Bachelorarbeit, 2020
40 Seiten, Note: 2,3
1. Einleitung
2. Heimat: Eine Begriffserklärung
3. Die Idee Heimat bei Ernst Bloch
3.1. Ernst Bloch: Die konkrete Utopie
3.2. „Subjekt ist noch nicht Prädikat.“
4. Eine Begriffsbestimmung von Demokratie
4.1. Der Grundstein der Demokratie: Aristoteles
4.2. Die heutige Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland
4.3. Martha Nussbaum: Die vollendete Demokratie der Zukunft
5. Nussbaum: Die Vorstellung einer besseren Welt
5.1. Der Fähigkeitenansatz als utopischer Ansatz
5.2. Der Kosmopolitismus und die zu überwindenden Probleme
6. Hoffnung und Angst auf dem Weg hin zu der vollendenten Demokratie
6.1. Die Angst als Gegner der Demokratie
6.2. Hoffnung als Schlüssel zu einer vollendeten Demokratie
7. Heimat finden in einer vollendeten Demokratie
8. Literaturverzeichnis
„Von Augustinus sind Betrachtungen über das Problem der Zeit überliefert, die einsetzen mit Hinweisen auf die Schwierigkeit des Problems. »Was ist also die Zeit?«, fragt Augustinus. Seine vorläufige, bescheidene Antwort: »Solange mich niemand danach fragt, ist es mir, als wüßte ich es; fragt man mich aber und soll ich es erklären, dann weiß ich es nicht mehr.« Eine erste Antwort auf die Frage nach Heimat könnte genauso lauten.“1
Die Frage Was ist Heimat? ist eine sehr komplexe Frage. Der Begriff Heimat ist dem Deutschen eigen, er existiert in dieser Bedeutungsform in keiner anderen Sprache. Doch wie antworten die deutschen Bürger auf diese Frage? Typischerweise wird mit einer der folgenden Aussagen geantwortet: „Heimat ist dort, wo ich geboren bin.“, „Heimat ist dort, wo ich wohne.“, „Heimat ist dort, wo ich mich wohl fühle.“, „Heimat ist für mich kein Ort, sondern ein Mensch.“, oder „Ich habe keine Heimat, ich bin heimatlos. Ich habe lediglich ein Zuhause, in dem ich wohne.“ Der Begriff wird von verschiedenen Menschen auf subjektive Weise interpretiert und verdeutlicht die Undeutlichkeit der Definition von Heimat. Weiterhin zeigen diese verschiedenen Interpretationen die Notwendigkeit einer Reformation des Begriffes, um für dessen Gebrauch die Möglichkeit einer einheitlichen Definition zu schaffen. Aufgrund dessen existiert die Ansicht, man müsse den Heimatbegriff reinwaschen, ihm jegliche Bedeutung absprechen, um ihn dann wieder neu füllen zu können. Dieser Meinung war der deutsche Philosoph Ernst Bloch2, welcher jenen entleerten Heimatbegriff schließlich mit einer Idee anstelle einer örtlichen Verknüpfung füllen möchte. Diese Idee, welche Bloch seinerzeit in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung veröffentlichte, beschreibt einen gesellschaftlichen bzw. weltlichen Zustand, unabhängig von einem bestimmten Ort. Dieser Zustand soll in der Zukunft Realität werden können und ist als eine sozialdemokratische Utopie zu verstehen. Diese Interpretation des Heimatbegriffes bildet das Fundament der folgenden Arbeit. Überdies wird Blochs Idee mit dem gesellschaftlichen System der Demokratie zusammengebracht. In diesem Zusammenhang wird der Fähigkeitenansatz der amerikanischen Philosophin Martha C. Nussbaum3 eingeführt, um im Laufe der Arbeit die These untersuchen zu können, inwiefern die Utopie Heimat von Ernst Bloch mithilfe diesem in einer weltlichen Zukunft realisiert werden kann.
Das Wort Heimat hat seinen Ursprung in dem Wort kei der indogermanischen Sprache, was so viel bedeutete wie liegen. Aus diesem Wort entwickelte sich das Wort Lager, welches sich später zu dem heute allgemein gebräuchlichen Heim weiterentwickelt hat. Hieraus ist schlussendlich das Wort Heimat entstanden.4 Der Begriff Heimat ist sehr begriffs- und emotionsgeladen, so divers, dass es schwierig ist, diesen eindeutig zu begreifen. Dennoch sind einige Merkmale von Heimat auch über den Wandel der Zeit hinaus gleichgeblieben. Diese sind folgende: „[…]
a) H[eimat] ist eine raumzeitliche Gegebenheit für das Subjekt in seiner «Individual-lage» (Pestalozzi), in die es, als Mensch, hineingeboren oder hineingekommen ist und wohnt: H. im engeren Sinn.
b) H. ist zugleich das Ganze der an die engere Umgebung angelagerten weiteren «Lebenskreise» und ihrer «Horizonte» bis zum Land und nationalen Großraum, darüber hinaus der Inbegriff aller Umkreise bis zur Erde und schließlich zur «Welt». Hier ist H. im Weiteren (und weitesten) Sinne gemeint. […]
c) Notwendige Bedingung von H. ist das subjektmäßige, emotional-praktische Sichhineinleben, das Heimischmachen. H. ist daher nicht nur Umgebung (Milieu), an die man sich anpaßt, sondern wesentlich etwas, das erst zu schaffen ist. […] H. als Überwelt. […]
d) Ein besonderes Problem stellt das Expansionsmoment der H. dar, das jeder Vorstellung einer (statischen) Umgebung oder Umweltfixierung aber auch der mehr materialistischen oder vitalischen Motivation […] widerspricht. Jedoch muß die materielle und vitale Grundlage jeder Dynamik (Expansion) ebenso anerkannt werden wie die notwendige geistige Intensität jeder wahren H.-Bindung. Die hohe Bewertung der eigenen H. ist daher nur unter der Bedingung zulässig, daß man auch für die H. anderer eintritt. Das Recht auf H., das idealiter für alle Menschen gilt, hat diesen naturrechtlichen Kern. Die bescheidene Sorge für die H. und das H.-Bewusstsein anderer, der nachfolgenden Generationen wie anderer Völker, ist daher die notwendige Konsequenz und Grenze des Bewusstseins der eigenen H. und der Sorge um sie.“5
Der Begriff Heimat bezeichnet demnach den Wohn- bzw. Lebensraum eines Individuums, in welchem es durch Geburt, Flucht, oder ähnliches hineingekommen ist. Darüber hinaus kann die Heimat als engsten Raum, der das Individuum umgibt, ausgeweitet werden. Weiterhin ist diese Heimat nicht als etwas dem Menschen Gegebenes zu verstehen, sondern beschreibt vielmehr einen Raum, den das Individuum sich selbst durch aktives Schaffen erarbeitet. Von großer Bedeutung ist auch die Achtung vor der Heimat anderer Individuen und es ist notwendig, für die Heimat der anderen einzutreten.
Das Heimatbewusstsein ist eine Voraussetzung, um Heimat zu schaffen und ein Recht auf sie zu haben.
Passend zu dieser Thematik des Heimatproblems veröffentlichte der deutsche Biologe Reinhard Piechocki einen Essay über die Begriffsentstehung und -wandel von Heimat, in welchem er die Wirkung des Naturschutzes untersucht und sich im Zusammenhang damit mit dem Begriff Heimat auseinandersetzt. Heimat begreift er ähnlich, wie es in dem historischen Wörterbuch festgehalten wird. Er betont die unterschiedlichen Wahrnehmungen von dieser und legt drei Merkmale von Heimat fest, welche jeder subjektiven Wahrnehmung innewohnen. Demnach ist Heimat als Gegenbegriff zu Fremde zu verstehen, stellt einen Raumbezug dar und besitzt einen sachlich-emotionalen Doppelcharakter.6 Bis in das 19. Jahrhundert war der Begriff Heimat als konkreter Bezug zu einem eigenen Haus, zu einem eigenen Besitz zu verstehen. Dieser Gebrauch und dieses Verständnis des Heimatbegriffes hat sich mit dem Umbruch hin zu der Industrialisierung verändert.7 Die Industrialisierung war neben dem anhaltenden Bevölkerungswachstum, der Französischen Revolution, dem Ende des deutschen Kaiserreiches und dem ersten Weltkrieg, einer von vielen Faktoren, welche zu dem Zerbröckeln des ursprünglichen Heimatbegriffes geführt haben.8 Während dieser Zeit entstand im 19. Jahrhundert eine Vision von Heimat, nicht an einen Besitz gebunden, sondern gebunden an das Bild einer heilen, besseren Welt. Piechocki verdeutlicht Heimat als „Sehnsucht nach dem ursprünglichen Zustand“9, als die „Flucht vor der Wirklichkeit nach ‚Innen‛“10 und beschreibt eine Entwicklung, in welcher Heimat weniger an einen Ort gebunden ist, sondern vermehrt zu einem unbestimmten Gefühl, zu einem Rückzug aus der realen Gegenwart wird; „[Heimat wird] zu einem Wert an sich.“11 Diese Definition von Heimat als einen Wert an sich, legt den Grundstein für die heutige Leere des Begriffs Heimat.
Auch Ina-Maria Greverus, eine ehemalige deutsche Volkskundlerin und Kulturanthropologin, hat sich in ihrer Laufbahn mehrfach mit dem Thema Heimat auseinandergesetzt. In ihrem Essay Auf der Suche nach Heimat beschreibt sie den von der Menschheit erlittenen Heimatverlust. Sie definiert Heimat als Glück im engeren Lebensumfeld als Raum, in welchem man sich der Praxis des Lebens hingibt, als Aneignung durch aktive Leistung12. Sie beschreibt verschiedene Möglichkeiten, durch welche versucht wird, Heimat zu finden. Der Rückzug in die Vergangenheit als eine Illusionswelt kann als Heimat verstanden werden. Sie bezieht sich auf den Heimat- und den Umweltschutz als Vereinigung aller zu der Erhaltung deutscher Eigenart; sie spricht von der Verbreitung einer Ideologie namens Heimat, von der Kanalisierung der Bedürfnisse der Menschen nach einem Territorium, ausgenutzt von der Politik für die Erschaffung eines Vaterlandes.13 Greverus spricht von der Heimat als ein Zuhause.14 Außerdem schreibt sie von einer „wirklichen Heimat“15 als Raum, in welchem die Menschen ihre Bedürfnisse am besten befriedigen können. Heimat wird als Raum der Identität begriffen, der durch aktive, wohnende, selbstgestaltende Aneignung erworben wird.16 Sie ist der Meinung, der Heimatbegriff müsse neu definiert werden, da die ihm innewohnende Definition nicht mehr passend ist.17 Sie stellt zwei Möglichkeiten für eine neue Definition des Heimatbegriffes vor, aus denen sich entschieden werden muss: Erstens stellt sie Heimat als einen Raum vor, in dem der Mensch mit all seinen Bedürfnissen als Subjekt im Mittelpunkt steht. Dieser Raum soll ein vom Menschen als soziokultureller bestimmt sein, in dem es ihm möglich ist, seine Identität, Sicherheit und stimulierende Aktivität zu erfahren. Zweitens erhebt sie die Möglichkeit, dass Heimat den Menschen nicht als Subjekt, sondern als Objekt wahrnimmt und ihm anstelle der Freiheit der Selbstbestimmung in eine bestimmte Gruppe, an einen bestimmten Ort einordnet.18 Entscheidet der Mensch sich für die erste Möglichkeit, so impliziert dies ein Verhaltensziel frei von Angst, Anonymität und Inaktivität und das Abkehren einer Vorstellung von Heimat als einen festen Raum, hin zu einem „notwendige[n] Raumkorrelat menschlichen Verhaltens.“19 Der Heimatbegriff trägt demnach eine vergangene, nicht mehr zeitgemäße Bedeutung mit sich und muss neu definiert werden. Greverus spricht von einer politischen Aufgabe, die Heimat der Menschen neu zu gestalten.
Die vorangegangenen Ansichten bezüglich des Heimatbegriffes verdeutlichen die Uneinigkeit über eine Definition von diesem. Keinem der Philosophen ist es möglich, diesen konkret zu definieren. Der Artikel aus dem Historischen Wörterbuch, Piechocki und auch Greverus teilen lediglich ihr subjektives Verständnis von Heimat, wodurch die Notwendigkeit einer Reformation des Heimatbegriffes nur weiter aufgezeigt wird. Aufgrund dessen werden sich die nachfolgenden Kapitel mit dem Ansatz des Philosophen Ernst Bloch auseinandersetzen, welcher den Anspruch einer Entleerung des Heimatbegriffes erhebt.
In Blochs Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung erarbeitet dieser eine konkrete Idee von Heimat. Diese Idee bindet sich weder an einen Ort noch an einen Menschen, sondern sie bindet sich an eine Vorstellung unserer Zukunft, einer gesellschaftlichen Zukunft. Das Wort Heimat stellt für Bloch in seinem Werk ein Endziel dar, welches mithilfe der Verwirklichung einer Utopie zu erreichen sein wird.
„Utopien sind […] Vorstellungen von Gruppen, die die bestehende Gesellschaft unterminieren und sprengen oder eine Sprengung vorbereiten mit dem Traum von einer schöneren Welt, einer besseren Gesellschaft. Ein Traum allerdings, […] der etwas mit der Tendenz in der Zeit zu tun hat, die eine nachfolgende Gesellschaft vorbereitet oder bereits mit ihr schwanger ist.“20
Die Utopie bei Bloch bezeichnet demnach einen weltlichen Zustand, welcher noch unrealisiert ist, jedoch bereits in den Gedanken der Menschen existent ist. Ein Zustand des Träumens wird beschrieben, wobei sie „als halluzinierte Wunscherfüllungen, als fiktive Erfüllungen einer unbewußten Wunschphantasie“21 dargestellt werden. Insbesondere sind die Tagträume für Bloch von Bedeutung, da er sie als Ausflucht aus der derzeitigen alltäglichen Wirklichkeit versteht und in ihnen einen Weg für die mögliche Befreiung der Menschheit erkennt. Sie entspringen der Kraft des Menschen zur Vorstellung einer besseren Welt und sind ein vom Menschen freiwillig und bewusst auferlegter Zustand, den er selbst gestalten und aus dem er sich selbst wieder befreien und in die Realität zurückkehren kann.22 Die Tagträume sind keine Halluzinationen, sondern sind im Zusammenhang mit dem wirklichen Leben zu verstehen.23 In den Träumen wird ein Selbsterweiterungstrieb beschrieben, welcher auf das Noch-Nicht-Bewusste zielt, und eigentlich dem Hunger entspringt24: „Aus dem ökonomisch aufgeklärten Hunger kommt heute der Entschluss zur Aufhebung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein unterdrücktes und verschollenes Wesen ist.“25 Der Hunger, welchen Bloch beschreibt, bezieht sich nicht nur auf das Gefühl eines leeren, knurrenden Magens, sondern vielmehr beschreibt es den Hunger nach allem, was fehlt. Er beschreibt den Hunger als einen, der alles sein kann: Hunger nach Gerechtigkeit, nach Gleichheit, nach einer Revolution, nach Macht, nach Anerkennung, nach einem guten Leben und schließlich auch der Hunger nach Heimat. Von diesem Hunger wird der Mensch angetrieben, erklärt Bloch, die andauernden Verhältnisse, unter denen die Mehrheit der Menschheit lebt, aufheben und reformieren zu wollen. Die Zeit, in welcher der Mensch als unterdrücktes Wesen leben muss, sollen der Vergangenheit angehören; stattdessen soll er sich und sein Leben auf eine gerechte Weise finden und formen können.26
Die konkrete Utopie von Bloch bezieht sich auf eine Vorstellung der Menschen von einer besseren Welt. Sie basiert auf den jeweiligen Tagträumen, welche davon schwärmen, alles zu haben, was einem in der Gegenwart fehlt. In dieser utopischen Zukunft leidet kein Mensch mehr Hunger, alle Menschen sind gesättigt und wunschfrei. Es ist eine Zukunft, in welcher die Menschen frei und keine unterdrückten Wesen mehr sind. Die konkrete Utopie ist Ausdruck der „unbewußten Wunschphantasie“27, welche die Menschen sich in ihren Tagträumen ausgemalt haben und betont die reale Möglichkeit des Erarbeitens von dem erwünschten Weltzustand.28
„Subjekt ist das Wer, Prädikat das Was, die Kopula ist der Weg der versuchten Bestimmung des Wer durch sein Was. […] Der Mensch ist noch nicht das, was er sein könnte, seine gesellschaftliche Gemeinschaft ist noch nicht das, was sie sein könnte – und letztlich: die Natur ist noch nicht das, was sie sein könnte.“29
Hier beschreibt Bloch die von uns belebte Welt als ein noch unfertiges System, welches umhertreibt und sich in der Zukunft schließlich als eine fertige Welt erschließen wird. Demnach beharrt das Seiende noch in seiner Bestimmung, ist noch nicht bei sich angekommen, wird jedoch durch die Hoffnung, die Sehnsucht, nach einer besseren Welt angetrieben. Dieser beschriebene Zustand des Noch-nicht-sein gleicht dem blochschen Verständnis der Utopie.30 Die Welt wird als ein offenes System und als eine sich zu erfüllende Wunschlandschaft beschrieben; eine Welt, die „als solche im Laboratorium ihrer Noch-nicht-Lösung steht“31. Die Welt ist heute unfertig, die Menschen treiben noch in einem Dunkel umher und die Natur noch nicht in ihrer Vollkommenheit ausgereizt worden ist; sie befindet sich in einem Zustand des Noch-Nicht 32. Dieser Zustand beschreibt einen Vorgang des Werdens, eine prinzipielle Bewegungsform von dem Schweben in den Zustand des Noch-Nicht hin in einen Zustand einer vollendeten Welt, weshalb dies als eine Form der Utopie begriffen wird.33
Die Utopie, welche Bloch entwickelt hat, lässt sich mit der Herrschaftsform der Demokratie sehr gut in Einklang bringen. Der Begriff Demokratie (δημοκρατία) stammt aus dem Altgriechischen und leitet sich aus der Bedeutung „Herrschaft des Staatsvolkes“ ab.34 Bloch definiert die Utopie als eine Welt, in der der Mensch ein freies Wesen ist, er keinen Hunger mehr leiden muss und sich frei für oder gegen etwas entscheiden darf. Diese Bedingungen sind auch in denen einer Demokratie zu finden. In dieser geht die Macht und die Regierung vom Volk aus. Das Volk wählt einen Repräsentanten, welcher das Volk bei allen Entscheidungen, die die Allgemeinheit verbindlich betreffen, vertritt.35
Aristoteles, seinerzeit griechischer Philosoph und Universalgelehrter, der von 384 v. Chr. bis 322 v. Chr. gelebt hat, ist ein maßgeblicher Mitbegründer des heutigen Verständnisses der Demokratie. In seinem Werk Politik definiert er die Demokratie sehr ausführlich. Nachdem Aristoteles die verschiedenen Herrschaftsformen vorgestellt hat, kommt er zu dem Schluss, dass die Demokratie die Entartungsform der Politie sei; unter diesen Entartungsformen sei sie die gemäßigtste.36 Eine Demokratie ist dann als eine solche zu verstehen, wenn die Freigeborenen, Tagelöhner, in dem Staat die Mehrheit bilden. Weiterhin ist eine Demokratie nicht vollkommen, wenn die Freigeborenen über die nicht freigeborenen Menschen, die Sklaven, in dem Staat regieren. Auch mangelt es einer Herrschaftsform an demokratischen Zügen, wenn die Begüterten aufgrund von Mehrheit die Regierung innehaben. Eine Demokratie ist, nach Aristoteles, nur dann als eine solche zu definieren, wenn die Freigeborenen als Mehrheit die Macht in dem Staat innehaben.37 Außerdem zeichnet eine Demokratie sich durch die freie Geburt und durch eine Verfassung, die von der Mehrheit verabschiedet worden ist, aus.38 Diese Verfassung ist von grundlegender Bedeutung für eine Demokratie, da sie eine Ordnung bereitstellt, welches die Freiheit als Grundprinzip verfolgt, die Staatsmänner regelt und eine bestimmte Lebensform innerhalb des Staates festlegt.39 Eine solche Ordnung kann nur dort bestehen, wo das Gesetz und nicht die Menge regiert; das Gesetz muss alle Angelegenheiten als Herrscher regeln, wobei die Ämter die individuellen Fälle innerhalb der Demokratie regeln.40 Ein weiteres unabdingbares Merkmal der Demokratie ist das allen Bürgern zugesprochene Recht, mitzuwirken. Dieses Mitspracherecht wird allerdings nicht von jedem Bürger genutzt, da ein Teil der Bürger kein Leben der Muße führt und somit so viel Zeit mit der Arbeit verbringt, dass ihm die Zeit fehlt, an der Demokratie teilzunehmen. Daraus resultiert, dass jeder Bürger zwar einen Zugang zu der Demokratie hat, es jedoch ein gewisses Mindestvermögen und die Freiheit von Sorgen um persönliche Angelegenheiten benötigt, um sich seiner politischen Tätigkeiten zu widmen.41 Eine beständige Demokratie lebt von der Teilnahme ihrer Bürger an der Politik. Des Weiteren ist eine Demokratie ihrer Mittelschicht zu Dank verpflichtet, da sie durch diese Stabilität und Dauerhaftigkeit erhält; die Mittelschicht ist als Vermittler der verschiedenen Schichten innerhalb der Demokratie zu verstehen und sorgt für das notwendige Gleichgewicht zwischen diesen.42 Darüber hinaus benötigt eine stabile, dauerhafte demokratische Verfassung eine Dreiteilung der Gewalten in die Judikative, die Legislative und die Exekutive. Auf diese Weise wird die Ordnung der Demokratie aufrechterhalten, da entweder allen Bürgern oder einem ausgewählten Kreis die jeweiligen Entscheidungen übertragen werden und es durch diese zu einer demokratischen Entscheidung kommt. Diese Form der Gleichheit des Volkes ist der Demokratie eigentümlich.43 Ein abschließendes Merkmal der demokratischen Herrschaftsform ist die Freiheit, sich entscheiden zu können, wie man sein Leben gestalten und führen möchte.44
Schließlich erläutert Aristoteles folgende Einrichtungen als demokratisch: die Wahl eines Einzelnen für ein Amt aus dem Volk durch das Volk; der Wechsel der Amtsinhaber nach einer bestimmten Zeitspanne; die Festlegung über die Häufigkeit und die Dauer, wie ein Amt besetzt werden darf; das Volk bzw. ein ausgewähltes Gericht aus diesem entscheidet über Rechtsfälle; die Volksversammlung hat souveränen Einfluss in allen wichtigen Angelegenheiten; der Rat repräsentiert die am meisten demokratische Einrichtung unter den Ämtern; alle Einrichtungen erhalten eine Besoldung und abschließend benötigt eine Demokratie eine dauerhafte Verfassung, um Stabilität zu erlangen.45 Außerdem formuliert Aristoteles eine Reihe unverzichtbarer Ämter, welche eine Demokratie besitzen muss: der Markt, der den Handel ermöglicht und die dazugehörige Behörde; ein städtisches Ordnungsamt; die Landpolizei; Einnehmer und Schatzmeister müssen gewählt worden sein, um die öffentlichen Einkünfte zu verwalten; Archivbeamte bzw. Vorsteher; eine Gefängnisbehörde; ein Gerichtshof, um gerechte Urteile zu erzielen; der Schutz der Stadt und der militärischen Aufgaben müssen durch Heerführer und Befehlshaber gewährleistet sein; Rechenschaftsbeamte bzw. Rechenschaftsprüfer; ein vorbereitender Rat als Vorsitz der Volksversammlung ist notwendig, um die Gerechtigkeit im Staat gewährleisten zu können und abschließend ist auch ein Priester von großer Bedeutung,46
Doch wie sieht es mit der Umsetzung der Demokratie nach Aristoteles in der heutigen Zeit aus? Um diese Frage zu beantworten, wird sich der folgende Abschnitt auf die Bundesrepublik Deutschland und dessen Grundgesetz fokussieren und anhand dessen darstellen, ob die Demokratie, wie Aristoteles sie seinerzeit definiert hat, sich gewandelt hat. Das Grundgesetz, welches am 23.05.1949 in Bonn verabschiedet wurde, stellt die Verfassung und Ordnung dar, welche für Aristoteles unabdingbar gewesen ist, um eine Demokratie zu etablieren. Das Grundgesetz schafft hierbei die Grundlage für eine demokratischen Republik und regelt u.a. das Verhältnis zwischen Bürger und Staat mithilfe diverser Freiheits-, Teilhabe- und Abwehrrechte. Der Art. 20 GG ist dabei von elementarer Bedeutung und zeigt die Ähnlichkeit unserer Demokratie zu der nach Aristoteles auf: „Art. 20 [Bundesstaatliche Verfassung: Widerstandsrecht]
(1) Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) 1 Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. 2 Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben die Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“47
Art. 20 GG normiert in seinen vier Absätzen die wichtigsten Staatsmaximen. Darunter das Demokratie- und Sozialstaatsprinzip, die Gewaltenteilung und die Rechtstaatlichkeit der BRD. Außerdem ist in Art. 20 (4) GG das Gebot der wehrhaften Demokratie verankert. Auch Aristoteles setzt diese Prinzipien als notwendig in seiner Vorstellung einer Demokratie voraus. Weiterhin beinhaltet das Grundgesetz das Recht auf den Schutz der Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbindung (Art. 1, GG); das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person (Art. 2, GG); das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3, GG); das Recht auf Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Kriegsverweigerung (Art. 4, GG); das Recht der freien Meinungsäußerung, Medienfreiheit, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5, GG); das Recht auf Ehe, Familie, nicht eheliche Kinder (Art. 6, GG); die Richtlinien des Schulwesens (Art. 7, GG); das Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8, GG) und auf Vereinigungsfreiheit (Art. 9, GG); das Recht auf Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10, GG), sowie das Recht auf Freizügigkeit (Art. 12, GG).48 Mithilfe dieser Artikel ist nach dem zweiten Weltkrieg die Freiheit eines jeden Bürgers in Deutschland in dessen Grundgesetz niedergeschrieben worden. Für Aristoteles ist die freie Geburt, das gleiche Recht für alle Bürger vor Recht und Gericht, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Neutralität des Staates, seiner Einrichtungen und Institutionen, Grundvoraussetzungen, um die Verfassung eine demokratische nennen zu dürfen. In Deutschland sind diese durch das Grundgesetz festgehalten und unabdingbar geworden.
Abgesehen von einer demokratischen, den Maßstab der Gesetze festlegenden, Verfassung, nach der gelebt und gehandelt werden soll, gibt es auch in Deutschland eine Vielzahl von politischen Ämtern und staatlichen Organen, die nach Aristoteles erforderlich sind. So gibt es beispielsweise alle vier Jahre die demokratische Wahl des*r Bundeskanzler*in, welche*r von der Gesamtheit des Volkes gewählt wird. Außerdem hat grundsätzlich jede*r Bürger*in die Möglichkeit an öffentlichen Ämtern teilzuhaben. Weiterhin gibt es, wie auch Aristoteles es niedergeschrieben hat, ausgewählte und unabhängige Gerichtshöfe, die sich mit den jeweiligen Rechtssachen auseinandersetzten und Urteile im Namen des Volkes fällen. Dementsprechend hat das aristotelische Verständnis einer Demokratie heute noch Bestand.
Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum bezeichnet sich selbst als Aristotelikerin, weshalb es nicht verwundert, dass die Frage nach einem guten Leben im Mittelpunkt ihrer Werke und ihrer Arbeit steht. In diesem Zusammenhang setzt sie sich auch vermehrt mit dem Wort Demokratie auseinander. Sie definiert diese Herrschaftsform als eine, welche die Freiheit aller Individuen schützt, und als einzige die Möglichkeit bereitstellt, die Fähigkeiten des Menschen vollständig zu fördern.49 Sie nimmt die auffallenden Unterschiede zwischen der Zustände, in denen die Menschen in den verschiedenen Weltregionen leben müssen, als Anhaltspunkt, um sich in ihren Werken vor allem der politischen Philosophie zu widmen und sich für einen Multikulturalismus, den Kosmopolitismus und die internationale Gerechtigkeit einzutreten. Im weltweiten Vergleich der heutigen Demokratien bedient Nussbaum sich in ihrem Buch Königreich der Angst dem Unterschied zwischen der Politik in den USA und den europäischen Sozialdemokratien.50 Insbesondere kritisiert sie die Abschaffung der sozialen Abkommen, welche der New Deal beinhaltete. Dieser ist von F. D. Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 erlassen worden und enthielt zahlreiche Sozial- und Wirtschaftsreformen.51 Beispielsweise enthielt die Sozialpolitik den Ansatz, Arbeitsplätze für junge, arbeitslose Männer zu schaffen, um so einerseits die Wirtschaft anzukurbeln und andererseits den Männern die Chance zu geben und ihrem Leben eine Perspektive ermöglichen zu können.52
[...]
1 H. Bausinger, 1986, S.76.
2 Im Folgenden durch Bloch abgekürzt.
3 Im Folgenden durch Nussbaum abgekürzt.
4 vgl. G. Keil, 2014, S.172.
5 W. Hinrichs, 1074, Spalte 1038.
6 vgl. R. Piechocki, 2019, S.19.
7 vgl. R. Piechocki, 2019, S.20.
8 vgl. R. Piechocki, 2019, S.20.
9 R. Piechocki, 2019, S.22.
10 Ebenda.
11 vgl. ebenda.
12 vgl. I. M. Greverus, 1979, S.7.
13 vgl. I. M. Greverus, 1979, S.9.
14 vgl. I. M. Greverus, 1979, S. 7ff.
15 vgl. I. M. Greverus, 1979, S. 16.
16 vgl. I. M. Greverus, 1979, S. 14.
17 vgl. I. M. Greverus, 1979, S.17.
18 vgl. ebenda.
19 Ebenda.
20 E. Bloch, 1980, S.70.
21 E. Bloch, 1973, S.87.
22 vgl. H. Hartmann, 2012, S.580.
23 vgl. E. Bloch, 1973, S.98f.
24 vgl. R. Schmidt: „Der Tagtraum als konkrete Utopie – die Anregungen Ernst Blochs.“ in: Träume und Tagräume. S. 183.
25 E. Bloch, 1973, S.84.
26 vgl. R. Schmidt, 2005, S.183.
27 E. Bloch, 1973, S.87.
28 vgl. P. Zudeick, 2012, S.633.
29 J. R. Bloch, 1995, S.13.
30 vgl. J. R. Bloch, 1995, S.10-12.
31 J. R. Bloch, 1995, S.12.
32 vgl. J. Siebers, 2012. S.407.
33 vgl. J. R. Bloch, 1995, S.14.
34 vgl. C. Meier, 1972, S.821ff.
35 vgl. D. Fuchs, 2009, S. 38-43.
36 vgl. Aristoteles, 2012, 1289b.
37 vgl. Aristoteles, 2012, 1290b.
38 vgl. Aristoteles, 2012, 1294a.
39 vgl. Aristoteles, 2012, 1290a.
40 vgl. Aristoteles, 2012, 1292a15.
41 vgl. Aristoteles, 2012, 1292b15.
42 vgl. Aristoteles, 2012, 1296a15.
43 vgl. Aristoteles, 2012, 1298a.
44 vgl. Aristoteles, 2012, 1317b.
45 vgl. Aristoteles, 2012, 1317b15.
46 vgl. Aristoteles, 2012, 1321b15.
47 Grundgesetz für die BRD, 2018, S.19.
48 vgl. Grundgesetz für die BRD, 2018, S.10-13.
49 vgl. M. Nussbaum, 2019, S.83.
50 vgl. M. Nussbaum, 2019, S.287.
51 vgl. W. P. Adams, 2007, S. 173.
52 vgl. S. Fitzgerald, D. Shouba, K. Van Sluy, 2006, S. 45.
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