Allesamt Faschisten? Die „68er“ und die NS-Vergangenheit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

22 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Verdrängung und Bewältigung: Die NS-Vergangenheit in den westdeutschen Diskursen bis Mitte der sechziger Jahre

3. Die nationalsozialistische Vergangenheit und die „68er“-Bewegung
3.1 Theoretische Grundlagen der Faschismusinterpretation
3.2 Radikalisierung und Eskalation der NS-Debatte im Laufe der Revolte von „68“

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wie an keinem anderen Datum in der Geschichte der Bundesrepublik entzünden sich an dem Jahr 1968 und den von ihm repräsentierten gesellschaftlichen Umbrüchen extrem polarisierte und polarisierende Auseinandersetzungen und Ansichten. Die einen sehen in „68“ ein Jahr des Aufbruchs, das der Bundesrepublik einen umfassenden Modernisierungs- und Liberalisierungsschub brachte. Kritiker jedoch machen die „68er“-Bewegung für Autoritätsschwäche und Werteverfall innerhalb der Gesellschaft und damit letztlich für alles verantwortlich, was ihrer Meinung nach in Deutschland schief läuft, bis hin zu dem grassierenden Rechtsextremismus in den neunziger Jahren.[1] Auch in der Frage, ob es sich bei „1968“ um einen reinen Generationenkonflikt oder um eine soziale Bewegung mit ernsthaften politischen Anliegen gehandelt hat, herrscht Uneinigkeit – selbst in der Wissenschaft.[2]

Ein ähnlich uneinheitliches Bild bieten die teils von ideologischen Standpunkten geprägten Einschätzungen, welchen Beitrag die „68er“-Bewegung zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit - die neben den Protesten gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze und die Große Koalition zu ihren zentralen Themen gehörte - geleistet hat. Eine weit verbreitete Ansicht in der deutschen Öffentlichkeit bewertet die Aktivisten der „68er“-Bewegung als diejenigen, die erstmals offensiv die verdrängte Vergangenheit thematisiert hätten und schreibt ihnen darum eine entscheidende Bedeutung für den veränderten Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus zu. Mitunter wurde in diesem Zusammenhang sogar von einer zweiten, nun wirklich antifaschistischen Gründung der Republik gesprochen. Andere wiederum bezeichnen diese Wahrnehmung als einen der Mythen von „68“ und meinen, die „68er“ hätten die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit eher behindert als gefördert. Insbesondere mit Blick auf den Holocaust ist sogar von einer Phase der „zweiten Verdrängung“[3] die Rede gewesen oder doch zumindest von einer Derealisierung, die nichts zum Verständnis dieses Menschheitsverbrechens beigetragen habe.[4]

In der Geschichtswissenschaft besteht jedoch mittlerweile Übereinstimmung darin, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit bereits Ende der fünfziger Jahre begonnen hat. Die „68er“ hätten die bereits im vollen Gange befindliche Debatte nur aufgegriffen, intensiviert und letztlich eskaliert. Auch was den Umgang mit dem Holocaust betrifft, stellt die gesamte für diese Arbeit herangezogene Forschungsliteratur in ungewöhnlicher Einhelligkeit den „68ern“ ein schlechtes Zeugnis aus.

Diese Tatsache ist irritierend genug, um zu fragen, was für eine Rolle die NS-Vergangenheit für die „68er“-Bewegung[5] gespielt hat und welche Faktoren und Entwicklungen denn zu der von den Historikern diagnostizierten Eskalation in der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit geführt haben. Abschließend stellt sich dann die Frage nach dem Anteil, den die „68er“ wirklich an der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte hatten und ob das Urteil von einer zweiten Verdrängung des Holocaust tatsächlich zutrifft.

Zu Beginn ist es erforderlich darzulegen, auf welchem Stand sich die westdeutsche „Vergangenheitsbewältigung“ befand, als sich die Protestbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu formieren begann und sich die Thematik aneignete. Darauf folgt ein knapper aber unverzichtbarer Überblick über die theoretischen Grundlagen der Faschismusinterpretation der Bewegung und daran anschließend eine Darstellung des zeithistorischen und gesellschaftlichen Hintergrundes, vor dem sich diese Faschismusdebatte vollzog und der sich aus ihr ergebenden Folgen für den Umgang der APO mit der jüngeren deutschen Vergangenheit.

2. Verdrängung und Bewältigung: Die NS-Vergangenheit in den westdeutschen Diskursen bis Mitte der sechziger Jahre

Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik war in der Wiederaufbauphase vor allem bestimmt von einer umfassenden Reintegration der NS-Funktionseliten, von einer politisch-ideologischen Tabuisierung des „Dritten Reiches“ sowie einer fast vollständigen Verdrängung der deutschen Schuld. Dabei war das „Dritte Reich“ auch in den 1950er Jahren durchaus ein Thema. Allerdings unter einseitigen bis fragwürdigen Aspekten. Die Deutschen sahen sich selbst vor allem als Opfer: als Opfer des Krieges an der Front wie daheim in den Bombenkellern, als Opfer von Flucht und Vertreibung und alles in allem auch als Opfer des Nationalsozialismus, der wie ein mythisches Verhängnis über sie gekommen sei und für den sie keine Verantwortung trügen. Die Selbstviktimisierung ging so weit, dass sogar verurteilte Kriegsverbrecher als Opfer einer alliierten „Siegerjustiz“ wahrgenommen wurden.[6]

Dieser verleugnende und verdrängende Umgang mit der NS-Zeit wandelte sich grundlegend gegen Ende der fünfziger Jahre. Zwei entscheidende Voraussetzungen für diesen Wandel sieht die Forschungsliteratur in einem sich damals anbahnenden Generationenwechsel und in der Veränderung des Massenkommunikationsmarktes durch die Verbreitung des Fernsehens. Nun rückten verstärkt die Angehörigen der so genannten „skeptischen Generation“ bzw. der „45er“-Generation in die Chefetagen der Massenmedien auf. Sie umfassten die Geburtsjahrgänge von ca. 1925 bis 1930 und hatten somit klare Vorstellungen vom bislang verdrängten Gegenstand, waren aber gleichzeitig zu jung, um der NS-Funktionselite angehört zu haben. Sie nutzten ihre neuen Einflussmöglichkeiten, um nationalsozialistische Verbrechen und die Reintegration belasteter Beamter kritisch zu thematisieren.[7]

Ausgangspunkt der einsetzenden Debatte über die Vergangenheit war jedoch eine Reihe von Skandalen und spektakulären Prozessen. Den Beginn markierte der „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ im Jahr 1958. Auslöser des Prozesses war das Wiedereinstellungsbegehren eines ehemaligen Beamten, der an Massenerschießungen in Polen und Russland beteiligt gewesen war. In der Folge entstand die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen“ in Ludwigsburg, die die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen enorm förderte.[8] Großes öffentliches Interesse fanden auch der Eichmann-Prozess 1961 und der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963. Beide wurden zu Medienereignissen und führten auf drastische Weise sowohl das Ausmaß als auch den Sadismus der Judenvernichtung vor Augen. Diese und weitere Verfahren verstärkten zunehmend das Bewusstsein für die nationalsozialistischen Verbrechen und trugen entscheidend dazu bei, dass sich der bislang vorherrschende Diskurs von den Deutschen als Opfer allmählich in einen Täterdiskurs wandelte.[9]

Einen entscheidenden Anstoß zur kritischen Auseinandersetzung mit der Reintegration der NS-Funktionselite gab 1959 die von dem SDS-Mitglied Reinhard Strecker initiierte Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“. Die Ausstellung dokumentierte erstmals ausführlich sowohl die Verstrickung von Richtern und Staatsanwälten in den NS-Terrorapparat, als auch die personellen Kontinuitäten in der bundesdeutschen Justiz und erregte außerordentliches Aufsehen. Die DDR sekundierte Strecker, da sie keine Gelegenheit ausließ, den westdeutschen Staat als unverändert faschistisch zu diskreditieren und eine Kampagne startete, in der sie tausend bundesdeutsche Juristen mit NS-Vergangenheit namentlich benannte, was die ohnehin schon scharf geführte Debatte zusätzlich forcierte. Die verantwortlichen Behörden gerieten zunehmend unter Druck, so dass die Justizminister der Länder – wenn auch mit sehr unterschiedlichem Eifer – den Vorwürfen nachzugehen begannen. In der öffentlichen Diskussion wurden nun die lange hingenommenen personellen Kontinuitäten in den Bereichen von Staat und Gesellschaft, so z. B. auch in der Politik, thematisiert. In den Blickpunkt gerieten dabei vor allem Kanzleramtsminister Hans Globke und Vertriebenenminister Theodor Oberländer, der 1960 unter dem immensen Druck der Öffentlichkeit zurücktreten musste.[10]

Ein Ereignis um die Jahreswende 1959/60 rückte schlagartig auch die mentalen Kontinuitäten und damit die generelle Frage nach der Demokratiefähigkeit der Westdeutschen in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die neu eingeweihte jüdische Synagoge in Köln wurde mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen beschmiert. Innerhalb weniger Wochen kam es zu einer bundesweiten Welle von rund 470 Nachfolgetaten. Die Empörung im Ausland und in der liberalen deutschen Öffentlichkeit führte zu Überlegungen, wie die Erziehung und historisch-politische Bildung der nachwachsenden Generationen künftig gestaltet werden sollte. Die Schulverwaltungen nahmen dabei eine wichtige Rolle ein, indem sie den Nationalsozialismus verstärkt und als eigenständiges Thema in die Lehrpläne aufnahmen. Darüber trat die bislang hauptsächlich gelehrte Totalitarismustheorie zunehmend in den Hintergrund, die die jungen Leute in erster Linie gegen den Kommunismus hatte immunisieren sollen. Den Besonderheiten des Nationalsozialismus war unter diesen Umständen kaum Beachtung geschenkt worden.[11]

Literatur und Theater begannen sich Ende der fünfziger / Anfang der 60er Jahre mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu beschäftigen und trugen ihren Teil dazu bei, diese so lange verdrängte Thematik in den Köpfen zumindest eines literarisch interessierten Publikums präsenter zu machen. Doch auch das Massenmedium Fernsehen war an diesem Prozess wesentlich beteiligt. So berichtete es nicht nur über die spektakulären Gerichtsverfahren, sondern strahlte auch Spielfilme und Dokumentationen zu NS-Themen aus, wie beispielsweise 1960/61 die von relativ vielen gesehene Sendereihe „Das Dritte Reich“.[12]

Jedoch fällt die Bilanz jener frühen Jahre der „Vergangenheitsbewältigung“ keineswegs durchweg positiv aus. Die meisten NS-Prozesse kamen nur dank des unbeirrbaren Engagements von Überlebenden und ehemaligen Verfolgten überhaupt zustande. Fast die Hälfte der Angeklagten ging am Ende straffrei aus – meist wegen Beweisschwierigkeiten. Zudem gelang es nur unzureichend, belastete Beamte aus ihren Positionen zu entfernen. Das lag teilweise am fehlenden Willen der zuständigen Stellen, wie Justizverwaltungen oder Universitätsleitungen, teilweise auch am Korpsgeist der Betroffenen, die sich gegenseitig schützten und auf diese Weise oftmals die Bemühungen der Behörden scheitern ließen. In der Folge saßen zahlreiche Leute mit braunen Flecken auf der Weste auch Ende der sechziger Jahre noch in verantwortungsvollen Positionen.[13]

[...]


[1] Hodenberg, Christina v. / Siegfried, Detlef, Reform und Revolte. 1968 und die langen sechziger Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, hg. v. dens., Göttingen 2006, S. 7; Wolfrum, Edgar, Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990 (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 23), Stuttgart 102005, S. 340-341.

[2] Vgl. Hemler, Stefan, Soziale Bewegung oder Generationskonflikt? Ein Schlichtungsvorschlag im Deutungskampf um „1968“, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 163 (2003), S. 32-40.

[3] Herbert, Ulrich, Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland, in: Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, hg. v. dems. u. Olaf Groehler, Hamburg 1992, S. 77.

[4] Schmidtke, Michael, Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA (= Campus Historische Studien 34), Frankfurt/M., S. 143-144; Mausbach, Wilfried, „Man muß die ganze Wut diesen Herrenrassebanditen ins Gesicht schreien“. Die 68er und die nationalsozialistische Vergangenheit, in: Deutschland Archiv 38,2 (2005), S. 273-274 u. 280; Wolfrum, Bundesrepublik, S. 335.

[5] Um der sprachlichen Variation willen, werden im Folgenden die Begriffe „68er“-Bewegung, Studentenbewegung und APO synonym verwendet. Dies ist trotz der wiederholt betonten Heterogenität der Bewegung durchaus zulässig, da sich in den meisten Teilbewegungen mehrheitlich Personen aus der universitär gebildeten Mittelschicht fanden. S. hierzu Görtemaker, Manfred, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2002, S. 195 (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung).

[6] Frei, Norbert, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 30-33; Mausbach, „Herrenrassebanditen“, S. 274-275; Siegfried, Detlef, Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958-1969, in: Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, hg. v. Axel Schildt u. a. (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 37), Hamburg 2000, S. 78.

[7] Mausbach, Wilfried, Wende um 360 Grad? Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der „zweiten Gründungsphase“ der Bundesrepublik, in: Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, hg. v. Christina von Hodenberg u. Detlef Siegfried, Göttingen 2006, S. 27-28; Schildt, Axel, Die Eltern auf der Anklagebank? Zur Thematisierung der NS-Vergangenheit im Generationenkonflikt der bundesrepublikanischen 1960er Jahre, in: Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, hg. v. Christoph Cornelißen u. a. Frankfurt/M. 2003, S. 318-319.

[8] Stöver, Bernd, Die Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 2002, S. 67-68.

[9] Siegfried, Aufarbeitung, S. 86 u. 94-95; Wolfrum, Bundesrepublik, S. 350.

[10] Rusinek, Bernd A., Von der Entdeckung der NS-Vergangenheit zum generellen Faschismusverdacht –akademische Diskurse in der Bundesrepublik der 60er Jahre, in: Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, hg. v. Axel Schildt u. a. (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 37), Hamburg 2000, S. 128; Siegfried, Aufarbeitung, S. 80-81; Stöver, Bundesrepublik, S. 70.

[11] Althoff, Martina, Kiesinger, die APO und der Nationalsozialismus: Zur Dynamik eines NS-Konfliktes, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), S. 215; Siegfried, Aufarbeitung, S. 81-84 u. 91-92.

[12] Rusinek, Faschismusverdacht, S. 128-129; Siegfried, Aufarbeitung, S. 86-87; Stöver, Bundesrepublik, S. 70.

[13] Rusinek, Faschismusverdacht, S. 125-126, Siegfried, Aufarbeitung, S. 81; Wolfrum, Bundesrepublik, S. 346-347.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Allesamt Faschisten? Die „68er“ und die NS-Vergangenheit
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1
Autor
Jahr
2007
Seiten
22
Katalognummer
V89207
ISBN (eBook)
9783638026123
Dateigröße
421 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Allesamt, Faschisten, NS-Vergangenheit
Arbeit zitieren
Tatjana Schäfer (Autor:in), 2007, Allesamt Faschisten? Die „68er“ und die NS-Vergangenheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89207

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