Bachelorarbeit, 2020
46 Seiten, Note: 1,7
Jura - Zivilrecht / Handelsrecht, Gesellschaftsrecht, Kartellrecht, Wirtschaftsrecht
A. Einleitung
B. Der EuGH, das BVerfG und der sogenannte „Anwendungsvorrang“
I. Überblick über die beiden Gerichte
1. Das Bundesverfassungsgericht
a) Organisation
b) Funktion
2. Der Europäische Gerichtshof
a) Organisation
b) Funktion
II. Das Konzept des „Anwendungsvorrangs“
1. Allgemeindefinition
2. Im Kontext der europäischen Jurisdiktion
C. Die historisch entwickelten Interpretationen des Anwendungsvorrangs durch EuGH und BVerfG
I. Die Entwicklung des Anwendungsvorrangs durch den EuGH
1. Costa/E.N.E.L. - 15.07.1964
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
2. Internationale Handelsgesellschaft - 17.12.1970
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
3. Zuständigkeit zur Entscheidung über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten - 22.10.1987
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
4. Ministero delle Finanze/IN.CO.GE.’90 - 22.10.1998
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
5. M.AS und M.B. - 05.12.2017
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
6. Zusammenfassung der Position des EuGHs
II. Die Interpretation des Anwendungsvorrangs durch das BVerfG
1. Solange II - 22.10.1986
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
2. Maastricht - Entscheidung - 12.10.1993
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
3. Lissabon - Entscheidung - 30.06.2009
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
4. Honeywell/Mangold -Entscheidung - 06.07.2010
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
5. EZB - Entscheidung - 05.05.2020
a) Sachverhalt
b) Relevante Argumentation
6. Zusammenfassung der Position des BVerfG
D. Darstellung der vom BVerfG entwickelten Grenzen unter Gegenüberstellung der jeweiligen Position
I. Zum Bestehen des Vorrangs
II. Zu den Grenzen des Anwendungsvorrangs
1. Grundrechtsschutz
2. Verfassungsidentität
3. Kompetenzüberschreitung („ultra-vires")
a) ultra-vires-Kontrolle als Kompetenz des BVerfG
b) Die Feststellung eines ultra-vires-Aktes durch das BVerfG
E. Fazit zum Anwendungsvorrangs
Literaturverzeichnis
Rechtsprechungsverzeichnis
Es ist der 5. Mai 2020. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe verkündet ein historisches Urteil. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union, stellt das BVerfG fest, das eine Institution der Europäischen Union, außerhalb der ihr zugewiesenen Kompetenzen agierte und damit gegen deutsches Verfassungsrecht verstieß. Noch im selben Urteil erklärt das BVerfG eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für ebenfalls kompetenzüberschreitend und urteilt erstmals explizit entgegen dessen Vorabentscheidung.
Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit befasst sich mit dem Konflikt rund um den „Anwendungsvorrang“ des europäischen Rechts. Ziel ist die Erarbeitung der offensichtlich unterschiedlichen Ansichten von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof, sowie die Darstellung der Grenzen des „Anwendungsvorrangs“. Dazu soll folgende Forschungsfrage adäquat beantwortet werden:
Wodurch wird der „Anwendungsvorrang“ des europäischen Rechts in der Bundesrepublik Deutschland begrenzt?
Um die aufgeworfene Frage zu beantworten, erfolgt im Kapitel B. zunächst eine grobe Einordnung der hier verwendeten Termini. Dabei wird zunächst ein Überblick über das BVerfG und über den EuGH gegeben, um im Anschluss den „Anwendungsvorrang“ im europarechtlichen Kontext zu erläutern. In Kapitel C. erfolgt die Darstellung der zwei entwickelten Positionen zum „Anwendungsvorrang“. Als theoretisches Fundament werden dafür eine Auswahl an, für das Thema relevanten, Urteilen der beiden Gerichte verwendet. Diese werden im Hinblick auf ihre Relevanz für die Entwicklung und Interpretation des „Anwendungsvorrangs“ hin untersucht.
Im darauffolgenden Kapitel D. werden die zuvor herausgearbeiteten Interpretationen gegenübergestellt, um die vom BVerfG entwickelten Grenzen des „Anwendungsvorrangs“ darzustellen. Dabei soll es zunächst um die Frage nach dem Bestehen des „Anwendungsvorrangs“ als solchen gehen, um im Anschluss die drei Kontrollvorbehalte seitens des BVerfG diesem gegenüber, kritisch betrachten. Dazu werden zum einen die zuvor dargelegten Argumente der beiden Gerichte aus entscheidenden Beschlüssen verwendet und zum anderen diverse Meinungen und Einschätzungen verschiedener Fachleute.
Im letzten Kapitel dieser Arbeit werden die Ergebnisse aus den vorhergehenden Kapiteln zusammengefasst. Die Arbeit endet somit mit einem Fazit zu der Eingangsfrage im Kapitel E.
Zur Einordnung des Themas dieser wissenschaftlichen Arbeit erfolgt zunächst eine kurze Übersicht über die beiden Gerichte. Dabei wird die Organisation des jeweiligen Gerichts kurz erläutert und ihre Funktion innerhalb der Rechtsordnung grob dargestellt.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ist Gericht und Verfassungsorgan zugleich. Es untersteht im Gegenzug zu anderen Fachgerichten keiner Dienstaufsicht durch ein Ministerium. Das Gericht besteht aus zwei Senaten in welchem jeweils acht Richterinnen1 tätig sind. Die Senate haben jeweils unterschiedliche Zuständigkeiten, welche im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt sind.2
Die Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts werden jeweils zur Hälfte durch den Bundestag und den Bundesrat gewählt. Mindestens drei der Mitglieder eines Senats müssen dabei aus einem der obersten Bundesgerichte stammen. Es gilt darüber hinaus ein Mindestalter von 40 Jahren. Die Vorsitzende des Gerichts ist die Präsidentin, welche abwechselnd vom Bundestag und Bundesrat gewählt wird. Die Amtszeit einer jeden Richterin ist auf zwölf Jahre festgelegt. Eine Wiederwahl ist nicht möglich.3
Die essenzielle Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist die Überwachung der Einhaltung des Grundgesetzes. Seine Entscheidungen sind durch kein anderes Gericht nationales anfechtbar. Alle übrigen Staatsorgane sind somit an dessen Urteile gebunden. Mit seiner Rechtsprechung bestimmt das Bundesverfassungsgericht den verfassungsrechtlichen Rahmen, innerhalb dessen Politik sich entfalten kann.4
Wichtigste Verfahrensart am Bundesverfassungsgericht ist die Verfassungsbeschwerde. Durch diese kann sich jede natürliche und juristische Person an das Bundesverfassungsgericht wenden, wenn Sie den Verdacht hat durch eine deutsche öffentliche Gewalt in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt worden zu sein. Im Falle einer erfolgreichen Beschwerde kann das Bundesverfassungsgericht etwaige verfassungswidrige Entscheidungen aufheben und die Sache an das zuständige Gericht zur erneuten Entscheidung zurückverweisen oder ein Gesetz für nichtig erklären.5
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ist das Rechtsprechungsorgan der Europäischen Union. Er ist geteilt in den Gerichtshof und das Gericht. Während der Gerichtshof sich mit Anträgen auf Vorabentscheidungen nationaler Gerichte befasst, fällt das Gericht Urteile über vorgebrachte Nichtigkeitsklagen. Der Gerichtshof besteht dabei aus 27 Richterinnen und 11 Generalan- wältinnen.6 Das Gericht aus zwei Richterinnen je Mitgliedstaat. Alle Richterinnen und Generalanwältinnen werden auf sechs Jahre Amtszeit, mit der Möglichkeit auf Wiederwahl ernannt.7 Sowohl im Gerichtshof als auch im Gericht, wählen die Richterinnen eine Präsidentin auf drei Jahre Amtszeit, welche auch wiedergewählt werden kann.8
Die zentrale Funktion des Europäischen Gerichtshofs ist die Auslegung des EU-Rechts. So soll gewährleistet werden, dass das europäische Recht in allen EU-Ländern auf die gleiche Weise angewendet wird. Der Gerichtshof befasst sich hauptsächlich mit Anträgen auf Vorabentscheidungen nationaler Gerichte, während das Gericht hauptsächlich Urteile über Nichtigkeitsklagen von Einzelpersonen, Unternehmen und EU-Verwaltungen fällt.
Die häufigsten Rechtssachen des Europäischen Gerichtshof sind zum einen die Auslegung des Rechts durch Vorabentscheidungen, die Durchsetzung des Rechts durch Vertragsverletzungsverfahren gegen einzelne Mitgliedstaaten und Urteile aus Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen. Diese können unter bestimmten Voraussetzungen von Einzelpersonen vorgelegt werden, wenn diese sich durch Handlungen oder Unterlassungen der Europäischen Union geschädigt sehen oder einen Verstoß gegen EU-Verträge und Grundrechte durch einen EU-Rechtsakt monieren.9
Um die aufgeworfene Frage nach den Grenzen des „Anwendungsvorrangs“ adäquat beantworten zu können, ist zunächst eine Definition des hier verwendeten Begriffs des „Anwendungsvorrangs“ erforderlich, gefolgt von einer Einordnung in den Kontext des Europarechts.
Essenziell ist der „Anwendungsvorrang“, wann immer Vorschriften unterschiedlicher Rechtsebenen denselben Sachverhalt bzw. Umstand regeln. Denn in solchen Fällen entsteht ein Konflikt zwischen den konkurrierenden gesetzlichen Regelungen. Genießt eine der (meistens) zwei Rechtsebenen einen Anwendungsvorrang, so ist die entgegenstehende Regelung einer anderen Rechtsebene nicht auf diesen konkreten Kollisionsfall anzuwenden. Dabei ist der Anwendungsvorrang von Fall zu Fall neu zu überprüfen, ob im jeweiligen Kollisionsfall ein vorrangig anzuwendendes Recht besteht, welches das andere Recht unanwendbar macht.10
Soweit die allgemeine Definition des Anwendungsvorrangs erläutert ist, ist ein Blick auf die Stellung des Anwendungsvorrangs im Rahmen der Anwendung von europäischem Recht (hier auch als „Gemeinschaftsrecht“ oder „Unionsrecht“ bezeichnet, nach dem jeweiligem Stand der europäischen Integration) zu werfen. In der Fachliteratur scheint es einen Konsens über den Anwendungsvorrang des europäischen Rechts gegenüber mitgliedstaatlichem Recht zu geben. Begründet wird dieser unter anderem mit dem Verweis auf die ständige Rechtsprechung des EuGHs.11 So gelte der Vorrang europäischen Rechts in Bezug auf sämtliche innerstaatliche Bestimmungen, einschließlich des nationalen Verfassungsrechts, absolut.12
Wie absolut der Anwendungsvorrang tatsächlich ist, und welche möglichen Einschränkungen im Kollisionsfall mit dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland bestehen, soll in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit dargelegt werden.
Der EuGH hat im Laufe seiner Rechtsprechung mehrere Male seine Position zum Anwendungsvorrang des europäischen Rechts dargelegt. Im Folgenden werden einzelne Urteile von besonderer Wichtigkeit im Hinblick auf ihre Bedeutung für den formulierten Anwendungsvorrang untersucht. Ziel ist die Darstellung der historischen Herleitung des Anwendungsvorrangs aus Sicht des EuGHs. Die spezifischen Auslegungen der an den EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten Gesetzesnormen, werden im Rahmen dieser Arbeit nicht detailliert dargestellt oder analysiert. Vielmehr wird auf die Argumentation des EuGHs im Hinblick auf den Anwendungsvorrang eingegangen und diese für die allgemeine Auslegung abstrahiert.
Das Urteil des EuGHs vom 15.07.1964 kann durchaus als Grundsatzurteil bezeichnet werden. In diesem Urteil formulierte der EuGH zum ersten Mal einen Anwendungsvorrang des europäischen Rechts gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten.13
Dem Sachverhalt zugrunde lag ein Rechtsstreit um eine Stromrechnung zwischen einem Rechtsanwalt und der von der italienischen Republik gegründeten juristischen Person E.N.E.L. Die Republik Italien hatte die Erzeugung und Verteilung von elektrischem Strom per Gesetz verstaatlicht und Betriebsanlagen der privaten Elektrizitätsunternehmen an die E.N.E.L. übereignet. Der Rechtsanwalt beantragte im Rahmen des nationalen Rechtsstreits eine Auslegung von vier Artikeln des EWG-Vertrags durch den EuGH. Er rügte, dass das durch die Republik Italien erlassene Gesetz gegen von ihm vorgelegten Artikel des EWG-Vertrags verstoßen würde.14
Überaus relevant ist hier in erster Linie die Argumentation des EuGHs gegenüber der Einwendung der Republik Italien, das Ersuchen des italienischen Gerichts um Vorabentscheidung sei nicht zulässig. Es habe schließlich innerstaatliches Recht anzuwenden.15 So argumentierte der EuGH in seiner Urteilsbegründung, das durch den EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung entstanden sei, welche in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen wurde und demnach auch von nationalen Gerichten anzuwenden sei. So beschränkten die Mitgliedstaaten auf begrenztem Gebiet ihre Souveränität und schafften dadurch einen Rechtskörper, der damit verbindlich für sie wurde.16 Es sei den Mitgliedstaaten von daher unmöglich gegen die, auf Grundlage der Gegenseitigkeit angenommenen Rechtsordnung, eine nachträgliche einseitige Maßnahme durchzuführen. Etwaige Maßnahmen würden dem Gemeinschaftsrecht in seiner Anwendbarkeit nicht entgegenstehen. Eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sei für das Erreichen der Ziele des Gemeinschaftsvertrags essenziell.17 Die von der Gemeinschaft der Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen wären nicht unabdingbar, bestehe die Möglichkeit sie mithilfe späterer Gesetzgebungsakte in Frage stellen zu können.18
Dem Gemeinschaftsrecht könnten keine innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wie auch immer sie geartet seien, ohne die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft damit selbst in Frage zu stellen.19
In diesem Urteil, welches sechs Jahre nach dem richtungsweisenden Costa/E.N.E.L. Urteil erfolgte, stellte der EuGH klar, dass der von ihm formulierte Anwendungsvorrang auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht zu gelten habe. Es kann somit als konsequente Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung bezeichnet werden.20
Der EuGH antwortete in diesem Fall auf einen Vorlegungsbeschluss des VG Frankfurt, welches an der Rechtmäßigkeit einer Kautionsregelung im Bereich der Ein- und Ausfuhr von bestimmten Agrarwaren zweifelte. Seiner Meinung nach verstieße die europäische Verordnung gegen bestimmte Strukturprin- zipen des nationalen Verfassungsrechts und habe somit hinter den Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes zurückzutreten.21
Ähnlich wie in seinem Urteil in der Sache Costa/E.N.E.L. argumentierte der EuGH auch hier das dem Gemeinschaftsrecht keinerlei nationale Regelungen vorgehen könnten. Die Beurteilung einer Handlung der Gemeinschaftsorgane
nach nationalem Recht widerspreche der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts und könne deshalb auch nur nach Gemeinschaftsrecht beurteilt werden. Neu ist die Klarstellung, dass die Gültigkeit oder Geltung einer Gemeinschaftshandlung nicht durch nationale Verfassungsrechte oder Strukturprinzipien nationaler Verfassungen berührt werden könne. Einschränkungen dieses absoluten Anwendungsvorrangs wurden durch den EuGH auch diesmal nicht festgestellt.22
Im Rahmen dieses Urteils artikulierte der EuGH, das nationale Gerichte nicht befugt seien, die Ungültigkeit von Handlungen von Gemeinschaftsorganen festzustellen.
Der zugrunde liegende Rechtsstreit betraf hier stark verkürzt die Nacherhebung von Eingangs- und Ausfuhrabgaben, welche gemäß einer Kommissionsentscheidung zu leisten waren. Die Klägerin beantragte bei dem zuständigen FG Frankfurt die Aussetzung dieser Nacherhebung. Das nationale Gericht sah einen Widerspruch in der vorangegangen Kommissionsentscheidung und den Voraussetzungen für die Nacherhebung innerhalb der Ratsverordnung, so- dass es eine Vorabentscheidung des EuGHs anforderte, um herauszufinden, ob es selbst die Ungültigkeit einer Handlung eines Gemeinschaftsorgans feststellen dürfe.23
Der EuGH stellte zunächst fest, dass es nationalen Gerichten möglich ist Handlungen der Gemeinschaftsorgane zu prüfen. Allerdings könne es nur die Gültigkeit der Gemeinschaftsordnung feststellen, nicht aber deren Ungültigkeit. Wie bereits mehrere Male vorgebracht, besteht der EuGH auf einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Diese sei gefährdet, wenn nationale Gerichte die Ungültigkeit von Gemeinschaftsorganen einseitig erklären könnten. Es würde zum einen die Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst gefährden als auch die Rechtssicherheit innerhalb der Gemeinschaft beeinträchtigen. Der Gerichtshof fungiere nämlich als letzte Instanz, welche mit den Instrumenten des Vorabentscheidungsverfahrens und der Nichtigkeitsklage, die Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen überprüfen und diese auch gegebenenfalls für ungültig erklären könne. Dies stelle ein umfassendes Rechtsschutzsystem dar. Da die Nichtigerklärung einer Handlung eines Gemeinschaftsorgans in die alleinige Zuständigkeit des EuGHs falle, sei die Befugnis zur Feststellung der Ungültigkeit ebenfalls allein dem Gerichtshof vorbehalten. Als stützendes Argument führte der EuGH an, dass er auch die am besten geeignete Instanz ist, um über die Gültigkeit einer Handlung von Gemeinschaftsorganen zu befinden. Diese könnten sich nämlich am Verfahren des EuGHs beteiligen und Ihre Sichtweise darlegen. Auch sei es dem EuGH gestattet von allen anderen nicht beteiligten Gemeinschaftsorganen Auskünfte zu verlangen, welche für die Klärung des Rechtsstreites erforderlich seien.
Eine Ausnahme von der Regel führte der EuGH allerdings noch in seiner Urteilsbegründung an. So sei es nationalen Gerichten, unter bestimmten Umständen im Falle eines der einstweiligen Anordnung, möglich die Ungültigkeit von Handlungen eines Gemeinschaftsorgans festzustellen. Erläutert wurden die dafür notwendigen Umstände allerdings nicht weiter.24
Der EuGH präzisierte in diesem Urteil das Verhältnis zwischen konkurrierenden europäischen und nationalen Gesetzesnormen. Sahen viele, insbesondere in Bezug auf das Simmenthal-Urteil25 einen Geltungsvorrang der europäischen Normen, sprach der EuGH im Rahmen des Urteils von 1998 nun deutlich von einem reinen Anwendungsvorrang.
Der Rechtsstreit zwischen dem italienischen Finanzministerium und dreizehn Gesellschaften mit beschränkter Haftung handelte vereinfacht gesagt um bestimmte Modalitäten der Erstattung von staatlichen Konzessionsabgaben für Eintragung von Gesellschaften im italienischen Unternehmensregister. Das mit dem Rechtsstreit befasste italienische Gericht, legte dem EuGH die Frage nach den Folgen der Unvereinbarkeit einer nationalen Abgabe mit dem europäischen Recht im innerstaatlichen Recht zur Vorabentscheidung vor.26
Erwähnenswert ist hier die Feststellung des EuGHs, dass eine Kollision zwischen europäischen und nationalen Normen nicht mit einem Geltungsvorrang der europäischen Norm zu lösen sei, welcher zu einer Inexistenz der nationalen Norm führen würde. Vielmehr betonte der EuGH in seiner Urteilsbegründung das das nationale Gericht im Falle von kollidierenden Normen die nationale Norm unangewendet zu lassen habe. Hiermit wurde durch den EuGH somit ausdrücklich auf einen Anwendungsvorrang der europäischen Normen verwiesen, welche die nationalen kollidierenden Normen als unanwendbar aber nicht als ungültig klassifiziere.27
Zuletzt ist, im Rahmen der Darstellung der Entwicklung des Anwendungsvorrangs durch den EuGH, noch ein neueres Urteil aus dem Jahre 2017 zu betrachten. In diesem Urteil gesteht der EuGH eine Ausnahme vom absoluten Anwendungsvorrang des europäischen Rechts zu.
In der vom italienischen Verfassungsgerichtshof an den EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten Rechtssache ging es um die Auslegung von Art.325 I, II AEUV. Grund war ein Strafverfahren gegen zwei Personen aufgrund von Mehrwertsteuerstraftaten.28 Der italienische Verfassungsgerichtshof sah im erwähnten Artikel eine mögliche Verletzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit, wonach eine Straftat nur bei gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit bestraft werden dürfe. Durch Anwendung des Art. 325 I, II AEUV könne die italienische Verjährungsfristenregelung in bestimmten Fällen unangewendet bleiben, was einen Verstoß gegen unveräußerliche Grundrechte der italienischen Verfassung darstellen würde. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit sei nämlich der oberste Grundsatz der italienischen Verfassungsordnung.29 30 31
Erwähnenswert sind hier zum einen die Vorbemerkungen des EuGHs. So stelle das Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV einen Dialog von Gericht zu Gericht dar. Und zwar zur Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung, Kohärenz, vollen Geltung und Autonomie des Unionsrechts. Es sei ein Instrument der Zusammenarbeiten der weiteren Urteilsbegründung finden sich ebenfalls relevante Argumentationsgänge des EuGHs die sich auch auf über den konkreten Rechtsstreit hinausgehende Fragestellungen anwenden lassen können. So sagte der EuGH das die Anwendung des Art. 325 AEUV in erster Linie Sache nationaler Gerichte sei. Nationalen Gerichten und Behörden stehe es frei nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden. Diese dürften jedoch nicht das Schutzniveau der europäischen Grundrechtscharta beeinträchtigender EuGH stellte weiterhin fest das in dem Fall das ein nationales Gericht feststellt, das durch die Nichtanwendung einer einschlägigen nationalen Vorschrift des Strafgesetzbuches dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nicht hinreichend Folge geleistet würde, es ihm ausnahmsweise gestattet sei der Verpflichtung zur Nichtanwendung der nationalen Norm nicht nachzukommen.32
Somit ist festzuhalten, dass der EuGH die Anwendung einer mit Unionsrecht konkurrierenden nationalen Norm gestattet, wenn ihre Nichtanwendung zu einer mangelnden Bestimmtheit der anwendbaren Rechtsnorm, einer rückwirkenden Anwendung von Rechtsvorschriften und damit einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen darstellt.33
[...]
1 In diesem Text wird ausschließlich die weibliche Form verwendet. Damit sind alle anderen Formen gleichermaßen mitgemeint.
2 https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Gericht-und-Verfassungsor- gan/gericht-und-verfassungsorgan node.html, 13.06.2020.
3 https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Organisation/organisa- tion node.html, 13.06.2020.
4 https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Aufgaben/aufgaben node.html, 13.06.2020.
5 https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Wichtige-Verfahrensarten/Verfas- sungsbeschwerde/verfassungsbeschwerde node.html, 14.06.2020.
6 https://curia.europa.eu/icms/icms/Jo2 7024/de/, 14.06.2020.
7 https://curia.europa.eu/icms/icms/Jo2 7033/de/, 14.06.2020.
8 https://europa.eu/european-union/about-eu/institutions-bodies/court-iustice de#zusammen- setzung, 14.06.2020.
9 https://europa.eu/european-union/about-eu/institutions-bodies/court-iustice de#zusammen- setzung, 14.06.2020.
10 Ambrock, in: Jandt/Steidle, Datenschutz im Internet, Rn. 52-54.
11 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, AEUV Art. 1 Rn. 16.
12 Wölker, EuR 2007 Heft 1,0032, Die Normenhierarchie im Unionsrecht in der Praxis S. 40 41; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, EUV Art. 4 Rn. 35, 37.
13 Bergmann, in: Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, Costa/ENEL-Urteil.
14 Urteil vom 15.07.1964, ECLI:EU:C:1964:66, BeckRS 1964, 105086, Rn. 1-2.
15 Urteil vom 15.07.1964, C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66, BeckRS 1964, 105086, Rn. 43.
16 Urteil vom 15.07.1964, C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66, BeckRS 1964, 105086, Rn. 44.
17 Urteil vom 15.07.1964, C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66, BeckRS 1964, 105086, Rn. 45.
18 Urteil vom 15.07.1964, C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66, BeckRS 1964, 105086, Rn. 46.
19 Urteil vom 15.07.1964, C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66, BeckRS 1964, 105086, Rn. 48.
20 Wölker, EuR 2007 Heft 1,0032, Die Normenhierarchie im Unionsrecht in der Praxis S. 39.
21 Urteil vom 17.12.1970, Rs-11/70, CLI:EU:C:1970:114, BeckRS 2004, 71230.
22 Urteil vom 17.12.1970, Rs-11/70, CLI:EU:C:1970:114, BeckRS 2004, 71230.
23 Urteil vom 22.10.1987, Rs-314/85, ECLI:EU:C:1987:452, NJW 1988, 1451.
24 Urteil vom 22.10.1987, Rs-314/85, ECLI:EU:C:1987:452, NJW 1988, 1451.
25 Urteil vom 09.03.1987, Rs-106/77, ECLI:EU:C:1978:49, NJW 1978, 1741.
26 Urteil vom 22.10.1998, C-10/97, ECLI:EU:C:1998:498, BeckRS 2004, 74026 Rn. 1-2.
27 Urteil vom 22.10.1998, C-10/97, ECLI:EU:C:1998:498, BeckRS 2004, 74026 Rn. 21.
28 Urteil vom 05.12.2017, C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936, BeckRS 2017, 133802, Rn. 2.
29 Urteil vom 05.12.2017, C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936, BeckRS 2017, 133802, Rn. 13, 14, 20.
30 Urteil vom 05.12.2017, C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936, BeckRS 2017, 133802, Rn. 22-23.
31 Urteil vom 05.12.2017, C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936, BeckRS 2017, 133802, Rn. 41,47.
32 Urteil vom 05.12.2017, C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936, BeckRS 2017, 133802, Rn. 61.
33 Urteil vom 05.12.2017, C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936, BeckRS 2017, 133802, Rn. 62.
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