Ulrich Becks Individualisierungsthese - Beschäftigung mit begrifflichen Unklarheiten und empirischen Widerlegungen


Seminararbeit, 1997

25 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Problemaufriß

3. Modernisierung

4. Individualisierung
4.1. Individualisierungsphasen
4.2. Begrifflichkeiten
4.3. Formen der Individualisierung
4.3.1. Georg Simmel oder die vielfältige Individualisierung
4.3.2. Elias oder die triebökonomische Analyse
4.3.3. Theodor Geiger oder die Atomisierung
4.3.4. Max Weber oder die verinnerlichte Selbstbeschränkung
4.3.5. Berger oder die verlorene Sicherheit
4.3.6. Beck oder die strukturelle Individualisierung
4.4. Individualisierungsdefinition

5. Der gesellschaftliche Rahmen der Beckschen Individualisierung
5.1. Modernisierungsetappen
5.1.1. Erste Modernisierung
5.1.2. Zweite Modernisierung
5.2. Die Risikogesellschaft
5.3. Individualisierung
5.3.1. Entzauberungsdimension
5.3.2. Freisetzungsdimension
5.3.3. Anwendung im Zusammenhang von Individuation
5.3.4. Reintegrationsdimension
5.4. Auswirkungen von Individualisierung
5.4.1. Klassen und Individualisierung
5.4.2. Bastelbiographie
5.4.3. Familienstrukturen
5.4.4. Vollmobile Single-Gesellschaft
5.4.5. Temporäre Koalitionen

6. Kritik an der Beckschen Individualisierungthese
6.1. Die Generationenfrage: Hans Bertram / Simone Kreher
6.1.1. Vorgehensweise
6.1.2. Ergebnisse
6.1.3. Schlußfolgerungen
6.2. Die Einflußgrößen Bildung, Geschlecht, Nation und Ethnie: Burkhart
6.2.1. Die Untersuchung
6.2.2. Ergebnisse
6.2.3. Schlußfolgerungen
6.3. Regionale Disparitäten: Hans Bertram
6.3.1. Untersuchungsgegenstand
6.3.2. Ergebnisse
6.3.3. Schlußfolgerungen
6.4. Diskussion aus Beckscher Perspektive

7. Zusammenfassung und Kritik

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ulrich Beck stellte den immer wiederkehrenden Leitfaden in dem Seminar des vergangenen Semesters zum Thema Individualisierung dar. Der Namensgeber einer Untersuchungslinie der Nachkriegssoziologie war meist unbeliebt, doch taugte er zumindest als Schablone für andere Individualisierungskonzepte. Beck stand für einen undifferenzierten und pauschalisierenden Umgang mit dem titelgebenden Begriff des Seminars. Trotzdem blieb er mit seiner eigenwilligen Arbeit und Arbeitsweise präsent wie in der bundesdeutschen Soziologie. Etwas scheint seine Arbeit zu tragen, ein Gedanke, der Bestandteil einer erlebten Wirklichkeit ist und doch existiert empirisches Material, das gegen fundamentale Teile seiner Thesen spricht. Ulrich Becks Individualisierungstheorem scheint trotz einiger Übertreibungen und Ungenauigkeiten einen wieder verlorengehenden Gehalt zu haben, der sich nicht erschließt, indem die immer gleichen Beckschen Sentenzen aufgesagt und belächelt werden. Es ist zu vermuten, daß der gehaltvolle Kern auch in dem Individualisierungsbegriff wiederzufinden ist, der von Beck recht lax gehandhabt wird.

In dieser Arbeit soll dem Beckschen Individualisierungstheorem auf den Grund gegangen werden, einem Thema, zu dem eher zu viel als zu wenig Literatur zur Verfügung stand. Über unsystematisches Bibliographieren hat sich die Literatur erschlossen, die in der Soziologie als relevant anerkannt wird. Hinzu kamen Texte, die während des Seminars besprochen wurden. Das jetzt zu behandelnde Thema kristallisierte sich erst im Laufe des Seminars und der anschließenden Lektüre heraus. Immer deutlicher wurde dabei, daß das, was Individualisierung bei Beck meint, nicht deutlich zu Tage tritt. Ein Zustand, der es beinahe unmöglich macht, nur die empirische Kritik an Beck als Thema zu wählen. Die Kritik taucht nun noch auf, doch mehr als inspirierendes Moment denn als ausschließlicher Gegenstand der Diskussion. Verschwunden ist aus der Arbeit dahingegen die Differenzierung zwischen den Geschlechtern. Zum einen ist dies Thema diverser Mitstudierender, die der komplexen Thematik angemessener Raum geben können und zum anderen rücken derartige Unterscheidungen durch die Umformulierung des Untersuchungsgegenstandes in den Hintergrund. Der Arbeitsbereich hat sich in theoretischere Gefilde verschoben, wodurch es unumgänglich wurde, den Begriff Modernisierung wenigstens in Ansätzen zu thematisieren und Individualisierung auch historisch zu beleuchten.

2. Problemaufriß

Becks "Stück empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie - ohne alle methodische Sicherung" (Beck 1986: 13) hat in der Öffentlichkeit ein Bild einer zerfaserten Gesellschaft mit vereinzelten Mitgliedern hinterlassen, die sich ständig auf der Suche nach ihrer Biographie befinden und den Anforderungen der Moderne kaum gewachsen sind. Die Vorstellung einer sich immer weiter individualisierenden Gesellschaft hat sich mittlerweile festgesetzt, und die Rufe nach differenzierterer Betrachtung sind weitgehend unerhört geblieben. Es stellt sich damit die Frage, welchen Reiz die Becksche Formel ausgeübt hat. Wenn es seine Leistung war "... unterschiedlichste und bislang isoliert voneinander betrachtete gesellschaftliche Veränderungstendenzen auf eine Entwicklungsdynamik - nämlich Individualisierung - bezogen [zu haben] und damit als widersprüchliche Komponenten eines einzigen Wandlungsprozesses in Erscheinung treten" zu lassen (Ebers 1995:261), wie es Honneth formulierte, so mag dies von großem Wert sein. Es verschleiert jedoch subsummierte Unterschiedlichkeiten und verdeckt empirische Widersprüche. Nachfolgend soll deshalb diese Einheit wieder aufgelöst und in seine Komponenten zerlegt werden.

Ausgangspunkt dazu bildet die Beschäftigung mit Modernisierung (Kap.3), einer Entwicklung, die Beck voraussetzt, ohne sie zu thematisieren. Dies ist notwendig, um einen zentralen Beckschen Begriff, den der reflexiven Modernisierung greifen zu können. Auf ihm basiert sowohl die These der Risikogesellschaft wie die der fortschreitenden Individualisierung. Im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung mit Modernisierungsabläufen, soll erfragt werden, ob sich derzeit das vollzieht, was Hradil Selbststeuerungstendenzen nennt (Hradil 1990:133): Die ständige Nachregulierung gegen ausufernde Tendenzen des großen ablaufenden Programms der Modernisierung, in dem Individualisierung und Risikoorientierung nur ein kleiner Ausflug sind. Oder ob sich mit einem verstärkten Mechanismus der Individualisierung eine neue Qualität eröffnet, in der sich Strukturen derart signifikant auflösen, daß von einer Individualisierungsgesellschaft gesprochen werden kann. Zu diesem Zweck muß der Begriff der Individualisierung näher definiert und auf seine analytische Kraft hin befragt werden (Kap.4.).

Nach einer Einführung in allgemeine Termini der Beckschen Risikogesellschaft (Kap.5.) und einem Abriß des Gesamtzusammenhangs soll herausgearbeitet werden, was Individualisierung bei Beck bedeutet. Im Anschluß daran kommen die Kritiker zu Wort (Kap.6.), die Beck aus verschiedenen Richtungen her nachzuweisen versuchen, daß die pauschale Diagnose einer Individualisierung der Gesellschaft mit den von Beck beschriebenen Konsequenzen nicht aufrecht zu halten ist. Der letzte Teil widmet sich abschließend einer persönlichen Stellungnahme zu den Vorwürfen und überprüft die vorgebrachten Argumente wie die möglichen Antworten von Ulrich Beck und versucht eine Bestimmung dessen, was mit dem Begriff Individualisierung zu beschreiben ist.

3. Modernisierung

Die Entwicklungen, die im folgenden als Individualisierung thematisiert werden sollen, sind eingebettet in einen größeren gesellschaftsgeschichtlichen Prozeß der Modernisierung. Aus ihm entsteht das, was als moderne Gesellschaft bezeichnet wird - ein Titel, der mehr Assoziationen weckt als daß er fundiert wäre. Auf der Suche nach der Antwort, was den Eintritt in die moderne Gesellschaft ausgelöst haben mag, finden Berger et al. den "Eintritt der Technik in die Welt" (Berger et al.1973:14). Der Ausgangspunkt kann von die industrielle Revolution verlegt werden; Modernisierung bedeutet in jedem Fall einen sich in Epochen vollziehenden langfristig angelegten Wandel. Hradil nähert sich dem Phänomen stärker ideengeschichtlich und unterscheidet drei Epochen (Hradil 1990:127ff). In einem ersten Schritt, beginnend im Laufe des 16. Jahrhunderts, traten Gedanken hervor wie die Steigerung individueller Freiheitsräume, Kausalitätsdenken und damit einhergehende Säkularisation, Entwicklung von Zweck-Mittel-Rationalität und, als große Leitlinie, das Vertrauen auf Vernunft, Fortschritt und prinzipiellem Optimismus, besonders in Bezug auf Wissenschaft und Bewältigung von Natur. Die zweite Phase bezeichnet Hradil als politische Moderne, deren Merkmale die Gedanken zu legitimierter Herrschaft, individueller Wohlfahrt und individueller Statuszuweisung sowie den universalistischen Rechtsbegriffen waren. Die gesellschaftliche Moderne, die die dritte Phase begründet, setzte im 19. Und 20. Jahrhundert ein, um sich endgültig nach dem zweiten Weltkrieg umzusetzen. Sie bezeichnet die Entwicklung einer modernen Industriegesellschaft, die u.a. gekennzeichnet ist durch Institutionalisierung, Verwissenschaftlichung, Verfall von traditionellen Strukturen, Technisierung und Ökonomisierung.

Die Verschiebungen der Leitlinien ziehen ein neues Gestaltungsprinzip von Gesellschaft nach sich, einen Wandel, der auf unterschiedlichste Weise alle Lebensbereiche durchdringt. Er wird faßbar als Gegensatz zu einer traditionellen Gesellschaftsform, die durch eine Hierarchie vererbter Positionen, Verwandtschaftsbindungen und traditionale Herrschaft gekennzeichnet war (Loo 1992:11). Diese Bindungstypen stoßen auf die neuen Prinzipien der rationalen Begründbarkeit.

Johannes Berger, auf den sich Hradil beruft, findet vier formale Komponenten, die Moderne soziologisch kennzeichnen. Zunächst bedeutet Modernisierung einen Vorgang des Abschaffens in einer auf Tradition gegründeten Gesellschaft, wodurch diese sich aus sich selbst begründen muß und reflexiv wird. Die neue Ordnung, die entsteht, ist durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet. Die entstehenden Bereiche entwickeln eine Eigengesetzlichkeit, die vor allem durch Rationalisierung vorangetrieben wird. Die vierte Komponente erkennt Berger in dem Willen, die Funktion der Bereiche zu optimieren und zu steigern.

Stärker abstrahiert liefert Parson ein Modell der Modernisierung, in dem zunächst vier Bereiche aufgezeigt werden, wie gesellschaftliche Wirklichkeit zu fassen ist (Loo 1992:29): Über Person, Natur, Kultur und Struktur. Alle Bereiche sind im Verlauf von Modernisierung Veränderungen unterworfen: Personen werden individualisiert, Natur wird domestiziert, Kultur rationalisiert und Struktur differenziert. Modernisierung kann in unterschiedlichen Gewändern auftreten, je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird.

So ist erklärbar, daß sich die großen soziologischen Denker des 19. Und 20. Jahrhunderts mit dem Übergang zur Moderne immer wieder beschäftigten und je eigene Schwerpunkte setzten. Für Ferdinand Tönnies bedeutete Modernisierung den Übergang von Gemeinschaft, verstanden als eine gefühlsbegründete Verbindung, zur Gesellschaft, deren Beziehungen aus rationalen Erwägungen erwachsen (Loo 1992:14). Emile Durkheim betonte die zunehmende Arbeitsteilung, die für ihn einen Wandel von mechanischer zu organischer Solidarität bedeutete. Er beobachtete das Aufbrechen traditionaler Strukturen, in denen es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft gab und das Entstehen funktionaler Differenzierung, die das Individuum aus seinen hergebrachten Strukturen herauslöst und auf sich selbst zurückwirft (Loo 1992:16). Georg Simmel verfolgte den Prozeß funktionaler Differenzierung weiter und machte die starke Rolle des Individuums aus, das zu immer mehr Bereichen immer mehr aber dafür weniger intensivere Kontakte aufbaut. Es ergeben sich zu den diversen Organisationen instrumentelle und formale Beziehungen. Das Individuum erreicht gleichzeitig eine größere Freiheit, da es sich aus ehedem kollektiven Bindungen löst. Max Weber wiederum erfaßte Modernisierung als Rationalisierung, also die Entzauberung von Magie und Religion sowie die praktische Beherrschung der Welt durch bessere Wahl der Mittel für vorhandene Probleme (Loo 1992:16).

Beck läßt sich nun in die Reihe derer einordnen, die sich um die Beschreibung dessen bemühen, was als Folgen von Modernisierung begriffen werden kann, ohne sich aber um begriffliche Klärung zu bemühen. Er setzt Modernisierung als selbstverständliche Entwicklung voraus und beschreibt in seiner Fortsetzung einen Prozeß reflexiver Modernisierung, der den Ausgangspunkt für seine Analyse der Risikogesellschaft bildet. Er bewegt sich entlang der großen Modernisierungslinien, ohne sie deutlich zu thematisieren. Rationalisierung wird in seiner Darstellung auf den Höhepunkt getrieben, wenn Modernisierung selbst hinterfragt wird, reflexiv wird und letzte Fraglosigkeiten wie Technikgläubigkeit abschafft. Differenzierung scheint so weit zu reichen, daß der Zusammenhalt schwindet. Und Individualisierung ist ohnehin sein großer Befund der zweiten Modernisierung, die vereinzelte Biographiebastler zurückläßt, getrieben durch Prinzipien der Arbeitsmarkttauglichkeit einer an Marktmechanismen ausgerichteten Gesellschaft. Individualisierung meint aber mehr bei Beck: Seine Gesellschaftsanalyse leidet darunter, daß Individualisierung als Entwicklung in allen Bereichen konstatiert wird und dadurch vielfältig besetzt ist.

4. Individualisierung

Wenn vorausgesetzt wird, daß die zu betrachtenden Veränderungen in einem übergeordneten Prozeß der Modernisierung eingebettet sind, so muß Individualisierung als Teil dessen begriffen und von dem Ganzen wie den Bestandteilen differenziert werden.

1. Individualisierungsphasen

Es kann zwischen zwei Phasen unterschieden werden, in denen Individualisierung vonstatten ging (Ebers 1995:26). Der primäre Individualisierungsschub setzte Menschen prinzipiell aus traditionellen Bindungen und Zwängen frei und trug zur Differenzierung zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften bei. Loo bestimmt den Beginn dieses Prozesses in der Renaissance, als erstmals individuelle Identität als Wert gegenüber kollektiver Identität bestimmt wurde. Zuvor gab es Individuen als kuriose Einzeltäter oder als herausgehobene Heroen.

Mit den Gedanken der französischen Revolution und den Erfindungen der englischen Industrieentwicklung bekam in einem zweiten Individualisierungsschub die Betonung von individuellen Leistungen, Rechten und Pflichten für breitere Schichten (zunächst ausschließlich Männer) Relevanz. Das Ineinanderwirken von Modernisierungsprozessen wird wiederum deutlich: Domestizierung von Natur bekommt mit erweiterter technischer Leistungsfähigkeit große Bedeutung, Kultur wird rationalisiert, womit Magie aus dem Alltag entfernt und rationales Handeln als oberstes Prinzip erklärt wird. Struktur wird differenziert, wenn sich die einzelnen Bereiche der Gesellschaft spezialisieren und Subsysteme mit eigenen Regeln und Normen ausbilden. Personen werden individualisiert und entdecken Menschenwürde, eigene Rechte, die Besonderheiten ihrer Person und richten sich auf Selbstbewußtsein, Identität und persönliche Autonomie.

Die Phase des dritten Individualisierungsschubs setzt an einer modernisierten Gesellschaft an und findet bis heute statt. Sie setzt die erste Phase voraus und baut auf sie auf. Den Hintergrund bildet ein aufgebauter Sozialstaat, weitgehende materielle Sicherheit, Bildungszunahme, Emanzipationsbewegungen bei Frauen und Demokratisierung. Der Einzelne wird nun mit neuen Fragen konfrontiert, nach dem die alten Antworten verloren gegangen sind. Es ergeben sich Zwänge und Chancen einer selbstgestalteten Biographie, der "Zwang zum eigenen Leben jenseits von Gemeinschaft und Gruppe" (Beck 1986:211), wie Ulrich Beck meint.

2. Begrifflichkeiten

Schon in dem kleinen historischen Abriß wird deutlich, daß unterschiedlichste Entwicklungen unter Individualisierung subsummiert werden. Wenigstens auf drei Arten ist von Individualisierung zu sprechen. Der erste Teil dessen, was dieser Begrifflichkeit zugeordnet werden kann, ist die Erkenntnis des Bestehens eines eigenen Ichs, wie es im frühen Mittelalter zu beobachten ist. Mit der Entstehung der ersten Biographien ist dieser Prozeß nachzuvollziehen. Erstmals wurde davon ausgegangen, daß es ein eigenes Wesen, ein individuelles Ich geben kann.

Späterhin trat der Begriff der Individualisierung vor allem in zwei weiteren Bedeutungen auf: Zum einen als Bezeichnung eines Auflösungsprozesses, hier steht Individualisierung im Gegensatz zu Vergesellschaftung, und zum zweiten als ein Prozeß des Erkennens der eigenen Einzigartigkeit. Individualisierung wird im ersten Fall als Konzept der Veränderung des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum angesehen werden, im zweiten Fall als eine vorgelagerte Veränderung in der Selbstwahrnehmung begriffen. Es kann unterschieden werden zwischen den Folgen von Individualisierung aus objektiver und subjektiver Perspektive. Einmal werden die strukturellen Veränderungen (Auflösung, Anomie, Vergesellschaftung) und zum anderen die individuellen Empfindungen (Vereinsamung, Überforderung, Einzigartigkeit) thematisiert. Beides sind Modernisierungsperspektiven von Personen.

Individualisierung ist damit bereits vielfältig besetzt. Die Verwirrung wird dadurch weiter gefördert, daß weitere Deutungen auftreten und auch die Ausgangspunkte für den Wandel und seine Deutung in der Soziologie mit immer neuem Verständnis gefüllt wurde.

3. Formen der Individualisierung

Verschiedene Soziologen haben mit diesem Begriff mit je eigenen Bedeutungen gearbeitet. Beispielhaft sollen im folgenden einige Vertreter dargestellt werden.

1. Georg Simmel oder die vielfältige Individualisierung

Simmel analysierte eine frühe Individualisierungsphase, die sich durch die Ausdifferenzierung industriegesellschaftlicher Institutionen und den Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft kennzeichnen läßt (Vgl., Ebers 1995:342f). Soziale Ausdifferenzierung der Gesells chaft und ein Rationalisierungsprozeß tragen die Individualisierung und lösen sie aus. Simmel begreift Individualisierung auch als Freisetzung, als Freiheit von etwas. Zugehörigkeiten zu bestimmten Gruppen beruhen auf freier Wahl und setzen dadurch Individualität frei; im Rahmen der institutionellen Zwänge erweitern sich die Entscheidungsspielräume, es kann Individualisierung im Sinne steigender persönlicher Autonomie entstehen- Dies bezeichnet Simmel als "quantitative Individualisierung", in den Worten der Modernisierungsentwicklung ist dies eine strukturelle, eine individualisierende Differenzierung, mit Folgen einer Enttraditionalisierung.

Simmel beschreibt eine zweite Art der Individualisierung, eine, wie er es nennt, "qualitative". Diese konstituiert sich aus dem Verständnis der Einzigartigkeit des Individuums heraus und ist darüber zur quantitativen Dimension abzugrenzen, in der von der Gleichwertigkeit der Menschen ausgegangen wird (Loo 1992:166). Es entsteht die Erfahrung der Selbstwahrnehmung als einem qualitativ unterschiedlichen Individuum, mit dem Ziel "... daß dieses Anderssein einen positiven Sinn und Wert für sein Leben besitze" (Simmel 1992: 811). Dieser Prozeß konnte nach Simmel erst entstehen, nachdem Rationalisierung (hier nicht verstanden als Vernunftleitung sondern als Effektivitätssteigerung) und Ausdifferenzierung nicht mehr den gesamten Menschen gesellschaftlich integrierbar machen. Die daraus resultierende Freiheit fordert genauere Selbstdefinitionen heraus. Dies ist ein Prozeß, der die individuelle Dimension der Individualisierung bezeichnet und Individuation betrifft.

Simmel geht noch einen Schritt weiter und macht Individualisierung auf einer vierten Ebene fest: Der intraindividuellen Dimension. Die oben beschriebenen Vergesellschaftungsprozesse erfordern eine Zerlegung der ehemals konsistenten Persönlichkeit in mehrere Subtypen, um den jeweiligen Modi zu genügen. Der neue Modus der Vergesellschaftung besteht zu diesem Zeitpunkt darin, daß die Menschen nicht mehr als ganze Person, sondern "nur noch mit genau umgrenzten Teilen ihrer Persönlichkeit auf der Basis rationaler Interessenlagen und formaler Gemeinsamkeiten gesellschaftlich integriert [werden]." (Ebers 1995:332) Diese "Atomisierung der Persönlichkeit" ist aus dieser Sicht die Voraussetzung für weitere Individualisierungsprozesse, da erst dadurch eine komplexere Einbindung in sozialen Kontext entstehen kann.

2. Elias oder die triebökonomische Analyse

Wie auch Simmel geht Elias von immer schwieriger werdenden Vergesellschaftungsmechanismen in einer sich ausdifferenzierenden Welt aus. Die modernen Beziehungen basieren auf funktionalen Differenzierungen und sind durch ein hohes Maß an Entemotionalisierung gekennzeichnet. Sein

Individualisierungskonzept beruht auf einer triebökonomischen Analyse zwischenmenschlichen Verhaltens. Dabei tritt affektbestimmtes Handeln durch fortschreitende Verstandeslenkung zurück und erzeugt Scham- und Peinlichkeitsgefühle und damit eine beständige, automatisierte und verinnerlichte Selbstkontrolle. Individualisierung bedeutet in diesem Zusammenhang eine individuelle Zivilisierung, die eine Reaktion auf einen gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang ist und gleichzeitig eine Umwandlung gesellschaftlichen Zwangs in individuellen. Über-Ich, Ich und Es differenzieren sich gegeneinander. "Das Über-Ich stellt quasi die soziale Integrationsinstanz dar, die gesellschaftlich erzwungene Individualisierung einerseits erst ermöglicht, sie aber andererseits auch gleichzeitig abbildet." (Ebers 1995:350) Der gewandelte Integrationsmodus zieht eine größere Wahlfreiheit für das Individuum nach sich, ein Anwachsen von Autonomie ist zu beobachten. Elias zeigt mit seiner triebökonomischen Analyse eine weitere Facette der intraindividuellen Individualisierung auf.

3. Theodor Geiger oder die Atomisierung

Ein Vertreter derer, die Individualisierung vorwiegend als ein Auflösungsprozeß gesellschaftlicher Strukturen begreifen, ist Theodor Geiger. Er konstatiert Atomisierung, die seiner Ansicht nach Folge einer zentralisierten Massengesellschaft ist. Das Gegengewicht zum vereinzelten Massendasein bildet das Privatleben, in dem Zusammenschluß wieder möglich ist, in dem gleichzeitig aber auch die Gefahr der Isolation besteht. Individualisierung meint hier vornehmlich den Rückzug ins Private, verstanden als Antipol zu massenhafter Atomisierung. Dieser Rückzug kann als individualisierter Vergesellschaftungsmodus gedeutet werden, der auf fortschreitender Differenzierung beruht.

4. Max Weber oder die verinnerlichte Selbstbeschränkung

Max Webers Ausgangspunkt ist die viel zitierte "Entzauberung der Welt".

Instrumentelle Vernunft und rationales Denken durchdringen nach und nach alle Lebensbereiche und lösen durch ihre analytische Kraft ihren Zusammenhalt auf. Die gegenwirkende Tendenz beschreibt Weber als einen Individualisierungsprozeß, der sich durch das Verinnerlichen der ehemals durch Institutionen vermittelten Kontrolle auszeichnet und intraindividuell wirkt. Diese "vom sozialen Kontext unabhängige Selbstkontrolle" (Ebers, Kap. II.2.) bringt Zeitdis ziplin, Bedürfnisunterdrückung und Befriedigungsaufschub mit sich. Gleichzusetzen ist diese Entwicklung mit der Entstehung des bürgerlichen Individuums, das sich letzthin als rational und autonom Handelnder begreift. Weber sieht die Gefahren dieses Individualisierungsprozesses in der Bedürfnisunterdrückung. Weniger die Auflösung bestehender Strukturen geben ihm zu denken, sondern vielmehr die Gefahr der fortschreitenden Selbstbeschränkung, die zu einer Einengung in gesellschaftlichen Strukturen im Inneren führen kann.

5. Berger oder die verlorene Sicherheit

Peter Berger, Brigitte Berger und Hansfried Kellner konstatierten 1975 ein Unbehagen in der Moderne, in dem sie die Überlegung ausarbeiteten, daß die durch Individualisierung (verstanden als Freisetzung aus bestehenden Bezügen) gewonnene Freiheiten ihre Schattenseiten erkennen läßt: Sicherheitsverluste, abnehmende Bindungen und gesteigerte, kaum zu leistende Aufgaben im Umgang mit der eigenen Lebensplanung. Sie gehen aus von den Modernisierung kennzeichnenden Strömungen wie Technisierung und Bürokratisierung, in denen sie je eigene Bewußtseinsmuster ausmachen, die sich auf das Dasein der Menschen übertragen. So wirkt sich die Komponentialität des zur technologischen Produktion gehörenden Denkstils auf die Identität aus; Menschen spalten sich auf in eine erste und zweite Natur, um ihre Einzigartigkeit wahren zu können. Innere Spaltungen werden als Angst erzeugend empfunden und entfremden Menschen von sich selbst. Derartige Gefühlsfrustrationen entdecken Berger et al. auch in der innerlichen Bürokratisierung und durch die Pluralisierung der Lebensstile, die von Religion entfernt und Heimatlosigkeit erzeugt. Berger et.al. diagnostizieren Auflösungserscheinungen als Folge von Modernisierung und bemühen sich um die verinnerlichten Auswirkungen beider Entwicklungen. Individualisierung ist bei ihnen als Kategorie der Einzigartigkeit belegt, was zur Folge hat, daß strukturelle Veränderungen mit Begriffen der Modernisierungstheorie bewältigt werden müssen.

6. Beck oder die strukturelle Individualisierung

Für Beck umfaßt Individualisierung dreierlei Bewegungen (Beck 1986:206): Eine Freisetzungsdimension, die Herauslösung aus traditionellen Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen, eine Entzauberungsdimension, die den Verlust von traditionellen Sicherheiten wie Normen und Werte mit sich bringt und eine neue Art der Einbindung, die Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension (Näheres siehe Kapitel 5.3.). Alle drei Teile betrachtet Beck als der objektiven Lebenslage zugeordnet, woraus Beck den Begriff der strukturellen gesellschaftlichen Individualisierung entwickelt. Damit gelingt es ihm, Individualisierung mit vielfältigen Unterschiedlichen Bedeutungen zu belegen: Zwang zur Biographieplanung, Vergesellschaftung, Herauslösung, Reflexionsverhalten, Selbstsuche, Vereinzelung uvm. Einzig der Ausgangspunkt und Motor der Individualisierung ist bei ihm deutlich: Sozialstaat und Arbeitsmarkt bewirken eine Freisetzung aus familialen, regionale, kulturellen und beruflichen Bindungen.

4. Individualisierungsdefinition

Die Schwierigkeit im Umgang mit Individualisierung liegt nicht nur in dem Hauptmißverständnis, daß Individualisierung als "Individuation gleich Personwerdung gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation" (Beck 1986:207) verstanden wird. Es liegt vor allem darin, daß seine Verwendung auflösende wie strukturierende, subjektive wie objektive, strukturelle wie individuelle Veränderungen bezeichnet.

Dabei lassen sich einige Unklarheiten über genauere Begrifflichkeiten aus dem Weg räumen. Zunächst ist in dem von Ulrich Beck angesprochenen Hauptmißverständnis Individualisierung eine subjektive Kategorie, sie beschreibt Individuation und sollte auch so bezeichnet werden. In den Darstellungen der unter 4.3. aufgeführten Autoren ist ein derartiges Verständnis zu finden (Simmel), wobei noch einmal zwischen Selbst-Entdeckung und Entdeckung der eigenen Einzigartigkeit unterschieden werden kann. Bei anderen trat eine intraindividuelle Dimension hervor (Simmel, Elias, Weber). Auch dieser Begriff ist gut eingeführt und sollte dann verwendet werden, wenn Fragen der Persönlichkeit mit Individualisierung erläutert werden sollen.

Für die weitere Begriffsklärung ist es dienlich, davon auszugehen, daß Individualisierung im Kontext von Modernisierung zu sehen ist. Sie ist neben Rationalisierung und Differenzierung die dritte große Entwicklungslinie, wird aber immer wieder als Überbegriff angewandt.

Individualisierung kann in einem aussagekräftigen Sinn das Erkennen des Einzelnen und die Zuschreibung von Rechten und Pflichten für jeden selbst bezeichnen. Es ist ein Vorgang, der alle Bereiche der Modernisierung durchzieht und sie auf Individuen hin auslegt. Besser als von einer Tendenz zur Individualisierung oder einem Individualisierungsprozeß zu sprechen und dabei mit der Schwierigkeit konfrontiert zu sein, den Bezugspunkt, die behandelte Dimension und den eingenommenen Blickwinkel zu übergehen, ist es deshalb, Individualisierung nicht als selbststehenden Vorgang, sondern als Adjektiv für unterschiedlichste Ebenen zu verwenden. Untersucht werden kann individualisierende Differenzierung, individualisierende Vergesellschaftung, individualisierende De- Institutionalisierung des Lebenslaufes oder individualisierende Rationalisierung. Ganz zum Schluß von einer fortschreitenden Individualisierung zu sprechen wäre dann eine abstrahierende Zusammenfassung und nicht vorweggenommenes Verwischen bestehender Konturen.

Mit Hilfe dieser Vorannahmen kann der Beckschen Individualisierungsthese, der immer wieder nachgesagt wird, begrifflich ungenau zu argumentieren, vielleicht näher gekommen werden. Zunächst soll ausgeführt werden, wie Beck zu seiner Analyse einer individualiserten Gesellschaft kommt. Dazu gehört sein Konstrukt der zweiten Modernisierung und ein kurzer Überblick über die Risikogesellschaft.

5. Der gesellschaftliche Rahmen der Beckschen Individualisierung

Beck bettet seine Analyse einer fortschreitenden Individualisierung der modernen westlichen Gesellschaft in einen umfassenden Kontext ein. Den Ausgangspunkt bildet eine Entwicklung, die Beck als "zweite Modernisierung" bezeichnet (Kap.5.1.), die die Voraussetzung sowohl für Risikoorientierung (Kap.5.2.) wie auch für Individualisierung (Kap.6) schafft.

1. Modernisierungsetappen

Ausgangspunkt der Beckschen Gesellschaftsdiagnose ist die Analyse von Modernisierungsprozessen. Beck äußert sich nicht zu seinem Modernisierungsbegriff. Er scheint einen seit Jahrhunderten fortlaufenden Prozeß zu beschreiben, der durch eine Überwindung von Bekanntem gekennzeichnet ist und offenbar von Technisierung, Rationalisierung und Differenzierung geleitet wird. Beck unterscheidet zwischen einer ersten und zweiten Modernisierung, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich aufeinander aufbauen.

1. Erste Modernisierung

Die erste Modernisierung bestand nach Becks Darstellung in der Auflösung der ständischen Agrargesellschaft, welches zur Herausbildung der modernen Industriegesellschaft führte. Sie richtet sich gegen "ihr Gegenteil, einer traditionalen Welt der Überlieferung, einer Natur, die es zu erkennen und zu beherrschen galt" (Beck 1986: 14). In diesem Prozeß, der sich bis hin zum zweiten Weltkrieg vollzog, wurden ständische Privilegien, religiöse Weltbilder, Traditionen und eine unbeherrschbare Natur überwunden. In dieser Phase arbeitete die Modernisierung der Industriegesellschaft zu. Einige Bereiche, wie Berufsarbeit, Kleinfamilie oder

Wissenschaft blieben traditionell strukturiert, da sie der industriegesellschaftlichen Logik dienlich waren. Was dabei entstand, nennt Beck eine "Moderne in der Industriegesellschaft" (Beck 1986: 14), womit er einen zunächst nicht wahrgenommenen Gegensatz zwischen beiden Polen beschreibt, der sich herausgebildet hat. Was zunächst als unzertrennlich miteinander verwoben erlebt wurde, der Mythos, "daß die entwickelte Industriegesellschaft [...] eine durch und durch moderne Gesellschaft ist" (Beck 1986: 15), hat sich als falsch erwiesen. Vielmehr sind Klassen und Stände stabil geblieben, an ihnen ist Modernisierung vorbeigegangen. Einer industriellen ist demnach eine gesellschaftliche Modernisierung gegenüberzustellen. Der Vollzug dieses Nachfolgeprozesses nennt Beck die "zweiten Modernisierung", deren Kennzeichen hohe Reflexivität ist.

2. Zweite Modernisierung

Die zweite Modernisierung greift zu einer Zeit an, zu der Tradition bereits weitgehend modernisiert ist; sie richtet sich jetzt gegen das Modernisierungsprodukt. Beck zufolge beinhaltet dieser Prozeß ein Überdenken der Folgen des bisher als fortschrittlich angesehenen Handelns. Die Risiken der gefeierten Industrialisierung treten zutage und werden bei ihrer Bewertung mitbedacht: Atomkraft ist nicht mehr nur mit günstiger Energiegewinnung verbunden, sondern steht gleichzeitig für ein enormes gesundheitliches Risiko, welches die Bevölkerung zu befürchten hat. Gleiches gilt für beispielhaft moderne Bereiche wie Gentechnik, Chemie oder Fortbewegung. Wissenschaft ist nicht mehr nur die Quelle für Problemlösungen, sondern auch Quelle für Problemursachen; ihr "Wahrheits- und Aufklärungsanspruch ist entzaubert" (Beck 1986: 254). Leider ist nicht erkennbar, ob Beck unter zweiter Modernisierung auch ein Überdenken von industriegesellschaftlichen Bestandteilen wie Gewerkschaften, Kleinfamilie oder Geschlechterrollen versteht, da er an diesen Stellen bereits von Auswirkungen der Individualisierung spricht. Es scheint eher so zu sein, daß das Erkennen der Folgen der industriellen Logik alles weitere nach sich zieht. Reflexive Modernisierung hat bei Beck zur Folge, daß Risiken handlungsleitend werden. Da dies für alle Bereiche Anwendung findet, stellt Beck die These einer "Risikogesellschaft" auf.

2. Die Risikogesellschaft

Die traditionell-industriegesellschaftliche Logik der Reichtumsverteilung wird nach Ansicht von Ulrich Beck durch eine Logik der Risikoverteilung ersetzt. Dieser Wandel geht mit reflexiver Modernisierung einher. Das Bewußtwerden allgegenwärtiger Gefahren in Umwelt, Essen, Wohnen oder Kleidung bedroht der Beckschen Vorstellung zufolge die individuelle Existenz derart, daß nach ihm Handeln ausgerichtet wird. Auf dem Hintergrund weitgehend erlangter materieller Sicherheit der Bevölkerung setzt sich Risikoorientierung durch. Unsicherheit wird zum gesellschaftlich allgemeinen Strukturprinzip, in dem Sinne, daß nicht mehr Überleben, also das Bekämpfen von materieller Not und sozialem Abstieg, zentraler Antrieb sind, sondern vielmehr zusätzlich die Fähigkeit, mit den zugewiesenen Gefahren umzugehen.

Risiken entstehen nicht mehr durch Mängel wie fehlende Hygienetechnologien, die ehemals Kennzeichen einer auf Reichtum basierenden Verteilung waren, sondern durch industrielle Überproduktion. "Sie sind entscheidungsabhängig entstandene und damit gesellschaftlich zu verantwortende Gefahren, die auf das Leben aller zielen und im offenen Widerspruch zum institutionaliserten Wohlfahrts- und Sicherheitsversprechen des Staates stehen" (Beck nach Ebers 1995:275). Hier entstehen neue Zusammenschlüsse: "Gefährdungsgemeinsamkeiten" (Beck 1986: 63) bilden Antriebe kollektiven Handelns und nicht mehr die Gefahren des potentiell ausbeutenden Arbeitsverhältnisses. Was sich durch die einschneidende Neuorientierung bildet, ist das strukturbildende Ideal der Sicherheit im Gegensatz zum früheren Ideal der Gleichheit.

Der Wandel hat auch Auswirkungen auf die Rolle von Institutionen. Dieser weitere für Becks Theorie zentrale Begriff wird von ihm leider nicht spezifiziert. Er zählt zu ihnen staatliche Erziehungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen oder Universitäten, aber auch sozialrechtliche Versorgungssysteme wie Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung und Kindergeld. Als Institutionen sind ebenfalls Gewerkschaften, Parteien und Verbände zu sehen, die in der industriellen Gesellschaft Sicherheit boten. Hinzu kommen Komsumverhalten und Gefahrenzuweisungen durch Verkehr oder Energiegewinnung - wie diese als Institutionen zu begreifen sind, bleibt unklar.

Im Zuge der reflexiven Modernisierung, in der die bestehenden Institutionen nicht mehr die versprochene Sicherheit erbringen können, wenden sich die Menschen von ihnen ab. Wenn Gefahren schicht- und klassenunabhängig alle betreffen, können Institutionen nicht mehr vor ihnen schützen. Ein Existenzgrund für Institutionen, der Schutz vor materieller Not, verliert gleichzeitig an Bedeutung und wird ihrer Zuständigkeit entzogen, wodurch Auflösungstendenzen sichtbar werden.

Gleichzeitig bekommen sozialrechtliche Institutionen neuen Einfluß. "Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und damit bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden der medizinischen, psychologischen, pädagogischen Beratung und Betreuung" (Beck 1995:189).

Beck stellt einen neuen "Modus der Vergesellschaftung" fest, in dem nicht mehr zwischen Großgruppen und Staat, sondern direkt zwischen jedem Einzelnen und den übergeordneten Instanzen vermittelt wird. Dieser Prozeß der "Individualisierung" beschreibt hier eine Auflösungserscheinung bestehender Strukturen, eine Loslösung aus bindenden Institutionen. Im Gegensatz zu vorhergegangenen Umbrüchen, treten nicht mehr soziale Klassen an Stelle von Ständen oder die Kleinfamilie an Stelle der sozialen Klasse, sondern "der oder die einzelne wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen." (Beck 1995: 189). An ihm setzt die neue Vergesellschaftung und die Zuständigkeit von Institutionen an.

3. Individualisierung

Das Einsetzen eines neuen Individualisierungsprozesses ist neben der Durchsetzung von Risikorationalität und der reflexiven Modernisierung die dritte große Entwicklungsschiene auf der Beck seine Diagnose begründet. Beck grenzt sein Verständnis von Individualisierung unscharf von bekannten Definitionen ab.

Drei Dimensionen beschreiben bei Beck den Prozeß der Individualisierung: Freisetzungsdimension - Die Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und Sozialbindungen, Entzauberungsdimension - Der Verlust von traditionalen Sinnheiten (Glaube, leitende Normen) und eine Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension - Eine neue Art der sozialen Einbindung (vgl. Beck 1986:206). Die Becksche Individualisierung ist ihrem Selbstverständnis nach eine rein "gesellschaftsgeschichtliche Kategorie" (Beck 1986:207), eine objektive Dimension, die sich an Veränderungen von Lebenslagen und Biographiemustern ablesen läßt und die, in einem weiteren Schritt, von Arbeitsmarktbedingungen geleitet wird. Sie bezeichnet - zumindest im eigentlichen Verständnis, die Praxis mag da abweichen - nicht die subjektive Dimension, die als Individuation bezeichnet wird. Ausgeklammert bleibt aus dem Begriffsverständnis, wie Menschen in ihrem Verhalten und Bewußtsein mit diesen Wandlungen umgehen (Ebers 1995:267f). Beck spricht aus diesen Gründen von dem übergreifenden Konzept der gesellschaftlichen Individualisierung (Beck 1994:307).

1. Entzauberungsdimension

Beck konstatiert das "Ausdünnen von Traditionen" (Beck 1986: 187) und bezieht sich auf den Verlust an Glauben, Klassenbewußtsein, Nachbarschafts-, Orts- und Vereinsbindungen. Durch das Verschwinden von Gott verlieren die Menschen die Möglichkeit, Schuld abzuladen, ohne aber mit weniger und weniger drängenden Fragen belastet zu sein. Das schwindende Klassenbewußtsein entledigt sie der Möglichkeit, erfahrenes Leid gemeinsam zu interpretieren und zu ertragen. Und die abnehmenden Bindungen werden ersetzt durch eine steigende Zahl neuer Kontakte. Der Qualitätsverlust, der mit der neuen Quantität einhergeht, bedeutet aber zunehmende Beliebigkeit und abnehmende Intimität, die einst identitätsstiftend wirkte. Beck schreibt:" ‘Gesellschaftliche Individualisierung‘ meint: Kollektive und gruppenspezifische Sinnquellen (z.B. Klassenbewußtsein, Fortschrittsglauben) der industriegesellschaftlichen Kultur, die noch weit ins 20. Jahrhundert hinein die westlichen Demokratie- und Wirtschaftsgesellschaften gestützt haben, werden aufgezehrt, aufgelöst, entzaubert. Dies führt u.a. dazu, daß mehr und mehr alle Definitionsleistungen den Individuen selbst auferlegt werden..." (Beck 1995:185).

Aus der gesellschaftsgeschichtlichen, strukturellen Perspektive, die Beck bevorzugt, geht es ihm vornehmlich nicht um die individuellen Auswirkungen der Entzauberung, auch wenn er sich kleine, anschauliche Ausflüge in die zerrütteten Psychen nicht nehmen läßt. Die Auflösung von integrierendem Sinn ist für ihn ein weiterer Ansatzpunkt dafür, daß Individualisierung Selbstdefinition bedeutet. Die Konstruktion von Weltdeutung und der Aufbau eigener, traditionell nicht vorgegebener Beziehungen ist für ihn Kennzeichen der neuen Gesellschaftsordnung, die als Vergesellschaftungsmodus den Bezugspunkt des Einzelnen hat. Entzauberung bedeutet zunächst aber eine individualisierende Rationalisierung. Beck folgt einer Linie des Vertrauens in aufklärerische Tendenzen, nach dem sich Vernunftleitung ausbreitet und kollektive Mythen als solche erkannt werden und an Kraft verlieren. Festzuhalten bleibt, daß an dieser Stelle ein Vorgang rationaler Auseinandersetzung mit kulturellen Einrichtungen behandelt und damit ein Strang klassischer Modernisierungsentwicklung weiterverfolgt wird. Daß dieser zu Individualisierung führt, ist die Becksche Interpretationsarbeit.

2. Freisetzungsdimension

Gesellschaftliche Individualisierung bedeutet bei Beck gleichzeitig auch die Aufhebung der Strukturierung von Lebenslagen nach traditionellen Großgruppen, wie Ständen, Klassen und Schichten, aber auch die Freisetzung aus Geschlechtslagen von Männern und Frauen. Ausgelöst wurde der Wandel innerhalb dieser sogenannten Freisetzungsdimension (Beck 1995:188) durch eine Umverteilung von Rechten auf Individuen. Soziale Rechte innerhalb des Staates sind nunmehr Rechte der Erwerbstätigen oder Erwerbsbereiten, im Gegensatz zu Rechten, die im Bewußtsein einer Klassensolidarität für die Gemeinschaft, und darüber vermittelt erst für den einzelnen galten. Die neuartige Konstruktion setzt nun das Individuum als Akteur und Inszenator seiner Biographie voraus. Individualisierung beruht auch in diesem Sinn keinesfalls auf der freien Entscheidung der Individuen. Sie werden dazu gezwungen, sich als Individuum zu konstituieren, zu planen, zu handeln, sich selber zu entwerfen, oder sie werden die Konsequenz für ihre Untätigkeit durch Bestrafungsmechanismen des Sozialstaates zu spüren bekommen. Damit ist der Sozialstaat "eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ichbezogener Lebensweisen" (Beck 1995: 193). Gestärkt wird diese Entwicklung durch Bildung, die dazu beiträgt, traditionalistische Orientierungen, Lebensstile und Denkweisen durch universalistische zu ersetzen. Das Erlernte ermöglicht ein Minimum an Selbstfindungs- und Reflexionsprozessen und schafft so die Grundlage einer individualistischen Selbstdefinition und Biographieplanung.

Der Arbeitsmarkt ist der zweite große Freisetzungsmotor: Die neue Umgebung löst aus bekannten Strukturen heraus und legt neue Rollen nahe. Heraus bildet sich nach Beck eine individualisierte Arbeitnehmergesellschaft, die im Gegensatz zur Klassengesellschaft keine traditionell-kulturelle, sondern eine primär arbeitsrechtlich und sozialpolitisch definierte Kategorie ist (Beck 1994: 57). Des weiteren fördert Konkurrenz und der Zwang zur Mobilität die Freisetzung aus alten Strukturen. Buchmann abstrahiert Individualisierungsinstanzen weiter und benennt die Vergesellschaftung von Individuen (a) als Marktteilnehmer in der ökonomischen Sphäre, (b) als Bürger in der politischen Sphäre und (c) als Empfangsberechtigte von Wohlfahrtsdienstleistungen als Triebkräfte, die die Auflösung traditioneller Bindungen unterstützen (Buchmann 1989:90).

Die Freisetzungsdimension der Individualisierung ist Ergebnis einer individualisierenden Differenzierung der Lebensbereiche. Die Becksche Idee ist, daß Differenzierung derart auf die Spitze getrieben wird, daß der Einzelne als Bezugs- und Handlungspunkt zurückbleibt. An ihm setzt Vergesellschaftung an, ihm sind Rechte und Pflichten zugeschrieben, wodurch sich individuelle Wahlaufgaben ergeben.

3. Anwendung im Zusammenhang von Individuation

Beck beschreibt mit dem Begriff Individualisierung nicht nur den Auflösungsprozeß, sondern auch den Akt der Neuformierung - und zwar auf eine Art, die stark mit der individuierten Konotation von Individualisierung behaftet ist: "Individualisierung meint erstens die Auflösung und zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen." (Beck 1995:190) Es ist der neue Wunsch nach einem eigenen Leben, eigenem Geld, eigenem Wohnraum, eigenem Körper, eigener Zeit, der hier seine Erfüllung sucht. Die "persönlich-biographische Lebensführung" (Beck 1994:46) oder das "Basteln an einer persönlichen Biographie" (ebd.), ist ein Phänomen, das erst durch die Zerrüttung der entscheidungsverschlossenen Bereiche möglich wurde. Beck wechselt an diesen Stellen fast unmerklich die Perspektive und folgt den selbst erschlossenen Pfaden struktureller Individualisierung in den Bereich der persönlichen Auswirkungen. Er ändert seine Perspektive und beschreibt die individuelle Komponente von Individualisierung. So sei Individualisierung die Suche nach Selbsterfüllung: "Besessen von dem Ziel der Selbsterfüllung, reißen sie sich selbst aus der Erde aus, um nachzusehen, ob ihre eigenen Wurzeln auch wirklich gesund sind" (Beck 1994: 56).

Durch seine Ausflüge erschwert er den exakteren Umgang mit seinem Individualisierungsbegriff. Er thematisiert auf diese Weise die Frage, wie neue Strukturen gebildet werden. Die erste Antwort lautet durch eigene Entscheidungen. Die zweite bezieht sich auf die neue Rolle der Institutionalisierung.

4. Reintegrationsdimension

Gesellschaftliche Individualisierung bedeutet bei Beck nicht nur einen gesellschaftsweiten Auflösungsprozeß, sondern auch eine neue Art der Gesellschaftsbildung, einen Reintegrationsprozeß. Beck spricht von Individualisierung als einem "historisch widerspruchsvollen Prozeß der Vergesellschaftung von Individuen" (Beck 1995:189). Es geht hierbei um die Frage, wie sich individualisierte Personen zu Gemeinschaften zusammenschließen können. Auf der einen Seite treten, wie oben beschrieben, nicht mehr Institutionen als vermittelnde Instanzen auf, sondern diese Instanzen werden übersprungen und Gesellschaft direkt zwischen dem Staat und seinen Bürgern konstituiert. Bei Fragen der Arbeitslosigkeit werden beispielsweise nicht mehr Benachteiligungen der angehörenden Klasse beschworen, sondern die Einzelnen suchen nach persönlichen Versäumnissen, die den als Schicksal empfundenen Zustand ausgelöst haben könnten und bekommen direkte Zuweisungen als Ausgleich.

Andererseits sieht Beck Möglichkeiten zur Neustrukturierung darin, daß entlang gemeinsamer Risikolagen Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen entstehen. Auch gesellschaftliche Widerstände gegen moderne Wünsche nach einem individuellen, eigenen Leben können Menschen vereinen: Ihr Protest würde Gemeinsamkeiten verstärken. Modernes Soziales Handeln unterscheidet sich im Beckschen Verständnis insofern von altem, als daß es zuvor an vorgegebenen Strukturen ausgerichtet sein mußte. Heute dahingegen bedeutet es vor allem Kreativität, da die Strukturen selbst "erfunden, ausgehandelt, entschieden, gerechtfertigt" (Beck 1995: 194) werden müssen. Gesellschaft konstituiert sich in der Risikogesellschaft durch von unten gewonnene Gemeinsamkeiten: "Die Gesellschaft wird für ihn zu einer sozialen Bewegung der Individuen" (Ebers 1995: 279). Einzelne versuchen, sich - der vorherrschenden Risikorationalität folgend -, in gemeinsam erkannten Risikolagen vor kollektiven Risiken zu bewahren und verlassen damit die institutionellen Strukturen.

Re-Integration bedeutet für Beck auch Einschränkung der gewonnenen Individualität: Vielfältige Institutionelle Eingriffe standardisieren Lebenslagen und Lebenswege, wodurch Freisetzungsbestrebungen konterkariert werden. Die individualisierte Vergesellschaftung bietet sowohl viele Ansatzpunkte für das Verständnis der Beckschen Thesen wie zur Rechtfertigung gegenüber seinen Kritikern, da an dieser Stelle die Formierung neuer Strukturen angelegt ist.

4. Auswirkungen von Individualisierung

Individualisierung bei Beck ist als strukturelle Auflösungserscheinung und Neuformierung angelegt. Sie bezieht sich auf Rationalisierung, Differenzierung und Vergesellschaftung sowie Auswirkungen auf individuelle Befindlichkeiten. Dieser Wandel muß, falls er denn stattfindet, plastisch erkennbar und empirisch belegbar sein. Beck bemüht sich zuvorderst um den Nachweis, daß Klassen und Stände im Verschwinden begriffen sind.

1. Klassen und Individualisierung

Klassen geraten dadurch unter Druck, daß sich die individualisierte Arbeitnehmergesellschaft nicht mehr über traditionell-kulturelle Werte strukturiert, sondern primär arbeitsrechtlich und sozialpolitisch geordnet wird.

Durch Herauslösung aus traditionellen Versorgungsbezügen und dem Anspruch nach Gestaltungsmöglichkeit wird der Erwerbsarbeitsplatz zur zentralen Sicherung der individualisierten Existenzweise. Seine Organisation unternimmt aber einen Wandel zum individualisierten Aufbau. Ständische, familiale oder klassenkulturelle Lebensmuster werden in diesem Veränderungsprozeß durch institutionelle Lebenslaufmuster überlagert.

Ein Wechsel im Ungleichheitsverständnis trägt dazu bei, daß Invidualisierungsprozesse die ehemals signifikanten Klassenunterschiede untergraben: Ungleichheiten sind weniger Ausdruck einer klassenstrukturellen Fehlentwicklung, sondern sie werden als individualisierte soziale Risiken aufgefaßt. Die Leistungsgesellschaft sucht die Schuld für Versagen beim Einzelnen und nicht in Klassenstrukturen.

Möglich wurde diese Entwicklung durch einheitlich vermehrten Wohlstand. Beck spricht von einem Fahrstuhleffekt, der das materielle Niveau der Gesamtgesellschaft gleichmäßig auf eine höhere Stufe angehoben hat. Wenn Unterschiede zwar bestehen bleiben, deren Niveau aber weniger Anlaß zu Protest bietet, schwindet das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Klassen. Ihre Identitäten nehmen durch gesellschaftlichen Wohlstand ab, was Ebers "Relativierung und Aushöhlung traditioneller, subkultureller Differenzierungen und sozialer Milieus" (Ebers 1995:291) nennt.

Jeder Einzelne muß in diesem Konstrukt für sein Fortkommen sorgen: Folge ist persönliche Abschottung durch neue Konkurrenzbeziehungen. Die verbriefte Sicherheit schafft Konkurrenzfelder und schwächt die Gemeinschaft der Arbeitenden. Auch die Gründung urbaner Siedlungen und die Zunahme an Freizeit haben zum Zerfall von Klassen beigetragen. Klassenlosigkeit macht sich Beck zufolge beispielhaft an der Verteilung von Arbeitslosigkeit fest: In den letzten zwei Jahrzehnten (also zwischen ca. 1965 und 1985) sei jede dritte Erwerbsperson wenigstens einmal von Arbeitslosigkeit betroffen gewesen.

2. Bastelbiographie

Nachdem Klassenkulturen, Geschlechts- und Familienrollen durch persönlich herzustellende Rollen abgelöst worden sind, ergibt sich für jeden Einzelnen die Aufgabe, seine Biographie selbst "zusammenschustern" zu müssen (Beck 1995:187). Dies geschieht nach Becks Ansicht "ohne die einige Fraglosigkeiten sichernden, stabilen sozialmoralischen Milieus" (ebd.). Biographien sind nicht mehr vorgezeichnet sondern Ausdruck von nicht immer freiwillig und selten freien Wahlentscheidungen. Beck kontrastiert die Bastelbiographie auf der Folie einer standardisierten Erwerbsbiographie, die durch klare zeitliche Einschnitte wie Berufseinstieg, Heirat, Kinder kriegen und Rentenalter gekennzeichnet ist. Dem entgegengesetzt werden Lebensläufe vielfältiger, da sie um die Entwicklung persönlicher Fähigkeiten und das In-Bewegung-Bleiben kreisen. Es kann Wiederverheiratungen genauso geben wie zeitweise Arbeitslosigkeit. Beständig müssen die Akteure an ihrem Lebensweg feilen und auf die Einwirkungen des Marktes und des Staates reagieren sowie dem Konzept eines eigenen Lebens Folge leisten. Beck schränkt seine zunächst global formulierte These allerdings später etwas ein. So schreibt er: "Dies trifft keinesfalls auf alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zu. Dieser Wandel ist wesentlich ein Produkt der jüngeren Generation, der besseren Ausbildung und des höheren Einkommens..." (Beck 1994:55).

3. Familienstrukturen

Modernisierung bringt Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Lebensformen mit sich. Durch den Ausbau des Sozialstaates nach dem 2.Weltkrieg, die Bildungsexpansion, Reallohnsteigerungen, soziale und geographische Mobilität (Ebers 1995:271) wird die Möglichkeit eröffnet, Institutionen zu verlassen und ihre sichernde Funktion selbst zu übernehmen. Für die Familie bedeutet dies, daß es möglich ist, auch ohne sie als schützendes Gerüst zu leben. Statt dessen werden Familien auf Zeit gelebt, so daß temporäre Konstellationen das Konstrukt der lebenslangen Ehe ersetzen. "Ehe läßt sich von Sexualität trennen und noch einmal von Elternschaft [..]" (Beck 1986:190) schreibt Beck und malt ein Bild sich zerfasernder Lebensläufe, die aus notwendig gewordenen Entscheidungen resultieren. Die Zersplitterung der biographischen Einheit erleben auch die Kinder: Jedes 10. Kind wächst "schon" (Beck 1986:193) in einer Einelternfamilie auf. Die alleinerziehende Mutter ist bei Beck nicht mehr ein Opfer männlichen Verantwortungsentzugs, sondern eine "Wahlmöglichkeit, die ergriffen wird" (ebd.). Die Gründe für diese Enttraditionalisierung findet Beck in den Mechanismen des Arbeitsmarktes, der Mobilität in jeder Hinsicht erwartet, eine Anforderung, die ein an Partner und Kind gebundenes Subjekt nicht erfüllen kann.

4. Vollmobile Single-Gesellschaft

Mit der Emanzipation der Frau (Beck nennt es Individualisierung) und ihrem Drang auf den Arbeitsmarkt, ihrem Wunsch oder Zwang folgend, männliches Erwerbsleben zu imitieren, gerät die Familie weiter unter Druck. Zweifache Mobilitätsanforderungen entstehen nun dort, wo früher die Frau mitmobil dem Partner folgte. Daß heute die Teilung von Berufs- und Familienarbeit nicht mehr selbstverständlich Frauensache ist, sondern im Privaten ausgehandelt werden muß, setzt Partnerschaften zusätzlich unter Druck. Diese marktkonforme Verschiebung des Ortes der Wahlentscheidung ist wiederum durch die Forderung des Arbeitsmarktes nach mobilen Kräften entstanden. In Beckschen Worten: "Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder familien 'behinderte' Individuum" (Beck 1986:191) und nichts deutet darauf hin, daß dem etwas entgegengesetzt würde. Als Beleg führt Beck eine Individualisierungsspirale an mit "sprunghaft ansteigenden Zahlen für Einpersonenhaushalte und alleinerziehende Mütter" (ebd:199).

5. Temporäre Koalitionen

Menschen müssen trotz der Auflösungserscheinungen Koalitionen zur Problemlösung schließen. In der Auswahl der Partner und Meinungen sind sie aber in der Mischung der Stile und ihrer Herkunft frei, wobei jedoch weiterhin Konflikte entlang zugewiesener, also unveränderlicher Merkmale wie Hautfarbe oder Geschlecht bestehen bleiben.

Gegen die Institutionszwänge verbinden sich die Menschen im Beckschen Gesellschaftsmodell zu situativ und thematisch gebundenen temporären Koalitionen, nicht jedoch zu stabilen Milieus. Die Bewußtwerdung des neuen Vergesellschaftungsmodus könnte auch zu neuen soziokulturellen Gemeinsamkeiten führen. Diese neuen soziokulturellen Gemeinsamkeiten, diese Kollektivität und Standardisierung kommen zum Beispiel durch neue, jetzt sichtbar werdende Klassenlagen zustande, die durch gemeinsame soziale Risiken gebildet werden, "Einkommens- und Qualifikationsstufen übergreifend" (Beck 1994: 45).

6. Kritik an der Beckschen Individualisierungthese

Im folgenden werden drei Kritiker der Beckschen Individualisierungsthese vorgestellt. Sie versuchen an verschiedenen Punkten anzusetzen und Beck empirisch zu widerlegen. Primär richten sich ihre Untersuchungsergebnisse gegen die proklamierten Auflösungserscheingen in westlichen Gesellschaften.

1. Die Generationenfrage: Hans Bertram / Simone Kreher

Hans Bertram und Simone Kreher diskutieren die Becksche These, daß sich durch die erweiterten Wahlmöglichkeiten im Aufbau eines eigenen Lebensstils, der unabhängig von Herkunft und Tradition gelebt werden kann, ein Verlust von Stabilität privater Beziehungen ergibt. Lebensverläufe, so wird von Beck angenommen, sind nicht mehr vorgegeben, sondern variabel, offen und instabil, sie werden individuell zusammengebastelt. Unstandardisierte Lebensläufe und die Auflösung klassischer familialer Beziehungen müßten sich demzufolge empirisch nachweisen lassen.

1. Vorgehenswe ise

Bertram und Kreher bemühen sich um eine Verifizierung dieser These. Sie gehen davon aus, daß derartige Tendenzen über mehrere Generationen deutlich werden müssen, wenn sie empirisch Gültigkeit beanspruchen sollen. Dabei suchen sie nach individuellen Lebensstilen und Lebensläufen, die unabhängig von Tradition und Herkunft gebildet werden. Um Langzeittrends ausmachen zu können, bezieht sich ihre Untersuchung auf Personen über mehrere Generationen hinweg. Dabei untersuchen sie vornehmlich familiale Beziehungen. Sie gehen der Frage nach, inwiefern diese an Intensität verlieren und zwischen wem sie besonders stark ausgeprägt weiter bestehen. Untersucht werden Vorgänge wie gemeinsames Essen, Freizeit verbringen, persönliche enge Gefühle haben und Persönliches besprechen. Zu diesem Zweck wurde eine Befragung von 16124 Personen im Alter von 18 bis 80 Jahren durchgeführt, sowie andere Datenquellen ausgewertet.

2. Ergebnisse

Es stellt sich heraus, daß Lebensalter und Familienstand die ausschlaggebenden Variablen sind. Es ist kein allgemeiner Bruch zwischen Herkunftsfamilie und eigener Familie festzustellen. Verheiratete bauen ein neues Beziehungsmuster auf, das sich im wesentlichen auf Kinder und Partner gründet. Ledige verbleiben dahingegen weitgehend im Beziehungsmuster der Herkunftsfamilie. Freunde spielen nur bei jüngeren Menschen eine Rolle, bis diese verheiratet sind oder Kinder bekommen. Es lassen sich vielmehr stärker vertikale Verwandschaftsstrukturen ablesen: Großeltern werden miteinbezogen (Generationensolidarität) und der Kontakt zu Eltern über längere Zeit intensiv aufrechterhalten (Hotel Mama), weil mit längeren Lebenszeiten gerechnet wird. Elternbeziehungen brechen nicht mit dem Auszug der Kinder ab, sondern bleiben bis zu deren Tod bestehen. Für die Sicherheit privater Beziehungen ist nicht das Zusammenleben wichtig, sondern das Kinder haben, dies verbindet die Familienmitglieder über die Elterngeneration hinaus. Die Forscher sprechen deshalb von einer multilokalen Mehrgenerationenfamilie, die sich als Gegensatz zur traditionellen Haushaltsfamilie herausbildet. Die Funktion der Familie habe sich geändert, meinen die Forscher, sie habe außer der Sozialisations- und Reproduktionfunktion nun auch die Funktion der Generationensolidarität übernommen.

3. Schlußfolgerungen

Nach Becks Individualisierungstheorie müßte festzustellen sein, daß Menschen nicht mehr dem Muster der Familienbildung in der Abfolge Partnerschaft, Heirat, Geburt von Kindern folgen, sondern eigene variablere Strukturen aufbauen. Bertram und Kreher stellen statt dessen fest, daß das alte Grundmuster beibehalten wird, es sinkt das Alter, in dem die erste Partnerschaft eingegangen wird und das Alter der Heirat nähert sich der Geburt des ersten Kindes an. Es ändert sich auch der Abstand zwischen erster Ausbildung und Beginn der Erwerbstätigkeit. Alle diese Veränderungen sehen die Forscher stark durch spezifische, zeitgeschichtliche Entwicklungen bedingt. An ostdeutschen Frauen zeigen sie, daß sich der Eintritt in das Berufsleben und die Geburt des ersten Kindes zwar annähern, nie jedoch umkehren oder sequentiell abfolgen oder völlig neue Abläufe nehmen.

Die Autoren stellen damit trotz unterschiedlichster Lebens- und Haushaltsformen keine Individualisierung, hier verstanden als Ausdifferenzierung der Beziehung zur Familie, fest. Die Beziehungen bleiben vielmehr stark, jedoch multilokal. Familie findet nicht mehr unter einem Dach statt, sondern bleibt über Distanzen stabil. In dieses Netzwerk werden sogar mehrere Generationen integriert, so daß von einem Zerfall familialer Strukturen nicht zu sprechen ist. Die Autoren stellen einen "Übergang von der neolokalen Gattenfamilie mit kleinen Kindern zu einer multilokalen Mehrgenerationenfamilie mit lebenslangen Beziehungen zwischen Generationen" fest (Bertram und Kreher 1986:30).

Aus den ihnen zur Verfügung stehenden Daten können Bertram und Kreher weitere Besonderheiten herausarbeiten: Neue Singles sind die ledigen und geschiedenen bzw. getrennt lebenden Männer im jüngeren und mittleren Alter. Frauen der Geburtsjahrgänge von 1888 bis 1950 wiesen eine konstante Heiratsquote von über 70 Prozent auf. Veränderungen ergaben sich hinsichtlich des Anteils der Witwen und der Geschiedenen, da die Zahl der durch Kriege verstorbenen Männer abnahm. Diese Daten lassen nicht den Schluß zu, daß in neuerer Zeit mehr Haushalte alleinlebender Erwachsener entstanden seien; lediglich hinsichtlich der Ursachen sind Verschiebungen festzuhalten.

Auch die These der Auflösung von Familien, die zu einem steigenden Anteil Alleinerziehender führt - und damit zu Kindern, die in unvollständigen Familien aufwachsen - , können sie nicht bestätigen: "Die Chancen von Kindern, gemeinsam mit beiden leiblichen Eltern aufzuwachsen, sind in diesem Jahrhundert weit stärker von den historischen Ereignissen beeinflußt worden als von den Wandlungstendenzen der letzten 15 bis 20 Jahre" (Bertram und Kreher 1986:21). Eher ist von einer "Familiarisierung des kindlichen Aufwachsens in unserer Gesellschaft" zu sprechen, da gleichzeitig der Anteil der Heim- und Waisenkinder zurückgegangen ist. Daß die sozialen Beziehungen zu Eltern unsicherer geworden seien bezweifeln die Forscher sehr stark.

2. Die Einflußgrößen Bildung, Geschlecht, Nation und Ethnie: Burkhart

Zwischen Ulrich Beck und Günther Burkhart ist eine lebhafte Diskussion veröffentlicht, die sich um die Frage drehte, ob familiäre Rollen und Normen durch Individualisierung aufgeweicht worden sind. Zur Debatte stand, ob sich nachweisen läßt, daß hinsichtlich familiärer Entscheidungen weiterhin normativen traditionellen Vorgaben gefolgt wird oder ob die neuen Wahl- und Entscheidungsspielräume neue Strukturen hervorbrachten.

1. Die Untersuchung

Der Individualisierungstheorie zufolge ist die Bedeutung individualistischer Lebensstile gestiegen, womit, insbesondere für Frauen, eine wachsende biographische Autonomie einhergegangen ist, die biographische Perspektive aber ihre Dauerhaftigkeit verliert. Burkhart unternimmt die Untersuchung dieser Annahme anhand biographischer Daten schwarzer Frauen in Nordamerika. Er begründet diese Auswahl mit dem Anspruch Becks, eine für westliche Staaten allgemein gültige Entwicklungstendenz ausgemacht zu haben.

Der Individualisierungstheorie folgend, müßten sich nach Burkhart Frauen zwischen Mutterschaft und Kinderlosigkeit entscheiden können, Geburtenkontrolle als Mittel zur bewußten und rationalen Kontrolle über das eigene Leben einsetzen und die Wahl der Lebensform frei treffen können.

2. Ergebnisse

An amerikanischen Frauen beweist Burkhart das Gegenteil: Es gibt weiterhin strukturelle Determinanten, die verantwortlich für Fertilität und Familienstruktur sind. Es gibt eine starke Korrelation zwischen dem Aufschub der Elternschaft und den beiden Variablen Bildungsgrad und ethnische Zugehörigkeit. Schwarze Frauen sind im Alter von 20 doppelt so oft Mutter wie weiße. Alleinlebende Frauen sind in den USA überwiegend arme Geschiedene und keine single-mother-by-choice. 60% der schwarzen Familien sind unvolls tändig gegenüber 23% bei weißen. Der Grund ist hier in einem ökonomischem Problemdruck und geringer Individualisierung (beispielsweise durch ein starkes nachbarschaftliches Netzwerk gekennzeichnet) zu suchen. Nach Burkharts Ansicht begrenzen die sozialen Strukturen mancher Milieus die Optionen, da strukturelle Bedingungen wie Bildung, Stellung im Lebenszyklus und Milieu hohen Einfluß auf den Lebensweg haben. Selbst für Karriere-Frauen gibt es nur zwei Optionen: Kinderlosigkeit oder späte erste Mutterschaft. Die Frage, ob Kinder gewünscht sind, wird durchgängig in den USA positiv beantwortet. Die Zeugung des ersten Kindes ist trotzdem nur selten der Ausdruck einer bewußten Entscheidung, sondern das Ende einer strukturellen Überforderung, da die Tragweite der Entscheidung zu groß ist. Junge Mütter gehen das Risiko der Schwangerschaft ein und überlegen später, ob sie abtreiben sollen. Gut gebildete Collegemütter dahingegen, verzögern die Schwangerschaft, können sich nicht auf den richtigen Zeitpunkt festlegen und erliegen auf diese Art den Überforderungen. Beide sind nicht in ihrer Entscheidung frei, sondern Ausdruck ihrer sozialen Umgebung. Burkhart hält fest, daß junge Mütter keine Entscheidung treffen, sondern einer kulturellen Regel oder einer biologischen Zwangsläufigkeit folgen - milieuspezifische Regeln, Normen und Werte setzen sich immer noch durch. Außerdem merkt er an, daß "Individualisierung ein Charakteristikum bestimmter Milieus ist, insbesondere des akademischen Milieus" (Burkhart 19932:191).

3. Schlußfolgerungen

Indikatoren, die bei uns für Individualisierung sprechen, sind in den USA ein Zeichen für Segmentierung, für die Trennung von weißen und schwarzen Milieus. Auch hinsichtlich der Geschlechterrollen stellt Burkhart dies fest. Sie werden weniger individualisiert, vielmehr werden sie segmentiert: In unterschiedlichen Milieus bilden sich unterschiedliche Geschlechterrollen heraus. Die Einzelne kann nicht tun und lassen, was sie will, sondern richtet sich nach den Normen ihres Umfeldes. Handlungsspielräume sind damit nicht zwangsläufig größer geworden, sondern haben sich als neuer Standard in einem gut gebildeten, weißen Mittelklassemilieu durchgesetzt, sie sind damit auf eine privilegierte soziale Gruppe beschränkt. Burkhart schlägt deshalb eine Neubelebung des Begriffes "funktionale Differenzierung" vor. Statt allgemein von Werteerosion zu sprechen, müßte seiner Ansicht nach der Wandel von Normen und Werten genauer untersucht werden.

Hinsichtlich familiärer Normen und Werte stellt Burkhart keinen Verfall, keine normative Unverbindlichkeit oder Anomie fest (Burkhart, S. 160), vielmehr seien Elternschaft und Familie weiterhin hochbesetzte Werte. Auch gelte die Erwartung an Frauen, erst eine Ausbildung abzuschließen bevor geheiratet werden könne.

Über mehrere Generationen hinweg zeigt sich vor allem das Ergebnis, daß weniger zunehmende Kinderlosigkeit (vier fünftel), sondern Aufschub der Elternschaft festzustellen ist. Die Familiengröße konzentriert sich auf ein bis zwei Kinder. Abweichungen lassen sich auch bei Burkhart eher durch historische Ereignisse ergründen. "Von Pluralisierung läßt sich in einem gehaltvollen Sinn nicht sprechen" (Burkhart 19931:164).

3. Regionale Disparitäten: Hans Bertram

Hans Bertram geht der Frage nach, ob die von Beck konstatierte Individualisierung der westlichen Gesellschaft wirklich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellt. In das Zentrum seiner Untersuchung setzt Bertram die Frage nach möglichen regionalen Differenzen hinsichtlich ihres Individualisierungsgrades (vgl. Bertram 1992).

1. Untersuchungsgegenstand

Hans Bertram unterteilt die BRD in Regionen den nach folgenden Kriterien, die seiner Ansicht nach gute Indikatoren für Individualisierung abgeben: Relativen Anteil der Ein-Personen-Haushalte, Vier-Personen Haushalt e, Eheschließungs- und Scheidungsquoten, Geburtsraten, Anteil der Ledigen nach Altersgruppen differenziert, Anteil der unter 6-jährigen, Ausländeranteil, Mütter jünger als 20 und über 35.

Bei der Analyse der Daten entstehen Extremgebiete: Berlin, München (Sonderfälle als Großstädte), nördliche protestantische Großstädte, westliche Industriestädte, südwestliche Industriestädte, norddeutsche protestantische Landregionen und bayerisches Land.

2. Ergebnisse

Zwischen diesen Analyseeinheiten stellt Bertram gravierende Unterschiede fest. So schwankt der Anteil der Ledigen 25- bis 30-jährigen zwischen 62% in München und 39% in bayerischen ländlichen Regionen. In Berlin, München und großen Universitätsstädten leben ein Viertel bis zu 40% der 35- bis 40-jährigen und der 30- bis 35-jährigen nicht in einer Ehe und sind auch nicht geschieden - Die Ehe ist hier nicht mehr Lebensform der Wahl. In diesen Gebieten sind nur 53% der 30- bis 35- jährigen verheiratet, gegenüber 79% in bayerischen ländlichen Regionen oder 70% in den westdeutschen Industrierevieren. Gleichzeitig leben 27% der Gesamtbevölkerung von Berlin und München in Ein-Personen-Haushalten, wohingegen dies lediglich bei 8% der Bewohner des bayerischen Landes der Fall ist.

Trotz dieser Unterschiede stellt Bertram keine extremen Differenzen in der Erwerbsquote zwischen Stadt und Land (68% vs. 54%) fest, obwohl diese, den anderen Daten folgend, zu erwarten wäre. Dies deutet darauf hin, daß weibliche Erwerbstätigkeit und eine familiäre Lebensführung in ländlichen Regionen versus weibliche Erwerbstätigkeit und Alleinleben in den großen urbanen Zentren unterschiedliche Lebensläufe zu sein scheinen. Daten zur hohen Erwerbstätigkeit können deshalb nicht selbstverständlich als Indikator für Individualisierung genommen werden können. Es zeigt, daß "kulturelle Traditionen für Formen der Lebensführung möglicherweise eine größere Bedeutung haben als die Erwerbstätigkeit und die Erwerbsquoten innerhalb einzelner Regionen" Bertram 1992:137).

In die Zukunft geblickt, kann vermutet werden, daß bei gleichbleibender Entwicklung in Hinsicht auf Bildung zwischen Land und Stadt die Unterschiede eher zu denn abnehmen werden. Hinzuweisen ist auf den deutlichen Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Lebensform.

3. Schlußfolgerungen

Zusammenfassend stellt Bertram fest, daß die Individualisierungsthese (Differenzierung von Lebensführung und Lebensformen) in den großen urbanen Zentren deutlich nachgewiesen werden kann, in anderen Regionen sei dies aber nicht der Fall. "Es ist zu vermuten, daß viele der Theorien und Thesen über die Individualisierungstendenzen in unserer Gesellschaft Thesen sind, die im Grunde genommen für die großen städtischen Kulturen der Bundesrepublik in unterschiedlicher Ausprägung vollständig richtige Beobachtungen sind, wobei dies nicht nur in ganz großen Städten, wie Berlin oder München nachweisbar ist, sondern auch in Universitätsstädten mit einem hohen Anteil an Intellektuellen" (Bertram 1992:135f). Seiner Ansicht nach kann nicht davon ausgegangen werden, daß regionale Unterschiede durch Individualisierung verschwunden sind. Sie müssen vielmehr weiterhin in der Forschung Beachtung finden: Wir sollten in Zukunft "Pluralisierung und Individualisierung als Ausdruck der Differenzierung der Lebensformen zwischen den großen urbanen Zentren und den ländlichen Regionen bzw. den traditionellen Industrierevieren der BRD interpretieren."

4. Diskussion aus Beckscher Perspektive

Die vorgestellten Studien machen die Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung der Beckschen Thesen deutlich: Offenbar ist es nicht richtig, daß sich die Zahl der Kinder bei alleinerziehenden Elternteilen in den letzten zwanzig Jahren außergewöhnlich stark verändert hat.

Familien scheinen sich nicht aufzulösen, sondern regional zu streuen. Außerdem gibt es starke Hinweise darauf, daß strukturelle und angeborene Merkmale determinierend für Lebensläufe sind und nicht Wahlentscheidungen alleine Wege weisen.

Es scheint einige Mißverständnisse und einige Deutungsdifferenzen zu geben, deren Ursache zunächst nicht deutlich zu Tage tritt. Wieder einmal findet sich ein Grund im unterschiedlichen Verständnis des Begriffes Individualisierung und der ihn begleitenden Vorgänge.

Beck wirft Burkhart in einer Replik vor, Individualisierung als rationale, autonome Entscheidung mißzuverstehen. Individualisierung bedeute jedoch nichts Gewolltes und nicht zwangsläufig Gelingendes, sondern sei eine Beschreibung der "existentiellen Entscheidungssituation" (Beck 1993: 179). Beck geht nicht davon aus, daß es heute keine Vorgaben gäbe, sondern daß es die Vorgabe gibt, eine eigene Ausbildungs- und Berufskarriere zu planen. Diese Verschiebung hin zum Selbst- Planungszwang hebt Beck gerade in seinen späteren Aufsätzen hervor. Es ist die Betonung eines Möglichkeitsraumes und eines wandelnden Selbst-Verständnisses, die Beck kennzeichnet. Dagegen stehen empirische Belege, die weder größere Entscheidungsspielräume noch erweiterte Handlungsoptionen feststellen können.

Beck arbeitet zweierlei Mißverständnisse heraus. Erstens versteht er Individualisierung nicht nur als Auflösung traditioneller Sozialformen, sondern auch als Gewinnung von Definitionsmacht durch Institutionen, wie Arbeitsmarkt und Sozialstaat, aber auch Medien und Werbung (Beck 1993:181). Es gibt also in seinem Modell keinen gesellschaftsfreien Raum, den Burkhardt Beck folgend nachzuweisen sucht, sondern ein gespanntes Netz, das die institutionellen Horizonte für das Planen der Individuen vorgibt. Beck nennt dies das Individualistisches Mißverständnis der Individualisierungsdebatte (ebd.).

Zweitens müssen Entscheidungen nicht autonom fallen, um Kennzeichen von Individualisierung zu sein. Eine Zunahme von Getrenntlebenden, Geschiedenen und alleinerziehenden Eltern weist aber auf eine Ausweitung der Wahlmöglichkeiten hin. Was sich verändert, ist der Möglichkeitsspielraum, ohne daß damit gesagt würde, daß gefällte Entscheidungen so gewollt wären oder den gewünschten Lebensstil hervorbrächten. Die Annahme, mit der Freisetzung aus traditionellen Bezügen frei von jeder Beeinflusung zu sein, bezeichnet Beck als Rationalistisches Mißverständnis der Individualisierungsdebatte (ebd.).

Kennzeichnend für die Becksche Individualisierung ist die Verschiebung der Perspektive und der Wandel des Vergesellschaftungsmodus. Beispielsweise beschreibt Beck hinsichtlich der Fertilität eine Verlagerung von sozial kontrollierter zu individuell kontrollierter Fruchtbarkeit. Kennzeichen der neuen Gesellschaftsform mit ihrer individualisierenden Differenzierung ist, daß Entscheidungen "den einzelnen als einzelnen ins Zentrum rücken und traditionelle Lebens- und Verkehrsformen mißachten" (Beck 1993:180). Entscheidungen sind bei Beck immer Entscheidungsdilemmata, da keine Option deutlich vorgezeichnet ist. Mütter werden mit unterschiedlichen Erwartungen in ihren unterschiedlichen Bezugsgruppen konfrontiert. Beck schreibt: "[...] es gibt keine feste, einheitliche Erwartung, daß nach der Eheschließung bald die Wiege gefüllt" sein muß (Beck 1993:183). Dieses Fehlen des "Skripts" ist die Aufweichung der Normen, die er meint, das Selbstentscheiden, das zur Bastelbiographie führt.

Daß Individualisierung doch auch standardisierten Bahnen folgt, erklärt Beck dadurch, daß Frauen z.B. zwischen verschiedenen Lebensformen wählen können, diese Wahl aber nicht frei erfolgt, sondern immer unter institutionellen Anforderungen, Abhängigkeiten und Zwängen, so daß sich das Lebensmodell oft nicht erfüllen läßt (Beck 1993:185). Es scheint eine nachgeschaltete Re-sozialisierung zu geben: Traditionelle Vorgaben werden zunächst außer Kraft gesetzt und darüber Entscheidungsfreiheit suggeriert. Die Rückbindung an gesellschaftliche und milieuspezifische Normen erfolgt in einem zweiten Schritt über institutionelle Zwänge. Es wächst nicht die Freiheit, sondern es entsteht eine spannungsreichere, konfliktreichere Mischung. Das Dilemma ist gerade, daß Individuen unter strukturellen Vorgaben und Zwängen agieren (Wohlfahrtsstaat, Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Steuergesetzen) und ständig Kompromisse mit ihren Lebensplanungen eingehen müssen.

Daß Unterschiede regional auszumachen sind, kann Beck nicht entkräften. Auch nicht die Feststellung, daß es Milieuspezifika gibt, die stärkere Individualisierung ausweisen als andere. Es kann bei Beck aber eine Individualis ierungsthese abgeleitet werden, die noch stärker die Verlagerung des Vergesellschaftungsmodus betont und darüber gemeinsame Entwicklungen über Milieus und Regionen hinweg propagieren kann.

7. Zusammenfassung und Kritik

Oder: Individualisierung als modernisierungsimmanenter Wandel des Vergesellschaftungsmodus Auf dreierlei Wegen ist in dieser Arbeit zu einem Ende gekommen worden: Zunächst begrifflich mit der Erkundung dessen, was Modernisierung und Individualisierung theoretisch bezeichnet, wie sie bei unterschiedlichen Soziologen verstanden werden und schließlich, wie Beck die Begriffe einsetzt. Im zweiten Schritt wurde die Becksche Risikogesellschaft ein weiteres Mal aufgezeigt mit einem Schwerpunkt bei Individualisierungsabläufen. Hier endete die Thematik beim Aufzeigen der von Beck analysierten Folgen. Der dritte Abschnitt gab denen Raum, die empirisch nachzuweisen versuchten, daß Individualisierung als Auflösung von Strukturen, als Wahlfreiheit und sich ausdifferenzierende Lebensläufe keinen Bestand hat. Den drei Abschnitten scheinen drei Konzepte zugrunde zu liegen. Eines nähert sich dem Untersuchungsgegenstand definitorisch, eines essayistisch und eines empirisch. Wie ist dies nun zusammenzubringen?

Ulrich Beck hat mit der Zuspitzung seiner These der Individualisierung als Erosion fast aller Bestandteile einer modernen Gesellschaft dazu beigetragen, daß dieses Konstrukt unter der empirischen Kritik zusammenzubrechen scheint. In der ihm eigenen stürmischen und wortreichen Art scheint er über das Ziel hinausgeschossen zu sein, wenn er die These aufstellt, daß Identitäten, Bindungen und Perspektiven allesamt jedwedes Kontinuum einbüßen. Dabei ist seine These der gleichzeitigen Standardisierung der Lebensläufe und Lebensstile ins Hintertreffen geraten und zu wenig mitbeachtet worden. Monika Wohlrab-Sahr bietet in ihrer Abhandlung zur De-Institutionalisierung versus Individualisierung des Lebenslaufes eine integrierende Antwort an (Wohlrab-Sahr 1992:1ff). Sie versteht die Becksche Individualisierung als ein verändertes Zurechnungsschema, womit sie die Perspektive von der ausschließlichen Strukturanalyse auf eine subjektivere Sicht zurückbindet und damit vereint. Zurechnungsschema meint, daß Individuen ein anderes Selbstverständnis entwickeln, wie sie zu dem normalen Verlauf ihres Lebens stehen. Weitergedacht bedeutet dies, daß sie sich in einen reflexiven Zustand versetzt sehen, der sie in den Mittelpunkt ihres Handelns zu setzen scheint. Hierbei geht es weniger um die konkret zur Verfügung stehenden Alternativen, als vielmehr um ein verändertes Bewußtsein, für den eigenen Lebensweg verantwortlich und zuständig zu sein. Daß dieser Spielraum durch vielfältige Einrichtungen eingegrenzt wird, deckt sich nur allzu gut mit dem Beckschen Wort der Standardisierung: Moden, Konjunkturen, Märkte und vor allem, dies betont Beck immer wieder, sozialstaatliche Einrichtungen geben den Rahmen des Handlungsspielraums vor.

Den Glauben an normative traditionelle Vorgaben scheint Beck in einem Überflug individualisierender Analysen verloren zuhaben. In seiner Risikogesellschaft klingt es beinahe so, als sei das Ende der Soziologie gekommen, wenn weder Ethnie, noch Bildung, Herkunft oder Geschlecht strukturbildend für Lebensverläufe und Erwerbschancen sind, wenn Gesellschaft nur noch durch für alle gleiche Risiken und den Zwang zur Wahl-Biographie erzeugt wird. Diese Variablen wieder in den Vordergrund gerückt zu haben, ist Verdienst der Kritiker wie Burkhardt, Bertram oder Kreher. Nachzuweisen, daß sich unsere Gesellschaft nicht zur Gänze aufgelöst hat, scheint mir die Individualisierungsthese hingegen nicht fundamental zu treffen. Daß es die prognostizierte vollständige Auflösung nicht gibt, ist in den Beckschen Überlegungen bereits angelegt gewesen; Ein Zuviel an Pointierung scheint einiges verdeckt zu haben. Modernisierung geht auch bei Beck einher mit funktionaler Differenzierung, Rationalisierung, Technisierung und Individualisierung. Differenzierung ist dabei so weit fortgeschritten, daß als kleinste Einheit das Individuum besteht. Rationalisierung hat selbst rationale Bereiche wie Wissenschaft und Technik im Sinne eines reflexiven Hinterfragens erreicht. Natur scheint unter menschlicher Kontrolle zu sein und Abhängigkeiten verschieben sich: weg von natürlichen und hin zu technikimmanenten. Und Individualisierung? Sie ist scheinbar die Oberbewegung, obwohl seine drei Individualisierungskonzepte zu subsummieren sind: Herauslösung als Folge von Differenzierung, Entzauberung als durchgreifende Rationalisierung und Reintegration als ein Prozeß der Vergesellschaftung.

Daß es Wandlungsbewegungen zu stärkerer Segmentierung als Differenzierung von Lebenswelten gibt, zeigt die Studie Burkhardts auf, eine Diagnose, die auch Beck unterstützen würde. Daraus folgt aber, daß individualisierende Differenzierung genauso eine Antwort auf eine komplexer werdende Welt wie ein Beitrag zu ihrer Ausdifferenzierung ist. Differenzierung erwartet wiederum von Gesellschaftsmitgliedern ein hohes Maß an Flexibilität und sich-umstellen-können auf sich wechselnde Umgebungen, mit Folgen wie Vereinsamung, Triebunterdrückung und Einzigartigkeitsstreß. Nur die Auflösungstendenzen fortschreitender Individualisierung zu beschwören, unterschlägt den Teil des Begriffes, der sich auf die Neubildung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft bezieht.

Individualisierung ist also nicht personenzentrierte Veränderung, nicht der Wunsch, einen anderen Lebensstil zu wollen und diesen durchzusetzen, sondern Normaufweichung und damit einhergehend erweiterter Entscheidungsspielraum, bzw. Entscheidungsdilemma. Mit diesem Verständnis können alle Vorgänge zusammengefaßt werden, weil jeder immer vor Handlungsoptionen steht; es fallen aber die strukturellen Determinanten (Hautfarbe, Bildung, Geschlecht) weg und werden nicht beachtet. Wir haben es primär nicht mit einer Entstrukturalisierung zu tun, sondern mit einem Wandel in der Form der Vergesellschaftung, wie Beck es nennt, einen Wandel, der dem Einzelnen größere Freiheiten gibt und größere Beschränkungen mit dazu direkt vermittelt aufgibt - strukturell wie intraindividuell. Der Ort der Regelung des stabilen Zustands, der festgestellt werden kann, hat sich verschoben. Jeder Einzelne weiß um die Folgen seines grenzenlos individuellen Handelns. Es werden zu internalisierende Normen vermittelt, die auf gerade aktuelle Individualisierungsbewegungen reagieren. Verlängerte Studienzeiten bringen andauernde Forderungen in Presse und Gesprächen nach sich, die darauf dringen, sich selbst wieder an die Normen des Arbeitsmarktes zurückzubinden und an Rentenkassen und Berufschancen zu denken. Die freie Wahl der Krankenkasse bedeutet noch lange nicht, daß frei gewählt wird, sondern daß eine neue Entscheidung gefordert wird. Und die Liberalisierung des Telefonmarktes ist gefolgt von einer Flut von Berechnungshilfen und Tips für oder gegen den Umstieg. Die Entscheidungsräume nehmen zu, dies ist eine Art, wie Individualisierung als Auflösungserscheinung zu verstehen ist. Die Entscheidungsspielräume nehmen aber in sofern nicht zu, als daß die Folgen jedes Handelns bei Freisetzungsabläufen gleich mit vermittelt werden. Die Aufgabe für den Einzelnen nimmt zu und dies wird auch nicht durch Chronologisierungen des Lebenslaufes aufgehoben. Derartige Tendenzen sind vielmehr Reaktionen auf Auflösungserscheinungen von ehemals Zusammenhalt bietenden Einrichtungen wie Familie, Ort oder Arbeit, wie sie in einigen Milieus festzustellen sind. Sie sind gerade Ausdruck des veränderten Vergesellschaftungsmodus, der es nötig macht, daß sozialstaatliche Regelungen - und nichts anderes sind die angeführten Verzeitlichungseinrichtungen - installiert werden. Sie sind gerade notwendig. Gar nicht einmal so sehr, um vereinzelten Individuen Halt zu geben, sondern um zur Rückbindung an weiterhin strukturbildende Normen zu sichern, die nun internalisiert weiter wirken sollen. Ähnliches stellten auch Berger und Sopp in ihrer kohortenspezifischen Untersuchung von Erwerbsverlaufsmustern fest (Berger, Sopp: 1992). Sie arbebeiten heraus, daß die Nachkriegsphase, von der aus die heutige Individualisierung bewertet wird, ein historischer Ausnahmefall außergewöhnlicher Stabilität von Lebensläufen war. Die Differenzierungserscheinungen sind aus dieser Perspektive eher eine Normalisierung denn ein außergewöhnlicher Trend, zumal sie weiter den bekannten Variablen wirtschaftlicher Sicherheit, Arbeitslosigkeit und Wehrdienstanforderungen gehorchen. Für die beteiligten Personen erscheint die Entwicklung allerdings in unterschiedlichem Licht. Berger und Sopp verweisen auf das Konzept der cohort norm formation von Riley, nach dem "die Mitglieder einer Kohorte auf geteilte Erfahrungen reagieren und dabei allmählich gemeinsame Verhaltensweisen, Definitionen und Vorstellungen entwickeln, die sich zu gemeinsamen Normen kristallisieren können" (Berger, Sopp, 1992:181). Mitglieder jüngerer Kohorten, die mit Arbeitslosigkeit, größeren Bildungschancen, erweiterten Arbeitsmodellen und Mobilitätsanforderungen konfrontiert und aufgewachsen sind, integrieren diese als normal empfundenen Verhältnisse in ihre Erwerbsverläufe und Erwartungsmuster. Sie empfinden die Umstände, gerade im Rahmen eines absichernden Wohlfahrtsstaates, wenigstens zum Teil als Chance und erweiterte Wahlfreiheit. Wohingegen ältere Generationen diesen Perspektivwechsel nicht miterleben und aus ihrer, durch extreme Konformität des Lebenslaufes geprägten Erfahrungen als Auflösungserscheinungen und Verfall von Werten, Normen und Bindungen interpretieren können.

Sehr eindrucksvoll sind auch die Schilderungen von Wohlrab-Sahr über das Innenleben von Zeitarbeiterinnen. In diesen nicht-repräsentativen Interviews arbeitet sie heraus, daß die Normalbiographie weiter wirkt. Und zwar als Leitbild, wie ein erfolgreiches Leben aussehen sollte. Die befragten Frauen orientierten sich an den Normen institutionalisierter Lebensläufe, die sie selber nicht erreichen können. In einem "selbstsozialisatorischen" (Wohlrab-Sahr, 15). Eingriff sind sie bemüht, die biographischen Sinnzusammenhänge selber herzustellen und dies in einer Umgebung, in der sich die vorgelebten und nacherlebbaren Leitlinien auflösen, dafür aber die internalisierten Vorstellungen und Ansprüche zunehmen, die mit schwindenden realen Bezugspunkten vager, unhinterfragbarer und unsicherer werden. Die Unsicherheit in der Moderne, die Bastelexistenz auf wankendem Fundament, die Auflösung von Sinnzusammenhängen - dies wird verstehbar und plausibel, wenn subjektive und strukturelle Perspektiven wieder zusammenwirken und in ihrem aufeinander Einwirken herausgearbeitet werden. Dann ist Individualisierung ein Konzept, das nicht an dem Aufzeigen struktureller Kontinuitäten zerbricht, sondern das den spezifischen Wandel eines Vergesellschaftungsweges beispielhaft in einem Wort zusammenfaßt. Individualisierung ist deshalb nicht nur Destruktion, sondern die große Aufgabe eines jeden, indem ihm zugewiesenen und selbst so verstandenen normativen Rahmens die Aufgaben zu erfüllen, die er als auferlegt empfindet. Individualisierung ist ein Vorgang zunehmender Selbstreferentialität mit ungebrochener Außensteuerung und damit weiterhin als soziologisches Konzept tauglich.

9. Literaturverzeichnis

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Berger, Peter L., Brigitte Berger, Hansfried Kellner: Das Unbehagen in der Modernität, 1973.

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Wohlrab-Sahr, Monika: Institutionalisierung oder Individualisierung des Lebenslaufs? Anmerkungen zu einer festgefahrenen Debatte. BIOS 2/92, 5.Jg, S.1-19.

Wohlrab-Sahr, Monika: Über den Umgang mit biographischer Unsicherheit - Implikationen der "Modernisierung der Moderne". In: Soziale Welt, 1992,43,2, S.217-236.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Ulrich Becks Individualisierungsthese - Beschäftigung mit begrifflichen Unklarheiten und empirischen Widerlegungen
Veranstaltung
Seminar `Individualisierung, sozialer Wandel und Geschlecht`
Autor
Jahr
1997
Seiten
25
Katalognummer
V96479
ISBN (eBook)
9783638091558
Dateigröße
411 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ulrich, Becks, Individualisierungsthese, Beschäftigung, Unklarheiten, Widerlegungen, Seminar, Wandel, Geschlecht`
Arbeit zitieren
Philipp Müller (Autor:in), 1997, Ulrich Becks Individualisierungsthese - Beschäftigung mit begrifflichen Unklarheiten und empirischen Widerlegungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96479

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