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Bachelorarbeit, 2013
62 Seiten, Note: 2,3
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Literaturdiskussion
3. Akteurskonstellation in der Schulpolitik
3.1. Kulturhoheit der Länder
3.2. Kultusministerkonferenz
3.3. Landesverfassung, Schulgesetz und andere Rechtsquellen
3.4. Bildungsplan
3.5. Schulaufsicht Baden-Württemberg
3.6. Schulträger und Schule
4. Theorie
4.1. Politik und Verwaltung
4.2. Abgeleitete Annahmen und Vermutungen
5. Analyse
5.1. Fallauswahl
5.2. Methode
5.3. Zentrale Ergebnisse
5.4. Ergebnisse im Hinblick auf die Theorien
6. Schluss
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Anhang
Abbildung
Organisation Schulverwaltung Baden-Württemberg (eigene Darstellung)
Tabelle 1 - Fallauswahl
Tabelle 2 - Rechtsquellen
Tabelle 3 - Relevante Textdokumente
Tabelle 4 - Interviewpartner
Tabelle 5 - Kategorieschema A
Tabelle 6 - Kategorieschema B
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im System des deutschen Föderalismus gilt die Bildungspolitik als Kernstück der Länder und ist in ihrem Aufgabengebiet angesiedelt. Unter dem Stichwort "Kulturhoheit" schreibt man ihnen die Rolle einer rahmensetzenden Steuerungs- und Planungsinstanz zu. Hierbei gelten daher die Länderparlamente als zentrale Akteure; hinzu kommen – als exekutive Instanz – die Kultusministerien. Die Ausgestaltung des Schulwesens lässt sich jedoch nicht auf diese Institutionen beschränken. Vielmehr folgt ihnen ein aufgefächerter Schulverwaltungsapparat in Gestalt von Regierungspräsidien als obere Schulaufsichtsbehörden sowie staatliche Schulämter als untere Schulaufsichtsbehörden. Hinzu kommt die operativ eigenständige Schule.
Die Gemeinschaftsschule (GMS) in Baden-Württemberg (BW) wurde nach dem Regierungswechsel 2011 zum Schuljahr 2012/13 als neue Schulart in die Schullandschaft etabliert. Der besondere Reformcharakter dieses Modells wirft interessante Fragen auf:
Birgt die Neugestaltung eines Schulmodells besondere Steuerungsansprüche der politischen Führung? Wie sehr kann bzw. will die Landesregierung von bestehenden Strukturen abweichen? Verselbstständigt sich die Verwaltung dabei als eigenes Machtzentrum?
All dies sind Fragen, die in der nachfolgenden Arbeit erörtert werden sollen.
Ziel ist es den Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung von der erziehungswissenschaftlichen Perspektive abzuwenden und auf eine verwaltungswissenschaftliche Herangehensweise und ihr Steuerungsmechanismen zu lenken.
In einem ersten Schritt soll dargestellt werden, welche Akteure im Rahmen der rechtlichen Vorgaben überhaupt Mitgestaltungsrechte besitzen (Kapitel 3). Es folgt die Darstellung zweier theoretischer Ansätze: der erste Ansatz betrachtet das Verhalten zwischen Politikern und Bürokraten; das zweite Konzept stellt mögliche Organisationsprinzipien zwischen Politik und Verwaltung vor. Beide Ansätze machen durch die Kategorisierung in verschiedene Interpretationskonzepte die Empirie theoretisch zugänglich. Die theoretischen Modelle werden anschließend einheitlich auf Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg angewandt und plausible Annahmen abgeleitet (Kapitel 4). Mittels der empirischen Analyse von Rechtsdokumenten und Antragspapieren soll dann zunächst der konstituierte Rahmen für die Ausgestaltung der neuen Schulform vorgestellt werden. Die Ergebnisse werden in Relation zu Aussagen von Expertinnen und Experten einzelner Entscheidungsebenen gesetzt, um mögliche Abweichungen oder Interpretationsspielräume zu identifizieren (Kapitel 5). Im letzten Schritt werden die empirischen Befunde zu den theoretischen Annahmen in Relation gesetzt, um eine adäquate Einordnung des Konzepts in den verwaltungswissenschaftlichen Kontext zu gewährleisten (Kapitel 6).
Der aktuelle Forschungsstand zur politischen Steuerung in der Bildungspolitik umfasst eine Vielzahl an Werken, die sich deskriptiv mit der Rechtslage und damit im weitesten Sinne mit gegebenen Steuerungsmechanismen im Schulwesen auseinandersetzen. Diese Arbeiten unterscheiden sich im Wesentlichen in ihrem Abstraktionsgrad.
BÖHM (2012) und HOEGG (2006) fokussieren Akteure der Individualebene und ordnen Schulleitung, Lehrkräfte, Schulsekretariat, Schulträger, Elternvertretung etc. in einen rechtlichen Kontext ein.
Ausführungen zur Schulrechtskunde auf Bundesebene finden sich als einschlägige Werke und im Rahmen von Ausführungen zur föderalen Politikgestaltung in Deutschland. Hierbei werden durch Randbemerkungen die Machtansprüche der Akteure an einzelnen Stellen geltend gemacht. Schwerpunkte bilden Abhandlungen zu Rechtsnormen und Regelungsbereichen der EU, Strukturprinzipien der Verfassung und Grundrechte sowie bundespolitische Aufgabenzuteilung und eine umfassende Illustration der Kulturhoheit der Länder, in der jedoch nur beispielhaft auf Charakteristika in den einzelnen Bundesländern eingegangen wird. Beispielhaft sind hierzu die Werke von AVERNIUS/HECKEL (2000), SCHMID (2008), sowie SCHNEIDER/WEHLING (2006), SCHUBERT/KLEIN (2011) und NOHLEN/GROTZ (2011) zu nennen, wobei es sich bei letzteren um lexikalische Nachschlagewerke handelt. AVERNIUS et al. (2003) stellen die Unterschiede zwischen den Ländern dar und geben einen kurzen Überblick zu den relevanten Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Baden-Württemberg.
Eine zweite Gruppe von Autorinnen und Autoren überwindet den juristischen Blickwinkel. Einige von ihnen beschäftigen sich mit der Notwendigkeit schulischer Selbstverwaltung, während andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Unerlässlichkeit von Steuerungsansprüchen der Legislative und Exekutive betonen.
Folgende Werke beschreiben die Schulverwaltung als streng hierarchisch organisiertes System: WUNDER (2000) stützt seine Einschätzung empirisch auf Ergebnisse einer Analyse zur Rolle der Ministerien in der Bildungspolitik. Alternativ dazu argumentieren AVERNIUS/HECKEL (2000) und THIEME (1995) mit der gegebenen Rechtslage und weisen dabei auf Ausdehnungsmöglichkeiten im Sinne der Schulautonomie hin. BOGUMIL/JANN (2009) ordnen den Schulbereich aufgrund der klassischen Rechts- und Fachaufsicht dem normativen Idealtyp der hierarchischen Verwaltung nach BECK JORGENSEN (1993) zu.
HEPP (2011) interpretiert die Schulverwaltung als Teil der Exekutive und betont die konzeptionelle Gestaltung durch das Kultusministerium (KM) sowie der staatlichen Schulverwaltung. In einem späteren Kapitel argumentiert er jedoch im Sinne der Schulautonomie und begründet dies mit dezentralen Entwicklungstendenzen.
Die Publikationen, in denen Schulverwaltung als klassisch autonomes Feld der Schulen behandelt wird, begründen ihre Thesen hingegen mit Partizipationsansprüchen einer Bürgergesellschaft bzw. mit dem Konzept der "community-education" (HEPP/SCHNEIDER 1999; VOLKHOLZ 2003). VAN ACKEREN/KLEMM (2011) fundieren ihre Behauptungen mit Ergebnissen der Schulwirksamkeitsforschung. Höhere Leistungsziele seien demnach nur mit offeneren politisch-administrativen Rahmenstrukturen zu verwirklichen. REUTER (2003) beruft sich auf das hohe Abstraktionsniveau der Erziehungs- und Bildungsziele, während HEPP (2011) das Modell der selbstständigen Einzelschule mit outputorientierten Steuerungsprozessen des New Public Managements (NPM) rechtfertigt, welche für die "Dezentralisierung von Aufgabenverantwortung und Entscheidungsprozessen auf (...) unteren Ebenen" einen effektiven Ressourceneinsatz versprichen. REUTER (2003), STRYCK (2003) und VOLKHOLZ (2003), verzichten gänzlich auf empirisches Material und konzentrieren sich auf die normative Beschreibung des Autonomiebedarfs und die bundespolitischen Reaktionen. Diese uneinheitliche Darstellung zu Steuerungsansprüchen im Bildungswesen verweist auf die Relevanz der angelegten Forschungsfrage.
Zudem enthält nur ein Teil der Arbeiten empirische Studien. Diese stammen jedoch meist aus der erziehungswissenschaftlichen Sektion (KUHLMANN 2012).
HEPP/WEIHNACHT (1996) weisen in ihrem Artikel mit dem Titel "Schulpolitik als Gegenstand der Sozialwissenschaft" ausführlich auf diese empirischen Defizite der politikwissenschaftlichen Forschung im Bereich der nationalen Bildungspolitik hin.
Eine der wenigen aktuellen analytischen Auseinandersetzungen mit Reformen im Bildungswesen sind die Studien von RÜRUP/BOHRMANN (2012) sowie RÜRUP (2007). Diese Arbeiten bedienen sich jedoch einer theoretischen Fundierung mittels sogenannter "Educational Governance"-Perspektiven sowie Ansätzen der Innovationsforschung und vernachlässigen politik- und verwaltungswissenschaftliche Erklärungsansätze. Das Wissen über das deutsche Schulsystem gründet sich demzufolge neben juristischen Gutachten auf erziehungswissenschaftlichen Messungen zur relativen Leistung der Schüler zur Sozialnorm (PISA) und konstituiert somit den Rahmen, in dem wissenschaftliche Arbeiten zum Bildungswesen angesiedelt sind.
Die Frage nach den Zuständigkeiten im Bildungswesen werden in Art. 30 und Art. 70 Grundgesetz (GG) beantwortet. Demnach lässt sich auf eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder schließen. Die Bundesländer nehmen "die Ausübung (...) staatliche(r) Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben" wahr, "soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt" (Art. 30 GG). Die legislative Ausgestaltung ist in Art. 70GG festgeschrieben, wonach den Ländern das Recht der Gesetzgebung erteilt wird, sofern nicht dem Bund vorbehaltene Befugnisse durch das Grundgesetz zustehen.
Mit der Föderalismusreform 2006 erfuhren die Länder eine Aufwertung ihrer Kompetenzen im Bildungssektor. Die ehemaligen Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern (Art. 91b GG a.F.) beschränken sich ausschließlich auf Art. 91b Abs. 2 (Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich). Bildungsplanung sowie die Durchführung von Modellvorhaben zur Weiterentwicklung des Bildungswesens, zu denen mitunter die Gemeinschaftsschule (GMS) hätte zählen können, wurden aus dem Art. 91 entfernt. Auch die ehemalige Rahmengesetzgebung des Bundes wurde nach Art. 75 GG ausgeschlossen. Rechtlich ergibt sich daraus die "Kulturhoheit" der Länder, die in mehreren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts als "Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder" bezeichnet wird (BVerfGE 6, 309, 346/347). [1]
Die Europäische Union (EU) erhebt im Bildungswesen nur indirekt Zuständigkeitsansprüche. Diese sind im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in einem Bildungskapitel formuliert[2]. Art. 165 betont die Wichtigkeit ihrer Rolle "zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung", in dem sie die "Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert" und strikt auf die "Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems" achtet (Art. 165 Abs. 1 EGV).
Nur vereinzelt beziehen sich Grundgesetzartikel auf das Bildungswesen. Mitunter ist es Art.7 GG, der besagt: Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. CORTINA (2008) beschreibt diesen Artikel als
"historische(n) Sammelbegriff (...), der die Gesamtheit der Rechte, Pflichten des Staates zur Planung, Organisation, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens (...), Unterrichtsziele und Unterrichtsstoffe [umschließt]" (CORTINA 2008: 147)
Zudem regelt Art. 7 GG Bestimmungen zum Religionsunterricht und zur Privatschulfreiheit. Hinzu kommt Art. 6 GG, der den Eltern Vorrang bei Pflege und Erziehung gewährt. Überdies wirkt Art. 28 GG auf die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern und damit auf das Schulsystem. Die "Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats" müssen eingehalten werden (HEPP 2006: 245); gleichermaßen wie die Staatszielbestimmungen des Art. 20 GG (HANßEN 2003: 48). Die Verpflichtungen des Grundgesetzes sind abstrakt formuliert und gewähren den Ländern erhebliche Gestaltungsspielräume bei der Ausgestaltung des Bildungswesens. AVERNIUS (2001) wird prägnanter und behauptet, dass das Grundgesetz den Ländern mehr Eigengestaltung erlaube, als sie es gegenwärtig praktizieren würden.
Die Schulpflicht ist nicht im Grundgesetz verankert, sondern wird im Rahmen der Kulturhoheit von den Ländern in ihren jeweiligen Landesverfassungen geregelt. Dazu sind die Länder durch Artikel 7 GG ermächtigt.
Auch der geringe finanzielle Beteiligungsanteil des Bundes deutet darauf hin, dass sich der Bund tatsächlich im allgemeinen Bildungswesen nahezu vollkommen zurückgezogen hat. Im Jahr 2009 wurden 80,6% der Bildungsausgaben im allgemein bildenden Bereich von den Ländern getragen, 14,3% von Gemeinden und nur 2,2% vom Bund (HETMAIER et al. 2012: 37).
Diese Aufteilung gründet auf den Veränderungen infolge der Föderalismusreform, die seit 2006 ein finanzielles Engagement des Bundes in Politikfeldern verbietet, die ausschließlich in den Kompetenzbereich der Länder fallen. Dieses Trennprinzip gilt ebenfalls für die Gemeinden, die als Schulträger sachliche Ausstattung, Schulgebäude und Verwaltungspersonal finanzieren (DETTERBECK et al. 2010: 229).
Die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) ist ein in hohem Grade institutionalisiertes Koordinationsgremium der horizontalen Abstimmung im Mehrebensystem der Bundesrepublik. Das Steuerungspotenzial, das von dieser Institution ausgeht, ist stets mit der "Frage nach der Legitimation von KMK-Beschlüssen und der Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip" verbunden (HANßEN 2003: 52). Staatsverträge und Verwaltungsabkommen binden die Vertragspartner formal an ihre Vereinbarungen (DETTERBECK et al. 2010: 187; KMK 2013).
Das Gremium "behandelt Angelegenheiten der Bildungspolitik (...) von überregionaler Bedeutung" und verfolgt das "Ziel einer gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung und der Vertretung gemeinsamer Anliegen. "[3]
Als wichtige Schritte zur Vereinheitlichung im Bildungswesen gelten das Düsseldorfer Abkommen (1955) und die Fortentwicklung durch das Hamburger Abkommen (1964). Diese wurden von allen Kultusministern der 16 Länder beschlossen. Das Hamburger Abkommen war zwar nicht in einem Staatsvertrag verankert, Baden-Württemberg hatte es jedoch ratifiziert und damit einen Einfluss auf den Bereich der Exekutive erwirkt (HANßEN 2003: 54).
Gemeinsame Kriterien der KMK zur bundeseinheitlichen Leistungsevaluierung entfalten besondere Wirkung auf aktuelle Unterrichtsinhalte. Im Jahr 2002 vereinbarten die Länder in der KMK einen "Beschluss über die verbindliche Einführung nationaler Bildungsstandards" (2002) sowie die Anerkennung der Abschlüsse der Sekundarstufe I (Sek. I). Bestimmungen zur Gesamtschule konnte 1993 in der Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I festgelegt werden (HEPP 2006: 247 ff.).
Die Länder verfügen über einen breiten Entscheidungsspielraum, der "geradezu monopolartig Planung, Verwaltung [und] Finanzierung umfasst" (AVERNIUS/HECKEL 2000: 113). Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) enthält ein eigenes Kapitel III zu Erziehung und Unterricht. Diese beschreibt sehr abstrakt formulierte Erziehungs- und Bildungsziele, wie folgendes Beispiel veranschaulicht: "In allen Schulen waltet der Geist der Duldsamkeit und sozialen Ethik" (Art. 17 Abs. 1 LV). Die gesellschaftliche Maxime der GMS findet in Art. 11 Abs. 1 LV ihre Entsprechung:
"Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung zu erhalten."
Hinzu kommt die Forderung, dass das öffentliche Schulwesen nach diesem Grundsatz zu gestalten sei (Art. 11 Abs. 2 LV). Artikel 11 Abs. 4 verdeutlicht nochmals, dass es sich bei den Ausführungen um ein übergeordnetes Leitbild handelt. Alle weiteren Bestimmungen würden Gesetze regeln (Art. 11 Abs. 4 LV). Anhaltende Proteste in den 70er Jahren kritisierten das Verhältnis im Bildungswesen zwischen Bürger und Staat: einerseits gewähre Art. 2 Abs. 1 GG das Recht auf "freie Entfaltung der Persönlichkeit", andererseits verordneten Bundesländer die Schulpflicht. Das Schulwesen wurde zur Eingriffsverwaltung deklariert. Infolgedessen fand die sogenannte Wesentlichkeitstheorie (BVerfGE 47, 46) Einzug in das Schulrecht und verpflichtete seither die Parlamente, "alle wesentlichen" Entscheidungen durch Gesetze selbst zu entscheiden und diese nicht der Schulverwaltung zu überlassen.
Überdies wird auch der Landeshaushalt, in dem Personalausgaben und sachliche Verwaltungsausgaben festgelegt sind von den Landesparlamenten verabschiedet. (MINISTERIUM FÜR FINANZEN UND WIRTSCHAFT 2013).
In Baden-Württemberg benötigt das KM außerdem bei der Einrichtung einer neuen Schulart die Zustimmung des Landtags (§4 Abs. 1 SchG).
Dies geschah als, am 18. April 2012 der Landtag mit der Mehrheit von Bündnis90/Die Grünen und SPD die Einführung der Gemeinschaftsschule beschließt. Mit dem "Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für Baden- Württemberg und anderer Gesetze" (GzÄSchG 2012) ist die Gemeinschaftsschule im §8a Schulgesetz (SchG) als zwölfte Schulart im Land eingeführt worden.
Das Ministerium hat zum Schuljahr 2012/13 in einer ersten Tranche 42 Anträge der Schulen und Schulträger genehmigt. Am 04. Februar 2013 wurde die zweite Tranche bewilligt, die 87 GMS von insgesamt usprünglich 114 Anträgen für das Schuljahr 2013/14 umfasst. In einer dritten Tranche, die voraussichtlich erst nach Bekanntgabe des Berichts über regionale Schulentwicklung bewilligt wird, sollen ca. 70 weitere Schulen bei insgesamt 4000 allgemein bildenden Schulen im Land genehmigt werden (BADEN-WÜRTTEMBERG 2013).
Zur Ausgestaltung der GMS finden sich in Art. 8a SchG einige abstrakte Zielvorgaben. Details zur konkreten inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung bleiben − bis auf Bestimmungen zum Religionsunterricht − unerwähnt. Vielmehr beschreibt das Gesetz nachfolgend Rechte und Pflichten der einzelnen Schulorgane wie Schulleiter (§39); Schulkonferenz (§47); Öffentliche Schulverwaltung (§48) und dem Landeselternbeirat (§60).
Politische Steuerung in der Schulpolitik übernimmt in detaillierterer Weise das KM und damit die Exekutive-Ebene. Das Schulgesetz ermächtigt das KM zu verschiedenen Zwecken Rechtsverordnungen zu erlassen (§ 8a Abs. 6 SchG).
Sie können
- Zuständigkeiten auf Schulaufsichtsbehörden übertragen. (§ 35 Abs. 5 SchG)
- besondere Bestimmungen (zur GMS) erlassen, insbesondere zur Organisation, zur Binnendifferenzierung im Unterricht und zur Leistungsmessung.
(§ 8a Abs. 6 SchG)
- die Verwendung von Lehr- und Lernmitteln von ihrer Zulassung abhängig machen (...) oder auch einer anderen Stelle übertragen.
(§ 35a Abs. 1 Satz 2 SchG)
- Schulordnungen über Einzelheiten des Schulverhältnisses, Prüfungsordnungen (...) erlassen.
(§ 89 Abs. 1 SchG)
- neue Schultypen, die der Zustimmung des Landtages bedürfen einrichten
(§ 4 Abs. 1 SchG)
Diese gesetzlichen Vorgaben unterstreichen das große Steuerungspotenzial der Kultusverwaltung und ihre Delegationsmöglichkeiten auf die untere Schulaufsichtsverwaltung, die für die gesamte innere und äußere Koordinierung und Kontrolle der Schulverwaltung zuständig ist.
Als Folgerung kann betont werden, dass, gesetzgeberische Impulse und Innovationen der politischen Führung und der Spitze im KM entstammen (HEPP 2006: 247).
Die Kultusverwaltung verfügt neben Rechtsverordnungen über die Möglichkeit Organisationserlasse und Vorschriften (§87 SchG) zu verordnen.
Verwaltungsvorschriften sind − im Gegensatz zu Rechtsverordnungen − ein verwaltungsinternes Instrument. Behörden können diese an nachgeordnete Behörden anordnen oder sie werden von einem Vorgesetzten an seinen Bediensteten verordnet (AVERNIUS/HECKEL 2000: 23).
Nicht zu vernachlässigen ist die inhaltliche Zuarbeit von landesinternen pädagogischen Instituten, Beiräten und Kommissionen und die Kooperation mit Gremien. Besonderen Einfluss erreichen die Beratungsgremien des KMs, die bei verschiedenen Vorhaben im Bereich des Schulwesens befragt werden und dazu berechtigt sind Vorschläge und Anregungen zu unterbreiten (LANDESSCHULBEIRAT BW 2013).
Folgende Paragraphen des Schulgesetzes zählen dazu:
- §60 Landeselternbeirat
- §69 Landesschülerbeirat
- §71 Landesschulbeirat
Darüber hinaus organisieren Lehrerinnen und Lehrer ihre Interessen in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Hinzu kommt der Landesverband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg (VBE), der sich als parteipolitisch unabhängige Bildungsgewerkschaft versteht. Der Beamtenbund und Tarifunion ist der übergeordnete Dachverband (VERBAND BILDUNG UND ERZIEHUNG 2013). Der Realschullehrerverband Baden-Württemberg vertritt hingegen Einzelinteressen.
Begreift man die Gemeinschaftsschule in der Phasenheuristik des Policy-Zyklus, so würden diese Gremien vor allem in der Phase der nach LASSWELL (1956) bezeichneten "intelligence" - dem Sammeln und Verarbeiten von relevanten Wissen und in der Phase der "promotion" - der Beförderung und Unterstützung ausgewählter Alternativen - Einfluss nehmen (ANDERSON 2003: 79ff.). Mit diesem Hintergrundwissen wird der Wirkung dieser externen Kräfte eine Frage im Interviewleitfaden gewidmet und damit ist dieser wichtige Teil abgedeckt. Grundsätzlich ist jedoch zu betonen, dass der Untersuchungsgegenstand der Arbeit die Phase der Politikformulierung überwunden hat.
Die Einhaltung der Bildungspläne ist gesetzlich verankert. Gemäß §41 Abs. 2 SchG ist der Schulleiterin und Schulleiter "verantwortlich für die Einhaltung der Bildungs- und Lehrpläne und der für die Notengebung allgemein geltenden Grundsätze". Die Bildungspläne werden inhaltlich vom KM ausgearbeitet. Ihre Überarbeitung unterliegt einem natürlichen 10-Jahresrhythmus, der sich an gesellschaftlichen Veränderungen, Fortschritten in der pädagogischen Wissenschaft und den Schulen selbst ergibt (INTERVIEW VII: 405). An den Bildungsplanarbeiten beteiligen sich in intensivem Austausch wichtige Partner des KMs wie zum Beispiel der Landeselternbeirat und Landesschulbeirat sowie zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer (LANDESBILDUNGSSERVER BW 2013).
Zum Schuljahr 2004/05 führte Baden-Württemberg im Rahmen des Bildungsplans 2004 Bildungsstandards ein.[4] Dies geschah parallel zur Einführung von Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss sowie für den Mittleren Schulabschluss auf KMK-Ebene.[5] Teilweise "gehen die bestehenden baden-württembergischen Bildungsstandards über die KMK-Standards hinaus" an anderen Stellen bedürfen sie "der Konkretisierung anhand von Begrifflichkeiten, Inhalten und Themen, die durch die KMK-Standards explizit ausgewiesen werden." (LANDESBILDUNGSSERVER BW 2013a)
KMK-Beschlüsse nach 2004 sowie das neue Schulkonzept der GMS werden in der Bildungsplanreform 2015 berücksichtigt. Bis dahin unterrichten Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg gemäß den Bildungsstandards im Bildungsplan 2004 von Haupt-, Realschule und Gymnasium (KULTUSPROTAL-BW 2013b). Die Schnittmenge der "älteren" Bildungspläne des differenzierten Schulsystems bildet den Basisplan für die GMS. Die Jahrgangsstufen 5/6 arbeiten zunächst auf der Grundlage des Bildungsplans der Realschule (MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT 2012 / INTERVIEW I).
Neben den gestalterischen Möglichkeiten unter anderem durch Verfassung, Gesetze und Rechtsverordnungen nehmen verschiedene Behörden auf Grund ihrer Dienst- und Fachaufsichtspflichten indirekt Einfluss auf die Ausgestaltung der GMS in BW.
In den Paragraphen 32 - 35 des Schulgesetzes ist die Schulaufsicht in Baden-Württemberg wie folgt geregelt:
[...]
[1] Ursache dafür sind Erfahrungen mit einer zentralistischen Nationalkultur im NS-Regime (HEPP 2006: 241) und die frühe Selbstständigkeit der Länder in den Besatzungszonen (DETTERBECK 2010: 181ff)
[2] Fassung aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon
[3] Gegründet wurde die KMK 1948 um länderübergreifende Politikfelder zu koordinieren, Folgen des Krieges zu beseitigen und um frühzeitig ein Signal von eigenständiger Aufgabenwahrnehmung gegenüber dem Bund vorzubringen. (DETTERBECK et al. 2010: 181 ff.)
[4] Bildungsstandards beschreiben zu welchem Zeitpunkt Schülerinnen und Schüler über bestimmte Kompetenzen verfügen sollten.
[5] KMK-Standards sind abschlussbezogen während die Bildungsstandards in BW für jedes Fach bzw. Fächerverbund sowie jede Schulart einzeln im Zwei- bzw. Dreijahresrhythmus formuliert sind.