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Bachelorarbeit, 2008
65 Seiten, Note: 1,65
1. Einleitung
2. Begriffliche Erklärungen
2.1. Schwangere mit Migrationshintergrund oder Migrantin
2.2. Afrikanische Migrantinnen
2.3. Die Kategorie „Herkunftsland“ im Mutterpass
2.4. Sectio caesarea
3. Methodik - Sichtung der Perinataldaten
3.1. Ergebnisse
3.2. Kaiserschnittverteilungen
4. Sekundäre Sectiones in der Gruppe der „sonstige Staaten“
4.1. Anteil allein stehender Frauen
4.2. Schwangerenvorsorge und Muttermundsweite
4.3. Indikationen zur sekundären Sectio in der Gruppe der untersuchten Frauen
5. Die Gruppe der „sonstige Staaten“
5.1. Aufenthaltstatus und Tätigkeit der Mutter
5.2. Die afrikanischen Migrantinnen im Kulturvergleich
5.3. Weibliche Genitalbeschneidung (FGM= female genital mutition)
6. Befragungen
7. Vergleich mit internationalen Studien
7.1. West- und zentralafrikanische Länder
7.2. Mögliche Begründungen für die niedrigen Sectioquoten der Herkunftsländer
8. Diskussion
9. Überlegungen zur Konzipierung einer zielgruppengenauen Schwangerenversorgung
10. Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Anhang I: Migrationsfragebogen
Anhang II: Genitalbeschneidung auf dem afrikanischen Kontinent
Anhang III: Migrationshintergrund und Risiken während der Schwangerschaft
Anhang IV: Sekundäre Sectiones - Risiken während der Schwangerschaft
Anhang V: Vorsorgeuntersuchungen und Muttermundsweite
Anhang VI: Entbindungsmodi
These: Während der Schwangerschaft und unter der Geburt benötigen schwangere Frauen, die nicht in Deutschland geboren wurden, aufgrund ihres Migrationshintergrundes eine andere Art der Versorgung als deutsche Frauen.
Methodik: Perinataldatensichtung der Jahre 2004-2007 des Evangelischen Krankenhauses in Oldenburg sowie Befragung afrikanischer Migrantinnen in Oldenburg und einer Oldenburger Hebamme.
Ergebnisse: Afrikanische Frauen stellen eine eher kleine Migrantin- nengruppe in Oldenburg dar. Im Vergleich mit deutschen Frauen und Frauen anderer Migrantinnengruppen weisen sie jedoch den niedrigsten Anteil an Normalgeburten und den höchsten Anteil an Risikogeburten auf. Die Entbindung per Sectio stellt den häufigsten Entbindungsmodus in der Gruppe der Afrikanerinnen dar, wobei die sekundären Sectiones mit einer Quote von 22,45% gegenüber den deutschen Frauen (Sectioquote von 12,43 %) und Frauen aus anderen Herkunftsländern signifikant sind. Neben Integrationsproblemen sowie kulturellen und sprachlichen Missverständnissen ist die hohe Sectioquote möglicherweise durch potenzielle Traumata aufgrund von Gewalterfahrungen und Genitalbeschneidung entstanden. Letztere Annahmen konnten bisher nicht hinlänglich bestätigt werden.
Schlussfolgerung: Das deutsche Schwangerenversorgungskonzept ist auf westafrikanische Migrantinnen nicht im vollen Umfang anwendbar. Afrikanische Migrantinnen müssen zur genauen Anamnese des Migrationshintergrundes möglichst frühzeitig einen Zugang in das deutsche Betreuungssystem der Schwangerenversorgung bekommen. Durch die gezielte Vernetzung und einem interkulturellen Austausch zwischen schwangeren Migrantinnen, Hebammen, GynäkologInnen, Beratungs- und Betreuungspersonen, Geburtsbegleiterinnen und geburtshilflichen Einrichtungen dürfte die Konzipierung einer zielgruppengenauen Schwangerenversorgung möglich sein. Über die interkulturelle Betreuung dürfte die Sectioquote in den nächsten Jahren zu senken sein.
„[...] für uns steht vor allem fest, dass man In der Beurteilung von Dingen,
die ihre eigenen, uns sehr fremde Zusammenhänge haben, nicht vorsichtig genug sein kann. “
Blandena Lee Kossodo (1978:262)
Innerhalb des deutschen Gesundheitssystems hält die Debatte um die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund immer mehr Einzug - dies betrifft auch den geburtshilflichen Bereich. Eine Studie aus Nürnberg wirft die Frage auf, ob Migration einen weiteren Risikofaktor in der Schwangerschaft darstellt (Terzioglu, 2006). Schwarz und Schücking kommen in der Sekundäranalyse der Niedersächsischen Perinataldaten zu dem Ergebnis, dass Migrantinnen von einer zunehmenden Medikalisierung betroffen sind. Zwar werden geburtshilfliche Interventionen häufiger bei deutschen Schwangeren vorgenommen, nehmen aber auch in der Gruppe der Migrantinnen zu (Schwarz/Schücking, 2003). Andere Quellen weisen darauf hin, dass Migrantinnen, vor allem, wenn sie nicht aus Europa kommen, mehr Schwangerschaftsrisiken aufweisen als Frauen, die in Deutschland geboren sind. Migrantinnen erleiden mehr Fehlgeburten, mehr Totgeburten und haben häufiger einen höheren Blutdruck in der Schwangerschaft. Sie nehmen die erste Vorsorgeuntersuchung später wahr und besuchen Geburtsvorbereitungskurse meistens nur dann, wenn eine gute Integration vorangegangen ist (Korporal 1995; Weber et al., 1990; Weilandt et al. 2000).
Die These dieser Arbeit lautet: Während der Schwangerschaft und unter der Geburt benötigen schwangere Frauen, die nicht in Deutschland geboren wurden, aufgrund ihres Migrationshintergrundes eine andere Art der Versorgung als deutsche Frauen.
Seit ich im Frühjahr 2000 mein erstes Praktikum im Kreißsaal des Evangelischen Krankenhauses in Oldenburg absolvierte, habe ich die Vermutung, dass der Migrationshintergrund wesentliche Auswirkungen auf den Geburtsverlauf hat. Noch heute ist mir der Fall einer Frau türkischer Herkunft präsent. Sie war Asylbewerberin und zusammen mit ihrer Familie in der Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde (ZAAB) im Kloster Blanken- burg außerhalb von Oldenburg untergebracht. Eine Verständigung mit der Patientin funktionierte nicht, da niemand im Kreißsaal türkisch sprach, und die Frau keine für uns geläufige Sprache sprechen konnte. Damals versuchte ich mir vorzustellen, was in dieser Frau vorging, nachdem sie nach über 24 Stunden Wehenarbeit per Saugglocke und Dammschnitt von ihrem Kind entbunden wurde.
Während meines Praxissemesters im Studiengang Public Health (Universität Bremen) in der Frauenklinik im Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg, habe ich mich mit der Versorgung von Migrantinnen beschäftigt. Zu Beginn der hier geschilderten Studie ging es darum, festzustellen, ob bei Frauen mit Migrationshintergrund eine andere Art der Schwangeren- versorgung vorliegt als bei deutschen, schwangeren Frauen. Im Zuge der Untersuchung wurde deutlich, dass Frauen des afrikanischen Kontinents offensichtlich in besonderem Umfang von einer Über-, Unter- oder Fehlversorgung betroffen sind. Dies war auch der Grund dafür, sich in besonderem Umfang mit der Thematik der westafrikanischen Frauen auseinander zu setzen und nicht mit den größeren Migrantinnengruppen, wie denen der Russinnen und Polinnen, die eher unauffällig erscheinen oder den Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, die zudem von Neslisah Terzioglu in Nürnberg und Theda Borde in Berlin untersucht werden.
Die Frage, die sich mir im Laufe der Untersuchung stellte, war: Welche Art der Schwangerenversorgung benötigen westafrikanische Frauen in Deutschland für eine möglichst zielgruppengenaue Betreuung?
Zum Einstieg in die Thematik werden zunächst wichtige Begriffe für diese Arbeit erklärt. Kapitel 3 erläutert die ersten Schritte der Untersuchung, in der eine retrospektive Studie mit Daten von 3710 Geburten (ohne Zwillingsgeburten) der Jahre 2004-2007 erstellt wurde. Dabei sollte geprüft werden, ob es Abweichungen innerhalb der Untersuchungsgruppen gab. Das daran anschließende Kapitel beschäftigt sich mit den daraus hervorgegangenen Ergebnissen und der Klärung, weshalb als Indikator einer möglichen Über-, Unter- oder Fehlversorgung die Sekundären Sectiones bei afrikanischen Frauen gewählt wurden. Das fünfte Kapitel beantwortet die Frage, welche Nationalitäten sich hinter der Gruppe der „sonstige Staaten“ verbergen. Im Kapitel 6 werden die Resultate von Interviews mit afrikanischen Frauen und einer Oldenburger Hebamme, die in Nigeria tätig war, vorgestellt.
Im nächsten Abschnitt der Arbeit erfolgt ein Blick in internationale Studien und Surveys. Das achte Kapitel bietet Raum für eine Diskussion der vorliegenden Beurteilungen. Im neunten Kapitel wird ein mögliches Konzept für die Schwangerenversorgung westafrikanischer Frauen vorgestellt. Das abschließende Kapitel behandelt die aus der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse.
Die Begriffe „sonstige“ bzw. „sonstige Staaten“ wurden in dieser Arbeit in Anführungszeichen gesetzt, da die Begrifflichkeit meines Erachtens problematisch und irreführend ist. Auf die Begründung dazu wird im Kapitel 2.2 und 2.3 eingegangen.
In dieser Arbeit wird nicht der kulturell deutsch geprägte Begriff der Genitalverstümmelung verwendet. Aus Respekt vor den Frauen, die von diesen Traditionen betroffen sind, wurde der Begriff „Weibliche Genitalbeschneidung“ verwendet.
Die Thematik der sekundären Sectiones bei schwangeren, afrikanischen Frauen ist ein interdisziplinäres Thema, welches nicht nur aus gesundheitswissenschaftlicher, sondern auch aus interkultureller, linguistischer und politischer Sicht beleuchtet werden wird. Aus Verständnisgründen werden alle unterstrichenen Begriffe im Glossar erklärt. Im Text verwendete Zitate sind kursiv angegeben.
Zur Einführung in die Thematik sollen zunächst die Begriffe „Migrantin“ und „afrikanische Migrantin“ erläutert werden. Die Codierung der „Herkunft“ im Mutterpass wird erklärt, da sie von besonderer Bedeutung für das Thema Migration und Vergleichbarkeit von Daten innerhalb des Public Health Bereiches ist. Des Weiteren werden der Begriff „Kaiserschnitt“, die medizinischen Indikationen zur Schnittentbindung sowie psychosomatische und psychosoziale Faktoren, die zur Entbindung mittels Sectio führen können, erläutert.
Das Wort Migrantin ist vom lateinischen "migrare" abgeleitet und bedeutet "wandern; an einen anderen Ort ziehen". Migration beschreibt die Wanderung oder Bewegung von Individuen oder Gruppen im geografischen oder sozialen Raum, die mit einem Wechsel des Wohnsitzes verbunden ist (Duden Fremdwörterbuch, 2007). Der Begriff „Migrantin“ klassifiziert das lebensbiographische Ereignis der Wanderung und die damit verbundenen (gesundheitsbezogenen) Besonderheiten dieser Lebenssituation. Er basiert nicht auf Zuschreibung fester biologischer, kultureller, religiöser und anderer Eigenschaften. Mit der Migration können verschiedenartige Herausforderungen an Menschen gestellt werden, die für die Gesundheit von MigrantInnen über mehrere Generationen von Bedeutung sein können (Schenk et al. 2006).
Im deutschen Sprachraum gibt es keinen Konsens darüber, wer genau als „Migrantin“ oder „Schwangere mit Migrationshintergrund“ definiert werden kann. Zudem gibt es sich überschneidende, aber nicht identische statistische Definitionen für Zuwanderer; Ausländer, die in Deutschland geboren wurden; Spätaussiedler; Zuwanderer mit doppelter Staatsbürgerschaft; Flüchtlinge und Zuwanderer ohne legalen Status (so genannte Papierlose) (Razum, 2003). Diese Situation erschwert die Vergleichbarkeit mit anderen deutschen Studien.
Noch schwieriger wird der Vergleich im internationalen Kontext, denn hier tauchen neben der Begrifflichkeit „Migrationshintergrund“ noch Begriffe wie „Ethnie“ und „Rasse“ auf. Diese Bezeichnungen umfassen das, was in Deutschland als „Migrationshintergrund“ charakterisiert wird. Dadurch ist der Vergleich in Kapitel 7 dieser Arbeit kritisch zu betrachten.
Im Zusammenhang mit der Sichtung der Perinataldaten wurde im empirischen Teil die Definition „Herkunft der Mutter“ als Einschlusskriterium für die Befragung der Frauen mit Migrationshintergrund gewählt.
Afrika besteht aus 53 Staaten und ist etwa dreimal so groß wie Europa. Die meisten der 885 Millionen Menschen, die in Afrika leben, wohnen in den bevölkerungsreichsten Ländern Nigeria, Ägypten und Äthiopien. In Afrika werden mehr als 2000 Sprachen gesprochen und es gibt 3000 verschiedene Bevölkerungsgruppen (www.Bpb.de).
Laut Einwohnerdatei der Stadt Oldenburg (2007) waren „Drittstaater“ des afrikanischen Kontinents in der Stadt Oldenburg im Jahr 2006 am häufigsten aus Kamerun (72 Personen), Somalia (66), Marokko (60), Angola (39) und Ghana (44) anzutreffen. In der Frauenklinik im Evangelischen Krankenhaus erschienen im Zeitraum 2004 - 2007 49 Frauen des afrikanischen Kontinents zur Geburt. In erster Linie nachweisbar waren die Herkunftsländer Cote d’Ivoire (Elfenbeinküste) / Ghana / Nigeria (Westafrika) und Kamerun (Zentralafrika). Insofern befasst sich diese Arbeit mit Frauen der zuletzt erwähnten vier Länder. Auf die Besonderheiten in der Versorgung somalischer Frauen wird am Rande eingegangen.
Beim statistischen Bundesamt wird die Einteilung zur Herkunft der Mutter anders als in den Perinataldaten vollzogen.[1] Hier erfolgt die Einteilung über die Bestimmung „Herkunftsland“ und ermittelt nur Frauen der ersten Migrantinnengeneration, also alle Frauen, die außerhalb Deutschlands geboren wurden. Durch die Herkunftsdefinition der Ärztekammer entfallen Frauen, die hier geboren sind, deren Familien zuvor aber nach Deutschland zugewandert sind; die so genannte zweite Generation, die mitunter noch immer Integrationsprobleme haben könnte.
Über die Perinataldaten der Ärztekammer Niedersachsen (www.zq- aekn.de) werden schwangere Frauen in sieben Herkunftskategorien eingeteilt:
- Deutschland
- Mittel- und Nordeuropa, Nordamerika (Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Großbritannien)
- Mittelmeerländer (ehemaliges Jugoslawien, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Israel, Malta, Zypern)
- Osteuropa (Russische Föderation, Polen, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Ungarn )
- Mittlerer Osten und Nordafrika (Türkei, Afghanistan, Pakistan und die arabischen Länder )
- Asien
- „sonstige“ Staaten
Die Verschlüsselung in diese Kategorien kann als missverständlich angesehen werden und impliziert Fehler in der Dateneingabe, da nur medizinisches Personal mit sehr guten geographischen Kenntnissen eine richtige Zuordnung vornehmen kann. Zusätzlich stellt sich die Frage, wie über die Kategorie Asien die Abgrenzung der Russischen Föderation und asiatischer Staaten stattfindet, und warum unter „sonstige“ der afrikanische Kontinent ohne Nordafrika fällt und wie die Länder Lateinamerikas, Australiens und Ozeaniens erfasst werden bzw. an welchen Stellen diese eingeordnet werden sollen. Daneben kann die Verschlüsselung aller nicht aufgeführten Staaten in „sonstige Staaten“ als unlogisch, moralisch fragwürdig, unethnisch oder rassistisch gewertet werden. Niemand dürfte sich freiwillig zur Gruppe der „sonstige Staaten“ zählen. Unter dem Aspekt der Integration von Migrantinnen ist hier dringender Handlungsbedarf angezeigt.
Aus datenanalytischer Public-Health-Sicht erscheint eine Einteilung in Geburtsland (Internationales Kennzeichen), Geburtsland der Eltern, Muttersprache^) und Deutschkenntnisse sowie Aufenthaltstitel der Patientin sinnvoller (Schenk et al., 2006).
In den Perinataldaten gibt es die Entbindungsmodi Normalgeburt, Risikogeburt, vaginale Operation bzw. geburtshilfliche Operationen sowie Sectiones (Kaiserschnitt). Die Sectiones werden in primäre Sectio, sekundäre Sectio und Resectio unterteilt.
Kaiserschnitt (Schnittentbindung, Sectio caesarea):
Das Verfahren gehört zu den ältesten chirurgischen Eingriffen. Die Bezeichnung wurde auf Caesar zurückgeführt, der angeblich durch Schnittentbindung auf die Welt kam. Möglicherweise ist der Begriff jedoch eine Ableitung des Lateinischen Wortes „caedere“ = „schneiden“. Nach Stauber und Weyerstahl (2005) ist die Sectio caesarea (umgangssprachlich: Kaiserschnitt) die Geburt durch die operative Eröffnung der Bauchhöhle und der Gebärmutterhöhle.
Eine Sectio, die vor oder mit den Eröffnungswehen durchgeführt wird, wird als primäre Sectio definiert. Der Eingriff wird mit der Patientin im Vorfeld besprochen und geplant. Wird die Operation nach Beginn der Eröffnungswehen durchgeführt, wird von sekundärer Sectio gesprochen. Eine sekundäre Sectio kann als Notsectio erfolgen. Das bedeutet, dass zwischen der Entscheidung zum Kaiserschnitt und der Geburt des Kindes weniger als 10 Minuten liegen. Eine Geburt in weniger als 20 Minuten ist häufig noch tolerabel, da nicht immer sofort ein Operationsteam zur Verfügung steht. Ein Notkaiserschnitt erfolgt in Intubationsnarkose (Vollnarkose). Bei keiner der 461 untersuchten sekundären Sectiones innerhalb der Auswertung im Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg handelte es sich um eine Notsectio.
Der Vollständigkeit halber sei auf die Wunschsectio hingewiesen. In jüngerer Zeit wird in den Medien häufiger der Mythos[2] des „Wunschkaiserschnittes“[3] verbreitet. Als ein Grund für den Eingriff wird angegeben, dass Frauen sich einen Kaiserschnitt wünschen, da dies als „schmerzfreie“ Geburt angesehen wird. Dabei sollte bedacht werden, dass die Eröffnung des Bauchraumes mittels Skalpell unter Narkose zwar schmerzfrei ist, nicht jedoch die Zeit der Rekonvaleszenz. Als anderer Grund für einen Kaiserschnitt wird von medizinischer Seite gerne erwähnt, dass der Eingriff den Beckenboden schont und vermutlich einer Inkontinenz vorbeugt. Diese Behauptungen sind noch nicht hinlänglich bewiesen.
Durch die vorhergehende Beschreibung wird deutlich, dass eine sekundäre Sectio kaum der Wunsch der Frau sein dürfte, da der Kaiserschnitt nach Eintritt der Wehen stattfindet. Die Frau ist in Erwartung einer spontanen Geburt in einer geburtshilflichen Einrichtung erschienen.
Indikation zur sekundären Sectio in Niedersachsen Laut Geburtshilfebericht der Ärztekammer Niedersachsen aus dem Jahr 2006 (www.zq-aekn.de) führten folgende Indikationen zur sekundären Sectio:
- Protrahierte Geburt (Geburtsstillstand) in der Eröffnungsphase
- Protrahierte Geburt in der Austreibungsphase
- Relatives Missverhältnis
- Pathologisches CTG
- Zustand nach Sectio oder Uterus Operation
12,5 % aller Einlingsgeburten im Jahr 2006 wurden durch eine sekundäre Sectio beendet. In 20,4 % der Fälle führte eine protrahierte Geburt in der Eröffnungsphase zur Schnittentbindung. In 17,9 % der Fälle lag ein relatives Missverhältnis vor. Ein pathologisches CTG führte in 44,1 % und Zustand nach Sectio / Uterus Operationen in 10,7 % zur sekundären Sectio.
Andere Einflussfaktoren
Neben den medizinischen Gründen, die zu einer sekundären Sectio führen, dürften psychosoziale und sozioökonomische Gründe, die emotionale Grundhaltung und Einstellung der werdenden Mutter, ihre Motivation und psychohormonelle Wechselwirkungen einen weiteren großen Einfluss haben (Krause, 2000). Bei Frauen mit Migrationshintergrund ist denkbar, dass die Integrationsbewältigung durch eine schlechte soziale Lage und die doppelte Rolle in Bezug auf die Existenz in der eigenen Familie und in der neuen Gesellschaft hohe Belastungen mit sich bringt. Mitunter kommt noch ein schwieriger Migrationshintergrund hinzu (Heirat, Vergewaltigung, ungewollte Schwangerschaft, Frauenhandel etc.). Dadurch werden Migrantinnen einem großen Belastungsdruck und Stress ausgesetzt, was psychosomatische Erkrankungen verursachen kann. Migrantinnen sind im Moment des Übergangs, wie dem der Schwangerschaft, häufig in doppelter Hinsicht verunsichert. Sie sind von der gewohnten Unterstützung anderer Frauen aus ihrem Ursprungsland - die ihnen eine außermedizinische Betreuung und einen seelischen Halt geben können - abgeschnitten. Sie sind einem medizinischen System ausgesetzt, das nach einer Logik funktioniert, die ihnen oftmals fremd ist. Die Ultraschalluntersuchung kann von Frauen, die nicht an derartige Praktiken in der Schwangerschaft gewöhnt sind, wie ein Übergriff erlebt werden (Mackovic-Stegemann, 2005).
Erfmann (2005) beschäftigte sich mit Traumata nach sexualisierter Gewalt. Folgen dieser Erfahrung im Leben von betroffenen Frauen können sein:
- Sprachlosigkeit, Rückzug, Schmerzunempfindlichkeit
- Furcht vor Verlust der Kontrolle oder Schmerzen unter der Geburt
- Anspannungen und Angst vor Berührungen, Untersuchungen, Eingriffen (vaginale Untersuchungen, legen einer Braunüle)
- Angst, wehrlos zu sein, zum Beispiel vor (männlichen) Geburtshelfern, Gebärposition, Schmerz, Nacktheit
- Geburtsstillstand
Nicht medizinische Indikationen zur Sectio caesarea
Als weitere Faktoren, für die Entscheidung zum sekundären Kaiserschnitt werden die Ungeduld des geburtshilflichen Teams (Krause, 2000), persönliche und vermutlich emotionale Gründe wegen Geburtsstillstand, gerichtliche, organisatorische, wirtschaftliche, persönliche und emotionale Risiken (Seelbach-Göbel/Wulf, 1998) angegeben.
Gerade in der Betreuung von Frauen mit Migrationshintergrund sollten die oben genannten Punkte einen hohen Stellenwert in der Anamnese einnehmen. Es ist vorstellbar, dass die Erfassung und Behandlung dieser Einflussfaktoren einen präventiven Ansatz zur Reduzierung der sekundären Sectiones darstellen könnten.
Anhand der Perinataldaten der Jahre 2004 - 2007 des evangelischen Krankenhauses in Oldenburg erfolgte zunächst eine Entschlüsselung der Daten. Im Haus gibt es keine Kinderklinik, so dass im Kreißsaal keine Geburten mit hohen Risiken (z.B. Frühgeburten) betreut werden[4]. Alle Zwillingsgeburten wurden aus der Analyse herausgenommen. Im folgenden Schritt der Analyse wurden die Daten nach Herkunftsgruppen eingeteilt und innerhalb dieser Gruppen prozentualen Berechnungen[5] sowie Mittelwertberechnungen vorgenommen. Danach erfolgte der Gruppenvergleich nach Herkunft. In dieser Arbeit werden die sozioökonomischen Daten, Vorsorgedaten aus dem Mutterpass, die Muttermundsweite bei Aufnah- me[6], der Entbindungsmodus und die Sectiones analysiert. Diese wurden in primäre (OPS 5-740.0; 5-741.0; 5-749.10) und sekundäre Sectiones (OPS 5-740.1; 5-741.1; 5-749.11) sowie Resectiones (OPS 5-749.0) eingeteilt. Da nicht in allen Gruppen Resectiones vorgenommen wurden, sind diese nicht mehr aufgeführt. Über den Vergleich dieser Daten wurde nach Abweichungen gesucht.
Zur Analyse und Feststellung der Nationalitäten der Gruppe der „sonstigen Staaten“ wurde im nächsten Schritt eine Akteneinsicht vorgenommen, die in Kapitel 5 behandelt wird. In der Zeit September 2007 - Dezember 2007 wurden zur Ermittlung des Migrationshintergrundes von Frauen mit der Herkunftszuordnung „sonstige Staaten“, die im Evangelischen Krankenhaus zur Geburt erschienen zudem Interviews geführt. Darüber hinaus wurden zwei westafrikanische Frauen und eine Hebamme in Oldenburg zur Schwangerenversorgung befragt. Diese Ergebnisse werden im Kapitel 6 näher erläutert.
Die Ergebnisse aller Herkunftsländer können in den Tabellen „Migrationshintergrund und den Risiken während der Schwangerschaft“ im Anhang III (S. 58) und den „Vorsorgeuntersuchungen und Muttermundsweite“ im Anhang V (S. 60) gesichtet werden.
Die wichtigsten ermittelten Auffälligkeiten im Vergleich deutscher Mütter mit dem Vergleich der Mütter anderer Herkunft zeigte sich in der Gruppe der „sonstige Staaten“ in den Bereichen:
- Alleinstehende Mütter (18,37 % gegenüber 4,33 % der deutschen Mütter)
- Berufstätigkeit während der jetzigen Schwangerschaft (10,20 % gegenüber 60,47 % der deutschen Mütter)
- Risikoschwangerschaft (55,1 % gegenüber 42,08 % der deutschen Risikoschwangerschaften) bzw. Schwangerschaftsrisiken (85,7 % gegenüber 81,2 % Schwangerschaftsrisiken bei den deutschen Müttern)
- Zeitpunkt der Erstuntersuchung (Mittelwert der Schwangerschaftswoche der Erstuntersuchung = 19,52 SSW gegenüber 9,29 SSW der deutschen Mütter) und damit zusammenhängend:
- Anzahl der Vorsorgeuntersuchungen (8,25 gegenüber 11,66 der deutschen Mütter)
- Schwangerschaftswoche der ersten Ultraschalluntersuchung (20,7 SSW gegenüber 10,9 SSW der deutschen Mütter)
- Muttermundsweite bei Aufnahme (1,67 cm gegenüber 2,77 cm bei den deutschen Müttern)
- Quote der Normalgeburten (32,5 % versus 50,8 % der deutschen Normalgeburten), Risikogeburten (22,5 % gegenüber 17,9 % Risikogeburten bei den deutschen Frauen) und Sectiones (36,7 % versus 25,2 % Sectiones bei den deutschen Müttern).
Die Gesamtanzahl der Ultraschalluntersuchungen mit einem Mittelwert von 3,6 gegenüber dem Mittelwert der deutschen Frauen von 4,6 Untersuchungen bleibt ein wenig ausgeklammert, da im Grunde zu befürworten ist, dass weniger Sonographien stattfinden als derzeit in Deutschland durchgeführt werden.
Im nachfolgenden Teil dieses Kapitels werden von den obigen Ergebnissen die Verteilung der Frauen mit Migrationshintergrund, die Entbindungsmodi und die Verteilung der Sectiones im Vergleich vorgestellt.
Frauen mit Migrationshintergrund
Die größte Migrantinnengruppe der „nicht deutschen Mütter“ kommt mit einem Anteil von 32,4 % aus Osteuropa, dicht gefolgt von Müttern aus dem mittleren Osten und Nordafrika mit gut 30,1 %. Aus dem Mittelmeerraum kommen knapp 16 % der Migrantinnen. 8,6 % der Migrantinnen sind in der Gruppe der „sonstigen Staaten“ zu finden. Die Asiatinnen stellen annähernd 7,7 % der Migrantinnen dar. Die kleinste Migrantinnengruppe bilden die Frauen der Regionen Mitteleuropa, Nordeuropa und Amerika mit 5,3 %. Die Gruppe der „sonstige Staaten“ stellt eine eher kleine Migrantinnengruppe dar (n=49). Angemerkt werden muss, dass sich Migrantinnen des afrikanischen Kontinents darüber hinaus in der zweitgrößten Gruppe der Migrantinnen des Mittleren Ostens und Nordafrika[7] aufhalten könnten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Verteilung der Entbindungsmodi
Die Gruppe der „sonstige Staaten“ tritt mit dem niedrigsten Anteil der Normalgeburten (32,65 %) und dem höchsten Anteil der Risikogeburten mit 22,45 % hervor. Mit einem Anteil von 9,1 % werden die Asiatinnen im Vergleich mit den anderen Gruppen am häufigsten per vaginaler Operation entbunden. Die meisten Kaiserschnitte werden in der Gruppe der Mittel- und Nordeuropäerinnen und Nordamerikanerinnen mit 40 % - dicht gefolgt von den „sonstige Staaten“ - vorgenommen. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die Quote der Sectiones in der Gruppe der „sonstige Staaten“ mit 36,73 % den häufigsten Entbindungsmodus innerhalb der „sonstige Staaten“ Staaten darstellt, welches in keiner anderen Gruppe der Fall ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Verteilung der Sectiones
In Abbildung 2 ist erkennbar, dass innerhalb des Gruppenvergleichs die Gruppe der „sonstige Staaten“ sowohl bei den primären (14,3 % versus 11,4 % der deutschen Frauen) als auch bei den sekundären Sectiones (neben der Gruppe Mittel- und Nordeuropa, Nordamerika) mit einer Quote von 22,45 % gegenüber den deutschen Frauen mit einer Quote von 12,43 % signifikant ist. Die sekundäre Sectioquote der „sonstige Staaten“ Frauen liegt gegenüber der der deutschen Frauen um 10 % Punkte höher. Deshalb wurde an dieser Stelle der Entschluss zur Analyse der sekundären Sectiones getroffen, obwohl nicht nur die Betrachtung der sekundären Sectiones sondern auch die der primären Sectiones möglich gewesen wären.
Im kommenden Kapitel werden die sekundären Sectiones in der Gruppe der „sonstige Staaten“ genauer analysiert.
Um feststellen zu können, warum innerhalb der Analyseeinheit der sekundären Sectiones eine Erhöhung in der Gruppe der „sonstige Staaten“ vorlag, wurde nach potenziellen Abweichungen im Vergleich mit den anderen Gruppen gesucht. Bezogen auf die Erstauswertung ergab sich ein noch inhaltsreicheres Bild.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Anteil allein stehende Frauen bei allen Geburten im Vergleich zu allein stehenden Frauen, die eine sekundäre Sectio erhielten
Bereits in der ersten Auswertung fiel im besonderen Maße auf, dass Frauen, die der Gruppe „sonstige“ zugeteilt waren, überdurchschnittlich häufig angaben, allein stehend zu sein. Im Vergleich mit den sekundären Sectiones liegt der Wert 9 % höher. Während 18,3 % aller Frauen der „sonstigen“ angaben ohne festen Partner zu sein, waren es im Vergleich zu den Frauen mit sekundären Sectiones 27,3 %. Die betreuenden Hebammen des Hauses gaben an, das Frauen aus afrikanischen Ländern und Asylbewerberinnen häufig allein zur Geburt erscheinen. Manchmal werden sie von anderen Frauen, die sie begleiten, im Kreißsaal unterstützt. Im Vergleich mit den deutschen Frauen, die in die Gesellschaft integriert sind, scheinen allein stehende Frauen der Gruppen Mittelmeerländer, Osteuropa, Asien und Afrika einen höheren Risikofaktor für eine sekundäre Sectio zu haben.
[...]
[1] Bei den Personen mit Migrationshintergrund handelt es sich um solche, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil (Statistisches Bundesamt, 2007:33)
[2] Stars, die die Geburt des Kindes durch Kaiserschnitt zwischen zwei Fussballländerspiele des Ehemannes legen oder nationale Kampagnen wie „Save your Love-Channel, have a Caesarean“ unterstützen diesen Mythos erheblich.
[3] Weitere Informationen zu diesem Thema: Hellmers, C. Schücking, B. (2007). Ceasarean Section on Request in Germany: Who prefers it?. Journal of Perinatal Medicine, 35 (Supplement II), S. 173 Lutz, U. / Kolip, P. (2006). Die GEK-Kaiserschnittstudie. Bremen / Schwäbisch Gmünd. Schach, C. (2007). Kaiserschnitt auf Wunsch - Positionierung niedergelassener FrauenärztInnen in der Entscheidungsfindung im Land Bremen, Bremen
[4] Im internationalen Vergleich wird von „low-risk“ Einheit gesprochen
[5] d.h. beispielsweise: Innerhalb der Gruppe der Asiatinnen (100%) gibt es 54,55 % Normalgeburten, 18,18 % Risikogeburten, 9,09 % vaginale Operationen und 18,18 % Kaiserschnitte.
[6] Die Klärung, weshalb die Muttermundsweite bei Aufnahme in die Untersuchungsergebnisse einbezogen wurde, erfolgt im Abschnitt 4.2. dieser Arbeit.
[7] Dazu zählen: Ägypten, Algerien, Kanarische Inseln, Libyen, Madeira, Marokko, Mauretanien, Sudan, Tunesien, Westsahara