Examensarbeit, 2018
115 Seiten, Note: 2,0
1. Einleitung
Theoretische Grundlagen
2. Veränderte Lebenswelt für Kinder und Jugendliche
2.1 Lebensstil und Freizeitgestaltung
2.1.1 Mediennutzung
2.1.2 Teilnahme an Sportvereinen und Bewegungszeit
2.2 Räumliche Faktoren
2.3 Familie und soziales Umfeld
3. Bewegungsmangel/Sedentarismus
3.1 Definition von Bewegungsmangel
3.2 Ursachen und Folgen von Bewegungsmangel
3.3 Bedeutung für die motorische Entwicklung
4. Sitzen als Belastung
4.1 Aspekte einer Physiologie des Sitzens
4.1.1 Folgen für die Wirbelsäule
4.1.2 Weitere Aspekte des Sitzens
4.2 Der Klassenraum aus ergonomischer Sicht
4.2.1 Möblierung
4.2.2 Luft und Klima
4.2.3 Lärm
4.3 Aktiv-dynamisches Sitzen
5. Möglichkeiten für die Schule
5.1 Konzept der Bewegten Schule
5.1.1 Pädagogisch-personalstrukturelle Rahmen
5.1.2 Infrastrukturelle Rahmen
5.1.3 Unterrichtsinterne Merkmale
5.1.4 Unterrichtsexterne Merkmale
5.2 Rückenschule
5.3 Motorikschule
5.4 Bedeutung für den Schulsport
5.4.1 Der Erziehende Sportunterricht
5.4.2 Umsetzung einer täglichen Sportstunde
5.5 Zwischenfazit
Empirie
6. Unterrichtsgegenstand und Forschungsfrage
7. Forschungsdesign
7.1 Verschiedene Ansätze empirischer Forschung
7.2 Qualitative Forschung
7.3 Datenerhebung
7.3.11nterview als Forschungsmethode
7.3.2 Interviews mit Kindern
7.4 Stichprobe und Forschungsfeld
7.5 Interviewleitfaden
8. Auswertung der Daten
8.1 Transkription
8.2 Qualitative Inhaltsanalyse
9. Ergebnisse der Interviews
9.1 Darstellung der Ergebnisse
9.2 Interpretation der Ergebnisse
9.3 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abb. 1: Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nach Erhebungsmodus (Adjustierte Prävalenzen und 95 % Konfidenzintervalle) (Pilotstudie KiGGS Welle 2, 2017)
Abb. 2: Sportvereinsquoten ausgewählter Altersgruppen (eigene Darstellung nach Universität Karlsruhe, MoMo) (Bös et al., 2008)
Abb. 3: Bewegungsempfehlung für Kinder und Jugendliche in der Schweiz (eigene Darstellung nach BASPO 2006) (Gerber, 2008)
Abb. 4: Ursachen körperlicher Inaktivität und nachfolgender Herausbildung des Circulus vitiosus Inaktivität (eigene Darstellung nach Weineck, 2000)
Abb. 5: Folgen des Bewegungsmangels bei Schülern (eigene Darstellung nach Oppolzer, 2006)
Abb. 6: Differenzierung motorischer Fähigkeiten (eigene Darstellung nach Bös, 1994)
Abb. 7: Haus der Bewegten Schule (eigene Darstellung nach Klupsch-Sahlmann, 2007)
Abb. 8: Systematik der Schulsportentwicklungsforschung (eigene Darstellung nach Balz, 2011)
Abb. 9: Schematische Darstellung der Forschungsstrategie der qualitativen Forschung (eigene Darstellung nach Witt, 2001, in Lamnek & Krell, 2016, S. 188)
Abb. 10: Polarität von theoretischer und empirischer Kategorienbildung (eigene Darstellung nach Kuckartz, 2016, S. 64)
Abb. 11: Ablaufmodell einer inhaltlich strukturierten Inhaltsanalyse mit deduktiver Kategorienbildung (modifiziert nach Mayring, 2008, S. 84)
Tab. 1: Befunde von Schulanfängern, Angaben in % 1986-2008 (eigene Darstellung nach Schmidt, 2013)
Tab. 2: Schulmöbelmaße und Ergonomie der DIN ISO 5970 (eigene Darstellung nach Böttler et al., 2000)
Tab. 3: Systematisierung der in der Literatur vorhandenen Begründungsmuster für die „Bewegte Schule" (eigene Darstellung nach Thiel et al., 2006)
„Das Leben besteht nicht nur aus Schularbeiten. Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln. [...] Der Kopf ist nicht der einzige Körperteil. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. [...] Man muss nämlich auch springen, turnen, tanzen und singen können [...]“
Dieses Zitat von Erich Kästner (o. J.) beschreibt eindrucksvoll, dass die Institution Schule in ihrem Bildungsauftrag neben der Wissensvermittlung auch die körperlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler1 fördern muss. In unserer heutigen Gesellschaft bewegen sich Kinder im Gegensatz zu früheren Generationen wesentlich weniger. Diese Erkenntnislage wird im Laufe dieser Arbeit anhand von mehreren Studien bestätigt. Doch aufgrund welcher Faktoren wird dieser Negativtrend begünstigt und welche Lösungsansätze bieten sich hierbei für eine Verbesserung an?
Fakt ist, dass im Laufe des zeitlichen Wandels unserer Gesellschaft die Kinder und Jugendlichen von heute zunehmend ihre Freizeit vor dem Fernseher, dem Handy oder dem Computer verbringen, anstatt sich im Freien körperlich zu betätigen. Außerdem kommt hinzu, dass die Schüler ihre Unterrichtszeiten in den Schulen größtenteils im Sitzen verbringen müssen und somit nicht körperlich aktiv werden können. International vergleichende Studien (z. B. Corbin, Pangraz & Le Masurier, 2004) gehen hierbei hinsichtlich der moderaten körperlichen Aktivität bei Kindern von einer täglichen Bewegungsdauer von 60 Minuten aus (Schmidt, 2013, S. 49). Dabei zeigen die Ergebnisse der MOMO-Studie, dass nur 23,2 % der Jungen und 18,2 % der Mädchen die internationale Empfehlung für körperlich-sportliche Aktivität erreichen. Mit zunehmendem Alter sinkt der Anteil der Kinder, die diese Forderung erfüllen. So fällt beispielsweise der Prozentsatz von 4-jährigen Kindern von 27,2 % auf gerade noch 8,8 % bei den 12-Jährigen zurück (Woll, 2009, S. 188 f.). Dabei ist gerade Bewegung eine Komponente, die für eine kognitive, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder elementar wichtig ist. Weiterhin führt körperliche Inaktivität neben einer Beeinträchtigung der Allgemeinentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu diversen Krankheitsbildern.
Kinder und Jugendliche verbringen ihren größten Teil des Schulalltags im Klassenzimmer. Abgesehen von den wenigen Sportstunden, die auf dem Stundenplan stehen, finden die meisten Unterrichtsstunden sitzend statt. Im Hinblick auf die oben beschriebene Erkenntnislage stellt sich somit die Frage, ob die Schule als Hort der Massenerziehung gesundheitsgefährdend für die Schüler ist. Um diese Kernfrage ausführlich beantworten zu können, ist die Arbeit in folgende Abschnitte aufgebaut:
Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit theoretischen Grundlagen, die für den weiteren Verlauf relevant sind und auf dem der nachfolgende empirische Teil aufgebaut werden kann. Dabei wird zuerst auf die aktuellen Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen eingegangen. Weiterhin werden Ursachen und Folgen des Bewegungsmangels analysiert und näher erläutert. Im Anschluss wird die Bedeutung der Bewegung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus psychomotorischer Sicht behandelt. Nachfolgend wird das Sitzen als Aktivität in und außerhalb der Schule untersucht und anhand diverser Richtlinien ein schonendes Sitzverhalten näher beschrieben. Um aus schulischer Sicht den Missständen des Sedentarismus entgegenwirken zu können, wird auf das Konzept der Bewegten Schule, das meist auf spezifische Problemlagen (Sitzen als Belastung, Bewegungsmangel), fachpädagogische Programme (Gesundheitsförderung, Bewegungserziehung) oder schulpädagogische Entwicklungen (Schulprogramm, Schulkultur) zurückzuführen ist, eingegangen. Aus sportpädagogischer Sicht wird abschließend die Frage geklärt, inwieweit eine von Experten oftmals erwünschte tägliche Sportstunde in Schulen umgesetzt werden kann. Der theoretische T eil wird mit einem Zwischenfazit abgerundet.
Der zweite empirische Teil verschafft zunächst einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Bewegungszeiten von Kindern und Jugendlichen. Im Anschluss wird die qualitative Forschungsmethode näher beschrieben, begründet und von der quantitativen Methode abgegrenzt. Die Darstellung der qualitativen Studie erfolgt in Form von Interviews mit Schülern, die zu ihren körperlichen Aktivitäten in und außerhalb der Schule befragt werden. Voraussetzung für die Teilnahme an den Interviews ist ein Sitztagebuch, in dem die Schüler im Zeitraum von einer Woche ihre sitzenden Tätigkeiten protokollieren. Für die Auswertung und Interpretation der Interviews dient hierbei die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring. Finalisiert wird die Arbeit mit einem abschließenden Fazit.
Die Lebensbedingungen unserer Gesellschaft haben sich in der Vergangenheit stark verändert. Dabei ist entscheidend, dass dieser Wandel einerseits zu vermehrten psychosozialen Stressbelastungen führt, andererseits aber auch die körperliche Inaktivität zunimmt (Gerber, 2008, S. 51). Infolgedessen zeichnet sich ab, dass auch Kinder und Jugendliche von diesen Veränderungen unmittelbar betroffen sind. Der Sportphysiologe Per-Olof Astrand (2004) fasst den gesellschaftlichen Wandel wie folgt zusammen:
„If we transfer homicid history over a 4-million-year period into a 400m distance, it has been very different during the last meter (10000 years) and particulary during the last 10 mm (100 years). During those millimeters there have been more technical ,evolutions‘ than during the preceding 399.90 meters! [...] The human body has over millions of years adapted to the need of regular, moderate physical activity [...] and a continuation of such activity is essential for its optimal functioning“ (Gerber, 2008, S. 51).
Astrand unterstreicht damit, dass eine körperliche Aktivität in jedem Zeitalter der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen ein unvermeidbarer Teil des alltäglichen Lebens war. Die tägliche Bewegung in Form von Jagen, Sammeln oder Anbauen waren essentielle Aktivitäten, die das Überleben des früheren Menschen sicherten. Ein inaktiver Lebensstil war das Privileg weniger Begünstigter. Im Verlauf der Zeit haben sich somit natürlich gegebene Bewegungsanforderungen in den emotionalen, intellektuellen und sozialen Eigenschaften des Menschen niedergeschlagen (Gerber, 2008, S. 51).
Die moderne Gesellschaft produziert eine enorme Entwicklungsdynamik: Technisierung, Medialisierung, Ökonomie oder Globalisierung sind Begriffe, die diese Prozesse legitimieren und vorantreiben. Angekoppelt an diese Avantgarde der Entwicklung sind auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozesse, die sich im Gegensatz zu anderen Komponenten lediglich in der Veränderungsgeschwindigkeit unterscheiden (Thiele, 2011, S. 16). Übertragen auf die Lebenswelt von Kindern ist festzustellen, dass seit mehreren Jahrzenten - vielleicht gerade in den letzten zwei Jahrzehnten - Veränderungsprozesse zu verbuchen sind, die zu massiven Umstrukturierungen der Lebenswelt von Kindern führen. Innerhalb der Sportwissenschaften werden diese Veränderungen in zwei kontroverse Diskussionssträngen thematisiert: Auf der einen Seite existieren Vertreter der Versportlichungsthese, die unter Verweis auf konsistente Befunde neuerer Jugend- und Jugendsportsurveys davon ausgehen, dass Sportaktivitäten für die Lebensführung von Jugendlichen ein selbstverständliches Element darstellen. Die jugendliche Sportbeteiligung sei im Zeitreihenvergleich durch die Expansion und Pluralisierung für verschiedene Sportengagements tendenziell sogar gestiegen (Burrmann, 2007, S.19). Die Feststellung des Trends von Burrmann wird durch die Aussage von Renate Zimmer (1999) folgendermaßen bestätigt:
„Noch nie hatten Kinder so viele Sachen zum Spielen, noch nie gab es so viele Einrichtungen, die sich um ihre Freizeit, ihre musischen und sportlichen Aktivitäten kümmern wie heute“ (Zimmer, 1999, S. 17).
Auf der anderen Seite plädieren Vertreter der Bewegungsmangelthese darauf, dass die heutige nachwachsende Generation Defizite im körperlichen und gesundheitlichen Status aufweisen und im Hinblick auf das sportmotorische Leistungsniveau schlechter abschneiden als die Kinder und Jugendlichen früherer Generationen (Burrmann, 2007, S. 19). Als Auslöser dieser negativen Entwicklung wird ebenfalls der Wandel der Lebensverhältnisse, der Gelegenheitsstrukturen und der Interessenkonstellationen von Kindern und Jugendlichen genannt, wobei als Hauptcharakteristika in erster Linie die fortschreitende Mediatisierung in der Lebenswelt von Heranwachsenden angeführt wird (ebd.). Um beide Diskussionsstränge in Einklang zu bringen, kann man zusammenfassend folgende These generieren:
„Obwohl sich heutzutage die allermeisten Kinder und Jugendlichen in erheblichem Umfang- und dies wahrscheinlich mehr als zu früheren Zeiten - am Sport beteiligen, lassen sich zugleich Defizite in deren (sport)motorischen Leistungen registrieren, die offenbar heutzutage deutlicher in Erscheinung treten als bei früheren nachwachsenden Generationen“ (Burrmann, 2007, S. 20).
Um eine plausible Auflösung dieses Widerspruchs herstellen zu können, muss zunächst einmal unter Berufung der Datenermittlung festgestellt werden, dass unterschiedliche Analysestrategien verwendet worden sind. Vertreter der Versportlichungsthese verzichteten bei ihrer Erhebung zur Sportbeteiligung der Heranwachsenden auf sportmotorische Tests. Im Gegensatz dazu stützen sich die Vertreter der Bewegungsmangelthese in ihren Studien auf genau diese Tests, ohne dabei die Bewegungs- und Sportaktivitäten differenzierter zu erheben (Burrmann, 2007, S. 20). Weiterhin wurde das Sportverständnis von Kindern und Jugendlichen durch die Expansion und den Pluralismus des Sports in Form von breiteren Sportangeboten verändert. Während frühere Sportkonzepte auf wettkampforientierte Sportarten abzielten, wird das heutige Verständnis von Sport ausdifferenziert und vielfältige Formen des nicht wettkampforientierten Freizeitsports miteinbegriffen, die die sportmotorische Leistungsfähigkeit weniger beanspruchen (ebd.).
Der Alltag von Kinder und Jugendlichen in der heutigen Zeit ist weitestgehend institutionell strukturiert und hat sich neben der Schule und der Familie zu einem dritten Sozialisationsbereich entwickelt. Dazu hat unter anderem ein breites Angebot an Freizeitangeboten wie Sportvereine und außerunterrichtliche Angebote beigetragen (Schmidt, 2013, S. 65). Heute spricht man von einer sogenannten Terminkindheit, da institutionelle Verabredungen am Nachmittag zu einem Fixpunkt des individuellen Freizeitplanes werden und andere Aktivitäten um diese Termine herum systematisch geplant und organisiert werden müssen (ebd.). Dennoch haben sich das Freizeitbudget und die Aktivitäten innerhalb der freien Zeit in den letzten Jahren gewandelt. Neben einer zunehmenden Tendenz zu selbst gewählten Freundschaftsgruppen verliert die Freizeitgestaltung innerhalb der Familie und das Wohnumfeld immer mehr an Bedeutung (Ernst & Vahabzadeh, 2007, S. 86).
Bei einer Untersuchung der Freizeitpräferenz von Jugendlichen wurde deutlich, dass Beschäftigungen mit dem Computer, Musik hören und fernsehen neben Freunde treffen die meiste Zeit in Anspruch nehmen (ebd.). Im Zeitalter der Medien kann man rund um die Uhr fernsehen und aus einem breitgefächerten Kontingent an Kanälen auswählen. Auch das Internet bietet mit sozialen Netzwerken wie Facebook oder Youtube einen großen Handlungsspielraum für Jugendliche. Zudem ist die Vielfalt an Computerspielen und Spielekonsolen gestiegen, die eine körperlich inaktive Freizeitgestaltung begünstigen.
„Insgesamt verbringen Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit mit sitzenden Tätigkeiten“ (Ernst & Vahabzadeh, 2007, S. 87).
Das Robert Koch Institut hat mit ihrer KiGGS Welle 2, im Zeitraum zwischen September 2014 und August 2017 für die Mediennutzung von Kinder und Jugendliche folgende Ergebnisse (Abb. 1) generiert:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nach Erhebungsmodus (Adjustierte Prävalenzen und 95 % Konfidenzintervalle) (Pilotstudie KiGGS Welle 2, 2017, S. 53).
Dabei wurden die Informationen zum Mediennutzungsverhalten bei Kindern zwischen 3 und 10 Jahren über die Eltern erhoben, die 11 bis 17- jährigen Kinder und Jugendliche haben selbst Auskunft darüber gegeben. Bei der Untersuchung wurde gefragt, wie lange das Kind bzw. der Jugendliche sich durchschnittlich pro Tag mit den im Diagramm aufgezählten Aktivitäten beschäftigt. Zudem wurden sie nach der Nutzung sozialer Medien pro Tag befragt. Im Rahmen der statistischen Analyse wurden hierbei nur die Anteile der Kinder und Jugendlichen zwischen den Erhebungsmodi verglichen, die jeden Tag mehr als 2 Stunden mit den oben genannten Medien verbringen (Pilotstudie KiGGS Welle 2, 2017, S. 28 f.). Nachdem nun statistisch aufgezeigt worden ist, wie sich die Freizeit der Kinder und Jugendlichen körperlich inaktiv gestaltet, wird im Folgenden die sportliche Aktivität in Vereinen und die allgemeine Bewegungszeit näher beleuchtet.
Die Mitgliedschaft in Sportvereinen stellt mit Abstand die beliebteste Institution dar, wenn es um eine aktive Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen geht (Bös, Lampert & Rommel, 2008, S. 12). In der Bundesrepublik Deutschland sind etwa 80 % der Kinder und Jugendliche im Sportverein vertreten (Dordel & Graf, 2007, S. 71). In der Altersklasse bis zum 15. Lebensjahr entspricht das in etwa 5,5 Millionen Kinder. Mädchen sind dabei mit einem geringeren Umfang im Sportverein aktiv als Jungen (Schmidt, Hartmann-Tews & Brettschneider, 2003, S. 160). Trotzdem sprechen Woll und Bös (2004) von einem Bewegungs-Paradoxon, das durch einen Bewegungsmangel im Alltag und einer Versportung der Freizeit charakterisiert wird. Gestützt wird dieses Paradoxon dadurch, dass Kinder zwar immer früher in Sportvereine eintreten, aber nur 10 % der Mitglieder dreimal pro Woche aktiv sind (Gerber, 2008, S. 61). Im Schnitt gehen Kinder und Jugendliche zweimal pro Woche in den Sportverein und verbringen dort ca. 5 Stunden. Der zeitliche Aufwand, den Kinder und Jugendliche für ihr Sportengagement aufbringen, unterliegt einem deutlichen Alterseffekt: Zum einen erhöht sich der Anteil derjenigen, die immer weniger Zeit für den Sportverein investieren und zum anderen vergrößert sich der Anteil der Jugendlichen, die 6 oder mehr Stunden pro Woche im Verein verbringen (Schmidt et al., 2003, S. 160). In sportwissenschaftlichen Diskussionen ist dieser Selektionsmechanismus inzwischen als Leistungsspirale des Vereinssports eingegangen (ebd.). Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich die sportliche Aktivität in Vereinen mit zunehmendem Alter minimiert und die absolute Bewegungszeit im Laufe der Zeit erheblich abgenommen hat (Dordel & Graf, 2007, S. 71).
Abgerundet werden diese Fakten mit folgender Abbildung (Abb. 2) der Universität Karlsruhe, die aufzeigt, wie sich die Sportvereinsquoten ausgewählter Altersgruppen entwickelt.
Dabei kann man feststellen, dass knapp die Hälfte der 4-Jährigen frühzeitig in Sportvereine eintritt. Nach einer positiven Steigerung bis zum 8. Lebensjahr fällt der Anteil einer Mitgliedschaft stetig, bis sie bei beiden Geschlechtern im Alter von 17 Jahren ihren höchsten Negativwert erreicht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2. Sportvereinsquoten ausgewählter Altersgruppen (eigene Darstellung nach Universität Karlsruhe, MoMo) (Bös et al., 2008, S. 12).
Blickt man auf die allgemeinen Bewegungsumfänge von Kindern, so zeigen Untersuchungen von Bös et al. (2001), dass diese sich von 3-4 Stunden in den 70er- Jahren auf ca. 1 Stunde pro Tag in den 90er-Jahren minimiert hat. Von diesen 60 Minuten bewegen sich die Kinder lediglich 15 bis 30 Minuten intensiv (Dordel & Graf, 2007, S. 71). Hinsichtlich der Alltagsaktivitäten (Weg zu Fuß oder per Rad/Spiel im Freien) ist zu verzeichnen, dass weniger als 50 % der Kinder täglich mehr als 3 km zu Fuß zurücklegen und die Spielhäufigkeit im Freien sich seit dem Zeitpunkt der Einschulung drastisch reduziert (Schmidt, 2013, S. 49).
„Die Ergebnisse der MOMO-Studie zeigen, dass nur 23,2 % der Jungen und 18,2 % der Mädchen die international geforderte Empfehlung für körperlich-sportliche Aktivität erreichen. Mit zunehmendem Alter sinkt der Anteil der Kinder, die diese Forderung erfüllen: Von 27,2 % bei den 4-jährigen Kindern auf gerade noch 8,8 % bei den 12-Jährigen“ (Woll et al., 2009, S. 188 f.).
Unterschiede gab es zudem in der Geschlechterspezifik und der Wochenverteilung. So bewegen sich Jungen im Gegensatz zu Mädchen 2 Stunden mehr in der Woche und unter der Woche (1,8 Stunden) waren die Kinder weniger aktiv als an Wochenendtagen (2,3 bis 2,6 Stunden)(ebd.). Eine Empfehlung für die Bewegungszeit für Kinder und Jugendliche liefert die englische Expertengruppe Biddle, Sallis & Cavill 1998. Sie fordern, ähnlich wie die WHO, eine tägliche Bewegungszeit von mindestens einer Stunde moderater Aktivität. Darüber hinaus werden zweimal in der Woche Bewegungsepisoden empfohlen, die die Muskulatur kräftigen und die Beweglichkeit trainieren. (Gerber, 2008, S. 62). Dieser Empfehlung folgt seit 2006 auch das Bundesamt für Sport in der Schweiz, in der insbesondere der Wert eines vielseitigen Bewegungsund Sportverhaltens hervorgehoben wird. Zudem wird geraten, dass langandauernde Tätigkeiten ohne körperlicher Aktivität so gut es geht zu vermeiden gilt und sie ab einer Dauer von 2 Stunden zumindest durch Bewegungspausen unterbrochen werden sollten (ebd.). Die nachfolgende Graphik (Abb. 3) verdeutlicht diese Empfehlung in einem Schema:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3. Bewegungsempfehlung für Kinder und Jugendliche in der Schweiz (eigene Darstellung nach BASPO 2006) (Gerber, 2008, S. 62).
Spiel- und Bewegungsräume können für Kinder als Aktionsräume gesehen werden, die wichtige Beiträge zur Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie zur Sozialisation in die Gesellschaft leisten (Laging & Rabe, 2004, S. 154). Spielerische Handlungen implizieren die Wahrnehmung mit allen Sinnen und beziehen sich auf den konstruierten Raum. Somit können Kinder durch ihr eigenes Bewegungshandeln und das Handeln von Spielgefährten ihre Spuren in Bewegungs- und Spielräumen hinterlassen, andere darin teilhaben lassen, gleichzeitig verändern und in einer neuen Gestalt wieder hervorbringen. Jedoch werden diese förderlichen Entwicklungschancen in der sich wandelnden Lebenswelt mit raumgreifender Asphaltierung und Bebauung derzeit kritisch eingeschätzt (ebd.). Vor allem in Großstädten, wo die meisten Kinder aufwachsen, werden durch die Versiegelung offener Örtlichkeiten, städtischer Bebauung und mehr Verbote als Spielmöglichkeiten den Kinder - gegenüber den Generationen der 50er und 60er Jahre - 7/8 der ehemals informellen Spielräume genommen. Durch ein rasantes Wachstum des Straßenverkehrs um 500 % hat man den Kinder das Spielen auf der Straße und auf den nahegelegenen Bürgersteigen und Gehwegen nahezu unmöglich gemacht (Schmidt, 2013, S. 33). Durch diese zunehmend kinderfeindliche Bewegungswelt wurden die Kinder nicht nur ihrer Straßenspielkultur beraubt, sondern auch grundlegende motorische, kognitive und soziale Erfahrungen für die persönliche Entwicklung genommen. Der Neurobiologe Gerald Hüther betrachtet diese Umstände noch drastischer und formuliert hierzu:
„Kinder unter Daueraufsicht, die immer nur an der Hand von Erwachsenen umhergeführt werden, gleichen Haustieren, Stalleseln, die das Leben in der Freiheit nicht mehr kennen“ (Hüther, 2008, S. 44).
Für Zeiher (1983) beschränkt sich die Lebenswelt der Kinder auf die Wohnung, die Straße und dem Wohnort. Dieses Phänomen definiert Zeiher (1983) als Verinselung in der Lebenswelt der Kinder. In diesem Modell wurden bestimmte Wohninseln gebildet, die von anderen Örtlichkeiten wie die Schule, Vereine oder Einkaufsmöglichkeiten weit entfernt liegen und die Kinder und Jugendlichen folglich auf die Mobilität der Eltern angewiesen sind.
Bezogen auf die dargestellten schwindenden Bewegungsmöglichkeiten in der Lebenswelt von Heranwachsenden werden Veränderungsprozesse zugunsten einer Verhäuslichung identifiziert, die einen Bewegungsmangel begünstigen. Diese Einschätzung wird nicht zuletzt durch eine überschaubare Zahl an Optionen für das räumliche Spielen realisiert, sondern auch die natürliche Notwendigkeit der Bewegung, die allein durch räumliche Abstände und Wege erzwungen wird. Abschließend kann man sagen, wenn die „Draußenkindheit“ als „Bewegungskindheit“ zu verstehen ist, so ist die „Drinnnenkindheit“ mit der einer „Stubenhockerkindheit“ zu vergleichen (Thiele, 2011, S. 18).
Gerade in den ersten Lebensjahren stellt die Familie wesentliche Einflussfaktoren für die motorische Entwicklung von Kindern dar. Die Familie hat wie andere soziale Lebensformen für das Kind eine Vermittlungsfunktion sozialer und kultureller Einflüsse und fungiert somit als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Individuum (Brandl- Bredenbeck, Brettschneider, Keßler & Stefani, 2010, S. 24). Das Bewegungsverhalten der Kinder ist abhängig von der Wohnumwelt und den für sie bereitgestellten Spielmaterialien und Einrichtungsgegenständen, die die Bewegungsaktivitäten der Kinder fördern. Weiterhin nimmt die persönliche Beziehung zwischen Eltern und Kind einen besonders hohen Stellenwert ein, da sie ausschlaggebend dafür ist, inwieweit die Entwicklung des Kindes gefördert oder aber auch eingeschränkt wird (Zimmer, 1999, S. 110). Alle Eltern haben eine individuelle Vorstellung von Kindererziehung, welche sich anhand verschiedener Erziehungsstile veranschaulichen lässt. Wenden Eltern einen überbehüteten Erziehungsstil an, so wird das Kind in jungen Jahren in seinem Bewegungsraum eingeschränkt. Durch einen gewährenden Erziehungsstil seitens der Eltern wird dem Kind hingegen Vertrauen in die Erweiterung seiner Bewegungsmöglichkeiten gegeben und seine Selbstständigkeitsentwicklung gefördert.
Zudem haben Eltern gegenüber ihren Kindern immer eine Vorbildfunktion, die von den Kindern übernommen wird. So orientieren sich die Heranwachsenden an Werte und Normen, das Ess- und Konsumverhalten und nicht zuletzt auch an der Einstellung gegenüber dem Sport und der Bewegung, an den jeweiligen Erziehungs- und Bezugspersonen (Zimmer, 1999, S. 110). Auch der Zugang und die Bindung an Sportvereinen hängen stark von der Unterstützung der Eltern ab. So ist nach Kurz, Sack und Brinkhoff (1996) die Unterstützung für das eigene Sporttreiben unter Sportlern stärker ausgeprägt (Bös et al., 2008, S. 15).
„Kinder sind das Wertvollste einer Gesellschaft. In welchem familiären Umfeld sie aufwachsen, wie sie materiell versorgt sind, wie sie ausgebildet werden und welchen Zugang sie zu kulturellen oder sportlichen Angeboten haben - all das bestimmt im hohen Maße ihre Entwicklung“ (Statistisches Bundesamt, Presseerklärung vom 03.08.2011, in Schmidt, 2013, S. 19).
Neben der persönlichen Einstellung der Eltern gegenüber Bewegung und Sport ist auch der soziale Status der Familie ein Faktor für die körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen. Die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft trägt einen erheblichen Teil dazu bei, wie sich die Lebensgestaltung und Lebensführung der Heranwachsenden gestaltet (Brandl-Bredenbeck et al., 2010, S. 23). Betrachtet man die Hobbies und Interessen der Kinder, so ist festzustellen, dass diese in beträchtlichem Maße von den familiären Ressourcen abhängig sind. Die sogenannten modernen und vielseitigen KIDS, die durch ein hohes Maß an Terminen und einem breiten Beziehungsgeflecht (Cliquen, Freunde) definiert werden, stammen überwiegend aus wohlhabenden Familien, die über relativ starke ökonomische Ressourcen verfügen. Wohlhabende Familien sind durch die jeweilige Schichtzugehörigkeit, dem Bildungsabschluss, die Berufstätigkeit und dem Haushaltseinkommen gekennzeichnet (Schmidt, 2013, S. 66). In Familien mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status (SES) gelten die Verhältnisse öfters als gestört. Diese Missstände sind die primäre Ursache für psychosomatische Beschwerden von Kindern. So zeigt sich im Alltag beispielsweise eine generell höhere Symptomhäufigkeit bei körperlich inaktiven Kindern und Jugendlichen, vor allem bei Mädchen mit überhöhtem Fernsehkonsum. Weiterhin haben inaktive Kinder größere Probleme damit, sich in ein Sozialgefüge einzuordnen. Durch Eltern- und Expertengespräche konnte bestätigt werden, dass inaktive und übergewichtige Kinder und Jugendliche öfters Einzelgänger oder Außenseiter sind als andere (Schmidt, 2013, S. 63).
Anhand der Fakten ist festzustellen, dass sich Kinder und Jugendliche in unserer aktuellen Gesellschaft zu wenig bewegen. Neben einer negativen Korrelation zwischen Mitgliedschaft in Sportvereinen und zunehmendem Alter der Heranwachsenden bieten digitale Medien immer mehr Optionen für die persönliche Freizeitgestaltung an. Das spielerische Erkunden ist für kleinere Kinder aufgrund des Wachstums im Verkehrsbereich und durch die Urbanisierung nur noch bedingt möglich. Außerdem führen elterliche Erziehungsstile, die weniger sport-affin sind, zu geringeren Bewegungszeiten für Kinder und Jugendliche. Die Lebenswelt der Heranwachsenden fördert einen Bewegungsmangel, der im folgenden Kapitel näher beschrieben wird.
Der stärkere Einzug von Technisierung und Automation hat wie bereits erwähnt in den letzten Jahrzehnten eine weitgehende muskuläre Entlastung des Alltags hervorgebracht. Die Struktur und Leistungsfähigkeit eines Organes wird jedoch vom Erbgut, von der Qualität und Quantität seiner Beanspruchung bestimmt. Folglich sind organische Leistungsminderungen zu erwarten (Hollmann & Strüder, 2009, S. 403). Dennoch kann bisher nicht genau ermittelt werden, wie viel Bewegung für eine gesunde Entwicklung des menschlichen Individuums notwendig ist. Ebenfalls ist ein Mangel an Bewegung quantifizierbar und mit hoher Wahrscheinlichkeit individuell unterschiedlich zu bewerten. Infolgedessen kann keine genaue Beschreibung von Bewegungsmangel getätigt werden (Dordel & Graf, 2007, S.71).
Dennoch bieten Hettinger und Hollmann (2000) eine konkrete Definition für Sedentarismus an. Für sie ist Bewegungsmangel als „[...] eine muskuläre Beanspruchung unterhalb einer individuellen Reizschwelle zu betrachten, die zum Erhalt der funktionellen Kapazität des menschlichen Organismus notwendig wären“ (Dordel & Graf, 2007, S. 71)
Bezieht man hierbei die 5 motorischen Hauptbeanspruchungsformen mit ein, bei denen sich nur die Komponenten Kraft und Ausdauer auf den Organismus morphologisch auswirken, so kann man alternativ auch modifiziert formulieren:
„Bewegungsmangel ist bei einer gesunden Person von durchschnittlicher Leistungsfähigkeit die chronische Unterlassung einer Beanspruchung von mehr als etwa 30 % der maximalen statischen Kraft bzw. etwa 50 % der maximalen Kreislaufleistungsfähigkeit“ (Hollmann & Strüder, 2009, S. 404).
Für Dordel und Graf (2007) ist die Bestimmung dieser individuellen Reizschwelle und der damit verbundenen Erfassung eines Bewegungsmangels sehr schwierig. Eine Analyse in Form von Fragebögen hängt letztendlich immer von der subjektiven Einschätzung der Befragten ab. Gleiches gilt für die Ermittlung von Fitnesszuständen und Herzfrequenzmessungen, bei denen die Genetik bzw. situative Störgrößen eine entscheidende Rolle spielen. Zur Feststellung von körperlicher Inaktivität bei Kindern werden Interviews, Beobachtungen, Herzfrequenzmonitoring, Schrittzähler oder motorische Testverfahren bevorzugt, bei denen die jeweiligen Ergebnisse erheblich von den genutzten Untersuchungsverfahren abhängig sind (Dordel & Graf, 2007, S. 71).
Der menschliche Organismus ist auf Bewegung angelegt, der sich bei einer chronischen Unterforderung sofort in Form von Bewegungsmangelkrankheiten widerspiegelt. Es muss prinzipiell festgehalten werden, dass ein vorhandener Bewegungsmangel die
betroffene Person in ihrer Gesamtheit beeinträchtigt. So ist jedes Organ nur so leistungsfähig, wie es seiner Funktion entspricht. Dabei gilt die Faustformel wer rastet, der rostet ganzkörperlich (Weineck, 2000, S. 492).
Die wesentlichen Ursachen für körperliche Inaktivität werden zumeist in der kindlichen Bewegungswelt begründet. Technologisierung, Urbanisierung und audiovisuelle Medien spielen neben den fehlenden oder falschen familiären Vorbildern ebenso eine Rolle wie die geringe Bereitschaft in Sportvereinen und die langen Sitzzeiten in der Schule. Dazu untersuchte Marshall et al. (2004) den Zusammenhang zwischen Fernsehen, Video- und Computerspielen, der körperlichen Aktivität sowie dem Körperfettgehalt bei Kindern und Jugendlichen zwischen 3 und 18 Jahren. Dabei zeigte sich der Zusammenhang zwischen dem Körperfettgehalt und dem Medienkonsum als signifikant, jedoch war dieser zu gering, um als klinisch relevant zu gelten. Die körperliche Aktivität und der Medienkonsum korrelierten ebenfalls negativ, wenn auch hier der Einfluss als gering anzusehen war. Somit kam Marshall et al. (2004) zur Schlussfolgerung, dass die Verbindung zwischen sitzenden Tätigkeiten und der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen alleine nicht als Beleg für den Bewegungsmangel ausreicht. Neben anderen Faktoren führten die Autoren infolgedessen vor allem die mangelnde Alltagsaktivität auf (Dordel & Graf, 2007, S. 72). Insbesondere Heranwachsende, die in beengten Wohnverhältnisse leben, entwickeln frühzeitig ein für die gesundheitliche Gesamtentwicklung unzuträgliches Freizeitverhalten. Die tägliche Bewegungszeit tritt in den Hintergrund und wird durch überwiegend passive Aktivitäten ersetzt, die der Entstehung von typischen Bewegungsmangelkrankheiten (hypokinetic diseas) Vorschub leisten (Weineck, 2000, S. 384). Abbildung 4 verschafft einen Gesamtüberblick:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4. Ursachen körperlicher Inaktivität und nachfolgender Herausbildung des Circulus vitiosus Inaktivität (eigene Darstellung nach Weineck, 2000, S. 391).
Weineck, Köstermeyer und Sonnichsen untersuchten 1997 in Nürnberg 385 Schulanfänger und 716 Eltern auf ihren allgemeinen Fitness- und Gesundheitszustand sowie auf ihr Ernährungsverhalten. Innerhalb dieser interdisziplinären Testbatterie wurde mit motorischer, medizinischer und ökotrophologischer Parameter gemessen. Die dabei generierten Ergebnisse spiegelten die Auswirkungen eines hochgradigen Bewegungsmangel und einer chronischen Fehlernährung wider. So zeigte sich bereits beim Schuleintritt, dass ein beachtlicher Prozentsatz der Schüler muskuläre Schwächen aufwies und vor allem die koordinative Leistungsfähigkeiten, die in Form von Hampelmann, Seilhüpfen und Ball werfen ermittelt wurden, eklatante Schwächen zeigten. Weiterhin sind bereits in diesem Alter etwa 20 % der Schulanfänger übergewichtig und weisen überhöhte Blutfettwerte auf. Diese Risikofaktoren, gepaart mit chronischem Bewegungsmangel, bedeuten eine bereits hohe kardiovaskuläre Gefährdung in jungen Jahren (Weineck, 2000, S. 385). Anhand dieser Prognose gilt es nun zu beantworten, ob die Schule mit ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag in der Lage ist, die Schüler fitter zu machen. Jedoch sind Schobert (1978) und Fritz (1979) der Ansicht, dass die Intensität des Schulsports nicht annähernd ausreicht, um die Ursachen des Bewegungsmangels zu egalisieren:
„Der zunehmend gekürzte Schulsport traditioneller Prägung (mit durchschnittlich 2 Stunden wöchentlich bei meist viel zu großer Klassenstärke) reicht nicht aus, um die durch das Freizeitverhalten bzw. durch die Schule selbst bedingten langen Sitzzeiten (Unterricht und Hausaufgabenbewältigung) auch nur annähernd zu kompensieren“ (Weineck, 2000, S. 385).
Im Gegenteil, wie verschiedene Untersuchungen zeigen, verschlechtern sich die oben erwähnten Eingangsbefunde sogar nach dem Schuleintritt. Wasmund-Bodenstedt und Braun (1983) fanden heraus, dass bei Schulanfängern innerhalb von 2 Jahren ein Anstieg der Haltungsschwäche bzw. des Haltungsverfalls von 52 % auf 65 % verzeichnet werden konnte. Dabei treten diese Haltungsschwächen bei 12- bis 15-jährigen Schülern aufgrund des Wachstumsschubes in der Pubertät häufiger auf als bei Grundschulkindern (ebd.).
Vergleicht man anhand von anderen Studien die regionalen Unterschiede zwischen Stadt- und Landkindern, so lässt sich erkennen, dass die Stadtkinder früher, als sie noch in ihrem Wohnumfeld genug Möglichkeiten hatten sich zu bewegen, den Landkindern überlegen waren. Heute sind Landkinder denjenigen, die in der Stadt aufwachsen, in vielerlei Hinsicht überlegen: Sie haben weniger Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten und können sich besser konzentrieren. Ein entscheidender Grund hierfür ist die intensivere Bewegung (Oppolzer, 2006, S. 14f.).
Die Folgen des Bewegungsmangels sind vielseitig und können sich bei Kinder und Jugendliche auf die psychische und physische Gesundheit auswirken. Abbildung 5 von Oppolzer (2006) gibt einen Einblick auf die entstehenden Krankheitsbilder sowie deren Häufigkeit bei Schülern:
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Abbildung 5. Folgen des Bewegungsmangels bei Schülern (eigene Darstellung nach Oppolzer, 2006, S. 15).
Die häufigste Folge von Bewegungsmangel bei Schülern stellen dabei Muskel- und Skeletterkrankungen (29 %) dar. Erklären lässt sich dieses Ergebnis anhand der Pubertät, in der die Heranwachsenden bis zu 10 cm pro Jahr wachsen und 10 kg an Gewicht zunehmen. Gerade in dieser Phase des Erwachsenwerdens kann man von einer sehr instabilen Situation des Haltungs- und Bewegungsapparates ausgehen, bei der das Fehlen stabilisierender Reize in Form von abwechslungsreicher körperlicher Arbeit, die Muskulatur unterfordert und somit Haltungsschäden als Folge resultieren lassen (Amberger, 2000, S. 20). Außerdem bilden betroffene Kinder im Gegensatz zu aktiveren Altersgenossen keine positiven Kreuzadaptionen aus, welche einen sehr bedeutsamen Faktor darstellen. Charakteristisch für diese Art von Trainingsadaption ist eine unspezifische, übergeordnete Form der Anpassung, die allgemein gesehen den gesundheitlichen Gesamtzustand beschreibt. Als Faktoren der positiven Kreuzadaption fasst Weineck (2000) folgende zusammen:
- Verbesserte Abwehr gegen Infekte und schnellere Wundheilung
- Erhöhte Abhärtung aufgrund einer optimierten thermoregulatorischen Funktionsfähigkeit
- Gesteigerte Belastungs- (psychisch und physisch) und Sauerstoffmangeltoleranz
- Verbesserte emotionale Kompensationsfähigkeit und Stimmungslage
- Erhöhte Konzentrationsfähigkeit
Darüber hinaus kann es durch Bewegungsmangel zu mannigfaltigen und sehr unterschiedlich ausgeprägten vegetativen Störungen kommen. Darunter zählen unter anderem Kreislaufregulationsstörungen (z. B. hypertoner Dysregulation), Verdauungsstörungen (8 %), Schlaflosigkeit, verminderte psychophysische Stressresistenz, nervöse Überreiztheit oder mangelnde Erholungsfähigkeit (Weineck, 2000, S. 390). Weiterhin lassen sich Organleistungsschwächen durch eine verringerte kardiopulmonale Leistungsfähigkeit (siehe Krankheiten der Atemwege 17 %, HerzKreislauf-Erkrankungen 7 %) diagnostizieren. Hierbei erfahren alle morphologischen und funktionellen Leistungsgrößen substantielle Einbußen. Folgen sind anhand einer Atrophie der Herz- und Atemmuskulatur, Abnahme von Schlag- und Atemzugvolumen und unökonomischer Herz- bzw. Atemfrequenz zu erkennen (ebd.).
Einigkeit besteht auch darin, dass sich das kindliche Krankheitsspektrum weg von chronisch-degenerativen Krankheiten immer mehr in Richtung psychomotorischer Auffälligkeiten und psychosomatischer Beschwerden verschiebt. Als Schlüsselprobleme werden hierfür neben der Fehlernährung auch der Bewegungsmangel genannt (Schmidt, 2013, S. 23). Die folgende Tabelle (Tab.1) zeigt die in den letzten Jahren steigenden Zahlen der Befunde von Koordinationsstörungen, Sprachstörungen und Adipositas bei Schulanfängern:
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Tabelle 1
Befunde von Schulanfängern, Angaben in % 1986-2008 (nach Schmidt, 2013, S. 23).
Der Tabelle ist zu entnehmen, dass neben den Störungen in Koordination und Sprache auch die Fettleibigkeit der Schüler innerhalb des dargestellten Zeitraumes zugenommen hat. Bereits im Jahre 1940 wurde bei adipösen Personen eine Abnahme der Muskelaktivität diagnostiziert. Folgestudien von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen belegten eine geringe Teilnahme an Bewegungsaktivitäten in der Freizeitgestaltung. Deshalb gilt Bewegungsmangel als wesentlicher Faktor für die Entstehung von Übergewicht, welches auf eine Dysbalance zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch zurückzuführen ist (Dordel & Graf, 2007, S. 74).
„Als eine Folge des Bewegungsmangels zeigt sich überwiegend, dass übergewichtige und adipöse Kinder hinsichtlich ihrer motorischen Leistungsfähigkeit schlechter abschneiden als ihre Altersgenossen“ (Graf et al. 2004; Dordel & Kleine, 2005).
Die Ergebnisse dieser These liegen in nahezu allen Altersbereichen von Kindergartenkindern bis hin zu Jugendlichen vor. Dabei gilt es kritisch zu hinterfragen, warum diese Kinder bei motorischen Fähigkeiten schlechter abschneiden. Eine Erklärung wäre, dass sich die betroffenen Kinder aufgrund ihres Übergewichts generell weniger bewegen. Ein anderer Ansatz wäre die Frustration bei sportlichen Tätigkeiten mit Spielkameraden, die bei übergewichtigeren Kindern vermehrt aufkommen, da ihre motorischen Fähigkeiten aufgrund des Bewegungsmangels schlechter ausgeprägt sind. Dieser Umstand führt zu einer stärkeren Abneigung gegenüber dem Sporttreiben, welche sicherlich einen weiteren Rückzug aus der Aktivität und die Bevorzugung sitzender Tätigkeiten begünstigt (Dordel & Graf, 2007, S. 75). Im Hinblick auf psychosoziale Aspekte fördert Adipositas und Übergewicht zudem eine Stigmatisierung in der Gesellschaft. So werden Menschen mit Adipositas im Vergleich zu Individuen mit anderen chronischen Krankheiten am meisten stigmatisiert und am wenigsten akzeptiert (Ernst & Vahabzadeh, 2007, S. 81). Im Hinblick auf Kinder und Jugendliche, die mit Übergewicht zu kämpfen haben, ist festzustellen, dass sie in der Schule und in der Freizeit eher ausgegrenzt werden. Wenn Kinder sich ihre Spielkameraden aussuchen können, so wären adipöse Kinder ihre letzte Wahl. Auch innerhalb der Familie kommt es zu Diskriminierungen der Kinder. Zudem werden in der Schule übergewichtige Kinder hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit eher unterschätzt (Ernst & Vahabzadeh, 2007, S. 82). Aufgrund der Stigmatisierung fühlen sich diese Kinder und Jugendliche weniger kompetent und sicher in ihrem sozialen Umfeld, was schließlich einen negativen Einfluss auf ihre psychoemotionale Entwicklung (siehe psychiatrische Erkrankungen 6 %) haben kann (ebd.). Weitere psychiatrische Erkrankungen treten in zunehmenden Maße auch in Form von Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung oder Verhaltungsauffälligkeiten auf. Kommunikative Störungen, Ängste, Aggressivität, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Hyperaktivität sind dabei Symptome, die immer häufiger in Erscheinung treten und gerade in der Schule als Störfaktoren für optimale Lernatmosphären gelten (Zimmer, 1999, S. 53).
Es zeigt sich, dass Bewegungsmangel zu vielschichtigen Beeinträchtigungen für Kinder und Jugendliche führen kann. Bewegungsmangel lässt sich somit auf eine Vielzahl an Einflussfaktoren bzw. Faktorenbündel zurückführen. Welche Bedeutung zu wenig Bewegung bei Kindern und Jugendlichen auf ihre motorische Entwicklung hat, wird im nächsten Unterpunkt näher beschrieben.
Zuallererst gilt es, den Gegenstand der Motorik näher zu bestimmen. Im Gegensatz zur Bewegung liegt die Motorik einem nicht direkt erkennbaren Innenaspekt (Steuerung und Regelung) zugrunde. Weiterhin stellt die neuromuskuläre Bewegung des Organismus ein beobachtbares Verhalten dar, welches als Außenaspekt gesehen wird (Schwarz, 2014, S.16). Somit gibt es keine klare Abgrenzung zwischen Motorik und Bewegung, sondern nur einer Motorik, die innere und äußere Vorgänge beschreibt. Dabei werden letztgenannte als sichtbare Bewegungen eines denkenden und fühlenden menschlichen Organismus in Raum und Zeit bezeichnet (ebd.). Ein weiteres, weitaus weniger thematisiertes Unterscheidungsmerkmal betrifft die erzieherische Bedeutsamkeit. Für Pädagogen ist der Bewegungsbegriff wichtiger als der motorische, da sich Verhaltensänderungen nicht über die unsichtbare Innenperspektive beeinflussen lassen, sondern nur über die äußerliche Bewegung und ihre Gestaltung. Die Entwicklung eines Menschen wird demnach immer an seinen äußeren sichtbaren Bewegungen (Tätigkeiten) in Form von Bildungserfolg und Folgen für die Umwelt gemessen. Dabei ist die angeborene Seite der Motorik irrelevant, da Steuer- und Regelungsmechanismen wie Zielplanung, Bewegungsgedächtnis, Aufmerksamkeit oder emotionaler Antrieb zunächst nicht sozial und erziehbar sind. Erst durch konkrete Bewegungen wird die Motorik subjektiv sinnvoll und erzieherisch real. Umgekehrt ist die menschliche Bewegung jedoch ohne ihre inneren Vorgänge weder denk- noch machbar (ebd.). Zusammengefasst bezeichnet Schwarz (2014) die motorische Entwicklung demnach als eine:
„[...] mit Bezug auf das Was einerseits die beobachtbaren Veränderungen äußerer Bewegung eines Organismus in Raum und Zeit und ihrer wiedererkennbaren Muster [...] in Form spezieller Bewegungsentwicklung. Andererseits ist diese äußerlich bewegte Veränderung untrennbar mit inneren biopsycho- und -physiologischen Grundmechanismen in Ursache und Wirkung auf den individuellen Organismus verbunden“ (Schwarz, 2014, S.17).
Die motorische Entwicklung ist wie jede andere kindliche und jugendliche Entwicklung die Summe von Reifungs- und Differenzierungsprozesse, die entscheidend von Wachstum und Geschlecht abhängig ist. Neben diesen strukturellen Voraussetzungen hängt die Entwicklung motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten von der Reifung zentralnervösen Strukturen, spezifischen Übungsprozessen und der Qualität und Quantität körperlicher Aktivität ab (Dordel & Graf, 2007, S. 64).
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Abbildung 6. Differenzierung motorischer Fähigkeiten (AA = aerobe Ausdauer, AnA = anaerobe Ausdauer, KA = Kraftausdauer, MK = Maximalkraft, SK = Schnellkraft, AS = Aktionsschnelligkeit, KZ = Koordination unter Zeitdruck, KP = Koordination bei Präzisionsaufgaben, B = Beweglichkeit) (eigene Darstellung nach Bös, 1994).
Anhand Abbildung 6 ist zu erkennen, dass motorische Fähigkeiten in koordinative und konditionelle Fähigkeiten eingeteilt werden können. Im Folgenden sollen die fünf motorischen Hauptbeanspruchungsformen zusammengefasst werden:
Die motorische Beanspruchungsform Ausdauer ist charakterisiert durch die Fähigkeit, eine gegebene Leistung über einen möglichst langen Zeitraum (Ermüdungswiderstandsfähigkeit) durchhalten zu können (Hollmann & Strüder, 2009, S. 267). Bei der anaeroben Leistungsfähigkeit schneiden Kinder schlechter ab als Erwachsene. Das liegt daran, dass Kinder und Jugendliche eine niedrigere Konzentration an energiereichen Phosphaten im Muskel besitzen (Dordel & Graf, 2007, S. 65). Die nächste Beanspruchungsform ist die Kraft, welche als Form von statischer oder dynamischer Kraft zu unterscheiden gilt. Die dynamische Kraft tritt in Form der Kraftausdauer im Rahmen der motorischen Hauptbeanspruchungsformen als Schnelligkeit und Ausdauer auf (Hollmann & Strüder, 2009, S. 165). Vor der Pubertät sind Spitzenleistungen undenkbar, da sich eine Zunahme der Muskelmasse durch Muskelfaserquerschnittsvergrößerungen bei Jungen erst ab dem 10. Lebensjahr und bei Mädchen ab dem 8.-10. Lebensjahr nachweisen lässt (Dordel & Graf, 2007, S. 65). Die Schnelligkeit ist eng verbunden mit der Kraft und der vorhandenen Muskelmasse. Mädchen erreichen den Maximalwert ihrer Schnelligkeit zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr, Jungen bzw. junge Erwachsene erst zwischen dem 20. und 22. Lebensjahr. Schnelligkeit ist die motorische Beanspruchungsform, die den geringsten Stellenwert hat (ebd.). Unter Koordination versteht man das Zusammenwirken von zentralem Nervensystem und Skelettmuskulatur innerhalb eines gezielten Bewegungsablaufes (Hollmann & Strüder, 2009, S. 140). Dabei steht die Entwicklung koordinativer Fähigkeiten wie Differenzierungsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit und Reaktions-, Gleichgewichts- und Rhythmisierungsfähigkeit in einem engen Verhältnis zur Entwicklung motorischer Fertigkeiten. Motorische Grundformen wie beispielsweise Laufen oder Springen werden dadurch zunehmend verfeinert. Dabei zeigen besonders Grundschulkinder, die entsprechende Umgebungsbedingungen und Umweltfaktoren im Entwicklungsprozess hatten, eine hohe motorische Lernfähigkeit, die sich im späteren Leben kaum noch weiter ausprägen lässt (Dordel & Graf, 2007, S. 65). Die letzte Komponente Beweglichkeit wird bei Kindern durch elastischere Bänder und Sehnen sowie einer nicht ausgereiften Skelettmuskulatur charakterisiert. Kinder besitzen keinen ausgereiften Muskelmantel, der den passiven Bewegungsmantel beschützt. Die Beweglichkeit ist in jungen Jahren zwar deutlich besser als im Erwachsenenalter, jedoch kann dadurch auch der Bewegungsapparat überbelastet oder geschädigt werden (ebd.).
Alle Kinder profitieren von der Förderung jeder einzelnen motorischen Hauptbeanspruchungsform. Dabei ist entscheidend, dass jede Beanspruchungsform zum richtigen Zeitpunkt in der Entwicklung des Kindes gefördert wird (neurologisches Fenster). Bei einer gänzlich unterlassenen oder kaum ausgeübten Förderung durch Faktoren wie beispielweise einem Bewegungsmangel, werden die Beanspruchungsformen nicht optimal ausgebildet und die Sportlichkeit des Kindes nimmt ab. Mitunter ist das auch der Grund dafür, dass Kinder und Jugendliche mit erhöhter körperlicher Inaktivität bei sportmotorischen Tests wesentlich schlechter abschneiden als ihre Altersgenossen. Weiterhin verfügen beispielsweise Kinder, die eine weniger ausgeprägte Körperkoordination besitzen, über einen schlechteren Gleichgewichtssinn und schwächere Muskeln. Dadurch verletzen sie sich häufiger als Kinder, die sich regelmäßig bewegen.
Abschließend ist festzustellen, dass die motorische Entwicklung mit Verweis auf Kapitel 2 ebenfalls an die sozio-ökologischen Bedingungen gebunden ist. Durch die Verinselung des Wohnraums und der Abschaffung der Straßenspielkultur sind alternativ Bewegungsund Spielangebote entstanden, die sich an den Bedürfnissen der Kinder orientieren (Scheid, 1994, S. 289 f.). Für Renate Zimmer (1992) ist diese Entwicklung aus Sicht der Heranwachsenden ein Schritt in die richtige Richtung: „Sport muß den Kindern angepaßt werden und nicht umgekehrt“ (Scheid 1994, S. 290)
Nachdem im vorherigen Kapitel 3 das Phänomen Bewegungsmangel erläutert wurde, wird im Folgenden näher auf das Sitzen in der Schule eingegangen. Konsumorientiertes, bewegungsarmes Freizeitverhalten und zunehmende Sitzzeiten sind wesentliche Erfahrungen in der Lebenswelt unserer Kinder und Jugendlichen. Im heutigen Alltag verbringen unsere Kinder und Jugendliche im Schnitt mehr als 10 Stunden pro Tag mit sitzenden Tätigkeiten (Oppolzer, 2006, S.15). Von diesen 10 Stunden beansprucht die Institution Schule durch ihre langen Sitzzeiten im Unterricht einen großen Anteil. Amberger (2000) spricht bei Grundschülern von 25-30 Stunden in der Woche am „Arbeitsplatz Schulbank“. Ärzte weisen schon länger darauf hin, dass stundenlanges Sitzen in der Schule sowohl den Körper als auch die Leistungsfähigkeit der Schüler beeinträchtigt. Selbst durch eine gute Motivation fällt es Schülern schwer, sich zu konzentrieren und den Lernstoff optimal aufzunehmen (ebd.).
In der persönlichen Entwicklung jedes jungen Menschen nimmt die Schule neben der Familie und anderen sozialen Instanzen einen großen Platz ein. Mit dem Eintritt in die Schule übernehmen die Lehrkräfte einen großen Teil der Verantwortung für die ihnen anvertrauten Heranwachsenden. Jedoch beschränkt sich diese Verantwortung letztlich nicht nur auf die geistige Entwicklung des Kindes. Laut dem Bildungsplan müssen Lehrer auch durch eine gezielte Körper- und Haltungserziehung dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche in der physischen Entwicklung gefördert werden. Aufgrund dessen stellt ein bewusstes Sitzverhalten ebenfalls ein Teilziel für die Gesamterziehung der Schüler dar (Gassen & Riesen, 1991, S. 23). Stellt man jedoch dieses Bildungsideal den Aussagen von Schulärzten und Orthopäden gegenüber, so kommt man zu dem Ergebnis, dass dieser Teil der Erziehung oftmals vernachlässigt wird (ebd.).
Im Altertum war Schule etwas Lebendiges: Lehren und Lernen fand nicht ausschließlich im Sitzen statt. Alternativen waren Stehen und Liegen, gegebenenfalls wurde auch beim Spaziergehen in anregender Umgebung diskutiert (Beispiel hierfür ist der Heidelberger Philosophenweg) (Seichert, 2000, S. 91). In den letzteren Generationen konnten Schüler noch stundenlang diszipliniert sitzen. Das lag zum einen daran, dass ihre Freizeitgestaltung genug Bewegungszeit beinhaltete und zum anderen, weil der Unterricht damals bewegungsfreudiger war. In der Vergangenheit mussten Schüler zur Begrüßung der Lehrkraft noch aufstehen. Wollte der Schüler eine Frage beantworten oder beispielsweise ein Gedicht vortragen, so musste er dafür stets aufstehen. Am Morgen wurde öfters gebetet, was ebenfalls einen entspannenden und konzentrationsfähigen Aspekt darstellte. In den Pausen waren die Schüler bewegungsfreudiger und spielten gerne auf dem Pausenhof. Ein Blick auf die heutige Zeit hingegen lässt vermuten, dass für Schüler der sitzende Arbeitsplatz vielerorts typisch geworden ist. Die Entwicklung vom Spielkind zum Sitzkind in unserer Generation verläuft neben dem schulischen Faktor auch durch die zunehmende körperliche Inaktivität in der Freizeitgestaltung (siehe Kapitel 2) rasant. Die Schule hinkt zudem in der Arbeitsplatzgestaltung ihren Möglichkeiten hinterher, wodurch sich Monotonie anstelle von Dynamik im Schulalltag bemerkbar macht (Gassen & Riesen, 1991, S. 23).
Das Problem des Sitzens als eine besondere Form von Haltungsbelastung ist nicht erst in unserer Zeit erkannt und formuliert worden. Bereits Staffel hat 1884 die wichtigsten und heute noch gültigen Zusammenhänge zwischen dem Sitzen und bestimmten Beschwerden und Formveränderungen der Wirbelsäule erwähnt (Senn, 1991, S. 133):
- Ruhiges Stehen und Sitzen ist anstrengend, weil der von einer Ermüdung schützende Wechsel zwischen Beugen und Strecken fehlt.
- Eine unausweichliche Ermüdung während dem ruhigen Sitzen führt zu Haltungsfehlern und speziell bei heranwachsenden Menschen zu Gestaltfehlern der Wirbelsäule.
- Die Wirbelsäule eines Säuglings mit einer anfänglich flachen Rundbogen formt sich erst und nur unter dem Einfluss des Balancierens des aufrechten Körpers zur endgültigen Gestalt aus.
- Das Sitzen im Sattel oder auf einem flach nach vorn abschüssigen Kutscherbock fördert eine gute Haltung, die im Stehen leichter zu erreichen ist und zu der immer das leicht eingezogene Kreuz gehört.
- Der Mensch ist nicht zum Sitzen geschaffen. Um diese Nachteile zu kompensieren, muss der Mensch sich ausgiebig bewegen.
Diese Feststellungen haben nach wie vor nicht nur ihre volle Gültigkeit, sondern können auch als modern angesehen werden. Der positive Hinweis auf die nach vorn gekippte Sitzfläche ist ein Gegenstand, der heute wiederentdeckt wurde. Es kann im Folgenden nur darum gehen, die Ursachen, Bedeutungen und Konsequenzen dieser Feststellungen Staffels aufzuzeigen, um daraus geeignete erzieherische und therapeutische Maßnahmen abzuleiten (ebd.).
Beim üblicherweise in der Schule geforderten ruhigen Sitzen als Ausdruck von Aufmerksamkeit und geistiger Konzentration kommt es aus gesundheitlicher Sicht vor allem zu Beeinträchtigungen der Wirbelsäule. In Deutschland leiden mehr als 80 % der Bevölkerung unter Rückenprobleme; 85 % der Schüler haben bereits Haltungs- oder Rückenschmerzen (Oppolzer, 2006, S.14). Die Belastung der Wirbelsäule ist im Sitzen um ein Vielfaches höher als im Stehen (Oppolzer, 2006, S.16). Junghans formulierte dazu 1980 folgenden Satz:
„Sitzen ist und bleibt die schlechteste Haltung für den menschlichen Körper!“ (Oppolzer, 2006, S.16).
Aus anatomischer Sicht wird bedingt durch die Formänderung der unteren Wirbelsäule (Aufhebung der Lendenlordose) die lumbalen Bandscheiben nach vorne gedrückt. Dadurch muss das Material des Gallertkernes nach hinten ausweichen. Gleichzeitig herrscht eine relativ hohe Druckbelastung, sodass die Bandscheiben durch ein „Auspressen“ allmählich Flüssigkeit verlieren und sich verfestigen. Nachdem man eine längere Zeit gesessen ist und sich im Anschluss wieder aufrichtet und die natürliche Rückenform annimmt, fällt es den verhärteten Gallertkernen schwer, die notwendige Verformung mitzumachen. Dies führt zu starken lokalen Druckbelastungen, die im Laufe der Jahre sogar Bandscheibenverletzungen hervorrufen können (Seichert, 2000, S. 93). Bei Schülern kommt hinzu, dass sich die Wirbelsäule durch den noch nicht vorhandenen Abschluss des Wachstums fehlerhaft verformt. Das zu häufige Verharren in aus biomechanischer Sicht ungünstige Haltungen wie dem Sitzen zwingt die Wirbelsäule zu Verkrümmungen, die erheblich von der Idealform abweichen können. Mit der Zeit führen solche Fehlhaltungen bei Schülern zu Struktur- und Formanpassungen der Wirbelkörper und der Bandscheiben (Senn, 1991, S. 133f.). Sind Deck- und Bodenplatten des Wirbelkörpers davon betroffen, so handelt es sich um das Krankheitsbild des Morbus Scheuermann. Weiterhin kann es auch zu fehlerhaften Strukturentwicklungen der Zwischenwirbelscheiben kommen. Insbesondere die Ausformung der Brustkyphose erfolgt oft unregelmäßig, sodass es zu auffallend flachen Zwischenabschnitten kommt. Diese dargelegten Fehlformen der Wirbelsäule sind biomechanisch ungünstig, da sie im späteren Leben häufig zu Haltungsbeschwerden und früh einsetzenden Degenerationserscheinungen führen (Senn, 1991, S. 134).
Bei Schülern ist die am häufigsten auftretende Form eine Fehlhaltung des oberen Rundrückens, die auch juvenile Kyphose (C-Form der Wirbelsäule) genannt wird. Fehlhaltungen im Allgemeinen stehen fest in Verbindung mit muskulären Haltungsschwächen (Haltungsinsuffizienz). Wenn eine Fehlhaltung gewohnheitsgemäß nicht mehr korrigiert wird und die Haltungsschwächen nicht behoben werden, entwickelt sie sich weiter zu einer Fehlform, bei der die abnorme Wirbelsäulenkrümmung strukturell fixiert wird. Im Stadium der Fehlform kann muskulär nicht mehr nachkorrigiert werden und die fehlerhafte Gewohnheit wird zu einer Haltungsanomalie (Schlumpf, 1991, S. 153).
Ein zu langes Sitzen engt den Brust- und Bauchraum („In-Sich-Zusammensacken“) ein, welches zu einer Funktionsbeeinträchtigung der Atmungs- und Verdauungsorgane führt. Weiterhin wird durch eine Behinderung der Durchblutung im Körper eine schlechtere Sauerstoffversorgung des Gehirns gewährleistet, weshalb Schüler sich weniger konzentrieren können und folglich kognitiv weniger leistungsfähig sind (Müller & Petzold, 2006, S. 69). Mit dem Schuleintritt findet in der Regel ein Übergang vom bewegungsfreudigen Kind zum unfreiwilligen Sitzkind statt. Dabei wird der natürliche und für das gesunde Wachstum mitentscheidende Bewegungsdrang durch eine erzwungene, stundenlange Sitzbelastung ersetzt. Negative Auswirkungen hat diese Umstellung insbesondere für den sich noch entwickelnden Bewegungsapparat, der dadurch Einbußen in formgebender und der Struktur stärkenden Kräfte und Muskelverkürzungen hinnehmen muss (Schlumpf, 2000, S. 152). Zudem wird das sensomotorische System bezüglich des Körpergefühls unvollständig entwickelt (Müller & Petzold, 2006, S. 69).
Die Tätigkeit Sitzen an sich beinhaltet die trügerische Form der Entspannung. Während man beim unbeweglichen Stehen nach kürzester Zeit ein unwohles Gefühl bekommt, kann man beim Sitzen über einen längeren Zeitraum in der identischen Position verharren. Jedoch sind die Bandscheiben auf rhythmisch wechselnde Bewegungen angewiesen, welche beim Sitzen im Gegensatz zum Gehen oder Rennen nicht erfüllt werden. Selbst beim Stehen werden diese wechselnden Bewegungen, wenn auch unbewusst, in Form von Abstützen des Oberkörpers, Hochlagern eines Fußes, Laufen auf der Stelle etc. durchgeführt (Seichert, 2000, S. 93). Bei Schulkindern bemüht sich der Körper während dem Sitzen in diesem Fall durch Hin- und Herrutschen, Kippeln, dem Abstützen des Kopfs u. a. um Selbstregulation (Müller et al., S. 69). Dieser häufige Stellungswechsel bei Schulkindern („Zappelphilipp“) geschieht ebenfalls unbewusst, da der natürliche Bewegungsdrang während der Unterrichtszeit gewaltsam unterdrückt wird. Das kann neben den oben genannten Krankheitsbildern auch aus erzieherischer Sicht Folgen haben: Den Schülern wird dadurch ein ungünstiges Verhaltensrepertoire beigebracht, nämlich viel, unbeweglich und passiv zu sitzen. Dadurch ist aus dem Homo sapiens der moderne Homo sedens inklusive seiner Rückenschmerzen geworden (Seichert, 2000, S. 94).
Die Ergonomie ist ein Wissensgebiet, das sich nicht nur auf die Gestaltung der Lernumgebung bezieht, sondern auch den körperschonenden Umgang mit den Arbeitsmitteln, also deren Anordnung und Nutzung, und das Verhalten am „Lern"- Arbeitsplatz beinhaltet (Schmidt, 2007, S. 275). Im Schulkontext versteht man darunter die physiologischen Bedürfnisse der Schüler in einem ergonomischen Konzept zu berücksichtigen, damit eine höhere Wertschöpfung bei den Lehrtätigkeiten erreicht werden kann. Durch die Beachtung des ergonomischen Wissens soll durch die Gestaltung des Klassenraums und des Unterrichts Muskelverspannungen verhindert oder wenigstens vermindert werden, die dem Lernerfolg entgegenstehen.
Ein Blick auf die Möblierung eines Klassenzimmers genügt, um festzustellen, dass die Schule in den meisten Fällen nachrüsten muss. Mangelhafte Bestuhlung und unzweckmäßige Tischhöhen, die auf Heranwachsende keine Rücksicht nehmen, sind Auslöser für Zwangshaltungen. In vielen Fällen rutschen die Schüler unter den viel zu niedrigen Tischen, damit sie schreiben können oder sie sitzen mit hochgezogenen Schultern vor ihrer viel zu hohen Tischfläche. Die Beschaffenheit der Stühle aus hartem Schalholz mit starrer Sitzfläche ist eine unbequeme Form des Sitzens. Zudem wird bei der Sitzform dieser Stühle die Kippung des Beckens nicht unterstützt, sodass eine wohltuende Aufrichtung der Wirbelsäule in ihre natürliche Doppel-S-Form unmöglich wird (Schmidt, 2007, S. 277). Die Richtlinien der DIN ISO 5970 in Tabelle 2 zeigt das optimale Verhältnis von Körpergröße, Stuhl- und Tischhöhe für Schüler:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2
Schulmöbelmaße und Ergonomie der DIN ISO 5970 (nach Innovationen bei ergonomischen Schulmöbeln, in: Schule und Ergonomie, S. 3).
Richtlinien:
- Die Ellenbogenspitze soll sich in Höhe der Tischplatte oder etwas darunter befinden.
- Die Lehne soll den Rücken in Hörhaltung unterhalb der Schulterblätter, in Schreibhaltung am Beckenrand abstützen. Die Beckenrandabstützung darf nicht federn.
- Die Rückseite des Unterschenkels darf den Sitz nicht berühren.
- Falls doch eine Buchablage angebracht wird, so muß zwischen Oberschenkel und Buchbrett ausreichender Spielraum bleiben.
- Zwischen Unterseite des Oberschenkels und dem Sitz an der Vorderkante darf keine Berührung bestehen damit kein Druck auftritt.
- Beide Füße müssen voll den Boden berühren.
Geht man näher auf das Anforderungsprofil eines optimalen Schulstuhls ein, so muss aus physiologischer Sicht klar sein, dass eine verkleinerte Form eines Erwachsenenstuhls aufgrund der kindlichen Wirbelsäule niemals auch der ideale Stuhl für Schüler sein kann (Gasser & Riesen, 1991, S. 26). Der optimale Arbeitsstuhl für Schüler soll Veränderungen in der Sitzhaltung ermöglichen. Durch eine Dynamik der vorderen, mittleren und hinteren Sitzposition wird ein dynamisches Training für die Muskulatur ermöglicht. Die Sitzfläche sollte grundsätzlich horizontal sein oder bis maximal 5° nach vorne geneigt sein. Die Vorderkante der Sitzfläche muss abgerundet sein, damit Druckstellen am Oberschenkel vermieden werden und die Tiefe der Sitzfläche ist so zu bemessen, dass zwischen der Kniekehle und der Vorderkante der Sitzfläche genügend Freiraum (ca. 5-10 cm) vorhanden ist (ebd.). Die Rückenlehne sollte der Körperform angepasst, in der Höhe verstellbar und in vertikaler und horizontaler Richtung gewölbt sein. Bei der Unterkonstruktion sollte die Beinfreiheit möglichst wenig eingeschränkt sein und die beste Standfestigkeit garantiert ein 5-Stern- Fuß. Eine Höhenverstellung sollte aufgrund des Alters und den Längenunterschieden zwischen den Schülern vorhanden sein (ebd.).
Das Schulpult dient als Arbeitsfläche und sollte in der Ausgabe eines Schrägpults mindestens eine 16°-Neigung haben. Mehreren Studien zufolge haben Augenärzte und Arbeitsphysiologen herausgefunden, dass eine aufrechte Haltung erst bei einer verstärkten Tischschräge von 16° eingenommen und während dem Schreiben auch beibehalten wird (Gasser & Riesen, 1991, S. 27). Am besten wäre hierbei ein Schulpult, welches mittels einfacher Mechanik die Tischplatte um mindestens 16° schrägstellbar ist. Neben einer rutschfesten Oberflächenbeschaffenheit soll die Beinfreiheit ebenfalls weder durch die Stellung der Tischbeine noch durch Fächer zur Unterbringung von Büchern etc. eingeschränkt werden. Wie beim Stuhl sollte auch die Höhe des Tisches individuell verstellbar sein (ebd.).
Deutlich günstigere Alternativen können bei bestehenden Unzulänglichkeiten im Mobiliar in der Schule eingesetzt werden. Darunter zählen beispielsweise Sitzkissen und Sitzkeile, die eine nach vorne geneigte Sitzfläche haben. Weitere Möglichkeiten sind Sitzbälle (Physiobälle) und Sitzschaukeln, die als labile Sitzfläche dienen oder Spreukissen und Gymnastikmatten, die Alternativen zum Sitzen sind (Gasser & Riesen, 1991, S. 31).
Neben einer schülerfreundlichen und gesundheitsschonenden Möblierung hängt eine gute Lernatmosphäre aus ergonomischer Sicht auch von anderen Faktoren wie beispielsweise dem Klima im Klassenraum ab. Statische Muskelarbeit, wie sie beim richtigen Sitzen gegeben ist, verbraucht neben der geistigen Beanspruchung ein hohes Maß an Sauerstoff (Schmidt, 2007, S. 278). Deshalb stehen, gerade bei jüngeren Schülern, während konzentrierter Schreibprozesse häufig der Mund und die Augen weit offen. Dabei trocknen die Schleimhäute eher aus und die Anfälligkeit für Infektionen steigt. Die richtige Raumtemperatur liegt zwischen 21 und 26 Grad Celsius. Wird die empfohlene Luftfeuchtigkeit von 45-65 % nicht eingehalten, werden Atembeschwerden neben dem ohnehin schon fördernden Sitzen zusätzlich begünstigt (ebd.). Um der schlechten Luft entgegenwirken zu können, sollte vor und nach jeder Unterrichtseinheit das Klassenzimmer für 2-3 Minuten gelüftet werden.
Für eine erfolgsversprechende Gestaltung einer Lern- und Umgebungsbedingung gehört auch eine Vermeidung übermäßigen Lärms. Im Berufsalltag eines Lehrers stellt Lärm, vor allem innerhalb des Klassenzimmers, nicht selten ein Grund für die Senkung der Motivation, der Konzentration sowie einer schleichenden Lärmschwerhörigkeit dar. Im Sinne der Ergonomie wird durch störende Geräusche beim Menschen Alarm ausgelöst, der zur Ausschüttung von Neuroadrenalin führt und ihn somit unter Spannung setzt (Schmidt, 2007, S. 279). Damit sich der Mensch vor solchen Störungen schützen kann, nimmt er unbewusst eine Art Zwangshaltung ein. Dabei fallen die Schultern nach vorne und werden hochgezogen. Schädigungen für den Muskel- und Skelettapparat sind ebenso wie Einschränkungen in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen die Folgen davon (ebd.).
Insgesamt kann man festhalten, dass neben mangelnder Bewegung auch eine unpassende Möblierung, eine schlechte Luft im Klassenraum und eine miese Akustik das Leistungsvermögen eines jeden Menschen um bis zu 40 % reduzieren kann (ebd.). Gerade die Schule, die durch Notengebung die Zukunft der Schüler beeinflusst, hat diese Faktoren kaum im Blick. So sollte man sich allgemein fragen, ob schlechte Ergebnisse in Leistungsmessungen der Schüler nicht unter anderem auch Defiziten in der mangelhaften ergonomischen Qualität des Lernorts zu verschulden sind.
Da die Schule an sich eine Institution der Massenerziehung ist und Lernen daher meist unvermeidbar sitzend im Plenum über mehrere Stunden stattfindet, gilt es, die Belastung des Sitzens auf ein Minimum zu beschränken. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist dabei, die Sitzhaltung der Schüler zu lenken und sie auf ihre falschen Sitzpositionen hinzuweisen. Der Lehrer selbst ist Vorbild und sollte eine richtige Haltung einnehmen und diese gezielt vormachen. Dabei sollte er den Schülern die Bedeutung des dynamischen Sitzens vermitteln (Oppolzer, 2006, S. 24). Müller und Petzold (2006) verstehen unter dem Begriff:
[...]
1 Ab dieser Stelle wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur noch die männliche Form für Personen oder Gegenstände verwendet. Mit dieser maskulinen Form sollen jedoch beide Geschlechter angesprochen sein, damit von einer Diskriminierung ausdrücklich abgesehen werden kann.
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