Bachelorarbeit, 2020
76 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Das Phänomen „Schuld“: Grundlagen und Einordnung
2.1 Definition des Schuldbegriffs
2.1.1 Sprachliche Begriffsbetrachtung und fachwissenschaftsübergreifende Definition
2.1.2 Betrachtung des Schuldbegriffs in den Einzelwissenschaften
2.2 Historische Betrachtung von Schuld
2.2.1 Schuld in der griechischen Antike
2.2.2 Schuld in der jüdisch-christlichen und christlich-augustinischen Tradition
2.2.3 Schuld in der Moderne
2.3 Bestimmung des Phänomens: Schuld als Mechanismus
3. Die Funktionsfähigkeit von Schuld
3.1 Stand der Forschung und Einordnung der eigenen Theoriegrundlage
3.2 Zugrundeliegender Maßstab des Gemeinwohls
3.3 Untersuchung der Funktionsfähigkeit von Schuld im deutschen Strafrecht
3.2.1 Vorkommen und Wirkungsweise von Schuld im deutschen Strafrecht
3.2.2 Beurteilung des Schuldvorkommens und -wirkens
4. Klärung der Fragestellung
5. Methodisches Vorgehen
6. Ergebnisse
6.1 Ineffektivität des Schuldprinzips im Bereich der Sanktionsumsetzung - Untersuchung am Beispiel des Strafvollzugs
6.2 Ineffektivität des Schuldprinzips aufgrund struktureller Probleme - Untersuchung am Beispiel der Ersatzfreiheitsstrafe
7. Diskussion
8. Ausblick
„[...] das Schuldprinzip sichert einen Mechanismus, der für das gesellschaftliche Zusammenleben elementar ist: Die Strafsanktion zieht den Täter aufgrund seiner Schuld an der Tat zur Verantwortung. Dabei unterscheidet es verschiedene Grade von Schuld, die für die Bemessung der Strafe ausschlaggebend sind. Dieses Prozedere gewährleistet ein gerechtes Strafen - und zwar sowohl im Interesse der Gesellschaft als auch in dem des Bestraften.“ (Erber-Schropp, 2016, S. 2).
Ein Zusammenhang, in dem sich das Schuldprinzip gewinnbringend betrachten lässt und in dem es vermutlich auch am häufigsten diskutiert wird, ist der Strafvollzug.
Mit einer Rückfallrate von nur zwanzig Prozent in einem Zeitraum von zwei Jahren lässt sich Norwegen als Paradebeispiel für einen effektiven Strafvollzug und einen gelungenen Umgang mit Straftaten bezeichnen; Deutschland hingegen mit einer mehr als doppelt so hohen Rückfallquote von 48 Prozent innerhalb eines Dreijahreszeitraums stellt nicht unbedingt ein Glanzbeispiel dar.
Untersucht man die Unterschiede zwischen den Strafvollzugssystemen der beiden Staaten, so lässt sich feststellen, dass sowohl der Zweck, der mit Strafe und somit dem Strafvollzug verfolgt wird, als auch daraus resultierend die Umsetzungsart des Strafvollzugs sich unterscheidet. Während in Deutschland Ausgangspunkt der Strafe vorwiegend die Frage nach der Schuld des Täters und eine „gerechte“ Vergeltung des demnach willentlich begangenen Unrechts ist, lässt sich in Norwegen ein Vorgehen erkennen, bei dem pragmatische Maßnahmen zur zukünftigen Verhinderung straffälligen Verhaltens im Vordergrund stehen. So kennzeichnet sich der Strafvollzug in Norwegen durch eine grundlegende Ausrichtung an Resozialisierung und Wiedereingliederung des Täters in die Gemeinschaft, womit verschiedene offene Vollzugsformen genauso zur Verfügung stehen wie ein grundsätzlich breites Angebot an Freizeitmöglichkeiten, weitläufige Rechte zu Besuchsempfang und Telefongesprächen und sogar Hafturlaub. Was offenbar eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, ist die Frage nach Vergeltung und die Vorstellung, dass der Täter für seine begangenen Untaten leiden muss.
Zweifelsohne widerspricht ein solches Vorgehen vermutlich der intuitiven Vorstellung eines Großteils der Menschen von Strafe. Selbige Mehrheit würde es wahrscheinlich ausgehend von ihrem Gerechtigkeitsverständnis als überaus ungerecht empfinden, dass ein Täter, der bewusst gegen Gesetze verstoßen und möglicherweise sogar Taten begangen hat, die abscheulich und grausam anmuten, für diese Taten nicht durch Leid bestraft werden soll, sondern darüber hinaus mehr Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung zur Verfügung gestellt bekommt als Menschen außerhalb der Strafvollzugsanstalt.
Doch ungeachtet aller Gerechtigkeitsgefühle weisen empirische Daten - in diesem Zusammenhang die Rückfallquote - darauf hin, dass ein Vorgehen, welches sich weniger an der durch die persönliche Schuld des Täters begründeten Vergeltung des Unrechts ausrichtet, sondern stattdessen den Fokus auf Maßnahmen zur faktischen Lösung der Problemsituation legt, effektiver zu sein scheint.
Was durch dieses Beispiel des Strafvollzugs deutlich wird, ist, dass ein Vorgehen, welches sich auf das Schuldprinzip gründet, offenbar nicht zwangsläufig das für das Gemeinwohl förderlichste Vorgehen sein muss. Im Gegenteil lässt sich erkennen, dass eine Diskrepanz besteht zwischen dem (stärker) auf Schuld basierenden und einem alternativen Vorgehen, welches sich aufgrund seiner Problemlösungsorientierung durch eine höhere Effektivität auszeichnet. Obwohl der Begriff der Effektivität schon seiner Bedeutung nach einen Bezugspunkt benötigt - auf welchen in dieser Arbeit an späterer Stelle genauer eingegangen werden soll - so lässt sich doch im Falle dieses Beispiels der Schutz der Bevölkerung und somit die Verhinderung weiterer Straftaten recht eindeutig als förderlich für das Gemeinwohl beschreiben, sodass ein Vorgehen, welches dieses Ziel besser als ein anderes erreicht, als effektiver bezeichnet werden kann.
Diese Feststellung gibt nun Anlass, sich mit der Zweckmäßigkeit und somit der Sinnhaftigkeit des Schuldprinzips im Allgemeinen auseinanderzusetzen - eben gerade weil es sich bei dem Phänomen der Schuld um ein Prinzip handelt und somit eine gewisse Übertragbarkeit existiert. Da das Schuldprinzip in unserer Gesellschaft eine zentrale Position einnimmt, lässt sich davon ausgehen, dass politische, gesellschaftliche und vor allem rechtliche Entscheidungen - zumindest in Teilen - auf der Kategorie „Schuld“ basieren. Im Folgenden ergibt sich daraus nun die Überlegung, inwiefern diese Kategorie vereinbar mit der Orientierung am Gemeinwohl ist; inwiefern also ein solches schuldbasiertes Vorgehen ein dem Gemeinwohl zuträgliches Vorgehen, welches als effektiv, zweckmäßig oder problemlösungsorientiert bezeichnet werden kann, verhindert. Es ist somit zu untersuchen, inwiefern das Prinzip der Schuld die Basis für gesellschaftliche, politische und vor allem rechtliche Weichenstellungen bildet, sodass eine Orientierung an konstruktiver Problemlösung in den Hintergrund tritt.
Zusammengefasst soll somit in dieser Arbeit untersucht werden, inwiefern bzw. in welcher Form das Schuldprinzip ein lösungsorientiertes Vorgehen auf gesellschaftlicher Ebene verhindert.
Im „ersten“ Teil der Arbeit soll das weitgefasste Phänomen „Schuld“ spezifiziert und seine heutige wie auch allgemeine Bedeutung anhand der geschichtlichen Betrachtung des Phänomens aufgezeigt werden, um es korrekt einordnen zu können. Davon ausgehend soll im „zweiten“ Teil die Funktionalität des Schuldprinzips im Bereich des deutschen Rechts untersucht werden, um auf einer theoretischen Ebene aufzuzeigen, inwiefern durch das Schuldprinzip ein lösungsorientiertes Vorgehen verhindert wird. Im „dritten“ Teil der Arbeit soll die Funktionsfähigkeit des Schuldprinzips durch zwei Realbeispiele anhand empirischer Daten untersucht werden, sodass daraus abgeleitet werden kann, inwiefern und auf welchen Ebenen das Schuldprinzip ein lösungsorientiertes Vorgehen verhindert.
Obwohl der Begriff „Schuld“ auf den ersten Blick schon fast banal wirkt und der Großteil der Menschen sicherlich eine ungefähre Vorstellung hat, was darunter zu verstehen ist, stellt sich das Schuldphänomen bei genauerer Betrachtung als durchaus komplex dar. Dies wird bereits daran deutlich, dass sich keine einheitliche wie eindeutige Definition dieses Begriffes fassen lässt. So weist das Schuldphänomen abhängig von seinem zeitlichen Erscheinen, seinem kulturellen Hintergrund oder der jeweiligen Perspektive der wissenschaftlichen Disziplin eine andere Bedeutung auf. Um dennoch eine Vorstellung von diesem Begriff zu erlangen, werde ich diesen zunächst ausgehend von seiner heutigen Bedeutung im abendländischen Kulturraum zu definieren versuchen.
Als erste Annährung an eine Schulddefinition ist die Betrachtung der Begriffsbedeutung des Wortes „Schuld“ im deutschen Sprachgebrauch sinnvoll.
Hier lässt sich nach Lotter (2017, S. 252-253) feststellen, dass der deutsche Begriff der Schuld einen weiteren Begriffsumfang als seine englischen und französischen Analogien aufweist. Der deutsche Schuldbegriff bezeichnet demnach erstens die Verpflichtung, eine erhaltene Gabe zurückzuzahlen (engl. debt, franz. dette), zweitens wird er im Sinne einer Verursachung eines unerwünschten Ereignisses verwendet (engl. author, franz. auteur) und drittens bezeichnet er einen persönlich vorwerfbaren Verstoß gegen eine moralische Norm (engl. blame, guilt franz. faute, culpabilité) (ebd.).
Durch diese drei sprachlichen Bedeutungen des Schuldbegriffs wird bereits ersichtlich, dass dieses Phänomen viele Lebensbereiche berührt und somit in verschiedenen Fachwissenschaften unter einer jeweils anderen Perspektive betrachtet werden kann. So findet sich das Schuldphänomen in der Philosophie (Ethik), der Rechtswissenschaft (Strafrecht sowie Privatrecht), der Psychologie, der Soziologie, der Politikwissenschaft sowie der Theologie wieder, wo ihm jeweils eine unterschiedliche Bedeutung zukommt.
Obwohl keine fachwissenschaftsübergreifende Definition des Schuldphänomens möglich ist, lässt sich in Bezug die Verwendung des Begriffs doch feststellen, dass dieser - in verschiedenen Kontexten - genutzt wird, wenn Menschen in Bezug zu ihren Taten gesetzt werden (Beyerle, Roth & Schmidt, 2009, S. 14). Der Schuldbegriff zeichnet sich nach Dorn (1976, S. 15) darüber hinaus grundsätzlich durch zwei Komponenten aus: Einer kausalen Komponente, die eine Verursachung im Sinne einer Urheberschaft beschreibt, sowie einer inhaltlich-qualitativen Komponente, die sich auf den Wertebereich bezieht (ebd.). Schuld bezeichnet also sowohl eine „kausale Urheberschaft von Normverletzungen“ (Lotter, 2017, S. 253) als auch „die Zurechenbarkeit und Vorwerfbarkeit dieser Verursachung, die wiederum eine Normenverpflichtung voraussetzt“ (ebd.).
Nach der sprachlichen Betrachtung des Schuldbegriffs und dem Versuch einer fachwissenschaftsübergreifenden Definition möchte ich mich dem Schuldphänomen nun unter Bezugnahme auf die jeweiligen fachwissenschaftlichen Perspektiven annähern. Dabei sei angemerkt, dass ich mich auch hier ausschließlich auf seine heutige Bedeutung im westlichen Kulturraum beziehe.
Das Fachgebiet der Philosophie lässt sich hierbei als Ausgangspunkt für die Definition des Schuldbegriffs verstehen, da die Philosophie, bzw. genauer der Teilbereich der Ethik, die Grundlagen zur Bestimmung des Phänomens festsetzt - diese werden in den weiteren Disziplinen durch die jeweilige Fachperspektive spezifiziert. Daher soll als erstes eine Betrachtung des Schuldverständnisses in der Philosophie bzw. Ethik vorgenommen werden.
Der Schuldbegriff lässt sich in einer ethischen Perspektive wie folgt bestimmen:
Es kann von einem Zustand moralischer Schuld - wie wir ihn in heutiger Zeit verstehen - gesprochen werden, wenn sich ein Verstoß gegen eine moralische Norm durch Zurechenbarkeit sowie daraus resultierend Vorwerfbarkeit auszeichnet (Lotter, 2017, S.252). Doch was bedeuten „Zurechenbarkeit“ und „Vorwerfbarkeit“ in diesem Kontext?
Als Voraussetzung für Zurechenbarkeit, moralische Vorwürfe und damit auch für die Existenz eines Zustands der Schuld im moralischen Sinne lässt sich die Zuschreibung von Willensfreiheit und Autorschaft benennen (Lotter, 2016, S. 126). Nach Lotter bedeutet Autorschaft „Willensfreiheit, im Sinne der Fähigkeit, sich „frei“ zwischen Gut und Böse zu entscheiden.“ (ebd., S. 125). Der Begriff der Willensfreiheit wird in einem moralischen Zusammenhang also dadurch definiert, dass ein Mensch die Fähigkeit besitzt, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Durch die Zuschreibung dieser Fähigkeit, frei und bewusst zwischen allen Möglichkeiten wählen zu können, ergibt sich, dass dem Individuum sein Verhalten persönlich zugerechnet wie auch vorgeworfen werden kann. Ausgehend davon also, dass das Individuum diese freie Auswahlmöglichkeit zwischen alternativen Optionen besitzt, ist im Falle eines Normverstoßes das Fehlverhalten als vorwerfbar zu betrachten, sodass von moralischer Schuld gesprochen werden kann.
Zusammengefasst kann sich ein Zustand moralischer Schuld - so wie wir ihn in heutiger Zeit verstehen - also dadurch ergeben, dass dem Individuum bei einem Normverstoß sein Fehlverhalten aufgrund seiner zugeschriebenen Fähigkeit, sich frei zwischen allen Möglichkeiten entscheiden zu können, persönlich zugerechnet und vorgeworfen werden kann.
An dieser Stelle stellt sich nun noch die für die Bestimmung des Schuldphänomens elementare Frage, inwiefern ein Individuum die Fähigkeit besitzt, frei und selbstbestimmt entscheiden und zwischen alternativen Möglichkeiten wählen zu können, sodass ihm sein Handeln zugerechnet und vorgeworfen und somit von moralischer Schuld gesprochen werden kann. Nach heutigem Verständnis des Schuldbegriffs ist dem Menschen gemäß der Definition von freier Entscheidungsfähigkeit nur das vorzuwerfen, was auch in seinem Einflussbereich liegt (Lotter, 2017, S. 252). Was dies genau umfasst ist Ausgangsfrage und Diskussionspunkt vieler, vor allem im natur- und neurowissenschaftlichen Bereich geführter Debatten. Nach allgemeiner Ansicht betrifft es jedoch grundsätzlich jegliches Verhalten des Menschen, insofern er nicht psychisch krank ist oder einem Zwang unterliegt (ebd.).
Ausgehend von der Bestimmung moralischer Schuld durch die Disziplin der Philosophie bzw. Ethik, lässt sich das Phänomen nun unter den Perspektiven weiterer Fachwissenschaften in seiner jeweiligen Spezifizierung betrachten.
Dazu möchte ich im Folgenden auf das Schuldverständnis im Strafrecht_eingehen, bei welchem sich sehr deutlich Parallelen zum moralischen Schuldbegriff abzeichnen. Aus einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1952 lässt sich eine Bestimmung des strafrechtlichen Schuldbegriffs herauslesen, die das Verständnis strafrechtlicher Schuld prägnant zusammenfasst.
Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, [... ] sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist. (Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 18.03.1952)
In dieser Darlegung strafrechtlicher Schuld lässt sich die Übertragung des moralischen Schuldbegriffs auf eine strafrechtliche Ebene eindeutig erkennen. So ist der Ausgangspunkt der Schuldzuweisung auch hier die persönliche Zurechnung und somit die Vorwerfbarkeit des Verhaltens, die sich auf die Vorstellung gründet, dass der Täter sich bewusst für das Unrecht anstatt für das Rechts entschied. Als Voraussetzung ist hier explizit die freie und selbstbestimmte Veranlagung des Menschen genannt (ebd.), durch die diesem die Fähigkeit zugeschrieben wird, sein Verhalten zu bestimmen und seine Handlungen frei wählen zu können. Daraus ergibt sich, dass der Täter frei zwischen rechter und unrechter Handlung hat wählen können, sich bewusst für das Unrecht entschied und aufgrund dessen als schuldig anzusehen ist (ebd.).
Die Frage, ob und wie die für die Zuschreibung von Schuld notwendige freie Selbstbestimmung des Menschen gegeben ist, ist im Bereich des Rechts deutlich konkreter zu beantworten als im Bereich der Philosophie, da im Ersteren die Bestimmungen, wann und unter welchen Umständen dies nicht der Fall ist, gesetzlich geregelt sind (Seeger, 2010, S. 149). So lassen sich aus der obigen Darstellung strafrechtlicher Schuld die Umstände, bei deren Vorliegen aufgrund der nicht vorhandenen freien Selbstbestimmung des Täters keine Schuld zugeschrieben werden kann, herauslesen. Da diese Bestimmung des strafrechtlichen Schuldbegriffs allerdings aus dem Jahr 1952 stammt, sowie auch nur eine sehr grobe und kurze Darstellung umfasst, bilden die darin aufgezeigten Umstände nicht eins zu eins die heutigen Kriterien ab, nach denen die Vorwerfbarkeit des Täterverhaltens und die Zuschreibung von Schuld ausgeschlossen werden. Dennoch lässt sich hier erkennen, dass strafrechtliche Schuld nur dann zugeschrieben wird, wenn der Täter tatsächlich selbstbestimmt und frei handelte. So definiert die obige Schuldbestimmung als Ausnahmen von der grundsätzlichen Veranlagung des Menschen auf Selbstbestimmung einerseits den Zeitraum, in dem dieser (noch) kein Verständnis für Gebote und Verbote und Recht und Unrecht entwickelt hat, sowie andererseits den Fall, dass diese Fähigkeit zur freien Entscheidungsfindung durch psychische Beeinträchtigungen gestört ist (ebd.).
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass sich der strafrechtliche Begriff der Schuld stark an den moralischen Schuldbegriff anlehnt, diesen gewissermaßen auf einer strafrechtlichen Ebene anwendet. Auch beim strafrechtlichen Schuldbegriff bilden persönliche Zurechenbarkeit und Vorwerfbarkeit des Täterverhaltens sowie damit verbunden die freie Selbstbestimmung des Täters in Bezug auf die Tat die Voraussetzung der Schuldzuschreibung. Die Umstände, unter welchen diese freie Selbstbestimmung (nicht) gegeben ist, sind beim strafrechtlichen im Vergleich zum moralischen Schuldbegriff jedoch gesetzlich festgeschrieben.
Abschließend möchte ich nun das Schuldverständnis in der Psychologie untersuchen. Dazu ist es notwendig, die Fachwissenschaft der Psychologie kurz einzuordnen. Diese lässt sich allgemein als Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen bezeichnen (Fetchenhauer, 2012. S. 5); Ziel der Psychologie ist somit menschliches Erleben und Verhalten zu beschreiben und zu erklären. Während sich im Bereich des Strafrechts ein Zustand der Schuld aufgrund bestimmter gesetzlicher Regelungen ergibt und eine Person gemäß diesen Kriterien für schuldig befunden werden kann, beschreibt „Schuld“ in der Psychologie als Lehre vom menschlichen Erleben ein Gefühl der Schuld. Daher kann im psychologischen Rahmen nicht von der Existenz einer faktischen „Schuld“, sondern von „Schuldgefühlen“ oder „Schuldempfindungen“ gesprochen werden (Dorn, 1976, S. 47). Diese lassen sich nach Dorn sowohl durch eine kognitive als auch eine affektive Komponente beschreiben: So erkennen wir auf der einen , dass wir uns in der entsprechenden Situation anders hätten verhalten sollen, gleichzeitig entsteht ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und Unsicherheit. Dabei ist die Festlegung der moralischen Norm - aufgrund welcher das Gefühl entsteht, dass wir uns anders, nämlich ihr entsprechend hätten verhalten sollen - dem Bereich der Ethik zuzuordnen (ebd.). „Schuld“ ist in der Psychologie hingegen in der Hinsicht relevant, dass das Auftreten von Schuldgefühlen festgestellt werden kann und diese durch den Bezug zu moralischen Handlungsgrenzen zu erklären versucht werden (ebd.).
Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die Bestimmung des Phänomens „Schuld“ feststellen, dass sich dieses im heutigen, abendländischen Verständnis grundsätzlich auf die Vorstellung von Willensfreiheit im Sinne der Fähigkeit bzw. Veranlagung des Menschen, frei und selbstbestimmt handeln und Entscheidungen treffen zu können, gründet. Dem Menschen ist sein Verhalten dieser Fähigkeit entsprechend persönlich zuzurechnen und vorzuwerfen, insofern keine Umstände vorliegen, wonach besagte Selbstbestimmung beeinträchtigt wäre. Liegt also ein Normverstoß ohne explizite Umstände, welche auf eine unfreie und nicht selbstbestimmte Handlung hinweisen, vor, lässt sich von einem Zustand der Schuld sprechen. Wie ersichtlich geworden sein dürfte, findet sich das Schuldphänomen in verschiedenen Fachwissenschaften wieder, in denen es ausgehend von seiner moralischen Bedeutung jeweilige Spezifizierungen erfährt. Allerdings bleibt - unabhängig davon in welchem fachwissenschaftlichen Kontext das Phänomen vorkommt - mit „Schuld“ immer die Vorstellung verbunden, dass der Mensch grundsätzlich über sein Handeln frei bestimmen kann und ihm dieses somit persönlich zugerechnet und vorgeworfen werden kann. So gründen sich beispielsweise auch die in der Psychologie zu untersuchenden „Schuldgefühle“, die zunächst weniger direkte Ähnlichkeiten mit dem moralischen oder rechtlichen Schuldverständnis aufweisen als letztere beiden miteinander, auf die Vorstellung, dass das eigene Handeln frei bestimmt werden kann. So entsteht schließlich im Falle einer nicht normentsprechenden Handlung das als negativ wahrgenommene Gefühl, sich falsch verhalten zu haben und somit schuldig zu sein.
Nach der bisherigen Betrachtung dessen, was heute im abendländischen Kulturraum unter „Schuld“ verstanden wird, möchte ich nun darauf eingehen, wie sich das Verständnis von Schuld seit der griechischen Antike bis heute gewandelt hat. Anhand der Betrachtung des Schuldverständnisses in verschiedenen Epochen bzw. Gesellschaftsformen - auch hier beziehe ich mich ausschließlich auf den westlichen Kulturraum - wird deutlich werden, dass unter „Schuld“ keineswegs schon immer das verstanden wurde, was wir heute so selbstverständlich damit verbinden.
Während ein Mensch nach heutigem Schuldverständnis - aufgrund der Bindung von Schuld an die Voraussetzung, über eine Entscheidung frei bestimmen zu können - nur für das als schuldig anzusehen ist, was auch in seinem Einflussbereich liegt, bedeutet Schuld in der griechischen Antike des sechsten und fünften Jahrhunderts vor Christus sich dem durch die Götter vorgezeichneten Schicksal zu widersetzen und somit gegen den Willen der Götter zu handeln (Lefèvre, 2001, zitiert nach Seeger, 2012, S. 155). Dabei ist diese Entgegenstellung nicht als bewusste und willentliche Handlung des Individuums zu betrachten, sondern kann ebenso unwissentlich geschehen (Seeger, 2012, S. 155.). Schuld ist in der griechischen Antike demnach nicht an eine subjektive und individuelle Vorwerfbarkeit der Handlung oder Entscheidung gebunden (Lotter, 2017, S. 254-255).
Dieses Verständnis von Schuld lässt sich anhand der griechischen Tragödie betrachten. So kennzeichnet sich diese dadurch, dass jede Handlungsalternative des Protagonisten aufgrund dessen aussichtsloser Situation unausweichlich verhängnisvoll sein und zu einer Schuldigkeit führen wird (Seeger, 2012, S. 155). Der Handelnde lädt also unabhängig davon, welche Handlung er wählt, Schuld auf sich (ebd.).
In Sophokles Tragödie entsteht die Schuld Ödipus‘, welcher unwissentlich seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet, nicht aufgrund seiner individuell getroffenen Entscheidung, da er diesen Fehler durch seine Unkenntnis nicht hätte verhindern können. Vielmehr besteht seine Schuld darin, sich unwissentlich gegen sein Schicksal gestellt zu haben (ebd.). Das Fehlen einer subjektiven Vorwerfbarkeit der Handlung ist somit kein Grund für die Aufhebung seiner objektiven Schuld (Lotter, 2017, S. 255). Im Gegenteil lässt sich sein Fehler als eine von der subjektiven Vorwerfbarkeit der Handlung unabhängige Befleckung der Gemeinschaft betrachten, welche somit auch nicht durch subjektive Entschuldigungsgründe, sondern wenn überhaupt durch rituelle Reinigung der Gemeinschaft kompensiert werden kann (ebd.).
Im vierten Jahrhundert vor Christus entwickelte Aristoteles die erste differenzierte Untersuchung von Schuld im Sinne der Vorwerfbarkeit durch die Frage nach dem Verdienst einer Person von Lob und Tadel (ebd.). Dabei basiert Schuld im Sinne von Vorwerfbarkeit grundsätzlich auf der Urheberschaft von Handlungen, wobei der Mensch als persönlicher Urheber für alle diejenigen Handlungen gilt, deren Ausführung von ihm abhängt, weswegen er für selbige Lob und Tadel verdient (Aristoteles, 1984, zitiert nach Lotter, 2017, S. 255). In Bezug auf die Frage, wann und in welchem Ausmaß eine Person als Urheber zu bezeichnen ist und ihr Lob und Tadel gebührt, unterscheidet Aristoteles zum einen zwischen der Tadelbarkeit der Handlung und der Tadelbarkeit der Person und systematisiert zum anderen die Entschuldigungsgründe bei Handlungen (Lotter, 2017, S. 255).
Eine Handlung ist demnach nur dann vorwerfbar, wenn sie freiwillig ausgeführt wird. Der Begriff „freiwillig“ ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem heutigen Verständnis von einer „freien“ und selbstbestimmten Handlung im Sinne der Willensfreiheit, sondern er fungiert als negativer Sammelbegriff (ebd.), der sich auf das Nichtzutreffen von Entschuldigungsgründen bezieht (Lotter, 2016, S. 162). Die akzeptierbaren Entschuldigungsgründe sind nach Aristoteles in zwei Bereiche eingeteilt, wobei der eine sich auf das Kriterium des Zwangs und der andere auf das der Unkenntnis bezieht (ebd.).
Aus der alleinigen Tadelbarkeit der Handlung folgt allerdings noch nicht zwangsläufig die Tadelbarkeit der Person (Lotter, 2017, S. 255). So können im aristotelischen Rahmen charakterlich gute Menschen schlechte Handlungen ausführen, indem ein Mensch beispielsweise aufgrund unglücklicher Umstände freiwillig eine Handlung begeht, die allerdings nicht seinem Charakter entspricht. Entscheidet sich eine Person jedoch überlegt für eine schlechte Handlung, ist ihr Charakter sehr wohl ebenfalls als schlecht anzusehen (Aristoteles 2006, zitiert nach Lotter, 2017, S. 255-256).
Darüber hinaus können hingegen auch irrationale Handlungen dem Menschen als Schuld angerechnet werden (Lotter, 2017, S. 156). Dies liegt darin begründet, dass nach Aristoteles jeder Mensch durch viele Einzelentscheidungen an der Bildung seines Charakters beteiligt ist. Obwohl Aristoteles auch davon ausgeht, dass der Charakter zum Teil durch Milieu und Erziehung geformt wird, so sieht er das Individuum selbst aktiv an der Ausbildung von tugendhaften oder lasterhaften Charakterzügen beteiligt (ebd.). An dieser Stelle ist die Unterscheidung Aristoteles‘ von akzidentellen und wesentlichen Ursachen von Relevanz (Lotter, 2016, S. 167). So stuft er ein Objekt, das die Begierde weckt, etwas Unrechtes zu tun, lediglich als akzidentelle Ursache des Unrechts ein; die wesentliche Ursache hingegen ist die Untugend des Handelnden. Für ihn ist also das Geld, welches die Handlung des Diebes auslöst, somit die unwesentliche Ursache des Diebstahls; als wesentliche Ursache ist die Untugend der Habsucht der Person zu verstehen (ebd.). Gleichermaßen würde sich eine feige Handlung nicht wesentlich auf die von außen erzeugte Emotion der Angst, sondern wesentlich auf die Untugend der Feigheit, welche von dem handelnden Individuum miterzeugt wurde, gründen (ebd.).
Anders als im Denken der griechischen Antike lässt sich menschliche Schuld in der jüdisch-christlichen Tradition grundsätzlich als ein Verschuldetsein gegenüber einem Schöpfergott verstehen (Lotter, 2017, S. 256). In der christlich-augustinischen Lehre bezeichnen die Begriffe der Sünde und der moralischen Schuld die Verwerflichkeit eines Handelns, das sich durch die Übertretung der Gesetze Gottes auszeichnet. Diese Übertretung lässt sich jedoch nur aus dem Grund als vorwerfbar verstehen, dass sich der Mensch gegenüber seinem Schöpfer in einer „vorgängigen Verschuldung“ befindet (ebd.).
Im Unterschied zur griechischen Tragödie bedeutet Schuld in der jüdischchristlichen Tradition nicht vorwiegend eine Befleckung der Gemeinschaft, sondern versteht sich als Sünde des einzelnen Menschen, die das Versäumnis des Schuldners gegenüber seinem Schöpfer beschreibt (Ricoeur, 1988, zitiert nach Lotter, 2017, S. 256). Die Sünde bezeichnet somit die Verletzung der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott, wobei der Sünder sich von Gott entfernt hat und nur durch diesen erlöst werden kann (ebd.). Das Abwenden von Gott lässt sich an dieser Stelle allerdings nicht als intellektuelle Fehlleistung des Menschen verstehen. Aufgrund dessen, dass nach jüdisch-christlichem Verständnis das Denken und Planen Gottes nicht im Erkenntnisbereich des Menschen liegt, wird diesem der Gehorsam als Fähigkeit zugeschrieben, unabhängig von seinen Kenntnissen sowie seinem intellektuellen Stand auf Gott reagieren zu können (Dihle, 1982, zitiert nach Lotter, 2017, S. 256). Die Sünde gründet sich somit auf eine mangelnde Ansprechbarkeit des Menschen, unabhängig davon, ob er sich dieser bewusst ist oder nicht (Lotter, 2017, S. 256). So lässt sich auch am Fall Adams das Verständnis von Schuld bzw. Sünde in jüdisch-christlicher Tradition als Ungehorsam gegenüber Gott deuten (Grätzel 2004, zitiert nach Lotter, 2017, S. 257).
Seit dem ausgehenden vierten Jahrhundert wandelt sich im christlich- augustinischen Kontext hingegen das Verständnis von Sünde als Ungehorsam gegenüber Gott hin zu einem Begriff des Willens (Lotter, 2017, S. 257). Dieser Wille lässt sich bei Augustinus verstehen als aktive Befähigung des Menschen, sich Gott zuzuwenden oder abzuwenden, die jedoch nicht an die Vernunft oder die Leidenschaften des Menschen gekoppelt ist (Augustinus, 1962, zitiert nach Lotter, 2017, S. 257). Dementsprechend ist der Mensch nach Augustinus nicht primär für seine konkreten Handlungen, sondern vielmehr für diese inneren Einstellungen verantwortlich, auf welchen seine Handlungen basieren. Schließlich ist es ihm möglich, sich auf die „ewigen Güter“ anstatt auf kurzfristige weltliche Freuden zu fokussieren (ebd.).
Menschliches Fehlverhalten lässt sich nach Augustinus somit auf einen mangelnden Willen des Menschen zurückführen, seiner mit dem Leben und der menschlichen Natur verbundenen Verpflichtung nachzukommen (Lotter, 2017, S. 257). Dabei muss sich menschliches Fehlverhalten nicht durch eine äußerliche Handlung zeigen, sondern ist bereits durch einen fehlgeleiteten Willen gegeben (ebd.). Mit dieser Lehre löst Augustinus gleichsam auch das Theodizee-Problem. So beantwortet die augustinische Lehre die Frage, wie ein guter und gerechter Gott menschliches Leid zulassen kann, durch das Verständnis von Leid als Strafe. Die Notwendigkeit dieser ergibt sich wiederum aufgrund des fehlgeleiteten Willens und somit einer - äußerlich nicht zwangsläufig sichtbaren - moralischen Verschuldung des Leidenden (ebd.).
Augustinus‘ Verständnis von Schuld als einem fehlgeleiteten Willen und der sich daraus ergebenden Verschuldung des Menschen bei seinem Schöpfergott wird ergänzt durch seine Lehre von der Erbschuld und der Gnadenlehre. Während der Mensch nach Augustinus einst als freies und vollkommenes Wesen von Gott erschaffen wurde, erklärt sich sein heutiger Zustand durch die Strafe Gottes für die Ursünde Adams, welche als Erbschuld alle Nachkommen Adams - und somit alle Menschen - betrifft (ebd.). Durch die Ursünde wurde gemäß Augustinus die Fähigkeit zur Erkenntnis und der freie Wille des Menschen beeinträchtigt, sodass dieser wehrlos gegen die Begierden wurde (ebd.). Da der Mensch nach der augustinischen Lehre seine moralische Autonomie verloren hat, ist er nicht mehr im Stande von sich aus Gutes zu wollen und zu tun; dies ist hingegen nur durch Gottes‘ Gnade möglich, durch die der Mensch von dem Bösen erlöst werden kann (Augustinus, 1955, zitiert nach Lotter, 2017, S. 257).
Die augustinische Lehre bestimmt nach Holl (1980) weitgehend das Denken des Mittelalters und wirkt bis zu dessen Ausgang weiter (S. 161.f). Auch zu Beginn der Neuzeit ist das Schuldverständnis durch die Vorstellung von einem durch Erbschuld verdorbenen Willen des Menschen gekennzeichnet, durch dessen Fehlleitung der Mensch zusätzliche Schuld auf sich laden und nur durch die Gnade Gottes erlöst werden kann (Lotter, 2017, S. 258). So erklärte noch Luther, dass zwar die mit der Erbschuld auf die Menschen übertragene Schuld mit der Taufe durch Christus hinweggenommen sei, die Begierde allerdings als Folge der Erbsünde bestehen bliebe, sodass der Mensch dazu geneigt sei, eigene Schuld auf sich zu laden (ebd.).
Im Kontext reformatorischer Traditionen wird der Mensch in der Neuzeit jedoch zunehmend als selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Individuum betrachtet (ebd.). Unter dieser Tendenz der Individualisierung verliert die Vorstellung einer kollektiven Erbschuld an Bedeutung, während die Rechtfertigung des Individuums für sein persönliches Handeln an Bedeutung gewinnt (ebd.). Dabei verschiebt sich der Bezugspunkt der Rechtfertigung des Individuums zunehmend von Gott hin zu dem eigenen Gewissen, welches die Funktion des Richters übernimmt (ebd.).
Das Verständnis von Schuld gründet sich somit immer weniger auf die Vorstellung einer den menschlichen Willen beeinträchtigenden, mit der Existenz des Menschen grundlegend verbundenen Erbschuld sowie eines Schuldigseins vor Gott in der Funktion eines Richters. Vielmehr wird das persönliche, individuelle Handeln des Menschen als Bezugspunkt seiner Schuldigkeit gesehen, die zunehmend weniger vor Gott, sondern vor dem eigenen Gewissen gerechtfertigt werden muss.
Die Entwicklung des Verständnisses des Menschen als einem epistemischen und selbstbestimmten Individuum gipfelt im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert in der Vorstellung Kants, nach der der Mensch moralisch autonom handeln kann (ebd., S. 259). Damit entsteht der zuvor in dieser Weise unbekannte Begriff eines freien - im Sinne eines autonomen - Willens (Holl, 1980, S. 214). Dieser ist nicht gleichzusetzen mit dem (freien) Willen in augustinischer Tradition, welcher auf der Zu- oder Abwendung von Gott basiert, sondern ist aus der Vorstellung des Menschen als einem eigenverantwortlichen und seinem eigenen Gewissen verpflichteten Individuum heraus zu verstehen.
Durch die philosophische Auseinandersetzung mit den subjektiven Grundlagen der Imputation, also der Zurechnung, von Handlungen wird im gleichen Kontext der Schuldbegriff präzisiert (Lotter, 2017, S. 259). Demnach lässt sich Schuld in einem lediglich kausalen Sinne von einer Schuld, die dem Individuum tatsächlich zugerechnet werden kann, abgrenzen (Hegel, 1970, zitiert nach Lotter, 2017, S. 259). So bedeutet nach Hegel, an einer Sache kausal Schuld zu haben, nicht, dass dem Menschen diese Sache auch moralisch wie rechtlich zugerechnet werden kann (ebd.). Stattdessen kann nur das als Handlung des Menschen anerkannt sowie dem Menschen nur das als Schuld zugerechnet werden, was auch im Vorsatz des Menschen lag (ebd.).
Das Schuldverständnis lässt sich somit seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert dahingehend zusammenfassen, dass der Mensch als autonom handelndes Individuum mit einem ebenso autonomen, freien Willen aufgefasst wird, welcher als Grundlage wie auch Voraussetzung für einen Zustand moralischer Schuld herangezogen wird. Schuld ist im modernen Verständnis grundsätzlich an das individuelle Handeln des Menschen gebunden und kann nur in diesem Kontext zugeschrieben werden. Da individuelles Handeln nun als ein sich auf den Begriff des freien Willens gründendes Handeln verstanden wird, ist Schuld im modernen Verständnis letztendlich an den freien Willen gebunden. Dabei bedeutet die Vorstellung eines freien Willens allerdings nicht nur die „Ursache“ von individuellem Handeln, sondern der freie Wille definiert menschliche Handlungen und Entscheidungen als vom Individuum bewusst gewählt und frei bestimmt, womit sich die Idee der Verantwortlichkeit des Menschen verbindet. Von dem Gedanken ausgehend, dass der Mensch als moralisch autonomes Wesen für seine Handlungen verantwortlich ist, bedeutet Schuld das Brechen einer moralischen bzw. rechtlichen Norm, die wiederum den Rahmen für moralisches Handeln bildet.
Mit der Idee eines Schuldverständnisses, das sich auf die mit dem freien Willen einhergehende Verantwortlichkeit des Individuums gründet, verbindet sich die Vorstellung, dass das Individuum andersherum allerdings auch nur für das als schuldig betrachtet werden kann, was in seiner Verantwortung und so in seinem Einflussbereich liegt - für die Handlungen und Entscheidungen also, bei denen sein Wille tatsächlich „frei“ war. Daher entsteht im gleichen Kontext die Abgrenzung einer bloß kausalen Schuld von einer dem Individuum tatsächlich zurechenbaren Schuld. Zusammengefasst entwickelt sich im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert somit ein Schuldverständnis, das sich auf freien Willen, Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit des Handelns gründet. An dieser Stelle ist also bereits eine Vorstellung von Schuld entstanden, die sich in weiten Teilen mit dem heutigen Schuldverständnis deckt.
Der Schuldbegriff wird im Laufe des neunzehnten bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Bezug darauf, inwiefern Handlungen im Einflussbereich des Individuums liegen und somit (nicht) auf einer bewussten, freien Entscheidung beruhen, weiter präzisiert. An dieser Stelle ist nun ein Blick in den Rechtsbereich sinnvoll, da in diesem die Verfeinerung des Schuldbegriffs - aufgrund der Notwendigkeit von klaren gesetzlichen Regelungen - besser nachvollzogen werden kann. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kamen Forderungen auf, wonach der strafrechtliche Schuldbegriff mehr als nur die Kriterien des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit umfassen sollte (Dorn, 1976, S. 94). Stattdessen sollten auch die persönlichen Voraussetzungen des Täters in Form der begleitenden Tatumstände sowie die Zurechnungsfähigkeit berücksichtigt werden (ebd.). So entwickelte sich der Begriff der Vorwerfbarkeit (Nass, 1963, zitiert nach Dorn, 1976, S. 94), der die Zurechnung von Handlungen dahingehend präzisiert, dass auch die persönlichen Voraussetzungen des Individuums und die individuelle Tatsituation bei der Frage nach dem Vorliegen von Schuld miteinbezogen werden.
Zu dem Verständnis von Schuld als auf freiem Willen, Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit des Handelns basierend, kommt zu Beginn des frühen zwanzigsten Jahrhunderts so noch das Kriterium der persönlichen Vorwerfbarkeit der Handlung hinzu. Obwohl es bis hin zum heutigen Schuldbegriff noch einige Veränderungen der Vorstellung gegeben hat, welche Faktoren die Zurechnung und Vorwerfbarkeit einer Handlung genau begrenzen, so lässt sich doch sagen, dass an diesem Punkt ein Verständnis von Schuld vorherrscht, das sich mit den gleichen Begriffen - freier Wille, Verantwortung, Zurechenbarkeit und der Vorwerfbarkeit - charakterisieren lässt wie das heutige.
Nach der Betrachtung des Schuldverständnisses in verschiedenen Epochen bzw. Gesellschaftsformen lässt sich feststellen, dass sich dieses seit der griechischen Antike bis in die heutige Zeit fundamental verändert hat und sich die Vorstellung von Schuld zwischen den untersuchten Gesellschaftsformen deutlich unterscheidet.
So ist in der griechischen Antike des sechsten und fünften Jahrhunderts vor Christus Schuld nicht an eine persönliche Vorwerfbarkeit der Handlung gebunden, sondern wird über die individuelle Perspektive hinaus als objektive Befleckung der Gesellschaft aufgefasst. In diesem Verständnis sind subjektive Entschuldigungsgründe irrelevant, wohingegen eine rituelle Reinigung der Gemeinschaft eine sinnvolle Möglichkeit des Umgangs mit Schuld darstellt.
Dagegen entwickelte Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus mit der Frage nach dem Verdienst einer Person von Lob und Tadel die erste differenzierte Untersuchung von Schuld im Sinne der Vorwerfbarkeit. Hier unterscheidet er bereits zwischen der Tadelbarkeit der Handlung und der Tadelbarkeit der Person und systematisiert Entschuldigungsgründe, welche sich zum einen unter dem Kriterium des Zwangs und zum anderen unter dem der Unkenntnis zusammenfassen lassen. Ganz anders wiederum versteht sich Schuld in der jüdisch-christlichen Tradition.
So wird Schuld im Sinne von Sünde in diesem Verständnis als Versäumnis des Schuldners - dem Menschen - gegenüber seinem Schöpfergott aufgefasst, sodass Schuld aufgrund der Verletzung der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott entsteht. Die Verletzung der Beziehung und damit die Sünde bzw. die Schuld wird dabei als Ungehorsam des Menschen gegenüber Gott verstanden; der Mensch lädt somit Schuld auf sich, wenn er sich Gottes Geboten widersetzt.
In der christlich-augustinischen Lehre hingegen, die seit dem späten vierten Jahrhundert bis in die Neuzeit hinein das Schuldverständnis prägt, gründet sich Schuld auf einen mangelnden Willen sich Gott zuzuwenden und so seiner mit der menschlichen Existenz verbundenen Verpflichtung nachzukommen. Der Grund für diesen mangelnden Willen ist durch die Erbschuld gegeben, welche auf allen Menschen lastet, da diese den Willen des Menschen beeinträchtigt und den Menschen wehrlos gegen die Begierden macht. Darüber hinaus ist jeder Mensch durch die Erbschuld ohnehin von Geburt an als schuldig anzusehen. Von seiner Schuld kann der Mensch in diesem Verständnis nur durch Gottes Gnade erlöst werden.
Dieses Schuldverständnis wiederum wandelt sich im Kontext reformatorischer Traditionen in der Neuzeit völlig. Im Zuge dessen, dass der Mensch zunehmend als selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Individuum betrachtet wird, bildet auch immer stärker das persönliche, individuelle Handeln den Bezugspunkt seiner Schuld. Diese muss zunehmend weniger vor Gott, sondern vor dem eigenen Gewissen gerechtfertigt werden.
Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert basiert Schuld nun auf dem durch Kant geprägten Begriff des freien Willens, der menschliche Handlungen als vom Individuum frei gewählt definiert, womit sich die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen verbindet. So wird als Schuld nun der Bruch einer moralischen bzw. rechtlichen Norm verstanden, da diese den Rahmen für moralisches und verantwortliches Handeln bildet. Darüber hinaus entsteht hier die Vorstellung, dass das Individuum nur für das als schuldig betrachtet werden kann - und ihm nur diese Handlungen zugerechnet werden können - was in seiner Verantwortung und somit in seinem Einflussbereich liegt.
Dieses Schuldverständnis verändert sich im Laufe des neunzehnten bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dahingehend, dass die Voraussetzung der Zurechenbarkeit einer Handlung um die Berücksichtigung der persönlichen Voraussetzungen des Individuums und der konkreten Situation erweitert bzw. spezifiziert wird. Schuld wird demnach zusätzlich in Abhängigkeit von individuellen Voraussetzungen des Menschen und der jeweiligen Situation verstanden.
So lässt sich feststellen, dass Schuld in allen untersuchten Gesellschaftsformen vollkommen verschieden aufgefasst wird. In Abhängigkeit von den jeweiligen religiösen Vorstellungen sowie den zugrundeliegenden anthropologischen Annahmen, die in der Gesellschaftsform vorherrschen, verändert sich der Schuldbegriff und damit die Art und Weise, auf die ein Mensch schuldig werden kann. Daher lässt sich an dieser Stelle feststellen, dass „Schuld“ keine feste Größe ist, sondern in Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen Annahmen konstruiert wird. „Schuld“ kann somit nicht als etwas Universelles gesehen werden, sondern ist in seiner jeweiligen Form an seine jeweilige Gesellschaftsform angepasst. So beruht auch das, was wir aus unserem heutigen Verständnis heraus unter Schuld verstehen, auf den spezifischen Annahmen, die diese Gesellschaftsform mit sich bringt, und ist somit zunächst als Teil des historischen Verlaufs zu betrachten. Hier lässt sich als kurze Randbemerkung anmerken, dass auch in der heutigen Zeit keineswegs ein einheitliches Verständnis von Schuld zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen vorherrscht. So ist die Vorstellung von Schuld in einer buddhistischen Tradition eine völlig andere als diese sich in einer hinduistisch-indischen Gesellschaft gestaltet, während das Verständnis von Schuld in unserem westlichen Kulturraum wiederum auch nicht mit den vorigen einhergeht (Lotter, 2016, S. 146-155).
In dieser Arbeit soll es nun nicht um die Frage gehen, welches Schuldverständnis - sowohl historisch als auch in heutiger Zeit kulturvergleichend betrachtet - das objektiv „richtige“ ist oder ob Schuld, wie sie in verschiedenen Gesellschaftsformen verstanden wird, in dieser Weise wissenschaftlich belegbar ist. Schließlich wäre die Frage, ob das Schicksal der Menschen durch die Götter gesteuert wird, ob ein allmächtiger Gott Strafe und Gnade walten lässt, ob sich Karma durch die Wiedergeburt ausdrückt oder ob dem Menschen tatsächlich ein autonomer, freier Wille zuteil wird, eine Frage, die sich - wenn überhaupt eine zufriedenstellende Antwort darauf gefunden werden kann - in Bereichen wie der Physik und den Neurowissenschaften wiederfinden würde. Insofern soll im Kontext dieser Arbeit nicht erörtert werden, ob und in welcher Weise Schuld, wie wir sie heute verstehen, wissenschaftlich be- oder widerlegbar ist, sondern ob diese eine zielführende Kategorie in politischer, rechtlicher und gesamtgesellschaftlicher Hinsicht darstellt, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden sollten.
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