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Examensarbeit, 2021
42 Seiten, Note: 1,0
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Anhangsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Hinführung zur Thematik und Forschungsfrage
1.2 Aufbau und Ziel der Arbeit
2. Grundlagen und Definitionen
2.1 Binge Eating Störung
2.2 Störungsbild und Klassifikation
2.3 Epidemiologie
2.3.1 Prävalenz
2.3.2 Verlauf
2.4 Ätiologie der Binge Eating Störung aus systemischer Sicht
2.4.1 Systemische Therapie
2.4.2 Beziehungsmuster
3. Methodischer Teil
3.1 Strukturbaum
3.1.1 Dimension Eins: Familie
3.1.2 Dimension Zwei: andere soziale Systeme
3.2 Halbstrukturiertes Interview
3.3 Untersuchung in der Praxis
3.3.1 Vorbereitung
3.3.2 Kontaktaufnahme
3.3.3 Durchführung
3.3.4 Analyse
3.3.5 Auswertung
4. Diskussion
4.1 Herausforderungen wissenschaftlicher Erhebungen
4.1.1 Objektivität
4.1.2 Reliabilität
4.1.3 Validität
4.2 Systemische Konzepte in Bezug auf die BES
4.2.1 Problemsystem
4.2.2 Lebensproblem
4.3 Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Teufelskreis der Binge Eating Störung
Abbildung 2: Zwölf-Monats-Prävalenz der BES in Deutschland
Abbildung 3: Lebensprävalenz der BES in Deutschland
Abbildung 4: Methoden der Informationsgewinnung
Tabelle 1: Diagnosekriterien für die BES nach DSM-5 und ICD-11
Tabelle 2: Strukturbaum
Anhang 1: Halbstrukturierter Interview-Leitfaden
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Essstörungen zählen zu den häufigsten chronischen psychischen Störungen im Erwachsenenalter und die Zahl der daran leidenden Menschen wächst stetig. Von circa 1.000 betrachteten Personen leiden etwa 30 - 50 Personen an einer Essstörung. Mädchen beziehungsweise Frauen sind dabei über alle Essstörungen hinweg häufiger betroffen, als Jungen beziehungsweise Männer. Meist erkranken junge Menschen an Essstörungen. Aber auch Menschen im mittleren oder höheren Lebensalter können an einer Essstörung erkranken. Oftmals tritt eine Essstörung nicht alleine, sondern vielmehr als Mischformen auf. Die Einflüsse, die zur Entstehung beitragen und auch die daraus resultierenden Folgen sind vielfältig. Überdies kann beobachtet werden, dass Essstörungen kulturabhängig sind. Ein Lebensmittelüberschuss und eine intensive Auseinandersetzung mit Essen scheinen eine Voraussetzung zu sein.1
Entweder zu dick oder zu dünn - noch nie gab es so viel Probleme mit dem Gewicht wie heutzutage, obwohl wir ein Überangebot an Nahrungsmitteln haben und über ein erforderliches Grundwissen gesunder Ernährung verfügen. Dass Essstörungen mit einem übertriebenen Schönheitsideal zusammen hängen würden, hören und sehen wir oft. Doch liegt das Problem eventuell tiefer? Die systemische Therapie beschäftigt sich schon länger mit der Frage, ob sich bei Essstörungen um einen „Austragungsort“ für Schwierigkeiten in der Familie handeln könnte.2
Neben der Magersucht und der Ess-Brech-Sucht wird immer mehr die Binge Eating Störung (BES) diagnostiziert. Während Magersüchtige nur noch wenig essen und bei der Ess-Brech-Sucht die Betroffenen unter Essanfällen und anschließendem Erbrechen oder Abführen leiden, werden von der Binge Eating Störung betroffene Personen von akuten „Fressanfällen“ gequält.3 Das englische Verb „binge“ bedeutet unter anderem „sich vollstopfen“.4
Korreliert diese Übersetzung stärker mit der Ursache der Störung als viele annehmen? Möchten Betroffene mit den „Essanfällen“ nur ein „inneres Loch" stopfen? Handelt es sich bei der Binge Eating Störung um Sehnsucht nach mehr Liebe und Anerkennung? Was sind weitere Risikofaktoren für die BES aus systemischer Sicht und wie ist die Verteilung dieser Risikofaktoren in der Bevölkerung?
Zu Beginn der Arbeit werden die empirischen und theoretischen Grundlagen und Definitionen der Binge Eating Störung sowie die Ätiologie des Störungsbildes aus systemischer Sicht dargestellt. Es wird unter anderem auf die Epidemiologie sowie den Verlauf des Störungsbildes und vor allem aber auf die Prävalenz eingegangen. Zudem wird die Ätiologie aus systemischer Sicht in Bezug auf die sogenannten „Beziehungsmuster“ untersucht.
Darauf aufbauend wird im methodischen Teil ein Strukturbaum aus den Risikofaktoren für die Entstehung der Binge Eating Störung aus systemischer Sicht erstellt. Anschließend wird anhand dieses Strukturbaumes ein halbstrukturierter Interviewleitfaden für eine qualitative Befragung entwickelt, um die Risikofaktoren im Hinblick auf die Beziehungsmuster zur Entstehung der Binge Eating Störung abzufragen. Das Kapitel endet mit einer Erläuterung, wie diese Untersuchung in der Praxis aussehen könnte.
Abschließend wird in der Diskussion auf die Herausforderungen bei der Durchführung eingegangen. An dieser Stelle wird ferner auf die wichtigsten Gütekriterien einer wissenschaftlichen Arbeit Bezug genommen. Überdies werden die systemischen Konzepte „Lebensproblem“ und „Problemsystem“ nach Ludewig in Bezug auf die Binge Eating Störung reflektiert. Die Arbeit schließt mit einem kurzen Ausblick, wie die Ergebnisse weiterverarbeitet werden und welche praktische Relevanz diese haben könnten, ab.
Dieses Kapitel legt dar, was generell unter Essstörungen und besonders unter der Binge Eating Störung zu verstehen ist. Überdies wird definiert, was „systematische Therapie" bedeutet und welche Ätiologie sich für die Binge Eating Störung aus Sicht der systemischen Beratung erklären lässt.
Essstörungen zeigen sich durch anhaltende Unruhen im Essverhalten oder im essbezogenen Verhalten, was zur erhöhten Aufnahme von Nahrung führt und somit körperliche und psychosoziale Funktionen verschlechtert. Die fünfte Auflage des US- amerikanische Diagnosesystems „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM-5) stellt diagnostische Kriterien für nachstehende Essstörungen bereit:5
- Pica-Syndrom
- Ruminationsstörung
- Vermeidende/Einschränkende Ernährungsstörung (Avoidant/Restrictive food intake disorder - ARFID)
- Magersucht (Anorexia Nervosa - AN)
- Ess-Brech-Sucht (Bulimia Nervosa - BN)
- Binge Eating Störung (Binge Eating Disorder - BED)
Diese Kriterien sind so klassifiziert, dass die Störungen sich gegenseitig ausschließen, damit während einer Episode nur eine dieser Störungen klassifiziert werden kann.6
In Deutschland werden Diagnosen, ausgenommen der Todesursachen, nach dem ICD-GM (German Modification) klassifiziert. Das ICD-GM ist eine auf die Voraussetzungen des deutschen Gesundheitswesens angepasste Fassung der international gültigen statistischen Klassifizierung von Krankheiten und gesundheitlichen Problemen, der sogenannten „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems" der WHO, kurz ICD-WHO.7
Die derzeit gültige zehnte Revision des ICD (ICD-10) definiert in Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“. In dem Subkapitel F50.- werden die „Essstörungen“ wie folgt gelistet:8
- F50.0: Magersucht (Anorexia Nervosa - AN)
- F50.1: Atypische AN
- F50.2: Ess-Brech-Sucht (Bulimia Nervosa - BN)
- F50.3: Atypische BN
- F50.4: Essattacken bei anderen psychischen Störungen
- F50.5: Erbrechen bei anderen psychischen Störungen
- F50.8: Sonstige Essstörungen
- F50.9: Nicht näher bezeichnete Essstörungen
Die folgenden Kapitel legen nun konkreter dar, was die Binge Eating Störung ist, wo diese klassifiziert wird und welche systemischen Beziehungsmuster sie aufweist.
Binge Eating bedeutet so viel wie „Heißhungeressen“ oder „Fressgelage“. Als Synonym für die Binge Eating Störung (BES) wird auch oft „Esssucht“ genutzt. Im vorläufigen ICD-11 wird die BES als „Episode, in welcher eine Person deutlich mehr als gewöhnlich isst und es sich anfühlt, als könnte sie nicht aufhören oder die Menge und Art von Essen kontrollieren“ beschrieben.9 10 Verschiedene Studien und Befragungen zeigen, dass Betroffene das Essen wiederholt anfallsartig erleben und anschließend häufig von Verzweiflungs- und Versagungsgefühlen gequält werden. „Ihr körperliches und psychisches Wohlbefinden wird dabei oftmals langfristig stark in Mitleidenschaft gezogen.“70
Während Magersüchtige kalorienhaltige Speisen meiden, neigen Betroffene der Esssucht bei Konfliktsituationen oder emotionalem Unwohlsein oft dazu sich mit Essen vollzustopfen. So entsteht ein Teufelskreis: Betroffene hegen Konflikte um ihren Selbstwert, emotionale Zuwendung oder Autonomie, sie verspüren emotionale Spannungszustände und verschieben diese auf das Essen. Sie haben einen Essanfall und stopfen alles in sich hinein, was ihnen „in die Quere“ kommt. Ihnen fällt es schwer Hunger und Sattheit zu verspüren und sie können sich während eines Anfalls kaum stoppen. Anschließend kommt es zu vermehrten Schuld-, Scham- und Ekelgefühlen, was wiederum zu Konflikten des Selbstwertes führt. Der Teufelskreis der BES beginnt. Bei der Ess-Brech-Sucht folgt an dieser Stelle regelmäßig das Kompensieren. Das wieder Loswerden des Gegessenen durch Abführmittel, Fasten oder Erbrechen. Auch bei der BES versuchen die Betroffenen das Gegessene auszugleichen. Dies geschieht jedoch nicht so regelmäßig und konsequent wie bei der BN. Viele BES-Patienten haben mehrfache Erfahrung mit Diäten und sind von häufigem Grübeln geplagt. Sie setzen sich stark mit dem Essen, dem eigenen Körper und dem Gewicht auseinander, was unter anderem dazu führt, dass sie meist unter einem negativen Selbstbild leiden.11
Die nachstehende Abbildung veranschaulicht nochmals den Teufelskreis der Esssucht, welches zugleich die aufrechterhaltenden Faktoren der Störung verdeutlicht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Teufelskreis der Binge Eating Störung
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Munsch/Biedert (2009), S. 302 f.)
Die BES kann aktuell im ICD-10-GM in dem Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“ dem Punkt F50.4 „Essattacken bei anderen psychischen Störungen" zugeordnet werden.12 An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass derzeit auch noch Einordnungen der Binge Eating Störung in „Sonstige Essstörungen (F50.8)“ und „nicht näher bezeichnete Essstörungen (F50.9)“ gefunden werden können.13 Das künftige Diagnosesystem ICD-11, welches im Jahr 2022 in Kraft treten soll, enthält jedoch wie bereits das US-amerikanische Diagnosesystem DSM-5, eine eigenständige Aufführung der Binge Eating Störung.14
In der Tabelle 1 sind die Diagnosekriterien nach DSM-5:BED:307.05 beziehungsweise die Forschungskriterien nach ICD-11:F50.08 zur Klassifikation der Binge Eating Störung aufgeführt. Für diese Arbeit sind die Kriterien zur Klassifikation der BES nach den eben genannten Diagnosesystemen, besonders dem ICD- 11:F50.08, bedeutend.15
Tabelle 1: Diagnosekriterien für die BES nach DSM-5 und ICD-11
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an American Psychiatric (2015), S. 26)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dieses Kapitel setzt sich sowohl mit der Entstehung und Ursachen, als auch mit der Streuung der BES in der Population auseinander. Denn eigentlich ist „das Merkmal des anfallartigen Essens großer Mengen von Nahrung in der Geschichte seit Langem bekannt."16 Es galt als ätiologisch unspezifisches Symptom. Die Heißhungerattacken wurden vor allem als Abhilfe bei Angst beschrieben. Während früher überwiegend Männer betroffen waren, wurden ab dem 19. Jahrhundert eher bei Frauen Heißhungerattacken festgestellt.17
Die Binge Eating Störung wurde dennoch erst vor wenigen Jahren als solche dargelegt, weshalb es noch wenige Studien zu ihrer Häufigkeit gibt und die Angaben weit auseinander gehen.18 Da in den USA die BES bereits in das DSM-5, welches im Mai 2013 in Kraft trat, aufgenommen wurde, sind aus der amerikanische Population bereits mehr Studien vorhanden. Dort wird die Binge Eating Störung mittlerweile als die häufigste Essstörung genannt.19
Im Jahr 2015 lag die zwölfmonatige Prävalenz der Binge Eating Störung unter erwachsenen US-Amerikanern bei den Frauen bei 1,6 Prozent und bei den Männern bei 0,8 Prozent. Das Geschlechterverhältnis ist damit bei der Binge Eating Störung deutlich weniger verzerrt als bei der Ess-Brech-Sucht. Es konnte überdies beobachtet werden, dass die Störung häufiger bei Personen auftritt, die eine Behandlung zur Gewichtsreduktion suchen, als in der Allgemeinbevölkerung.20
Eine systematische Übersichtsarbeit von Dahlgren et al.21 aus dem Jahr 2016, die neben Studien aus den USA auch Studien aus Kanada und Europa einschloss, zeigte Lebenszeitprävalenzen für die BES bei erwachsene Frauen zwischen drei und 3,6 Prozent. Bei den Männern lag diese bei zwei Prozent und bei Jugendlichen waren es 1,6 Prozent. Zwischen dunkel- und hellhäutigen scheint es keinen Unterschied in der Prävalenz zu geben. Komorbiditäten gibt es körperlich als auch psychisch.22
Obwohl der Großteil der Übergewichtigen keine Binge Eating Störung aufweist, sind fast zwei Drittel der Esssüchtigen übergewichtig und haben somit auch die damit verbundenen Probleme. Werden diese aber mit Normal- oder Übergewichtigen vergleichen, weisen die Betroffenen der Binge Eating Störung höhere Angstlevel und Depressionen auf.23
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) nennt für Deutschland Zahlen von 1,8 bis 2,4 Prozent bei einer Prävalenz von zwölf Monaten. Die nachfolgenden Abbildungen veranschaulichen nochmals die geschlechtliche Verteilung. So liegt die zwölfmonatige Prävalenz bei den Frauen zwischen 1,4 und 1,6 Prozent und bei den Männern zwischen 0,4 und 0,8 Prozent.24
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Zwölf-Monats-Prävalenz der BES in Deutschland (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Cremer et al (o. J.))
Wird der Zeitraum des ganzen bisherigen Lebens herangezogen zeigten die Untersuchungen bei 1.000 betroffenen Frauen eine Prävalenz von 20 bis 30 und bei den betroffenen Männern eine Zahl von acht bis 20.25
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Lebensprävalenz der BES in Deutschland (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Cremer et al (o. J.))
„Zur Zahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) gibt es von der BZgA für die Binge Eating Störung bisher noch keine Daten."26
Wie bereits erwähnt, beginnen Essstörungen meist im jugendlichen beziehungsweise frühen Erwachsenenalter. Bei 50 Prozent der von der BES-Patienten treten erste Essanfälle, unabhängig von Diäten, bereits im Alter von elf Jahren auf. Die übrigen Kriterien der BES erreicht die Mehrheit im Alter zwischen 17 und 25.27 Eine Esssucht ist ein eher stabiles, sich chronifizierendes Syndrom, von dem es ohne Behandlung schwer ist sich zu lösen. So wiesen 36 Prozent der BES Patienten nach den zwölf Jahren immer noch eine Essstörung auf. Prädikatoren für ein BES-Resultat waren Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, sexueller Missbrauch und Impulsivität. Eine Therapie ist also durchaus wichtig und sinnvoll. So erfüllten ein Jahr nach Beendigung der Therapie zwischen 60 und 80 Prozent nicht mehr die Diagnosekriterien für eine Esssucht.28
Dieses Kapitel zeigt nun die möglichen Ursachen der BES auf. Welche Beziehungsmuster in sozialen Systemen könnten Einfluss auf die Entstehung einer Esssucht haben? Um zu klären, was unter „Systemen" überhaupt zu verstehen ist, wird nachstehend vorerst die systemische Therapie dargelegt, um anschließend die Beziehungsmuster näher zu betrachten.29
„Ein ,System‘ ist zunächst lediglich eine beliebige Einheit von Elementen, die durch Beziehungen miteinander verbunden und durch eine Grenze von ihren Umwelten abgrenzbar sind. Erst ein systemischer Blick durch den*die Beobachtern lässt ein System entstehen."30
In der systemischen Therapie wird der Mensch als Teil eines Systems betrachtet. In diesem System sind die Personen miteinander verbunden, beispielgebend eine Familie. Auch eine Organisation, eine Gruppe oder eine Gesellschaft bildet ein System. Eine Veränderung in solch einem System wirkt sich deshalb auf alle Mitglieder aus.31 Dementsprechend wird nicht nur auf die betroffene Person oder auf das „Problem" geschaut, sondern vielmehr das ganze System betrachtet. Der systemische Ansatz geht davon aus, dass es bedeutende Wechselbeziehungen zwischen den Personen und dem System gibt. So können beispielsweise gestörte Beziehungen oder missliche Kommunikationsmuster innerhalb des Systems die psychische Verfassung einzelner Mitglieder beeinträchtigen. In der systemischen Therapie werden solche Wechselwirkungen auch Beziehungsdynamiken genannt. Sie werden beobachtet und anschließend für die Beratung oder Therapie genutzt. Die Beziehungsdynamiken ermöglichen neue bedeutende Ursachen für das Verhalten oder die Störung der betroffenen Person aufzeigen zu können.32
Es reicht demzufolge nicht aus sich nur auf den in Abbildung 1 dargestellten Teufelskreis zu stützen, welcher vor allem die Störung aufrechterhält, sondern einen Schritt zurückzugehen, um das gesamte System betrachten zu können.
Diverse klinische Beobachtungen belegen verschiedenartige familiäre und soziale Einflüsse auf das Essverhalten und die Einstellung zum eigenen Körper. Interessante Befunde sind beispielsweise „eine gestörte Einstellung zum Essen in der Generation der Mütter. Diese wird anscheinend oft an die Töchter weitergegeben und korreliert deutlich miteinander.“ Überdies wurde festgestellt, dass „die Differenz zwischen der Selbsteinschätzung von Töchtern hinsichtlich ihrer Attraktivität und der diesbezüglichen Einschätzung der Mütter bei Essgestörten signifikant höher ist.“33 Wird von den Müttern Essen als Mittel gegen Langeweile und negative Gefühle eingesetzt, wird die Störung gefördert. Ebenso die Überzeugung, dass sich die Lebensqualität durch einen schlanken Körper verbessern würde.34
Zum Einfluss familiärer Beziehungen auf die Entwicklung von BES kann gesagt werden, dass Familien Essgestörter oft schlechter organisiert sind und der Zusammenhalt beeinträchtigt ist. Nicht selten kommt es vor, dass die Eltern die Probleme ihrer Kinder in ihrer Bedeutung herabsetzen oder unwillig sind, diese wahrzunehmen und dadurch der Gefühlsausdruck oft gestört ist.35 Des Weiteren beleuchten Beobachtungen, dass Situationen die Störung auslösen, in denen Betroffene unter Bewährungsdruck sind und sich dabei geringwertig fühlen.36
[...]
1 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2021); Cremer et al. (o. J.); Ritchie/Roser (2018); Schlippe/Schweitzer (2009), S. 166-168
2 Vgl. Gamber (2018), S. 242
3 Vgl. WHO/BfArM (2020), Kapitel V (F)
4 Vgl. Ponsredaktion (o. J.), "to binge"
5 Vgl. American Psychiatric (2015), S. 1
6 Vgl. ebd.
7 Vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpodukte (BfArM) (2020)
8 Vgl. WHO/BfArM (2020), Kapitel V (F)
9 Vgl. World Health Organization (WHO) (2020)
10 Vgl. Munsch/Biedert (2009), S. 303
11 Vgl. Gamber (2018), S. 242; Munsch/Biedert (2009), S. 302
12 Vgl. WHO/BfArM (2020), Kapitel V (F)
13 Vgl. American Psychiatric (2015), S. 26; Karwautz (2020), S. 28
14 Vgl. Karwautz (2020), S. 29
15 Vgl. Rücksprache mit Prof. Dr. Christian Helmrich (2021)
16 Herpertz/de Zwaan/Zipfel (2015), S. 6
17 Vgl. ebd.
18 Vgl. Cremer et al. (o. J.)
19 Vgl. Marx (2013); Swanson et al. (2011)
20 Vgl. American Psychiatric (2015), S. 28
21 Vgl. Dahlgren/Wisting/R0 (2017)
22 Vgl. Marx (2013); Swanson et al. (2011)
23 Vgl. Marx (2013); Swanson et al. (2011)
24 Vgl. Cremer et al. (o. J.)
25 Vgl. Cremer et al. (o. J.)
26 Cremer et al. (o. J.)
27 Vgl. de Zwaan (2013)
28 Vgl. Fichter/Quadflieg/Hedlund (2008)
29 Vgl. Gamber (2018), S. 243
30 Schlippe/Schweitzer (2012), S. 31
31 Vgl. Schlippe/Schweitzer (2012), S. 129 ff.
32 Vgl. Gamber (2018), S. 243
33 Vgl. Pike/Rodin (1991)
34 Vgl. Reich (2005), S. 320, zitiert nach Mac Brayer et al. (2001)
35 Vgl. Felker/Stivers (1994); Karwautz (2020); Larsson (1991)
36 Vgl. Schlippe/Schweitzer (2009), S. 185