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Bachelorarbeit, 2015
108 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitender Teil
1.1 Einleitung
1.2 (Kollektive) Identität
1.3 Aktueller Forschungsstand
1.4 Zielgruppe und Fragestellung
1.5 Methodisches Vorgehen
1.5.1 Methode / Wissenssoziologische Hermeneutik
1.5.2 Auswahl der Interviewpartner
1.5.3 Feldzugang
1.5.4 Interview-Leitfaden
2. Hauptteil
2.1 Feinanalyse
2.2 Fallfigur
2.3 Fallhypothese
2.4 Ausdifferenzierung / Typologie
2.5 Theoriebildung
2.5.1 Erste These
2.5.2 Zweite These
3. Fazit
3.1 Fazit und Ausblick
3.2 Reflexion
4. Literaturverzeichnis
5. Anhang
5.1 Interview-Leitfaden
5.2 Transkriptionen der einzelnen Interviews
5.2.1 Transkription des 1. Interviews (Österreich)
5.2.2 Transkription des 2. Interviews (Portugal)
5.2.3 Transkription des 3. Interviews (Deutschland)
5.2.4 Transkription des 4. Interviews (Frankreich)
Im Jahr 2012 nahmen der EU-Parlamentsvorsitzende Martin Schulz, der damalige Ratspräsident Herman van Rompuy und der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso, stellvertretend für 500 Millionen Unionsbürger1, in Oslo den Friedensnobelpreis entgegen. Wenngleich die Begründung des norwegischen Nobelkomitees auf große Zustimmung stieß, so regte sich zu selbem Anlass auch harsche Kritik. Mangelhafte Absichten bei der Unterstützung von Geflüchteten oder die Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete seitens einiger Mitgliedsländer waren den Kritikern ausreichend, die Staatengemeinschaft als des Preises nicht würdig zu bezichtigen. Die darauf folgende öffentliche Auseinandersetzung über die Bedeutung des Friedens - in Debatten, Interviews und Zeitungen - war auch eine Auseinandersetzung der europäischen Gesellschaft mit ihrem Kontinent und ihrer Union. Zudem war sie der Anstoß der Überlegungen, auf denen die nachfolgende Arbeit fußt. Nämlich darüber, auf welcher Basis Europa und die Union heute stehen und was die Unionsbürger verbindet.
Als die Europäische Union 1951, damals noch unter der Bezeichnung EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), gegründet wurde, war die primäre Intention der sich verbündenden Staaten die Sicherung des Friedens auf dem europäischen Kontinent. Heute, über 70 Jahre später, lässt sich das Projekt der Friedenssicherung durchaus als gelungen bezeichnen. Doch zur ursprünglichen Intention der Gründungsländer sind über die Jahre und Jahrzehnte weitere Interessen und Herausforderungen hinzugetreten. Die Europäische Union besitzt den weltweit größten Binnenmarkt und gilt, auch in politischer Hinsicht, als das Beispiel für supranationale Bündnisse. Über die Jahre haben sich in insgesamt sechs Erweiterungsphasen immer neue Staaten der Union angeschlossen. Neben der ursprünglichen Intention des friedlichen Zusammenlebens innerhalb eines gemeinsamen Raumes, sind es mittlerweile vor allem wirtschaftliche Interessen, die den Beitritt für neue Mitgliedsstaaten attraktiv machen. Zwar kennt die Vorstellung von Kriegen auf europäischem Boden, oder gar zwischen europäischen Staaten, auch die jüngere Generation von Unionsbürgern aus Erzählungen und dem schulischen Geschichtsunterricht. Doch haben die neuen Herausforderungen, denen das Bündnis in seiner weiteren Entwicklung gegenüberstand, es der Dimension des Friedens erschwert, ihre Stellung als primären Bündniszweck zu verteidigen.
Wenn also der Frieden, als ursprünglichster Gedanke hinter dem Konzept der Staaten- gemeinschaft möglicherweise an Bedeutung verloren hat - welche Gemeinsamkeiten einen die europäische Gemeinschaft heute? Wie wichtig ist ihnen der Frieden (noch), welchen Stellenwert hat das demokratische Modell der Union und wie steht es um ein europäisches Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl? Besonders seit Ausbruch der Währungskrise drücken Wirtschafts- und Finanzfragen der Union immer wieder den rein ökonomischen Stempel auf. Aber sind es nur die wirtschaftspolitischen Geschehnisse, die die Union und ihre Bürger zusammenhalten?
Wenn es um den Zusammenhalt und ein gemeinsames Bewusstsein der Unionsbürger geht, stößt man schnell auf den Begriff der Europ ä ischen Identit ä t. Jenes vieldefinierte Konstrukt, das beschreiben soll, was die Bürger der Union eint und worüber sie sich selbst als Kollektiv definieren. Es soll nicht versucht werden, ein neues und möglichst umfassendes Bild dieser Identität zu zeichnen oder sie neu zu konzipieren. Sondern vielmehr, einige ihrer prägnanten Merkmale und die für sie notwendigen Voraussetzungen ausfindig zu machen. Um das Kollektiv als Forschungsgegenstand einzugrenzen und die Fragestellung zu konkretisieren, soll hier die jüngere Generation von Unionsbürgern im Mittelpunkt stehen. Eine Fokussierung auf junge Erwachsene ist auch dahingehend interessant, als dass jene Generation in einem Europa aufgewachsen ist, dessen stetiger Frieden lange als Teil ihrer eigenen Wirklichkeit bezeichnet werden konnte. Mit dem aktuell anhaltenden Krieg in der Ukraine dringt die Dimension des Krieges und bewaffneter Konflikte (wenn auch nur am Rande Europas) möglicherweise zum ersten Mal in ihr Bewusstsein und entzieht dem Frieden ein Stück seiner Selbstverständlichkeit. Durch die terroristischen Anschläge auf eine Redaktion in Paris im Januar 2015 stand die Presse- und Meinungsfreiheit als Menschenrecht und als Subjekt gemeinsamer europäischer und demokratischer Wertvorstellungen im Rampenlicht und offenbarte in vielerlei Hinsicht (wenn auch unter traurigen Umständen) eine innereuropäische Verbundenheit. Europa ist ein offenes politisches Projekt, dessen Identität und Perspektiven immer wieder neu zur Diskussion stehen. Ziel dieser Untersuchung ist also nicht nur die Suche nach Voraussetzungen für eine gemeinsame europäische Identität unter jungen Unionsbürgern und dem Bild von Europa, das in ihren Köpfen steckt. Es soll auch versucht werden, auf der Grundlage empirischer Daten einen Blick nach vorne zu werfen. Ein Blick, der die Ergebnisse der Untersuchung aufnimmt und ins Verhältnis zu den Herausforderungen des zukünftigen Europas setzt.
Es werden qualitative Interviews geführt, um einen Einblick in die Gedankenwelt junger Unionsbürger zu erlangen, wenn es um die Europäische Union, ein europäisches Wir-Gefühl oder einfach nur den Kontinent und seine Geschichte geht. Der Analyse der Interviews, als Hauptteil der Arbeit, wird ein theoretischer Vorbau vorangestellt. Darin wird zunächst versucht auf Merkmale und Theorien kollektiver Identität einzugehen, um deutlich zu machen, in welcher Weise der durchaus vielschichtige Begriff hier definiert und verwendet wird. Dem folgt ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand, indem wesentliche Aspekte des Diskurses, bestehende Konzeptionen und Forschungsergebnisse vorgestellt werden. Ehe dann die Fragestellung konkretisiert wird, werden die jungen Unionsbürger als Zielgruppe vorgestellt und es wird erläutert, warum diese Fokussierung sinnvoll erscheint.
Dem einleitenden Teil folgt die Beschreibung des methodischen Vorgehens. Die Arbeit bedient sich bei der Auswertung des empirischen Materials der Methode der Wissens- soziologischen Hermeneutik. Die Methode und ihr Verfahren sind essentieller Bestandteil für die Durchführung der wissenschaftlichen Untersuchung und werden deshalb im zweiten Kapitel, zusammen mit der Auswahl der Interviewpartner und dem Zugang ins Feld, ausführlich beschrieben.
Der Hauptteil besteht, wie bereits erwähnt, aus der Analyse des empirischen Materials, das sich aus den durchgeführten Interviews ergibt und mittels genannter Methode untersucht wird. Die Analysen aller Interviews werden in mehreren Schritten zusammengefasst und auf ihre wesentlichen Inhalte verdichtet, woraus im späteren Verlauf die These abgeleitet wird. Diese soll zum Ende der Arbeit durch das Abgleichen mit den Interviews und dem aktuellen Forschungsstand überprüft werden. Eine Zusammenfassung der Thesen-Überprüfung bildet zusammen mit der Reflexion der gesamten Arbeit das abschließende Fazit.
Identität ist ein Begriff, den die meisten Menschen schon einmal gehört haben und mit dem sie wohl auch sofort etwas anzufangen wissen. Die Bedeutung des Wortes scheint auf den ersten Blick klar. Wenn jedoch versucht wird, Identität und das, was sie ausmacht, zu beschreiben, stellen sich recht schnell viele offene Fragen. Und auch im wissenschaftlichen Kontext ist der Begriff der Identität ein höchst variabler und umstrittener. Zwischen all den unterschiedlichen Disziplinen, von der Soziologie über die Psychologie bis hin zur Politikwissenschaft, findet sich keine überdisziplinär anerkannte und geteilte Bestimmung. Wenngleich diese inhaltliche Varietät als eines seiner zentralen Merkmale gilt, so ist es zugleich seine größte Schwäche.2
Nach der Auffassung von Mead (1973) ist Identität nach der Geburt nicht automatisch Teil des menschlichen Wesens, sondern etwas, das sich aus seinen Erfahrungen heraus entwickelt.3 Identität kann zwar als etwas umschrieben werden, das eine Person oder eine Gruppe näher beschreibt und charakterisiert. Jedoch warnt beispielsweise Hall (2004) davor, ihr eine Einheitlichkeit zuzuschreiben. Gerade in Zeiten der Globalisierung sei Identität fragmentiert und zerstreut.4 Zudem erfordert es die Trennung zwischen persönlichen und kollektiven Identitäten, auch wenn beide in ihrer Entstehung, ihrer Struktur und ihren Merkmalen eng zusammenhängen und einander bedingen. Persönliche Identitäten können als Resultat sozialer Interaktionen bezeichnet werden, wohingegen sich die kollektive Identität daraus ergibt, dass sich ein Individuum mit einem Kollektiv identifiziert, sprich: ein Zugehörigkeitsgefühl ihm gegenüber entwickelt. Projiziert auf das Miteinander vieler Staaten in einer Staaten- gemeinschaft wie wir es in der EU erleben, hieße das, dass es neben der nationalen Identität zwangsläufig zu einer europäischen Identität kommt, sobald man sich ihm zugehörig fühlt. Interessant ist folglich das Verhältnis, indem die über Jahre gewachsene nationale Identität und die mögliche neue, europäische Identität zueinander stehen. Wenn die nationale Identität für den Unionsbürger nach wie vor als primärer Bezugspunkt ihrer politischen Loyalität gilt5, gelangt man zu der Frage, ob eine zusätzliche Identität eine ergänzende oder eine parallele (abgegrenzte) Rolle einnimmt. Bezogen auf die vorliegende Arbeit wäre somit auch relevant, in welcher Weise sich europäische und nationale Bezüge der Identität junger Unionsbürger berühren.
Für eine eher pessimistische Sichtweise auf das Verhältnis zweier paralleler Identitäten lässt sich die Behauptung von Münch (1999) anführen, der sagt, dass eine stärkere europäische Identität nur dann möglich ist, wenn sie mit einem Verlust oder einer Schwächung der nationalen Identität einhergeht.6 Nimmt man diesen Ansatz auf, würde das in Zeiten der zunehmenden Bedeutsamkeit von Nationalität heißen, dass die Chancen für die Herausbildung einer gemeinsamen Identität nur sehr gering wären. Dass es hingegen nicht zwingend zu einer Trennung kommen muss und stattdessen zwei Identitäten miteinander vereinbar sind, zeigt sich anhand der von 1992 bis 2005 durchgeführten Eurobarometer- Befragung, die in fast allen Jahren zu dem Ergebnis kam, dass eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung beide Identitäten für vereinbar hält. Es sei allerdings angemerkt, dass das Ergebnis der Befragung keineswegs auf die Länder übertragen werden kann und es je nach Nation zu stark abweichenden Ergebnissen kam.7
Die Bildung von Identitäten liegt in der Natur des menschlichen Daseins. Kein Mensch kann ohne eigene (persönliche) Identität leben. Persönliche Identitäten bilden sich, wie oben bereits erwähnt, durch Interaktionen mit anderen Menschen. Der Mensch kann sich selbst nicht erleben, sondern spiegelt sich in den Erfahrungen anderer, die auf ihn zurückwirken. Zur Bildung kommt es also auch auf dem Umweg über andere.8 Kollektive Identitäten sind in gleichem Maße auf externe Definitionen angewiesen, aber auch intern durch zwischen- menschliche Aktionen definiert. Ein Kollektiv bedient sich zur Bildung von Gemeinsam- keitsgefühlen etwa Symbolen, Ritualen und stärkt sich von innen heraus durch Loyalität und Solidarität. Es ist sich zudem gemeinsamer Interessen bewusst. Darüber hinaus finden sich Kollektive, deren Identität sich daraus ergibt, dass sie ihnen, rein aufgrund ihres Wesens, zugeschrieben wird. Diese essentialistischen Zuschreibungen finden sich beispielsweise bei der Definition über Geschlecht, Sexualität oder Rasse.
Identität (persönliche wie auch kollektive) muss aufgrund seiner vagen und uneindeutigen Substanz ständig neu definiert bzw. bestimmt werden, gerade deshalb, weil Identität signifikant für Individuum und Gesellschaft ist. Dieser „leere Signifikant“9 ist also auf Imagination und Repräsentation - im Kollektiv durch seine Mitglieder - angewiesen. Für diese Prozesse der stetigen Neudefinition ist die gemeinsame Sprache ein wesentliches Instrument und dient im Sinne von Krappmann (2000) als Vermittler und (Re-)Produzent von Identität.10 Ein weiterer wichtiger Aspekt im Kontext kollektiver Identitäten sind die Gefühle. Das Gefühl der Zugehörigkeit wurde oben bereits erwähnt und ist eines der zentralen Merkmale. Kaina (2009) stellt dem Aspekt der Gefühle allerdings noch etwas voran, dessen Relevanz sich aus seiner bloßen Gegebenheit ergibt. So entstehen Gefühle (für Zusammengehörigkeit) überhaupt erst dann, wenn dem betreffenden Individuum seine Mitgliedschaft in diesem Kollektiv bewusst ist. Dieses kognitive Element, das die bloße Gegebenheit der Mitgliedschaft umschreibt, ist der Ebene der Gefühle demnach voranzustellen. Wenn man dieses kognitive Element aber nicht als Teil der Identität begreift, sondern per se voraussetzt, lässt sich dieser Gedanke anhand der Studie von Fuss und Grosser (2006) belegen. Ihr Ergebnis war u.a., dass eine Vielzahl junger Unionsbürger eine Identifikation mit Europa allein aus der Tatsache heraus schließt, dass sie Bürgerinnen oder Bürger eines Mitgliedsstaates sind. Diese Konsequenz beschreibt also weniger ein Gefühl, als vielmehr eine formale Identifikation mit einem Kollektiv ohne den Einfluss von Emotionen. Daraus folgte der Begriff der „Status-Identität“.11
Stärken können sich Kollektive, und damit verbunden auch ihre gemeinsame Identität, durch externe Bedrohungen. Dadurch kommt es verstärkt zur Kontrastierung zwischen uns und dem oder den anderen. Des weiteren erlebt das Kollektiv diese Bedrohung gemeinsam und kann das Erlebte schließlich als gemeinsame Erfahrung teilen und abspeichern. Als aktuelles Beispiel können die einleitend bereits erwähnten terroristischen Anschläge auf eine Redaktion in Paris dienen, die auf dem europäischen Kontinent eine neue Dimension der Solidarität und des Gemeinschaftsgefühls auslösten. Bei europaweiten Trauermärschen fanden sich mehrere Millionen Menschen zusammen, um einerseits der Opfer zu gedenken und andererseits für die europäischen Werte, besonders die Meinungs- und Pressefreiheit, zu demonstrieren. Ein Problem kollektiver Identitäten offenbart sich jedoch dann, wenn man versuchen will, Gemeinsamkeiten in Form von Werten oder Leitlinien zu konkretisieren. Am Beispiel Europa hieße das, verschiedene Einflüsse auf Basis vieler nationaler Identitäten zu einem konkreten
Ziel oder einer konkreten Vorstellung zu vereinen. Dass überstaatliche Konkretisierungen keine einfache Aufgabe sind, zeigt sich beispielsweise am gescheiterten Versuch, eine gemeinsame europäische Verfassung zu formulieren.12 Mit Blick auf diese Arbeit lässt sich abschließend sagen, dass es nicht darum geht, einen neuen Konzeptionsversuch einer europäischen Identität zu unternehmen. Vielmehr ist das Ziel, einzelne Inhalte einer gemeinsamen europäischen Identität - als Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Gemeinsamkeit - unter jungen Unionsbürgern ausfindig zu machen.
Der aktuelle wissenschaftliche Diskurs um eine gemeinsame europäische Identität ist gleichermaßen breit gefächert, wie die Begrifflichkeit selbst. Deren ungenauen Umrisse machen unterschiedliche Herangehensweisen möglich wie auch nötig. Wer den Diskurs überblickt, der stößt zum einen auf vielerlei Ansätze, mit denen man sich daran begeben hat, eine Konzeption der Europäischen Identität zu erstellen. Hier stehen weniger die konkreten Inhalte, die Notwendigkeit oder die historische Entstehung im Vordergrund, sondern erst einmal die Definition und die grundlegende Struktur. So wird die Europäische Identität im wissenschaftlichen Diskurs zuallererst als politisches Projekt wahrgenommen. Für Gestaltungsversuche von Seiten der Politik gibt es bereits einige Beispiele: Die Verankerung der Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht 1992, die Erklärung der EG-9 zur Europäischen Identität oder der Bologna-Prozess und das Bemühen um einen länderübergreifenden Bildungsaustausch. Auch wegen solcher Gestaltungsversuche und vertraglicher Festschreibungen wird das Projekt der Europäischen Identität stärker mit der Europäischen Union assoziiert, als mit dem europäischen Kontinent an sich. Und auch für die Bürgerinnen und Bürger der Union sind Europa und die Europ ä ische Union keine inhaltlich identischen Begriffe.13
Wenngleich Identität auch auf kulturellen Werten zu fußen vermag, so dient aktuell mehrheitlich die politische Verbundenheit der Gemeinschaft als Ausgangspunkt. Eine gemeinsame kulturelle Verbundenheit als Fundament einer Europäischen Identität wird im heutigen Diskurs mit zunehmender Skepsis betrachtet und nicht als Vorhaben angesehen, dessen Verwirklichung sinnvoll oder gar möglich wäre. Dennoch plädiert der Großteil wissenschaftlicher Autoren für die Notwendigkeit eines gemeinsamen (politischen) Bewusstseins, gerade in Zeiten, in denen die Europäische Union um das Vertrauen ihrer Bürgerinnen und Bürger kämpfen muss. Denn eine gemeinsame Identität ist nicht nur ein Konstrukt, das es anhand von Vergangenheit und Gegenwart auszumachen und zu definieren gilt, sondern vor allem zukünftig zu gestalten. Gemäß der Frage, ob die zunehmende Verflechtungen zwischen den Nationen zu einer gemeinsamen Handlungseinheit ohne gemeinsame Identität funktionieren kann. Nachfolgend sollen einige Herangehensweisen an diesen recht breiten und vagen Begriff vorgestellt und an einigen Stellen mit Vermerk auf das Ziel dieser Arbeit kommentiert werden.
Den Konzeptionsversuch einer politischen Identität legt beispielsweise Meyer (2009) vor, der die politische Ebene als die einzige ansieht, auf dessen Basis eine überstaatliche Zusammen- gehörigkeit innerhalb der Union möglich ist. Er spricht sich in seiner Konzeption für kulturellen Pluralismus aus. Eine Leitkultur als Orientierung für alle Mitgliedsstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger hält er für kontraproduktiv, zumal es dafür keinerlei verfassungs- mäßige Grundlage innerhalb der EU gäbe.14 Eine Europäische Identität sieht Meyer ausdrücklich als Produkt einer starken Öffentlichkeit, in der politische Identität durch Partizipation erlangt wird. Er veranschaulicht seine Überlegungen anhand eines Modells dreier Ebenen der Identitätsbildung. Ebene eins ist besetzt durch Religion und Weltanschauung, Ebene zwei durch die Lebensweise und die Lebenskultur. Die dritte Ebene durch die sozialen und politischen Grundwerte des Zusammenlebens. Auf ebendieser Ebene sieht Meyer die Gestaltungsaufgabe, indem so agiert und der gestaltet werden müsse, dass auf den beiden oberen Ebenen Spielräume entstehen. Alles andere habe Züge einer fundamentalistischen oder essentialistischen Form. Das politische Bewusstsein als Basis einer europäischen Identität fußt hier also einmal auf dem Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger über ein gemeinsames Gemeinwesen und andererseits auf der Akzeptanz des gemeinsamen politischen Projekts.15 Probleme sieht Meyer daher im partizipationsarmen Regierungsstil der EU und der Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch und ihrem Output. Mit Verweis auf die jungen Erwachsenen als Zielgruppe innerhalb dieser Untersuchung wären gemäß dieser Konzeption die Faktoren der Partizipation und das politische Interesse von wesentlicher Bedeutung für die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Identität.
Die Suche nach gemeinsamer Identität beginnt in erster Instanz für viele in der Vergangenheit. So wurde versucht, eine gemeinsame Identität auf der Grundlage einer gemeinsamen europäische Geschichte zu errichten. Die Vergangenheit wird aber nicht immer als sinnvoller Ausgangspunkt der Suche gesehen. Thiesse (2009)16 sieht darin mehr eine aufgezwungene, als eine sich entwickelnde Identität, zumal sich die einzelnen Länder Europas durch große historische Unterschiede auszeichnen. Sie stellt die Frage, ob es sinnvoll sei, dass die Vergangenheit die Gegenwart rechtfertigen müsse und plädiert für eine weniger intensive Suche nach Gemeinsamkeiten, die der Vergangenheit entspringen. Stattdessen fordert sie die effektivere Nutzung der Strukturen einer Europäischen Identität und ihres Gestaltungs- potentials, um damit den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Sicherlich hat Geschichte immer identitätsstiftendes Potential. Für die Identität als zukünftige Gestaltungsaufgabe stünde dem aber auch die Tatsache entgegen, dass historische Leistungen der Union an Bedeutsamkeit verlieren, sobald sie im Alltag der Menschen zu Selbstverständlichkeiten werden.17 Der Meinung, dass ein gesamtgeschichtlicher Ansatz der weniger Richtige ist, ist auch Gürsel (2009)18, der durch die Fixierung auf die Historie zu viel Nährboden für eine Identität der Abgrenzung und der Ablehnung sieht. Die Aufgabe, den Unionsbürgern zu einem gemeinsamen Bewusstsein zu verhelfen, dürfe nicht durch die Sorge um Reinheit intendiert, und danach ausgerichtet sein, die eigene Identität durch Abgrenzung zu bestimmen. Wie Meyer spricht auch Gürsel von einer Akzeptanz wechselseitiger Einflüsse und kultureller Diversität. Konkret bezieht er sich auf die Rolle der Türkei hinsichtlich eines möglichen EU-Beitritts und die zunehmenden Ansichten vor allem unter den Eliten in Europa, die Türkei passe aufgrund des Islams und ihrer Historie nicht zur Europäischen Union. Diesem Argument würde auch das Modell der drei Ebenen von Meyer widersprechen, in dem die erste Ebene mit Religion und Weltanschauung weitestgehend unerheblich für eine politische Verbundenheit ist. Eine kulturelle Identität sieht er unter Verweis auf Morin (1987) im Dialogischen, sprich: im Austausch untereinander, verankert.19
Wenn sich Gürsel hier gegen eine Identität durch Abgrenzung ausspricht, lässt sich das durch Teló (2009)20 ergänzen, der ebenfalls dafür plädiert, weniger die Unterschiede zu anderen zu benennen, als vielmehr die Besonderheiten der Europäischen Union als identitätsstiftende Merkmale heranzuziehen. Er sieht vor allem die Notwendigkeit externer Definitionen, die sich aus dem Auftreten nach Außen ergeben. Wenn die EU als internationaler Akteur auftritt, wirkt das auf ihre Bürgerinnen und Bürger und somit auch auf die Entwicklung einer gemeinsamen politischen Identität zurück.
In Zeiten weltumspannender sozialer Netzwerke und der Internet-Technologie, die vor allem für junge Menschen zum Alltag gehören, entsteht - durch die ständigen und neuen Möglichkeiten externer Definition und durch verstärkte Wahrnehmung der eigenen Besonderheiten - unter jungen Unionsbürgern womöglich auch ein neues (Selbst-)Bild als Bürgerinnen und Bürger Europas und der Europäischen Union.
Was eine gemeinsame Identität letztlich begünstigt ist das eine, was sie in ihrer Entwicklung behindert, das andere. In Erklärungen zu letzterem findet sich immer wieder das fehlende Vertrauen vieler Unionsbürgerinnen und -bürger gegenüber den politischen Akteuren der EU. In den Anfängen der Union war die gängige öffentliche Haltung ihr gegenüber eine mehrheitlich positive und das Ziel der Friedenssicherung von allen geteilt.21 Mit der Ausweitung der Aufgaben und Interessen der EU und dem tieferen Eingreifen der Politik in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger kam es auch zur verstärkten Wahrnehmung der europäischen Politik. Gerade jene unionspolitischen Entscheidungen, die negativen Folgen für einzelne Länder oder gar einzelne Bürgergruppen nach sich zogen, blieben und bleiben mit Missmut behaftet im Bewusstsein der Betroffenen. Eine negative Haltung aufgrund von politischen Entscheidungen stünde im Kontrast zum Vorhaben, eine gemeinsame Identität durch politische Verbundenheit zu schaffen. Auch wenn negative Erfahrungen das Bewusstsein für die Union stärken - und in einer Staatengemeinschaft auch nicht immer zu verhindern sind - , stellen sie doch schnell den Zusammenschluss an sich und die damit verbundene supranationale Entscheidungsfindung infrage. Hinzu kommt das Problem, dass sich die Zustimmung für die Europäische Union zwischen den Eliten und der öffentlich geteilten Meinung stark unterscheidet.22 Die aktuelle Debatte um ein transatlantisches Handelsabkommen (TTIP) und die Verhandlungen über dessen Inhalte unter weitestgehendem Ausschluss der europäischen Öffentlichkeit, spiegeln diese Differenz wieder. Gemeinsame Identität fußt auch auf gemeinsamer Teilhabe und gemeinsamer Entscheidungsfindung. Dabei kann es weniger um die Interessen eines jeden einzelnen Unionsbürgers gehen, als vielmehr um demokratische Entscheidungen als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung.23 Die Reparatur dieses Missverhältnisses zwischen dem politischen Apparat der EU und seinen Bürgerinnen und Bürgern dürfte eine der Hauptaufgaben sein, wenn es um die Stärkung eines europäischen Wir-Gefühls geht.
Als weitere Gründe für die schwache Ausprägung wird auch die unbestimmte Finalität der Europäischen Union als nicht dauerhaft fixiertes (Identifikations-) Objekt genannt, sowie ihre zu hohe systemische Komplexität. Der niederländische Autor Luuk Van Middelaar brachte das Problem der fehlenden Fixierung in einem Artikel in Der Zeit metaphorisch auf den Punkt: „ [...]wie soll man sich in einem Haus heimisch f ü hlen, in dem die Eingangst ü r st ä ndig offen steht? “ 24 Das würde bedeuten, dass die Aufnahme weiterer Staaten in die Gemeinschaft in gewisser Hinsicht in Konflikt mit der Identitätsbildung stünde.
Thalmaier (2007)25 greift u.a. die Bedeutung der Legitimität in Zusammenhang mit einer gemeinsamen Identität auf. Legitimität erwächst demnach aus der Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der EU. Grundlage für Legitimität der gegenwärtigen EU-Politik sind aber vor allem die von ihr erbrachten Ergebnisse, da politische Entscheidungen darauf reduziert und anhand von individuellen Erwartungen bewertet werden. Thalmaier bezieht sich hierzu auf die Unterscheidung von spezifischer und diffuser Unterst ü tzung nach Easton: Spezifische Unterstützung beschränkt sich auf die Ergebnisse, die dem individuellen Bürgerinteresse entsprechen, wohingegen die diffuse Unterstützung nicht auf Ergebnisse angewiesen ist und sich rein aus Identifikation und Vertrauen ergibt.26 Somit ließe sich sagen, dass Entwicklung und Gestaltung einer Europäischen Identität in entscheidendem Maße vom Wechselspiel zwischen politischer Öffentlichkeit und politischen Akteuren und Institutionen abhängig ist.
Aus der politischen Sichtweise ergeben sich zugleich einige Gründe für die Notwendigkeit einer gemeinsamen Identität. Die bereits angesprochene Verknüpfung mit der Legitimität wäre einer von ihnen. Darüber hinaus sieht Roose (2007), in Anlehnung an Gerhards (2003)27 und Kohli (2002)28, ein gewisses Maß an Akzeptanz für unverzichtbar, vor allem für Mehrheitsentscheidungen, die neben Begünstigten auch Benachteiligte zur Folge haben, was in einem Bund aus 28 Staaten nicht auszuschließen ist. Die Auslagerung politischer Kompetenzen auf EU-Ebene und die Maßnahmen, die damit einhergehen, sind ebenfalls auf eine gemeinsame Identität angewiesen. Gerade Maßnahmen zur wirtschaftlichen Umverteilung müssen aus Sicht des europäischen Gemeinwohls betrachtet und bewertet werden, was ohne ein Gefühl der Zusammengehörigkeit nicht oder nur bedingt möglich ist. Aus soziologischer Sicht definiert sich eine Gesellschaft über gemeinsame Identität, die folglich auch zu Verdichtung der Interaktionen und zur Festigung des Kollektivs führt.29 Die Relevanz einer Identität ergibt sich also bereits rein aus dem Ziel der weiteren Verflechtung der Mitgliedsstaaten, das sich die Union auferlegt hat.
Die in Punkt 1.2. schon erwähnten Ergebnisse einer Eurobarometer-Befragung lassen einige Schlüsse zu, wie es tatsächlich um eine Verankerung des Wir-Gefühls im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger steht und wie sich die nationale zur europäischen Identität verhält. Grundsätzlich lässt sich anhand der Befragung sagen, dass die Nationalität primärer Bezugspunkt für die Bildung von Identität ist. Nur ein sehr geringer Teil der Befragten gab an, ihre Identität rein aus der Zugehörigkeit zu Europa und der Union abzuleiten. Eine Verbindung bzw. Ergänzung beider Identitäten fällt dahingehend unterschiedlich aus, welche Stellung ihnen jeweils zukommt. So wurde eine Ergänzung der nationalen Identität durch die europäische deutlich häufiger genannt als eine Ergänzung in umgekehrter Weise. Auch wenn die Ergebnisse der Befragung schon einige Zeit zurückliegen - gemessen an ihnen, und auch entsprechend der Meinungen und Haltungen des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses, kann eine europäische Identität bisher in keinem Fall als verwirklicht angesehen werden. Bezüglich ihrer Entwicklung und Gestaltung bedarf es weiterer gezielter politischer Maßnahmen, die sich vor allem an den Herausforderungen der Zukunft orientieren müssen. Den Bürgerinnen und Bürgern der Union wird im gleichen Zug die Aufgabe zuteil, als breite politische Öffentlichkeit aufzutreten. Für den Prozess einer vertiefenden europäischen Integration, als Instrument zur Kanalisierung und Überbrückung nationaler Gegensätze30, kann eine gemeinsam geteilte politische Identität durchaus als Voraussetzung angesehen werden.
Spätestens dann, wenn es um den erneuten Versuch geht, eine europäische Verfassung zu gestalten.
Die anlässlich dieser Arbeit geführten und analysierten Interviews wurden mit Personen im Alter von 19 bis 25 Jahren geführt. Die Bestimmung der jungen Unionsbürger als relevante Zielgruppe geht zum einen aus methodischen Gründen darauf zurück, die Interviews altersähnlicher Teilnehmer einfacher miteinander vergleichen zu können. Andernfalls müssten historisch bedingte und Generationen übergreifende Differenzen deutlich stärker berücksichtigt werden. Zum anderen ist es die Rolle der jüngeren Generationen, die sie im Prozess einer weiteren europäischen Integration einnehmen. Aus den aktuell unzähligen Diskussionen um eine Vielzahl an unionspolitischen Herausforderungen, entspringen immer wieder Appelle und Vorschläge für die zukünftige Gestaltung der europäischen Gemeinschaft. Und Appelle an die Zukunft sind immer auch Appelle an die Jugend.
Die hier interviewten Personen sind im Zeitraum von 1990 bis 1996 geboren. Die Erfahrung der bipolaren Welt zu Zeiten des Kalten Krieges haben sie nicht gemacht. Auch der Jugoslawien-Krieg Ende der 1990er Jahre dürfte von ihnen nur minimal und kaum verstehend wahrgenommen worden sein. Allgemein sind ihre ersten politischen Erfahrungen und Wahrnehmungen eher in den 2000er Jahren anzusiedeln. Hier sind die Anschläge vom 11. September 2001 als wohl größter weltpolitischer Einschnitt zu nennen, der auch die Jahre danach entscheidend prägte. Der darauf folgende, von den Vereinigten Staaten angeführte, Kampf gegen den Terrorismus wurde auch von den europäischen Staaten unterstützt. Es folgten Kriege im Irak und in Afghanistan, die in der Öffentlichkeit auch häufig und breit diskutiert wurden. Die aktuell anhaltenden Konflikte in der Ukraine, die zunehmenden Spannungen mit Russland und die Bedrohung durch die radikal-islamistische Gruppe des IS, besitzen das Potential, den jüngeren Unionsbürgern die Dimensionen von Krieg und Frieden stärker ins Bewusstsein zu rufen. Gerade dann, wenn Europa bzw. der Europäischen Union als politischer Akteur eine wichtige Rolle zukommt und sie sich darum bemühen muss, nach außen geschlossen aufzutreten.
Das letzte Jahrzehnt war stark von technologischen Fortschritten geprägt. Für die meisten jungen Europäer gehören heute die Kommunikation über soziale Netzwerke und die Nutzung digitaler Medien zum Alltag. Auch wenn die Existenz einer breiten politischen Öffentlichkeit auf EU-Ebene bislang als nicht existent gilt. So bieten gerade die neuen Medien - eingedenk der Tatsache, dass sie auch negative Folgen haben können - eine Chance, junge Unionsbürger zu erreichen und für den öffentlichen Meinungsaustausch zu gewinnen. Der Bologna-Prozess und die Erasmus-Programme zur Förderung der Bildungsmobilität waren Maßnahmen, die den Austausch unter jungen Studierenden bereits erleichtert haben, ebenso wie der Schengen- Raum das Reisen ohne Grenzkontrollen innerhalb der Staatengemeinschaft ermöglicht. Nicht zuletzt fällt die Einführung des Euros als gemeinsame Währung in das Zeitfenster, in dem die Interviewpartner aufgewachsen sind. Neben vielen Chancen und Vorteilen, die sich aus der europäischen Integration ergeben, gibt es unter jungen Unionsbürgern aber auch negative Ansichten auf die EU und ihr Handeln. Betrachtet man die aktuellen Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit, gerade im südlichen europäischen Raum und die Unzufriedenheit, die vielerorts damit einhergeht, ergibt sich auch daraus die Notwendigkeit, der Jugend Aufmerksamkeit zu schenken. Gerade deshalb, weil Unzufriedenheit um fehlende Arbeitsplätze und mangelhafte Beschäftigung gerne mit der Krisenpolitik der Europäischen Union in Verbindung gebracht werden.
Es kann zwar auf der Basis der fünf vorliegenden Interviews nicht auf das Gesamtbild der Jugend Europas geschlossen werden - und auch sind länderspezifische Unterschiede vorausgesetzt, da die Ansichten des nationalen öffentlichen Diskurses stark auf die Meinungsbildung von Jugendlichen einwirkt.31 Aber es geht hier gemäß der qualitativen Sozialforschung weniger um ein Gesamtbild, als vielmehr um versteckte Details, die zu diesem Gesamtbild entscheidend beitragen können. Details, die hier anhand zweier konkreter Fragen zu deren Antworten beitragen sollen. Die erste Frage bezieht sich auf das angesprochene Wir-Gefühl, indem Identität als Gefühl der Zusammengehörigkeit verstanden wird. Hier lautet die Frage: Wenn es für junge Unionsbürger ein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt, wie sieht es aus und wodurch entsteht es? Die zweite Frage bezieht sich darauf, was die junge Zielgruppe mit Europa im Allgemeinen und der Europäischen Union im Besonderen assoziiert. Was ist ihnen wichtig, was stört sie, welche Wünsche und Erwartungen haben sie für die Zukunft? Durch die Bearbeitung der beiden Fragen können zum einen Inhalte einer Europäischen Identität untersucht werden, zum andern wird deren zukünftige Gestaltung und Entwicklung - als eine im wissenschaftlichen Diskurs häufig betonte Aufgabe - in die Arbeit mit einbezogen.
Um dem Anspruch einer wissenschaftlich fundierten Untersuchung gerecht zu werden, bedarf es der Anwendung und auch der Erläuterung der herangezogenen wissenschaftlichen Methode. Nur durch das methodische Vorgehen und die reflektierenden Schritte lassen sich die späteren Untersuchungsergebnisse als wissenschaftlich geprüft und gefestigt vorlegen. Zum selbstreflexiven Anspruch sei vorab gesagt, dass eine stetige Reflexion während der Untersuchung stattgefunden hat, sie jedoch erst am Ende der Arbeit, gemeinsam mit dem Fazit, in ihren Schritten geschildert wird.
Erhoben wird das notwendige empirische Material mittels qualitativer, leitfadengestützter Interviews. Durch die qualitativen Interviews lassen sich Aspekte der Wirklichkeit der Befragten rekonstruieren. Anders als bei Nacherzählungen werden Erfahrungen hier aktiv gestaltet und es bietet sich innerhalb der Interviews Raum für die Entwicklung von Relevanzen. Es geht nicht darum, den interviewten Personen Relevanzen vorzugeben, nach denen sie ihre Angaben ordnen sollen, sondern um die „lokale Reproduktion von Sinn und Bedeutung.“32 Weiter sieht das qualitative Interview vor, nach Möglichkeit ohne Vorannahmen und ohne Vorurteile in die Datenerhebung einzusteigen. So kann über eine (rationale) systematisierte Weise versucht werden, Erkenntnisse zu erlangen. Die hier angewendete Methode der wissenssoziologischen Hermeneutik fordert neben jener Herangehensweise zudem das ständige Bemühen um eine selbstreflexive Haltung. Ansatzpunkt für die Erhebung und Auswertung des empirischen Materials ist hier das handelnde Subjekt.33 Dessen Wirklichkeit ist das Produkt sozialen Handelns. Die Methode gründet also auf der These, dass sich das allgemein Typische nur im fallspezifisch Besonderen zeigt. Bei dieser Untersuchung, bei der die Entwicklung bzw. das Vorhandensein einer kollektiven Identität im Fokus steht, wird somit davon ausgegangen, dass sich diese im individuellen Denken und Handeln manifestiert und dort zu suchen ist. Auch Kaina (2009) betont den Vorteil, dass sich kollektive Identitäten gut auf individueller Ebene untersuchen lassen.34 Zudem beschreibt bspw. Schröer (1997) die Möglichkeit einer umso genaueren Prüfung des (objektiven) Typus, wenn er sich an einzelfallspezifischen Beispielen bewähren muss.35 Die von der wissenssoziologischen Hermeneutik geforderte, möglichst unstrukturierte Datenerhebung in der Einstiegsphase stellte bei der Erstellung des Leitfadens eine erste Schwierigkeit dar. Trotz der im Voraus ausgearbeiteten Fixpunkte wurde mittels eines inhaltlich breit ausgelegten Leitfadens versucht, dieser Vorgabe zu entsprechen. Die Auswertung aller Interviews erfolgt in dieser Arbeit - entsprechend der vereinfachten Form der wissenssoziologischen Hermeneutik - in vier Schritten: Feinanalyse, Fallfigur, Fall- hypothese, Typologie.36 Entlang der ausgewerteten Interviews erfolgt dann später auch die Überprüfung der erarbeiteten These.
Beginnend mit der Feinanalyse wird das aufgezeichnete Interview erst ausführlich und wiederholend protokolliert, um eine intensive Betrachtung des Gesagten einer späteren Zusammenfassung voranzustellen. Die Fokussierung auf die Gesprächsinhalte erfolgt mit der Beschreibung der Fallfigur. Hierbei ist zu beachten, dass die Aussagen der Gesprächspartner durch die inhaltliche Beschreibung nicht vom Gesagten abweichend umschrieben werden. Die Fallhypothese nähert sich dem Material dann erstmals interpretativ und versucht die Zusammenfassung der spezifischen Fragestellung gegenüberzustellen. In der abschließenden Typologie werden zunächst die bedeutsamen Aspekte aus den Zusammenfassungen aller Interviews herausgearbeitet, um daraus Verallgemeinerungen bilden zu können, die dann erneut der Fragestellung entgegengestellt werden.
Selbstverständlich ist Europa ein komplexes Konstrukt aus mehreren Staaten mit unter- schiedlichsten kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Einflüssen. Zu versuchen, komplette, sprich: absolute Aussagen treffen zu können, widerspricht sich nicht nur mit dem Selbstverständnis der Sozialwissenschaften. Es ist auch methodisch nur schwer durchführbar. Da diese Arbeit nicht den Anspruch hat, quantitativ vorzugehen und das Thema in der Breite zu untersuchen, sondern im Sinne der qualitativen Sozialforschung zu agieren, musste zum einen die Zahl der interviewten Personen begrenzt werden, um den Rahmen der Untersuchung nicht zu überschreiten. Zum anderen musste eine Auswahl getroffen werden, welche Personen welcher Mitgliedsstaaten befragt werden sollten. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Ergebnis aus wenigen Interviews die Aussagekraft besitzt, um es auf alle Mitgliedsstaaten übertragen zu können. Auch kann gleiches nicht für das Verhältnis eines Befragten oder einer Befragten und deren Heimatstaat gelten. Durch das qualitative (tiefere) Vorgehen sollen hingegen Ergebnisse erzielt oder zumindest Erkenntnisse erlangt werden, die an der (quantitativen) Oberfläche verborgen geblieben wären. Wenn also das qualitative Vorgehen eine tiefe Untersuchung fordert und die Zahl der Interviews als empirisches Material begrenzt ist, bleiben schließlich die oben erwähnten Fragen nach dem Wer und Warum. Da Europa und auch die Europäische Union Konstrukte aus vielen einzelnen Staaten mit vielen unterschiedlichen Einflüssen sind, musste versucht werden, ein Bündel aus möglichst vielfältigem empirischem Material und möglichst verschiedenen Ländern zu gewinnen.
Der eigene Wohnsitz in Deutschland legte ein Interview mit einem deutschen Jugendlichen aus zeitlichen und finanziellen Gründen nahe. Aber Deutschland gilt zur Zeit als eine Art Leader in Europa, der in vielen aktuellen Fragen rund um die Union im Mittelpunkt steht. Gerade im Rahmen der Währungs- und Schuldenkrise haben die Aussagen Deutschlands als größter Geldgeber enormes Gewicht. Und auch als wirtschaftsstärkster Mitgliedsstaat hat das Land große Bedeutung für die Stabilität der Union. Aufgrund der deutschen Vergangenheit, insbesondere wegen der deutschen Expansionsbestrebungen und den daraus resultierenden Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, wird die (designierte) Führungsrolle des Landes von einigen auch heute noch mit Misstrauen beäugt. Durch die deutsche Vergangenheit, sowie die aktuelle wirtschaftliche und politische Stellung des Landes, lassen sich ein deutsches Interview ebenso begründen, wie durch die Tatsache, dass Deutschland das bevölkerungs- reichste Land in Europa ist, und zudem überdurchschnittlich stark von der Vereinigung der Länder profitiert hat.
Um ein Land in die Untersuchung mit einzubeziehen, das auf der europäischen Bühne eine weniger bedeutsame Rolle spielt und bei Weitem nicht so häufig in der europäischen Öffentlichkeit steht, wie Deutschland, wurde ein Interview in Österreich angestrebt. Österreich, das der Union 1995 beitrat, ist ebenfalls ein Land, das vom Zusammenschluss überdurchschnittlich gut profitiert hat. Weiter interessant ist auch seine geographische Lage als Schnittstelle zwischen Mittel- und Osteuropa.
Frankreich wurde zum einen aufgrund eines bereits bestehenden Kontakts gewählt, der ein Interview ohne größere Anfrage möglich machen würde. Zum anderen kann Frankreich aber als ein Land in die Untersuchung einfließen, dessen wirtschaftliche Lage auch das Verhältnis zu Europa auf die Probe stellt. Frankreich hat sich seit der 2007 ausgebrochenen Finanzkrise wirtschaftlich nicht mehr erholt, was sich vor allem im steigenden Unmut seiner Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt. Bürgerbewegungen versammeln sich auf den Straßen und protestieren aufgrund ihres Gefühls der Ohnmacht gegenüber den Regierenden.37 Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mündet (aus verschiedensten Gründen) zum Teil im Zulauf für euroskeptische und rechtspopulistische Parteien wie dem Front National. Dessen Zulauf speist sich auch aus jüngeren Gesellschaftskreisen und wirbt für das Abkoppeln von der Europäschen Union und die Verschiebung der nach Brüssel ausgelagerten Kompetenzen, zurück auf die nationale Ebene. Ob die Kritik an der Europäischen Union nur die erweiterte Folge nationaler Unzufriedenheit ist oder sich explizit an sie richtet, kann hier nicht geklärt werden. Sie ist in weiten Teilen der Bevölkerung aber vorhanden, und damit auch Teil des öffentlichen Diskurses, der auch auf die persönlichen Haltungen und Ansichten vieler Jugendlicher einwirkt.
Portugal ist Teil der Untersuchung, weil es sich um einen sogenannten Südstaat handelt. Die vielzitierte Mentalität der Bürgerinnen und Bürger der südlichen Länder und die Unterschiede in ihrer Lebensweise bilden in vielerlei Hinsicht einen Kontrast zur Lebensweise der Bevölkerung von mittel- oder nordeuropäischen Staaten. Zum anderen ist das 1986 zur Union getretene Portugal auch hart von der Finanzkrise getroffen, leidet bis heute an den wirtschaftlichen Folgen und bedurfte der finanziellen Hilfe der Staatengemeinschaft. Zudem herrscht im Land eine überdurchschnittlich hohe Jugendarbeitslosigkeit.38 Fälle von nationaler Korruption, wie der des ehemaligen Ministerpräsidenten José Socrates, befeuern letztendlich auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die, ähnlich wie in Frankreich, auch in wachsende Skepsis gegenüber der Eurozone münden kann. Für die folgende Untersuchung stünden somit vier Interviews aus vier unterschiedlichen Ländern fest. Zwei (Österreich und Deutschland), die auch in den vergangenen Jahren wirtschaftlich vom Zusammenschluss der Staaten und vom gemeinsamen Binnenmarkt profitiert haben. Mit Frankreich und Portugal wiederum zwei, deren Wirtschaft deutlich schwächer aus der Krise hervorging und in deren Gesellschaften antieuropäische Ströme an Zulauf gewinnen.
Die Nationen sollen hier nicht auf einzelne Ströme oder Formen ihrer gesellschaftspolitischen Öffentlichkeit reduziert werden. Vielmehr soll versucht werden, wie in Kapitel 1.3 angesprochen, einzelne Merkmale und Inhalte von Gemeinsamkeiten - über diese Unterschiede hinweg - ausfindig zu machen.
Wie bereits erwähnt, werden für die Gewinnung empirischen Datenmaterials vier qualitative Interviews geführt. Der Feldzugang erfolgt also nicht über (teilnehmende) Beobachtung natürlicher sozialer Handlungsfelder, sondern über situative Arrangements. Es gestaltete sich unerwartet leicht, Teilnehmer für die Untersuchung zu gewinnen. Der Kontakt zu einem jungen Portugiesen konnte über eine nach Portugal bestehende Verwandtschaft hergestellt werden, die Gesprächspartner in Frankreich und Österreich waren Bekanntschaften, die sich aus vergangenen Reisen ergaben. Für das Interview in Deutschland erklärte sich ein Schüler aus der näheren Umgebung auf Anfrage bereit. Der Suche und Auswahl der Interviewpartner folgte dann der erste Entwurf für einen Interview-Leitfaden ( → Kap. 1.5.4 ). Zu beachten war hierbei, dass der Begriff der Identität nicht direkt angesprochen wird (weder im Vorfeld, noch im Verlauf des Interviews), weil der Gesprächspartner andernfalls beginnen könnte, sein Gesagtes dahingehend zu reflektieren und Antworten nach dem gesuchten Ergebnis hin auszurichten. So würden evtl. Ausführungen vorzeitig abgebrochen, um nicht vom eigentlichen Thema abzuschweifen und für die Analyse wichtige Inhalte würden womöglich verborgen bleiben.
Der Leitfaden musste demnach so konzipiert sein, dass Inhalte angesprochen werden, aus denen heraus Rückschlüsse auf eine gemeinsame europäische Identität möglich sind. Der interviewte Gegenüber hat somit vorab keine genaue Vorstellung über Sinn und Zweck des Gesprächs, was zu Skepsis und Zurückhaltung führen kann. Qualitative Interviews sind komplexe Kooperationsprozesse und unterliegen keinen Routinen - auch deshalb ist es notwendig, dass sich beide Teilnehmer, der Fragende und der Befragte, für den Zeitraum des Gesprächs aufeinander einlassen.39
Es musste also zuerst (über die Eingangsfrage) versucht werden, den Rahmen für dieses Gespräch zu schaffen, der der befragten Person eine ungefähre inhaltliche Richtung vorgibt. Befragten, die im Vorfeld wissen wollten, welche Themen das Interview konkret beinhalte, wurde gesagt, dass es inhaltlich um Europa gehen würde. Möglichst undetaillierte Angaben bzgl. der Gesprächsinhalte im Voraus sind auch deshalb notwendig, weil bei Vorankündigung konkreter Inhalte für den Interviewten die Möglichkeit besteht, sich vorab zusätzlich spezifisches Wissen und Informationen anzueignen, die das spätere Gespräch dann ggf. verfälschen würden. Der Grad des Vorwissens war auch in anderer Hinsicht von Bedeutung. So musste bei der Fragestellung darauf geachtet werden, dass sie den Befragten nicht vor zu große Hürden stellen, weil sie womöglich zu viel fachliches Wissen voraussetzen würden. Das könnte den Befragten wiederum daran hindern, ausführliche Antworten zu formulieren und eigene Erfahrungen einfließen zu lassen.
Es ist möglich, dass der Befragte mit Fragen konfrontiert wird, die er sich selbst noch nie gestellt hat. So musste auch versucht werden, ihm das Gefühl zu geben, keinem „Allwissenden“ gegenüber zu sitzen, der deutlich mehr weiß und das Interview dazu nutzt, die Kenntnisse des Befragten zu testen. Es bedurfte vielmehr eines Gesprächs, dass auf der Basis wechselseitigen Interesses geführt wird. Allgemein sind Interviews und deren Führung nie vollständig planbar und auch der Zugang ins Feld kann nie als vollständig abgeschlossen bezeichnet werden. Er erfolgt demnach auch noch während des Interviews und gestaltet sich als gemeinsame Aufgabe von Interviewleiter und Befragtem.40 Die gestellten Fragen durften keinen überprüfenden Charakter besitzen, sondern mussten den Befragten spüren lassen, dass seine Aussagen zur Findung von deren Antworten beitragen.
Das Leitfaden-Interview empfahl sich für die Untersuchung aus zwei hauptsächlichen Gründen. Erstens erlauben die offenen Fragen und die Möglichkeit genauerer Nachfragen die erforderliche Tiefe und eine gewisse Flexibilität in der Interviewführung. Zweitens musste bedacht werden, dass die Erfahrungen zu Europa - schon aufgrund verschiedener Nationalitäten - sehr unterschiedlich sein können. Durch den Leitfaden können alle Interviews entlang einzelner Fixpunkte geführt werden, was bei der Analyse eine bessere Vergleichsmöglichkeit bietet.
Aus der Intention heraus, die Identität - und ihre Merkmale als Ziel der Untersuchung - nicht konkret anzusprechen und seine Nennung nach Möglichkeit zu vermeiden, musste ein Leitfaden konzipiert werden, mit dem es möglich war, in indirekter Weise an nutzbare und im besten Fall aussagekräftige Daten zu gelangen. Insgesamt wurde die Palette an Themen, die es anzusprechen galt, möglichst breit ausgelegt, was damit zusammenhing, dass versucht werden sollte, eine inhaltliche Fokussierung anhand von Vorannahmen zu vermeiden. Wie das Beispiel einer Untersuchung von Kelpanides (2011) in ähnlichem Zusammenhang zeigt, können Vorannahmen bzw. Erwartungen dazu führen, dass die Untersuchungen in eine ungeplante Richtung verlaufen und (die erwarteten) Ergebnisse ausbleiben.41 Das Problem bestand letztlich darin, ein breites Themenfeld im Leitfaden zu integrieren (auch weil vorab keine Kenntnisse darüber vorlagen, woraus sich eine europäische Identität letztlich speist) und gleichzeitig die nötige Tiefe und Ausführlichkeit zu garantieren.
Die Eingangsfrage diente einmal dazu, den Themenkomplex zu definieren und dem Befragten eine Orientierung zu verschaffen. Zudem war die Frage so konzipiert, dass sie dazu aufforderte, sich mit den eigenen Assoziationen zu Europa auseinanderzusetzen, ohne dass er oder sie sich dabei auf etwas Konkretes hin beziehen musste. Sie bot die Möglichkeit, Europa und die Europäische Union erstmal voneinander getrennt zu beschreiben. Erst im zweiten Punkt des Leitfadens tauchte dann die Europäische Union als solche auf. Da es als sehr wahrscheinlich anzusehen war, dass in der Beantwortung der ersten Frage auch die Europäische Union angesprochen werden würde und diese letztendlich auch den möglicherweise wichtigsten Fixpunkt im Leitfaden darstellen würde, wurde das Gespräch mittels der zweiten Frage in dessen Richtung gelegt. Der Interviewpartner sollte sich dazu äußern, als welche Art von gemeinschaftlichem Raum er die Union wahrnimmt - ob politische, ökonomische, kulturelle oder sonstige Eigenschaften überlegen bzw. unterlegen sind. Die Antwort und ggf. die weitere Erläuterung des Befragten sollten ein erstes grobes Bild ihrer Vorstellung aufzeichnen und zeigen, welche Aspekte ihre Wahrnehmung dominieren. Gleichzeitig sollte mit der Unterfrage Was gewinnen wir durch den Zusammenschluss? versucht werden, neben der subjektiven Ebene der Wahrnehmung auch auf die objektive Ebene der Notwendigkeit oder des Zwecks zu gelangen - neben der persönlichen Ansicht auch die Ansicht als Teil eines Kollektivs. Hierdurch sollten bestenfalls erste Rückschlüsse auf ein kollektives Empfinden möglich werden.
Um an die Notwendigkeit bzw. den Gewinn des Zusammenschlusses anzuknüpfen, wurde in Frage drei der Bogen zur Verknüpfung von Europa (bzw. der EU) und der Friedenssicherung geschlagen. Als Urgedanke hinter der supranationalen Konstruktion sieht er sich heute in einer Reihe mit weiteren Herausforderungen, denen sich die Union stellen muss. Die militärischen Konflikte im Nahen Osten und der Ukraine geben der Bedeutung des Friedens wieder neuen Schub. Die Frage hierzu richtet sich an die jungen Erwachsenen mit der Intention, sie zu einer kleinen Selbstreflexion zu verleiten und zu Überlegungen anzuregen, ob und inwieweit der Frieden als selbstverständlich bzw. schlichtweg gegeben angesehen wurde ; und ob die genannten Konflikte am möglichen Selbstverständnis rütteln.
Da die Europäische Identität überwiegend als politisches Projekt verstanden wird, wurde im Leitfaden mit der vierten Frage auf das europäische Demokratiemodell und die etwaigen Institutionen eingegangen. Das europäische Parlament als direkt gewählte Bürgervertretung wird oft als Sprachrohr der europäischen Bürgerschaft gelobt und seine Bedeutung soll hier keinesfalls geschmälert werden. Doch geht es hier vielmehr darum, festzustellen, ob und wie die jungen Erwachsenen die Partizipation (bzw. die Möglichkeit dazu) überhaupt wahrnehmen und ob man sich ergo als Teil der europäischen Bürgerschaft versteht, die sich einen gemeinsamen Raum teilt und den sie gemeinsam und demokratisch legitimiert. Neben den Rechten und Privilegien, die einem als Bürgerin und Bürger eines Mitgliedsstaates zugute kommen, stehen hier vor allem die Pflichten im Vordergrund, mit denen man zur Erhaltung und Festigung des bestehenden politischen Raums beiträgt. Jene Bürgerinnen und Bürger werden mit dem Status des Unionsb ü rgers versehen, der außerhalb des Heimatstaates europaweite Rechte gelten macht. Dieser Status wird als Frage an den Interviewpartner aufgegriffen, um das Verhältnis von nationaler und europäischer Identität zu untersuchen. Hierzu wird der Aspekt, aufgrund der hohen Relevanz bzgl. der Identitätsbildung, in zwei Fragen unterteilt. Die erste Frage richtet sich an den Status selbst, ungeachtet der ihm anhängenden Rechte. Sprich: Über welche Zugehörigkeit definieren sich junge Unionsbürger an welchen Orten und mit welchen Hintergründen. Die zweite Frage schließt den Erfahrungsraum mit ein, indem nach spezifischen und alltäglichen Erfahrungen gefragt wird, in denen den Interviewpartnern ihr Status als Unionsbürger bewusst geworden ist. Neben dem Reisen im Schengen-Raum als häufig zitiertes Privileg unionsrechtlicher Vereinbarung soll auch auf Bildungsmobilität über Erasmus-Programme und die Möglichkeiten des Binnenmarkts eingegangen werden.
Um die anfängliche Frage Was gewinnen wir durch den Zusammenschluss? noch einmal aufzugreifen und zu erweitern, soll gegen Ende des Gesprächs die Frage diskutiert werden, ob wir es in der Union lediglich mit einer Zweckgemeinschaft zu tun haben, in der gemeinsame Werte und solidarisches Handeln nur Nebenrollen spielen. Die Frage hat aber noch einen weiteren Zweck: Da in Interviews immer damit gerechnet werden muss, dass die interviewte Person sich Fragen ausgesetzt sieht, die sie sich möglicherweise nie selbst gestellt hat, dient ein Interview immer auch zur Auseinandersetzung mit sich selbst und zum Aufzeigen anderer, neuer Blickwinkel. Die Ergänzung bzw. Wiederholung der Frage am Anfang durch die inhaltlich ähnliche Frage gegen Ende, kann u.U. eine Selbstreflexion zum Vorschein bringen, die sich während des Gesprächs vollzogen hat.
Die abschließende Frage richtet sich an die Wünsche und die Vorstellungen, die die Interviewpartner hinsichtlich eines zukünftigen Europas und einer zukünftigen Europäischen Union haben. Auch hier darf wie bei der Eingangsfrage zwischen geographisch gefasstem Kontinent und der Staatengemeinschaft unterschieden werden. Diese Frage richtet sich vorwiegend auf ein Teilziel der Untersuchung - dem angestrebten Blick auf die zukünftigen unionspolitischen Herausforderungen unter Berücksichtigung des Potentials einer gemeinsamen (europäischen) Identität.
→ Ein detailliertes Gesamtbild des Leitfadens befindet sich im Anhang (Kap. 5, S. 66)
[...]
1 Um die Arbeit leserlicher zu gestalten, wurde auf die durchgehende Nennung beider Geschlechter verzichtet. Mit der Nennung eines einzelnen Geschlechts wird immer auch das jeweils andere Geschlecht angesprochen.
2 Kaina (2009 ; 39)
3 Mead (1973 ; 177)
4 Hall (2004 ; 170)
5 Kaina (2009 ; 58)
6 Münch (1999 ; 239)
7 Kaina (2009 ; 59)
8 Luckmann (1996 ; 299)
9 Giesen/Seyfert (2013 ; Onlineartikel)
10 Krappmann (2000 ; 12)
11 Fuss/Grosser (2006 ; 229 + 236)
12 Giesen/Seyfert (2013 ; Onlineartikel)
13 Kaina (2009 ; 85)
14 Meyer (2009 ; 15)
15 Meyer (2009 ; 20)
16 Thiesse (2009 ; 32)
17 Janning (2007 ; 89)
18 Gürsel (2009 ; 161 ff.)
19 Gürsel (2009 ; 163)
20 Teló (2009 ; 169 ff.)
21 Kaina (2009 ; 15)
22 Kaina (2009 ; 16)
23 Scharpf (1999 ; 16)
24 van Middelaar (2015 ; 4)
25 Thalmaier (2007 ; 169)
26 Thalmaier (2007 ; 169)
27 Gerhards (2003 ; 253-276)
28 Kohli (2002; 111-134)
29 Roose (2007; 129 ff.)
30 Weidenfeld (2007 ; 19)
31 Kelpanides (2013 ; 164)
32 Honer (2010 ; 94-99)
33 Madeker (2008 ; 90)
34 Kaina (2009 ; 41)
35 Schröer (1997 ; 116)
36 Schröer (1997 ; 109-129)
37 Blume (2013 ; Onlineartikel)
38 Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im November 2014
39 Wolff (2000 ; 334)
40 Wolff (2000 ; 339)
41 Kelpanides (2013 ; 163)