das höfische Leben führt.

[...]


[1]Kuhn S.133.

[2]Vgl. Mertens S.53 („adaption courtoise“).

[3]Hrubý S.338.

[4]S.97.

[5]Mertens S.59. Vgl. Wiehl S.91, Kuhn S.133, Ruh S.112.

[6]Vgl. S.135.

[7]Die Jagd auf den weißen Hirsch ist bei Hartmann verloren, kann aber mit Hilfe der Chrétien-schen Vorlage rekonstruiert werden (vgl. Kuhn S.133).

[8]Vgl. Kaiser S.85.

[9]Die Vernachlässigung liegt bei Erec. Auf seine Stellung als Herr in der Ehe wird an anderer Stelle kurz eingegangen wird.

[10]S.11.

[11]Vgl. Haug S.679.

[12]Kaiser S.85.

[13]Ibid S.86.

[14]Ruh S.115.

[15]Vgl. Kaiser S.86, Schulze S.21.

[16]Kaiser S.85.

[17]Ibid.

[18]Tax S.280.

[19]Es handelt sich hierbei um meine persönliche Meinung.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Schuld-Sühne-Problematik in Hartmanns 'Erec'
Hochschule
Universität Trier
Note
2,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
24
Katalognummer
V61682
ISBN (eBook)
9783638550895
ISBN (Buch)
9783656790884
Dateigröße
471 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schuld-Sühne-Problematik, Hartmanns, Erec
Arbeit zitieren
Nadine Scherny (Autor:in), 2005, Die Schuld-Sühne-Problematik in Hartmanns 'Erec', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61682

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