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Masterarbeit, 2020
55 Seiten, Note: 1,3
I. Einleitung
II. Hauptteil
A. Ist „Containern“ legal?
1. Die Rechtsprechung
a) AG Düren
b) AG Fürstenfeldbruck
(1) Das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung
(2) Besonders schwerer Fall des Diebstahls, § 243 StGB?
(3) Haftung für entsorgte Ware
(4) Grammatikalische Auslegung
(5) Ausnahmsweise Haftung
c) BayObLG
d) BVerfG
(1) Prüfungsmaßstab Willkürverbot
(2) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Ultima-Ratio-Prinzip
(3) Schutzbereich und Gemeinnützigkeit
(4) Schutz vor unbegründeten Klagen
(5) Cannabis-Beschluss
(6) Breite Sanktionspalette
(7) Physische Bedürftigkeit
2. Kritik in der Literatur
a) Britz/Torgau
b) Dießner
c) Jäger
d) Lorenz
e) Malkus
f) Kommentarliteratur
g) Prantl ,
h) Fischer
i) Dießner
3. Die Politik
a) Gesetzgebungsinitiativen
4. Eigene Stellungnahme
a) Verstoß gegen ultima ratio Prinzip
b) Provokateure
c) Völkerrecht
d) Besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung
e) Das wirtschaftliche Interesse des Supermarktbetreiber
f) Der Elefant im Raum?
5. Zwischenergebnisse
B. Ist Containern legitim?
III. Fazit und Lösungsvorschläge
Jeden Tag sterben weltweit 22.000 Kinder unter fünf Jahren an den Folgen ihrer Unterernährung1. Insgesamt sind 822 Millionen Menschen dauerhaft oder zeitweise von einer angemessenen Ernährung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser abgeschnitten; zwei Milliarden leiden unter Mangelernährung2.
Dies gilt nicht nur für die sogenannten „Entwicklungsländer“ in Asien und Afrika, sondern auch für die Industrieländer3. So wird geschätzt, dass allein etwa 500.000 Kinder in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft nicht angemessen mit Nahrungsmitteln versorgt werden4 ; Erwachsene sind hierbei nicht mitgezählt. Die kontinuierlich wachsende Anzahl von derzeit 947 Tafeln5 (allein in Deutschland) mit ca. 1,65 Millionen bedürftiger Menschen legt über die brennende Aktualität dieses Problems beredtes Zeugnis ab, ebenso das den Schwerpunkt dieser Arbeit bildende (Massen-)Phänomen6 des „Mülltauchens“ oder „Containerns“7,8.
Zur selben Zeit werden in Deutschland 13 Millionen Tiere, also täglich 35.000 Rinder, Ziegen, Schafe, Hühner, Truthähne und Schweine auf den Müll geworfen9 ; dies zumeist nach einem kurzen, qualvollen Leben in Massentierhaltung.
Die ethisch-moralische Dimension solchen Verhaltens kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden, liegt aber auf der Hand, ebenso die damit verbundene, ebenso unermessliche wie sinnlose Vergeudung von anderweitig dringend benötigten Ressourcen10 und die aus dieser Vergeudung resultierende Umweltschäden11.
Vor diesem Hintergrund verurteilten zuletzt das AG Düren12, AG Fürstenfeldbruck13 und das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG)14 zwei Studentinnen, die zur Entsorgung in Containern bereitgestellte Lebensmittel aus jenen entnommen hatten wegen Diebstahls.
Die von den jungen Frauen dagegen erhobenen Verfassungsbeschwerden wurden vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen15.
Die zum Thema „Containern“ ergangene (vereinzelte) Rechtsprechung, aber insbesondere die Begründungen der Revisionsentscheidung des BayObLG und des Nichtannahmebeschlusses des BVerfG werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit überprüft werden.
Soweit ersichtlich verteidigt alleine der vormalige Bundesrichter Thomas Fischer die zuvor zitierten Entscheidungen16.
In einer statistischen Erhebung17 sprachen sich im August 2020 80,9 % von 5010 Befragten für die Legalisierung des Containerns aus.
Angesichts dieser Ergebnisse ist man die Worte Georg Büchners18 erinnert: „Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung“.
Diese gerichtlichen Entscheidungen wirken nämlich „prima vista“ kontraintuitiv und decken sich nur mit der Meinung einer Minderheit in der Bevölkerung. Für die Beantwortung der Frage „richtig“ oder „falsch“ ist allerdings ein juristisches „Bauchgefühl“ keine hinreichende Entscheidungsgrundlage, gerät es doch allzu leicht in die Nähe des „gesunden Volksempfindens“, welches wie der Aphoristiker Siegbert Latzel einmal sagte „gelegentlich auch krank“ wird19.
Im Rahmen dieser Arbeit soll aufgezeigt werden, dass die überprüften Entscheidungen zwar auf der Grundlage des gegebenen Sachverhaltes letztlich rechtlich korrekt, mindestens vertretbar sind, jedoch theoretisch entscheidungserhebliche Fragen völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Art nicht erörtert wurden.
Die „Täter“ hatten sich nämlich nicht darauf berufen (und konnten dies offenbar auch nicht), dass sie die entwendeten Lebensmittel zum Zwecke der Sicherung einer angemessenen Ernährung an sich genommen und sie andernfalls hätten an einer Mangelernährung leiden oder gar hungern müssen.
Für letzteren Fall hätten sie sich auf die Rechtsprechung des BVerfG20, ja sogar auf die Bibel21 berufen können, ein Argument, das in einem christlich geprägten Land, vielleicht ein gewisses Gewicht gehabt hätte. Aber so war es eben nicht. Beschwerde geführt hatten wohl genährte politische Aktivisten, keine Hungergestalten.
Cum grano salis: Die Hunger hatten, haben nicht geklagt und die geklagt haben, hatten keinen Hunger.
Im zweiten Teil der Arbeit wird überprüft, ob das Verhalten der Beschwerdeführer wenn schon nicht legal, so doch jedenfalls legitim war im Hinblick auf die grundgesetzliche Formulierung, dass alle staatliche Macht an „Recht und Gesetz“22 gebunden ist, es also neben der positiv-gesetzlichen Ebene eine davon abweichende Metaebene gibt, die hier zu einem abweichenden Ergebnis führt.
Will man den Verfassungsvätern und -müttern von 1948 bei der Wahl dieser Formulierung keinen gesetzeslyrischen Pleonasmus unterstellen, ist evident, dass beide Begriffe nicht (immer) deckungsgleich sein müssen23.
Vielmehr stand den Verfassungsgebern vom Herrenchiemsee einerseits noch deutlich die erst wenige Jahre zurückliegende Mordmaschinerie der NS-Justiz24 vor Augen, die (sich) zwar nach geltendem „Gesetz“ richtete, das aber oft genug mit „Recht“ nichts mehr gemein hatte. (Trotz dieses historisch unbestreitbaren Befundes stimmten noch bis in die sechziger Jahre namhafte Parlamentarier (unter ihnen – horribile dictu – Franz Josef Strauß und Konrad Adenauer) für die Wiedereinführung der Todesstrafe.25 ) Andererseits bestand für den Verfassungskonvent die Notwendigkeit, eine rechtlich tragfähige und praktikable Grundlage für das neue Staatswesen zu schaffen, die sicherstellen würde, dass die Justiz zwar weitgehend an positives Recht gebunden war, aber in Fällen augenfälliger Divergenz zwischen Gesetz und Recht (seltene) Ausnahmen möglich sein sollten.
Es wird im Rahmen der Arbeit dargestellt, dass die Entwendung von Lebensmitteln aus Containern auch keineswegs legitim sein muss. Wenn damit in erster Linie die Erlangung von Lebensmitteln (im wahrsten Sinne des Wortes als „Mittel zum Leben“) verfolgt würde, wäre die Entnahme - wie zu zeigen sein wird - bereits legal.
Soweit allerdings mit den Taten lediglich Ziele einer kostenlosen Aufbesserung der Haushaltskasse und/oder plakative, politische Manifeste verfolgt werden sollten, wäre solches Verhalten weder legal noch legitim; denn für die Proklamation und Durchsetzung politischer Ziele stehen andere legale, wirksame(re) und durchaus zumutbare Möglichkeiten zur Verfügung, wie jüngst die Proteste der Klimaaktivisten um Greta Thunberg gezeigt haben.
Auch haben die durch „shitstorms“ erreichte Rücknahme von Strafanträgen in konkreten einzelnen Fällen des „Containerns“ gezeigt, dass der Verbraucher u.a. bei Nutzung der sozialen Netzwerke sehr direkte und sehr massive Einwirkungsmöglichkeiten hat.
Weiter ist zu bedenken, dass das Containern rein quantitativ im Hinblick auf den ohnehin nur sehr geringen Anteil des Handels (4 %-5%)26 an dem Entstehen des Lebensmittelabfalls praktisch keinerlei messbare Auswirkungen (nur etwa im Promillebereich) auf das tatsächliche Entstehen von Lebensmittelabfall hat. Das Containern bewirkt rein faktisch nichts. Und allein um die Haushaltskasse aufzubessern, darf man nicht stehlen.
Gleichviel: Die Justiz ist jedenfalls nicht das richtige Tableau für politische Proteste, mögen sie auch inhaltlich noch so begründet sein. Folgerichtig haben sich die Gerichte, nicht zuletzt das BVerfG, auch diesbezüglich richtigerweise nicht instrumentalisieren lassen.
Die Untätigkeit der Politik wiederum hat damit nichts zu tun und ist gesondert zu untersuchen.
Die Rechtsprechung und Literatur zu dieser Frage verhalten sich im überschaubaren Umfang. Während in „juris“ knapp 1,6 Millionen Entscheidungen aller Gerichte dokumentiert sind, betreffen davon gerade einmal vier27 das Thema „Containern“. Die ansonsten außerhalb der juris Plattform in der Tagespresse aufzufindenden Gerichtsentscheidungen belegen sämtlichst die Einstellungen der Verfahren oder Freisprüche, Letztere ausnahmslos „aus tatsächlichen Gründen“ in zwei Fällen nach vorheriger Verurteilung durch Amtsgerichte. Die dadurch dokumentierte unterdurchschnittliche Verfolgungsintensität seitens der Staatsanwaltschaften und Gerichte steht in einem denkwürdigen Kontrast zur öffentlichen Aufmerksamkeit, die dieses Thema schon seit Jahren auf sich zieht. Warum sich die Justiz bei der Beurteilung und Verurteilung von Fällen des Containerns derartige Zurückhaltung auferlegt, darüber kann mangels entsprechender wissenschaftlicher Untersuchungen nur spekuliert werden. Jedenfalls scheint mir hier die Verfolgungsbereitschaft (von Verfolgungseifer gar nicht zu reden) in etwa mit der in der breiten Bevölkerung verbreiteten Einschätzung zu korrelieren, dass „containern“ gerade nicht bestraft werden sollte. Denn Entscheidungen zum schlichten Ladendiebstahl von Lebensmitteln sind in juris dutzendweise aufzufinden, die zum „containern“ lassen sich an einer Hand abzählen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der Beschluss des BayObLG stellt die erste Entscheidung eines Obergerichts überhaupt dar. Die veröffentlichten Entscheidungen sind chronologisch geordnet folgende:
Diese quantitative Bilanz ist für einen Zeitraum von immerhin elf Jahren schon mager genug; dies gilt ebenfalls für ihr juristisches Innenleben. Die vier aufgeführten Freisprüche, AG Döbeln28, LG Lüneburg29, AG Eschwege30 und AG Hannover31 sind alle aus tatsächlichen Gründen erfolgt; zu der hier interessierenden Rechtsfrage sind in keinem der aufgeführten Urteile Ausführungen gemacht. Zu bemerken ist weiter, dass die Einstellungsentscheidung des LG Aachen32, mit der die Verurteilung des AG Düren33 aufgehoben wurde und der Freispruch des LG Lüneburg34, durch den die Verurteilung durch das AG Lüneburg kassiert wurde, durch die Rücknahme der Strafanträge der Berechtigten und die fehlende Bejahung des „besonderen öffentlichen Interesses“ durch die Staatsanwalt erreicht wurden.
So nehmen denn die Entscheidungen des AG Fürstenfeldbruck und des BayObLG einen einsamen, aber exponierten Platz ein bei der letztlich rechtskräftigen Verurteilung von Menschen wegen Containerns. Soweit Urteilsbegründungen überhaupt vorliegen, werden diese im Folgenden auf ihre Vollständigkeit und Richtigkeit überprüft.
Auch die Literatur35 ist vergleichsweise übersichtlich, sie wird im Anschluss an die Urteilsbesprechungen im Einzelnen dargestellt und diskutiert.
Schließlich werden die eigene Auffassung und der Lösungsansatz erläutert.
Dieses Urteil hält sich nicht nur erwartungsgemäß in dogmatisch vorhersehbaren Bahnen, sondern steht in einem zentralen Punkt in bemerkenswertem Widerspruch zu dem späteren Beschluss des BayObLG, der im Folgenden ebenfalls besprochen werden wird. Die Urteilsbegründung, mit der ein Hausfriedensbruch in Tateinheit mit Diebstahl gerechtfertigt wird, stellt im Tatsächlichen folgendes fest:
“ Lebensmittel lagerten danach auf dem Grundstück des R-Marktes ohne Überdachung in hohen und nach oben hin offenen Gitterwagen (Rn. 6) … Insbesondere kommt es für eine Strafbarkeit nach § 242 StGB nicht auf den wirtschaftlichen Wert der Sache an. Im Übrigen liegt auch keine Dereliktion vor, da die Lebensmittel zum einen noch nicht in einen Müllcontainer verbracht wurden und zum anderen auch nicht an der Straße standen, sondern weiter auf dem Grundstück des R-Marktes lagerten. Die Lebensmittel sollten der Entsorgung überführt werden und waren nicht für den Abtransport durch jedermann bereitgestellt.“ 36
Dieses Urteil hat zwar keine praktische Relevanz entfaltet, weil es durch das Urteil des LG Aachen kassiert wurde. Die Urteilsbegründung ist allerdings erstaunlich und wirft eine wichtige Grundsatzfrage auf. Jahre später wird nämlich das BayObLG in seinem Beschluss ausführen, dass die dortigen Täter die entwendeten Lebensmittel deshalb als „fremde“ Sachen erkannt hätten, weil die zur Entsorgung bereitgestellten Lebensmittel in einem abgeschlossenen Container lagen37.
Der entscheidende Punkt, wodurch für Täter eine Sache als „fremd“ erkennbar sein soll, wird also von Gerichten an unterschiedlichen, äußeren Umständen festgemacht und widersprüchlich beantwortet.
Das BayObLG verlangt als Indiz für die Annahme der Fremdheit, dass sich die Lebensmittel in einem verschlossenen Container befunden hatten, während es beim Amtsgericht Düren schon ausreichen soll, dass diese sich in einem nach oben hin offenen Gitterkäfig befinden.
Wohl gemerkt: es geht hier um das objektiv-normative Tatbestandsmerkmal der „Fremdheit“, welches eine sogenannte „Parallelwertung in der Laiensphäre“ erfordert. Es erscheint problematisch, von einem Täter eine zutreffende Parallelwertung in der Laiensphäre zu fordern, wenn sich hinsichtlich dieses Tatbestandsmerkmals auch Gerichte nicht nur nicht einig sind, sondern geradezu diametral unterschiedliche Ansichten vertreten.
Ein weiteres hier relevantes Urteil des AG Fürstenfeldbruck verhält sich ebenfalls in dogmatisch herkömmlichen Bahnen, enthält nur für die weitere Diskussion noch bemerkenswerte tatsächliche Feststellungen und rechtlich problematische Ausführungen.
Zum einen ist festgehalten, dass der von dem Geschäftsführer des Marktes zunächst gestellte Strafantrag wegen des „ erheblichen öffentlichen Drucks “ … „wieder zurückgenommen worden “ sei.
(1) Das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung
Das Urteilsverfahrens selbst impliziert, dass nach Rücknahme des Strafantrages die Staatsanwaltschaft das „besondere öffentliche Interesse“ an der Strafverfolgung bejaht haben muss, andernfalls das Verfahren nicht hätte durchgeführt werden können. Auch dieser Umstand bedarf noch einer näheren Diskussion.
Nach noch h.M. Auffassung38 soll die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses vom Gericht zwar nicht nachprüfbar sein. „Demgegenüber geht eine im Vordringen begriffene Minderheitsmeinung davon aus, dass das Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung eine Verfahrensvoraussetzung bildet, die vom Gericht selbstständig beurteilt werden muss und auch gegen die Auffassung der StA verneint werden kann. Teilweise wird die Anfechtbarkeit der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung auch auf §§ 23ff EGGVG gestützt“39.
Das BVerfG40 hat ausdrücklich offengelassen, ob eine Überprüfung durch das Gericht dann möglich sei, wenn die Annahme des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung sich als objektiv willkürlich darstellt. Eine solche willkürliche Handhabung durch die Staatsanwaltschaft ist hier als nicht eben fernliegend anzusehen, weil nicht nachvollziehbar ist, wie eine Strafverfolgung im besonderen öffentlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegen kann, die unter anderem mit dem in Art. 20a GG normierten Staatsziel der Schonung natürlicher Ressourcen kollidiert.41
(2) Besonders schwerer Fall des Diebstahls, § 243 StGB?
Die Staatsanwaltschaft hatte im konkreten Fall nicht nur den Diebstahl geringwertiger Sachen gemäß § 248 a StGB angeklagt, sondern einen besonders schweren Fall des Diebstahls. Aus diesseitiger Sicht erscheint dies über die Anwendung des § 243 II StGB nicht möglich.
Zum weiteren ist nämlich festgestellt, dass für die Entsorgung der abgelaufenen Lebensmittel von der entsorgenden Firma Zahlungen hätten geleistet werden müssen mit der logischen Konsequenz, dass, je größer die Zahl der entwendeten Lebensmittel, desto geringer die für den Rest zu erbringenden Zahlungen sein dürften.
Bei korrekter bilanzrechtlicher Handhabung ergibt sich darüber hinaus noch folgendes:
Gemäß § 253 IV HGB müssen die entsorgten Lebensmittel auf ihren Teilwert abgeschrieben werden, das bedeutet, dass der Wert anzusetzen ist, den ein außenstehender Dritter beim Kauf des Unternehmens für genau dieses Wirtschaftsgut zahlen würde. Es ist evident, dass ein außenstehender Käufer für bereits in der Mülltonne liegenden Müll nichts, d. h. „0“ € zahlen würde. Dieses Abschreibungsgebot nach dem HGB ist zwingend und stellt im Falle seiner Verletzung eine Ordnungswidrigkeit dar, §§ 334 I Ziffer 1b i.V.m 253 IV HGB. Die Abschreibung des Umlaufsvermögens auf den Teilwert „0“ stellt bei steuerlicher Betrachtung einen Aufwand dar, der Gewinn mindernd wirkt. Hinzu kommen die für die Entsorgung zu zahlenden Kosten, die steuerlich wirksam, d. h. Gewinn mindernd als Aufwand zu bilanzieren sind.
Die Frage nach dem „Wert“ der zu entsorgenden Lebensmittel kehrt sich hier aus Rechtsgründen in ihr Gegenteil um, richtigerweise in die Frage nach ihrem „Unwert“. Hieraus ergeben sich dann folgende rechtliche Konsequenzen für alle diese Fälle.
Bei einem Diebstahl geringwertiger Sachen nach § 248a StGB ist für die Frage der Geringwertigkeit auf den „Verkehrswert zur Zeit der Tat“42 abzustellen.
Die Staatsanwaltschaft hatte einen besonders schweren Fall des Diebstahls gemäß §§ 242, 243 I Satz 2 Nr. 2 StGB angeklagt.
Ist aber – wie oben dargestellt – der entwendete Müll aber steuerrechtlich und handelsrechtlich mit „0“ zu bewerten (und führt die Entwendung sogar zu einem wenn auch nur geringen Vermögensvorteil für den betroffenen Supermarkt), ist der Verkehrswert der entwendeten Sachen immer „0“ und zwar unabhängig von der Quantität des entwendeten Mülls; denn bekanntlich ist auch 100 x 0 = 0. Damit kann beim Diebstahl von Müll niemals ein Fall des besonders schweren Diebstahls vorliegen kann, § 243 II StGB.
(3) Haftung für entsorgte Ware
Schließlich wiederholt das Gericht zur Begründung für die Sicherung der Abfallcontainer die mantrahaft in allen Entscheidungen auftauchende Behauptung, der Entsorger sei zum Schutz vor „hieraus resultierenden möglichen Haftungsansprüchen“ gehalten, die Abfallcontainer zu verschließen, weil sie „ für die in den Abfallcontainern entsorgte Ware haftungsrechtlich verantwortlich “ sei. Woraus – Anspruchsgrundlage? – sich eine solche Haftung ergeben soll, ist indes an keiner Stelle ausgeführt. Es gibt diese Haftung auch nicht43, sie ist eine juristische Schimäre, ein „Wolpertinger“ des deutschen Rechts.
Näherliegend ist eigentlich der Gedanke, dass derjenige, der Lebensmittel einem Abfallcontainer entnimmt, in aller Regel weiß, dass er es mit solchen Lebensmitteln zu tun hat, die das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits erreicht oder sogar überschritten haben.
Die bewusst in Kauf genommene, eigenverantwortliche Selbstgefährdung hierdurch liegt auf der Hand. Etwaige aus dem Verzehr solchermaßen erlangter Lebensmittel resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen dürften kaum zu Haftungsansprüchen des Entsorgers führen (können). Auch Schäden durch übermäßigen Verzehr geistiger Getränken oder Tabakwaren führt bei Konsumenten über 16 Jahren (jedenfalls in Deutschland (im Moment noch)) nicht zu einer Haftung der Hersteller oder derjenigen, die diese Produkte in den Verkehr bringen.
Die gedankliche Gegenprobe ergibt vielmehr die Richtigkeit dieses Arguments.
Unterstellt, ein Privathaushalt entsorgt drei „abgelaufene“ (und verdorbene) Joghurts in den haushaltsüblichen Mülleimer, der für die Müllabfuhr abholbereit vor der Tür steht. Anschließend werden diese Joghurts von einem „Taucher“ entnommen und verzehrt. Es stellen sich in der Folge gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Magenverstimmungen und/oder Diarrhoe ein. Auf welcher Anspruchsgrundlage sollte hier ein – wie auch immer gearteter – Schadensersatzanspruch bestehen?
Obwohl falsche Rechtsansichten bekanntlich durch ständige Wiederholung nicht richtiger werden, taucht der Gesichtspunkt einer möglichen Haftung des die abgelaufenen Lebensmittel entsorgenden Unternehmers als „Argument“ immer wieder und in jeder Entscheidung auf.
(4) Grammatikalische Auslegung
Auch die sprachliche Seite dieses „Arguments“ ist irritierend. Bekanntlich findet Gesetzesauslegung ihre Grenzen am möglichen Wortsinn44. Es ist zweifelhaft, ob der Begriff des „Entsorgens“45 auch dahin verstanden werden kann, dass etwas „in den Verkehr gebracht“46 wird. Nach allgemeinem Sprachverständnis meinen diese beiden Begriffe ihr jeweiliges exaktes Gegenteil. Wer etwas in den Müll wirft, will es dem Verkehr entziehen und bringt es nicht in den Verkehr.
Der Begriff „Inverkehrbringen“ ist im Übrigen legal definiert. Gemäß § 3 Nr. 1 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch - LFGB i.V.m. Artikel 3 Nummer 8 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ist
„„Inverkehrbringen“ das Bereithalten von Lebensmitteln oder Futtermitteln für Verkaufszwecke einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, gleichgültig, ob unentgeltlich oder nicht, sowie den Verkauf, den Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst; „Inverkehrbringen“ das Bereithalten von Lebensmitteln oder Futtermitteln für Verkaufszwecke einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, gleichgültig, ob unentgeltlich oder nicht, sowie den Verkauf, den Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst“;
Damit ist die Entsorgung von Lebensmitteln in einen dafür vorgesehenen Abfallcontainer offensichtlich kein „Inverkehrbringen“, weil es bereits am ersten Tatbestandsmerkmal des „Bereithaltens“ fehlt.
Schließlich ist beiden Begriffen eine aktivische Bedeutung zu eigen. Der betroffene Supermarkt ist aber nicht aktiv tätig, sondern verhält sich rein passiv.
Aus diesem Grund haftet der entsorgende Supermarkt unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt wegen der in den Abfallcontainer geworfenen Lebensmittel.
(5) Ausnahmsweise Haftung
An diesem Befund könnte sich nur dann etwas ändern, wenn nach einer möglichen Aufhebung der Strafbarkeit des Containerns Supermarktbetreiber dazu übergehen würden, – alleine zur Verhinderung von Verschmutzung und Ungezieferbefall – bereits aussortierte, aber noch genussfähige Lebensmittel geordnet – also etwa in Regalen auf dem hinteren Betriebsgelände – zur Verfügung zu stellen. Für diesen Fall wäre dann sicherlich problematisch, ob in diesem Feilhalten (fast) abgelaufener Ware nicht auch ein Inverkehrbringen gesehen werden könnte. Diese hypothetische Frage bedarf jedoch im Rahmen dieser Arbeit keiner gesonderten Erörterung.
Der die Revisionen der beiden Angeklagten verwerfende Beschluss des BayObLG vom 2.10.2019 ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.
Das BayObLG liegt hier zunächst mit seiner Entscheidung auf der Linie der noch herrschenden Meinung47, dass auch völlig wertlose Gegenstände taugliches Diebstahlsobjekt sein können. Besonders bildhaft hat dies Fischer in seiner Spiegel-Kolumne „Joghurt, wem Joghurts gehört“48 dargestellt.
Das BayObLG widmet der hier entscheidenden Frage der „Fremdheit“ der von den Angeklagten weggenommenen Lebensmittel zwar den Hauptteil der Entscheidung, der aber nur zwei Seiten ausmacht, mithin recht schlank geraten ist. Es hat wegen der streng zivilrechtsakzessorischen Konstruktion des Tatbestandsmerkmals der „Fremdheit“ in § 242 StGB darauf abgestellt, ob aus den äußeren Umständen des Falles auf einen Besitzaufgabewillen des Entsorgenden, auf eine sogenannte „Dereliktion“ gemäß § 959 BGB geschlossen werden könne.
Das Gericht beginnt zunächst mit einem Eigenzitat, in dem es auf seine Entscheidung BayObLGSt 1986,72 (= MDR 1987,75)49 verweist. Die Entscheidung betrifft indes einen gänzlich anderen Fall. Im früheren Fall hatte sich jemand nach entsprechendem Sammelaufruf einer größeren Partie Altpapier entledigt, indem er das gebündelte Altpapier zur Abholung an den Straßenrand gestellt und es nicht sofort in eine Mülltonne entsorgt hatte. Dieses Altpapier hatte darüber hinaus auch noch einen Wert von 300 DM.
Die Berufung auf diese eigene frühere Entscheidung ist also nicht überzeugend, weil sie den Fall betrifft, dass sich der Entsorgenden gezielt zu Gunsten eines Dritten einer (werthaltigen!) Sache entledigen will.
Sodann zitiert das BayObLG eine Entscheidung des Reichsgerichts (RGSt 44, 207, 209)50 wonach die Wertlosigkeit einer Sache als solche Dritten nicht das Recht zur Wegnahme gewähren soll. Das kann richtig sein, muss es aber nicht. Diese Entscheidung stammt aus vorkonstitutioneller Zeit und konnte deshalb weder die Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG noch eine etwa in der Zwischenzeit geänderte Verkehrsauffassung zur Behandlung von industriellem Abfall berücksichtigen.
Erneut taucht dann im letzten Absatz der Entscheidung51 das bereits oben widerlegte Argument auf, dass der Entsorgende für die gesundheitliche Unbedenklichkeit in Verkehr gebrachter Lebensmittel einzustehen habe (wie es hier der Fall sei). Zwar ist richtig, dass ein Lebensmittelunternehmen wie Edeka dafür einzustehen hat, dass die von ihm „in Verkehr gebrachten“ Lebensmittel gesundheitlich unbedenklich sind.
Darum geht es hier aber nicht, entscheidend ist vielmehr, ob ein „Entsorgen“ in eine Mülltonne überhaupt ein „Inverkehrbringen“ darstellt, was aber unter Hinweis auf die einschlägigen Vorschriften des Lebensmittel- und FuttermittelGB in Verbindung mit den entsprechenden EU-Vorschriften widerlegt worden ist. Freilich hat das BayObLG dabei die Möglichkeit offengelassen, dass die Frage der Fremdheit bei anderer Fallgestaltung auch anders zu beurteilen sein könnte, entscheidend also jeweils auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen ist.
Diese Erkenntnis ist nun kein juristischer „Bildersturm“, sondern eine „Binsenweisheit“. In der Rechtsprechung kommt es immer auf den Einzelfall an.
Nun hatte kaum jemand damit gerechnet, dass das BVerfG, das bisweilen Jahre für die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung von Verfassungsbeschwerden benötigt, gerade mal ein dreiviertel Jahr nach deren Einreichung schon zu einem Ergebnis gelangt sein würde; einem Ergebnis freilich, das den Befürwortern der Entkriminalisierung des Containerns nicht gefallen konnte. Das BVerfG lieferte in seinem Beschluss vom 5.8.2020 ein mustergültiges Beispiel für „judicial selfrestraint“ ab, dem allerdings auch irgendwie das G‘schmäckle des „nicht entscheiden Wollens“52 anhaftete.
[...]
1 (Welthungerhilfe 2019, 1)
2 (Welthungerhilfe 2019, 1)
3 (Hunger in Industriestaaten? 2011)
4 (RP-online 2011)
5 (Tafel_Deutschland_e.V. 2020)
6 (Herr 2015)
7 (Kühn 2019, 1 ff.), (Jahnke 2019, 87/88)
8 Der Begriff „Containern“ hat sich für das Entnehmen von unverkäuflichen und zur Entsorgung bestimmten, aber noch brauchbaren Waren aus Abfallbehältern eingebürgert. Die Versuche einer Eindeutschung („Mülltauchen“, „Essenretten“ u.ä.) halten den Kriterien einer wissenschaftlichen Begriffsbildung nicht stand, weil sie bereits vor der Analyse mit Wertungen operieren. Daher wird der neutrale Anglizismus „Containern“ in der vorliegenden Arbeit verwendet und im Verlauf nicht mehr in Anführungszeichen gesetzt.
9 (Liebrich 2018)
10 Vgl.(Kreutzberger und Thurn 2015, 76/77)
11 Vgl. (Kreutzberger und Thurn 2015, 134 ff.)
12 AG Düren, Urteil vom 24 Januar 2013 – 10 DS 288/12 –, juris
13 AG Fürstenfeldbruck, Aktenzeichen 3 Cs 42 Js 26676/18, Urteil vom 30.1.2019
14 BayObLG, Aktenzeichen:206 StRR 1013/19; 206 StRR 1015/19, Beschluss vom 2.10.2019
15 BVerfG, Aktenzeichen 2,1986/19 BvR 1985/19
16 (Fischer 2020, 10)
17 (Ahrens 2020)
18 (Büchner 1979, 118-120)
19 (Latzel 2008)
20 Urteil des BVerfG vom 18.7.2012 Aktenzeichen 1 BVL 10/10,1 BVL 2/11
21 (Luther und Übersetzer 2020)
22 Art. 20 Abs. 3 GG
23 Vgl. (BVerfGE 34, 269 - Soraya). Leitsatz 4:„Dem Richter kommt die Aufgabe und die Befugnis zu "schöpferischer Rechtsfindung" und Rechtsfortbildung zu; die Grenzen hierfür, die wegen des aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatzes der Gesetzesbindung zu ziehen sind, lassen sich nicht in eine allgemeine und für alle Fälle gleichermaßen geltende Form fassen“
24 (Gegen_Vergessen_–_Für_Demokratie-e.V. 2019, 2)
25 a.a.O. Seite 3
26 (Buchholz 2017)
27 AG Düren, AG Fürstenfeldbruck, BayObLG und BVerfG (vgl. obige Fußnoten 11-13)
28 (Seeliger 2011)
29 (Nickel 2012)
30 (Röhn 2014)
31 (R. Deutschland 2019)
32 (Patalong 2013)
33 AG Düren, Urteil vom 24. Januar 2013 – 10 DS 288/12 –, juris
34 (Lüneburg 2012)
35 (Britz und Torgau 2020)0 (Dießner, Was ist das Entwenden von Brot gegen das Verbrennen von Brot? 2019) (Malkus, Containern – strafbar und strafwürdig? 2016) (Bode 2020, 2 ff.) (M. Lorenz 2020) (Janisch 2019) (Jahn 2020) (Jäger 2020)
36 AG Düren a.a.O. Rn. 7
37 BayObLG a.a.O. Seite 4 erster Absatz
38 (Fischer, Strafgesetzbuch 67. Aufl. 2020) § 230 Rn. 3
39 (Paeffgen und Böse 2020)
40 BVerfG, Beschluss vom 8. 5. 1979 - 2 BvR 782/78, NJW 19 79,1591
41 vergleiche dazu im Einzelnen unten 4d
42 (Fischer, Strafgesetzbuch 67. Aufl. 2020) § 248a Rz. 3
43 jedenfalls nicht auf der Basis der gegenwärtigen Rechtslage.
44 Beschluss des BVerfG vom 17.11.2009 Aktenzeichen 1 BvR 2717/08 Rz. 18 … Hier zieht der Wortsinn einer Vorschrift die unübersteigbare Grenze …
45 Duden „von Müll, Abfallstoffen befreien“
46 Duden „das Bereitstellen einer Ware zum Verkauf oder zur Nutzung“
47 (vgl. Fischer, StGB, § 242 Rn. 3a)
48 (Fischer, Joghurt, wem Joghurt gehört 2020) „…die Locke der Liebsten…“
49 a.a.O. Seite 3, 2. Absatz
50 a.a.O. Seite 3, letzter Absatz
51 a.a.O. Seite 4, letzter Absatz
52 (persönliche Bewertung des Verfassers)