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Bachelorarbeit, 2019
39 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Identität
2.1 Begriffsklärung
2.2 Identitätstheorien und -modelle
2.2.1 Erik H. Erikson
2.2.2 George H. Mead
2.2.3 Heiner Keupp et al.
2.3 Kulturelle Identität
2.3.1 Bikulturelle Identität
2.3.2 Kritische Würdigung des Kulturverständnisses
3. Migration
3.1 Begriffsklärung
3.2 Festlegung von Migrationsanderen
3.3 Kritische Würdigung des eingeschränkten Migrationsbegriffes
3.4 Auswirkungen des Kulturverständnisses im Kontext von Migration
4. Die Suche nach Identität in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen
4.1 Die Frage nach Zugehörigkeit
4.2 Identitätsentwicklung unter den Herausforderungen von Akkulturationsprozessen
4.2.1 Begriffsklärung Akkulturation
4.2.2 Das Akkulturationsmodell von Berry
4.3 Identitätskonstruktion in hybriden Lebensentwürfen
5. Fazit und Diskussion
6. Literaturverzeichnis
Es mag verlockend sein zu glauben, die Identität könnte im Zeitalter der Globalisierung nur entweder zu ihren >>Wurzeln<< zurückkehren oder in der Assimilation oder Homogenisierung verschwinden. Dies könnte aber auch eine falsche Gegenüberstellung sein.
(Hall 2012, S. 218)
‚Migrationsandere‘ stehen im Mittelpunkt öffentlichen Interesses, wo sie sich einem faktischen und beständigem Integrationstest unterziehen müssen (vgl. Mecheril et al. 2010, S. 4). In Integrationsdiskursen, die vorwiegend von ‚Nicht-Migrationsanderen‘ ausgetragen werden, wird eine Wahrnehmung über ‚Migrationsandere‘ konstruiert, in der theoretische Realitäten der Betroffenen nachgezeichnet werden (vgl. Merten 2013, S. 227 f.). Was unter Integration verstanden wird, bleibt in hegemonialen Diskursen oft unklar (vgl. ebd., S. 227). Merten konstatiert, dass „[j]e nach Standpunkt [...] dies von einer Nivellierung sozialstruktureller Unterschiede bis zu einer vollkommenen kulturellen Assimilation reichen [kann]“ (ebd.). Die Frage der Integration wird oft im Zusammenhang mit der Frage der Zugehörigkeit versucht zu beantworten, wobei die ‚Herkunft‘ eines Menschen in den Fokus des Interesses rückt. In einer von Pluralisierung, Globalisierung und Migration geprägten Gesellschaft sind statische Identitäten, in denen Kategorien wie die Klasse oder das soziale Milieu dem Subjekt vorgegeben wurden, nicht mehr zeitgemäß. Der Blick auf die Identitätsfrage lässt eine Kontinuität der Diskussion um die immer gleiche Frage „Wer bin ich?“ verzeichnen, die jedoch in der heutigen Zeit an Bedeutung zugenommen hat (vgl. Keupp et al. 2002, S. 69). Mead (1968) hat festgestellt, dass gesellschaftliche Veränderungsprozesse wie Migration zu einer stärkeren Positionierung einer nationalen Identität führen (vgl. Zirfas 2010, S. 10). Aufgrund dieser Ansicht zeichnet sich die Tendenz ab, wieder nationale Bezugsnormen zu verfolgen, die in einem affirmativen Verständnis einer statisch konnotierten Identität münden (vgl. Breiwe 2019, S. 5). Menschen, die sich keiner eindeutigen ‚kulturellen‘ oder ‚nationalen Identität‘ zuordnen, weil sie sich mehrfach zugehörig fühlen, erfahren mangelnde Anerkennung ihrer hybriden Orientierungsformel (vgl. Badawia 2002, S. 11). Nach Mecheril herrscht ‚Anderen Deutschen‘ gegenüber ein gleichzeitiger Anspruch des Assimilierens und des Othering:
Migrationsandere sind mithin mit der paradoxen oder – im doppelten Sinn – unmöglichen Aufforderung konfrontiert, >>anders<< und zugleich >>nicht-anders<< zu sein. Komplementär zu der folgenreichen Produktion der >>Anderen<< kommt es zu einer Neuerfindung der Nicht-Anderen, die das nationale Denken stärkt. (Mecheril et al. 2010, S. 5)
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung von Identität und Identitätsfindung in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen. Das Ziel hierbei ist, aufzuzeigen, wie komplex Identitätskonstruktionen besonders in der postmodernen Zeit sind und welche inneren und äußeren Faktoren bei dem lebenslangen Entwicklungsprozess der Identität Einfluss üben. In Bezug auf migrationsgesellschaftliche Verhältnisse werden bedeutende Faktoren für das Zugehörigkeitsgefühl der betroffenen Personen skizziert. Hierbei wird zunächst im ersten Kapitel anhand von Identitätstheorien und -modellen der Wandel des Identitätsverständnisses ausgeführt. Anschließend richtet sich der Blick auf Migration und die damit einhergehende Frage, welche Personengruppen noch als Migrant_innen bezeichnet werden. In beiden Kapiteln wird die Bedeutung des Kulturverständnisses herangezogen und einer kritischen Auseinandersetzung unterzogen. Das letzte Kapitel geht der Frage nach Identität und Zugehörigkeit in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen nach. Wegen einer fehlenden eindeutigen Bezeichnung für Kinder und Enkel nach Deutschland emigrierter Menschen, werden im Verlauf dieser Arbeit – auch um gleichzeitig den fehlenden Konsens für Mehrfachzugehörige aufzuzeigen – unterschiedliche Bezeichnungen gewählt.
Der Identitätsbegriff, der sich in der modernen Zeit noch immer, oder gar besonders, als notwendig erweist, leitet sich vom Lateinischen idem ab und bedeutet die gleiche [Person] sein (vgl. Abels 2017, S. 195). Dieser lateinische Ursprung des Wortes erweckt den Eindruck, dass bei einem Menschen nur dann von Identität die Rede ist, wenn er in allen Situationen gleich und nach festen Prinzipien handelt. Die soziologische Perspektive stellt jedoch einen statischen und konstanten Identitätsbegriff in Frage (vgl. ebd.). Forscher nähern sich dem Konstrukt der Identität auf unterschiedliche Weise und stellen fest, dass Identität als Selbstbild, soziale Zuschreibung, Habitus oder konstruierte Erzählung beschrieben werden kann (vgl. Berger/Luckmann 2009). In seinem Entwicklungsprozess sieht ein Individuum sich mit der Frage nach seiner Identität konfrontiert, doch wie sich eine Identität ausbildet hängt nicht nur von subjektiven Einflussfaktoren ab. Wie Abels in seiner Definition zur Identität zum Ausdruck bringt, ist Identität immer in Zusammenhang mit sozialen Lebenslagen zu betrachten: „Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum zu sein [...] und in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben“ (Abels 2017, S. 200). Ein sozialwissenschaftlicher Blickwinkel nimmt soziale Voraussetzungen für Identitätskonzepte in den Fokus und berücksichtigt kulturelle Lebensentwürfe, in denen Subjekte agieren, anstatt nur auf einzelne Individuen und ihre Kompetenzen einzugehen (vgl. Zirfas 2010, S. 9). Äußere Einflüsse, wie gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche sowie Globalisierungsprozesse auf inter- und transkultureller Ebene, die einen neuen Umgang mit Eigenem und Fremden mit sich ziehen, wirken auf die Identitätsfrage ein und lassen sie „als Begleiterscheinung des kulturellen und sozialen Wandels, oder als Folgen einer Flexibilisierung von Lebensformen [...] verstehen“ (ebd., S. 10). So entstand beispielsweise Meads Theorie der Identitätsentwicklung (vgl. Kap. 2.2.2) anfang des letzten Jahrhunderts in Chicago vor dem Hintergrund einer ständig wachsenden Zahl von Migrant_innen, die das Selbstverständnis der Anwohner_innen ‚bedrohten’ . Ein solcher gesellschaftlicher Wandel kulminierte in einer Neuausrichtung der Grenze zwischen der eigenen Identität und dem, was als fremd empfunden wurde (vgl. ebd.).
Wie die ursprüngliche lateinische Bedeutung des Identitätsbegriffes zeigt, beinhaltet die traditionelle Definition von Identität Attribute wie Gleichsein und Kontinuität. Im Zuge der heutigen modernen Gesellschaft wird die Relevanz für ein zeitgemäßes Konzept von Identität skeptisch betrachtet (vgl. ebd., S. 11). Die Frage nach der Identität, oder explizierter formuliert: die Frage danach, wer wir sind, wie wir geworden sind, was wir sind und wer wir sein möchten, wird mit dem Vergleich mit anderen zu beantworten versucht (vgl. Abels 2017, S. 200). Erst in dem Augenblick, wo ein Individuum sich einem tatsächlichen oder gedachten Anderem1 gegenüberstellt, erhält die Frage nach der eigenen Identität und somit die Frage, wie uns die Anderen sehen, eine stärkere Bedeutung. Die soziologische Perspektive besagt, dass die Antwort auf die Frage wer wir sind, ein Differenzbegriff ist (vgl. ebd., S. 2). Hiermit ist gemeint, dass Identität zugleich als Vermittlungs- und Differenzierungsbegriff zu verstehen ist. Differenzen beziehen sich auf interne Unterschiede in einem selbst und externe Divergenzen zwischen dem Subjekt und dem Anderen (vgl. Zirfas 2010, S. 12).
Der Identitätsdiskurs zeichnet sich durch ein breites Spektrum an Perspektiven aus. In den folgenden Unterkapiteln wird unter Rekurs einiger wichtiger Theorien aufgeführt, wie sich Identitätsmodelle historisch entwickelt haben und welche erheblichen Unterschiede in Bezug auf gestellte Fragen und den Fokus der Aufmerksamkeit existieren. Während die Psychologie die Bedeutung von Selbstkonzepten bestätigt, zeigt die Pädagogik die Entwicklungsmöglichkeiten von Identität auf. Die Soziologie rekonstruiert die sozialen Voraussetzungen für Identitätskonzepte, während sich die Kulturwissenschaften auf die Analyse des symbolischen und machtbasierten Kontextes von Identitätsmustern konzentrieren (vgl. Zirfas 2010, S. 9). In einigen Fällen bauen diese Perspektiven aufeinander auf und manchmal überschneiden oder widersprechen sie sich. Klassische Theorien, wie die psychosoziale Entwicklungstheorie von Erikson (1974), beschreibt Identität als eine Entwicklung in Form von individueller Kohärenz und Kontinuität, die einem im Wesentlichen linearen Verlauf folgt und sich an Sozialisationsmitteln wie Familie, Schule oder Arbeit orientiert. Vertreter_innen der neueren Ansätze der Identitätsforschung, unter anderem Keupp et al. (2002), sprechen jedoch ausdrücklich von Teilidentitäten und sehen ihre Entwicklung als notwendige und lebenslange Konstruktionsarbeit. Kurz und prägnant formuliert beschreibt Bildens Zitat „Ich bin viele“ (Bilden 1997, S. 238) die gegenwärtige und moderne Ansicht von Identität, die sowohl Chance als auch Herausforderung für jedes Individuum darstellen kann. Im Folgenden werden die anfänglichen, klassischen Identitätstheorien sowie ein neuer Ansatz der Identitätsforschung einer näheren Betrachtung unterzogen.
Der Identitätstheoretiker Erik H. Erikson begann seine ersten systematischen Diskussionen über Identität in den 1950er Jahren und war somit der erste Theoretiker, der die Identitätsbildung als eines der wesentlichen und grundlegenden Elemente der Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz bezeichnete. In seinem Entwicklungsmodell steht die Konstruktion einer persönlichen Identität im Vordergrund. Das Modell beschreibt die menschliche Entwicklung als Abfolge von acht Phasen, die der oder die Einzelne zu durchlaufen hat, um ein produktives und erfülltes Leben in der Adoleszenz zu erreichen (vgl. Erikson 1959). Erikson definiert das Identitätsgefühl als Ich-Identität, die als Fähigkeit, innere Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten, entsteht (vgl. Erikson 1974, S. 94). Nach Erikson entsteht in der Ich-Identität eine stetige Wechselbeziehung zwischen einem Sich-Selbst-Gleichsein und der Teilhabe an gruppenspezifischen Charaktermerkmalen (vgl. ebd., S. 124). In seinem Entwicklungsmodell wird der Prozess der Identitätsbildung auf eine sehr kurze Lebensspanne in der Jugendphase beschränkt und am Ende der Adoleszenz erreicht. Wie Mead (vgl. Kap. 2.2.2) ist auch Erikson der Ansicht, dass die endgültige Identität unveränderlich sei, jedoch die Adoleszenz weder Beginn noch Ende der Identitätsentwicklung ist. In den 1980er Jahren wurde Eriksons Theorie der Kritik unterworfen (vgl. Keupp et al. 2002). Besondere Kritik wurde an dem kontinuierlichen Mehrstufenmodell geäußert, bei dem das erfolgreiche Durchlaufen der verschiedenen Phasen durch die Adoleszenz eine Art ‚Identitätsplattform‘ für das spätere Leben als Erwachsener erzeugt (vgl. ebd.). Diese Vorstellung von einer lebenslang gesicherten und stabilen Identität wird im postmodernen Diskurs mit Bezeichnungen wie Individualisierung, Pluralisierung oder Globalisierung dekonstruiert (vgl. ebd., S. 61).
Die Thesen zum Identitätskonzept des amerikanischen Sozialpsychologen und Begründer des symbolischen Interaktionismus George H. Mead wurden im Jahre 1968 in dem Werk Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus veröffentlicht. Meads Perspektive fasst im Bereich der Soziologie Fuß und stützt sich auf die Annahme, dass das Individuum seine Identität durch Interaktions- und Kommunikationsprozesse selbst formt und hierbei Konflikte und Anomalien in modernen Gesellschaften direkte Auswirkungen auf die Identitätsbildung eines Individuums haben. Im Gegensatz zu Eriksons kohärenzbasiertem Verständnis von Identität sieht Mead die Identitätsbildung als ein relativ flexibles Konstrukt und konstatiert, dass Identität „innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses“ (Mead 1968, S. 177) entsteht. Erfahrungen, die ein Individuum in gesellschaftlichen Strukturen durchlebt, fließen in das Identitätskonzept eines Einzelnen ein (vgl. ebd., S. 182). Mead betont in seinen Thesen zu der Entstehung von Identität neben des Aspekts der Interaktion die Rolle der Kommunikation und nähert sich damit den neueren und moderneren Ansätzen der Identitätsforschung wie Keupp et al. (2002). Durch Kommunikation löst das vom Subjekt Gesagte beim Gegenüber Reaktionen aus, auf diese Reaktionen geht das Subjekt ein und verändert somit seine Handlungen, sodass die begonnene Handlung von der Reaktion des Anderen abgewandelt wird (vgl. ebd., S. 183). Erst durch Sprache gelingt es dem Menschen, die gleichen Reaktionen bei anderen auszulösen und dadurch eine Identität zu entwickeln, da Kommunikation „ein Verhalten ist, bei dem der Einzelne in dieser Weise auf sich selbst reagiert“ (ebd., S. 184). Mead zufolge entwickelt ein Subjekt mehrere verschiedene Identitäten, die in unterschiedlichen Situationen und Erfahrungen zum Vorschein treten. Mit welcher Identität sich ein Individuum in einem bestimmten Umstand identifizieren kann, hängt von den auftretenden gesellschaftlichen Reaktionen ab (vgl. ebd., S. 184 f.). Ferner erteilt die gesellschaftliche Gruppe, zu der sich das Subjekt zugehörig fühlt, dem Individuum eine einheitliche Identität: den_die verallgemeinert Andere_n. Diese_r verallgemeinerte Andere repräsentiert die Erfahrungen jedes einzelnen Mitglieds in diesem sozialen Gefüge (vgl. ebd., S. 196). Für den Identitätsentwicklungsprozess bedeutet dies, dass ein Subjekt in unterschiedlichen Erfahrungswelten mehrere Identitäten entwickeln kann und diese Teilidentitäten in Hinblick auf die Gemeinschaft, der das Subjekt angehört, organisiert werden. Innerhalb dieser Gemeinschaft entwickelt sich zudem ein kollektives Ich. Dieser Aspekt der Identität eines Einzelnen wird ihm durch Andere erteilt, sodass „die Struktur der vollständigen Identität [...] somit eine Spiegelung des vollständigen gesellschaftlichen Prozesses“ (ebd., S. 186) darstellt. Mead betont, dass eine Identität nur dann existieren kann, wenn das Subjekt Mitglied einer Gemeinschaft ist und Identität nur dann in Erfahrung eintreten kann, wenn die Identität anderer existiert und in Erfahrung eintritt (vgl. ebd., S. 206). Die Annahme, dass das Identitätsbewusstsein um ein gesellschaftliches Individuum organisiert ist, wird auf zweierlei Weise zum Ausdruck gebracht: Zum einen wird ein Subjekt als Mitglied in dieser gesellschaftlichen Gruppe von anderen Mitglieder beeinflusst und zum anderen wird die eigene Erfahrung als Identität von seinen Handlungen gegenüber anderen Mitglieder übernommen (vgl. ebd., S. 214). In Kohärenz mit der gesellschaftlichen Umwelt, indem Haltungen anderer Individuen „in einem organisierten Rahmen gesellschaftlicher Beziehung“ (ebd., S. 270) eingenommen werden, kann sich das Selbst als Objekt erfahren und wird damit selbst-bewusst, „selbst-bewußt [sic!], identitätsbewußt [sic!] sein heißt im Grunde, dank der gesellschaftlichen Beziehungen zu anderen für seine eigene Identität Objekt werden“ (ebd., S. 215). Der Prozess, sich selbst als Objekt anzusehen, wird laut Mead vorausgesetzt, um sich seiner selbst bewusst zu werden und somit eine vollständige Identität zu entwickeln. Die Entwicklung des Selbst findet als komplexes Zusammenspiel zwischen dem me, das erlernte und verinnerlichte soziale Rollenerwartungen enthält, und dem I, den impulsiven und kreativen Komponenten der Persönlichkeit, statt2 (vgl. ebd., S. 218 f.). Das me bezeichnet das sich selbst als Objekt erfahrene Ich und entwickelt sich erst durch die Übernahme der Haltungen anderer. Das I hingegen reagiert auf die gesellschaftlichen Situationen. Während das me, also die Haltung der anderen, die das Subjekt einnimmt und die sein Verhalten beeinflussen, gegeben ist, ist die Reaktion darauf, das I, nicht vorhersehbar (vgl. ebd.). Zusammen bilden das me und das I eine Persönlichkeit und sind Voraussetzung für neue Erfahrungen: „Dank der Fähigkeit des Einzelnen, diese Haltungen der anderen einzunehmen, soweit sie organisierbar sind, wird er sich seiner Identität bewußt [sic!]“ (ebd.). In Meads Theorie lassen sich zwei wesentliche Komponenten zur Gestaltung von Identität finden, die auch bei anderen Identitätstheorien, wie etwa in den Ansätzen von Keupp et al. (2002), von elementarer Bedeutung sind: das Zusammenspiel von äußeren Umwelteinflüssen und inneren, individuellen Gegebenheiten.
Aktuelle Modernisierungsprozesse für Menschen regen den stetigen Diskurs über Identität an. Die moderne Identitätsforschung strebt danach, der Frage nach Identität eine zeitgerechte Antwort zu geben: „Wer bin ich in einer sozialen Welt, deren Grundriß [sic!] sich unter Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung verändert?“ (Keupp et al. 2002, S. 7) Die Theorie der Identitätsarbeit von Keupp et al. besagt, dass das Subjekt seine Identität aktiv und durch kreative Eigenleistung unter den Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft formt. Demzufolge trennt sich dieses Modell zur Identitätsentwicklung von der historischen Vorstellung des statischen Identitätsmodells nach Erikson. Zudem lenkt das Modell den Blick auf soziale Veränderungen durch Pluralität, Mobilität und Ambiguität, die bei der Identitätsformung des Subjekts und der Passungsarbeit zwischen Individuellem und Sozialem von unmittelbarer Relevanz und folglich für die Entstehung neuer Formen der Subjektkonstruktion verantwortlich sind (vgl. ebd., S. 61). Keupp et al. üben Kritik an der Trennung von sozialer und persönlicher Identität, stattdessen unterscheiden sie fünf Spannungsfelder, die nicht voneinander getrennt sind, sondern im Zusammenhang stehen und sich überschneiden (vgl. ebd., S. 63 f.). Das erste Spannungsfeld beleuchtet die Frage nach der Aktualität der Identitätsdiskussion: Zum einen zeichnet sich eine Kontinuität der Diskussion um die immer gleiche Frage danach, wer wir sind, aus – diese Frage geht bis in die Antike zurück. Zum anderen nimmt der Fokus auf die Identitätsfrage besonders in der heutigen Zeit und vor allem in westlichen Ländern zu (vgl. ebd., S. 69). Die zweite Diskursebene bringt die Spannung zwischen Identität als einem statischen und dynamischen Begriff zum Ausdruck. Identität wird partiell durch eine Fülle von Merkmalen wie dem Geburtsort oder sozialen Zuordnungen, wie etwa Nationalität und Geschlecht, als etwas Unveränderliches konstruiert. Konträr zu dieser Annahme steht der Begriff der Identitätsfindung, der Identität als einen Prozess und Entwicklungsaspekt beschreibt (vgl. ebd.). Ein weiteres Spannungsfeld besteht zwischen einer vielfältigen und einheitlichen Identität, so formulieren Keupp et al., dass Identität Kohärenz und Kontinuität braucht und zugleich „erst Vielfalt des Selbsterlebens [...] Kohärenz und Identität möglich [macht]“ (ebd.). Die personale und soziale Identität, die Keupp et al. nicht getrennt voneinander betrachten, ergeben die vierte Diskursebene. Die eigene, personale Identität kann nur in engem Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld entwickelt und beibehalten werden. Auch Meads (1968) Thesen zur Identitätskonstruktion stützen sich auf diese Annahme (vgl. ebd., S. 68). Das letzte Spannungsfeld beschreibt das Verhältnis zwischen der Identität als elementarer Substanz und als diskursiver Konstruktion. Eine entwicklungspsychologische Perspektive betrachtet Identität als eine elementare Erfahrung, die auf körperlichen und psychischen Erfahrungen beruht und erst durch diese Erfahrungen Narration ermöglicht wird. Demgegenüber wird aus sozialpsychologischer Sicht behauptet, dass Identität eine soziale Konstruktion ist und ihre Strukturierung narrativ geschieht (vgl. ebd., S. 69). Diese von Keupp et al. beschriebenen Spannungsfelder verleihen der Identität eine problembehaftete Eigenschaft: Der modernen Identität, die mobil und veränderbar ist, steht die Identität gegenüber, die mit sozialen Zuschreibungen und Rollen behaftet ist, die wiederum kaum veränderbar sind (vgl. ebd., S. 71).
Die Auffassung der eigenen Konstruierbarkeit von Identität ist ein Grundgedanke der gesellschaftlichen Moderne, die ungefähr den Zeitraum der letzten 150 Jahre umfasst. In der vorangegangenen Epoche der Vormoderne wurde dem Individuum seine feste Rolle in der Gesellschaft zugeschrieben und Identität war kein Gegenstand von Reflexion und Diskussion (vgl. ebd., S. 71). Die heutige, befreite Identität hingegen kann zugleich Chance und Last für das Subjekt sein, denn sie ist „geprägt von komplexen sozialen Prozessen der Entwurzelung und Wiederverwurzelung, des Herauslösens der Subjekte aus sozialen Praxen und Zusammenhängen sowie ihre Einbindung in neu entstehende“ (ebd., S. 72). In ihrem Modell der alltäglichen Identitätsarbeit skizzieren Keupp et al. den offenen und von Spannungen geprägten Herstellungsprozess von Identität, der dem Menschen in einer lebenslangen und alltäglichen Bearbeitung zugänglich ist. Der Herstellungsprozess von Identität zeichnet sich durch Verknüpfungsarbeit, Konfliktaushandlung sowie Ressourcen- und Narrationsarbeit aus. Die Ergebnisse der Identitätsarbeit werden als subjektive Konstruktionen bezeichnet, die durch Selbstreflexion und –narration stetig weiterentwickelt werden (vgl. ebd., S. 217). Da die Trennung von Prozess und Produkt nur einer analytischen Unterscheidung dient, betonen Keupp et al., dass Identitätsarbeit eine Syntheseleistung darstellt, in der Spannungen zwischen Identitätszielen einen bedeutenden Zusammenhang in der Identitätsarbeit darstellen (vgl. ebd., S. 189 ff.).
Das Modell der alltäglichen Identitätsarbeit von Keupp et al. wird an dieser Stelle nicht in gänzlicher Ausführlichkeit behandelt3. Der Blick wird auf ausgewählte und als wichtig erachtete Thesen zum Prozess und den Konstruktionen der Identitätsarbeit gerichtet. Dennoch wird im weiteren Verlauf an erforderlichen Stellen auf einige Thesen zurückgegriffen, die in diesem Kapitel nicht weiter ausgeführt werden.
Im Selbstfindungsprozess eines Individuums wird Identität unter anderem durch Narration konstruiert (vgl. ebd., S. 207). Selbstnarration dient als linguistisches Mittel, um vergangenen, für das Subjekt relevanten Ereignissen und Erfahrungen Transfer zu verschaffen. Selbsterzählungen werden hierbei von gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen beeinflusst (vgl. ebd., S. 216). Der Aspekt der Narration lässt sich auch in Meads (1968) Ansätzen finden (vgl. Kap. 2.2.2). Im Prozess der Selbstreflektion und –narration finden Verknüpfungsarbeiten statt, in welchen Spannungen und Differenzen in ein für das Subjekt „lebbares Beziehungsverhältnis“ (ebd., S. 207) gebracht werden. Die ‚Ergebnisse’ in dem Selbstfindungsprozess eines Einzelnen münden in verschiedenen Teilidentitäten. Manche Teilidentitäten dominieren in gewissen Situationen, andere geraten in den Hintergrund, einige kommen hinzu und manche lösen sich auf (vgl. ebd., S. 224). Eine weitere Konstruktion der Identitätsarbeit beschreiben Keupp et al. als Kernnarration. Durch Kernnarration versucht das Subjekt sich Teile der Identität selber zu erklären und diese wiederum anderen mitzuteilen. Der Inhalt der Narration ist oft kulturspezifisch und spiegelt die persönliche Bedeutung von Selbstschemata4 wieder (vgl. ebd., S. 234). In der Auseinandersetzung mit sich selbst entsteht ein Gefühl von subjektiver Handlungsfähigkeit, die ausdrückt, wie souverän sich eine Person dabei fühlt, eigene Lebensbedingungen zu kreieren (vgl. ebd., S. 242). Hierbei spielen sowohl die Befähigung, „gesellschaftlich begründete Verhaltenserfordernisse zu erkennen und zu handhaben“ (ebd.) eine Rolle, als auch seine personalen Ziele im gegenwärtigen und zukünftigen Handeln zu repräsentieren und realisieren. Nach Keupp et al. benötigt ein Mensch für eine gelungene Identität ein eigenes Maß an Kohärenz, Anerkennung, Authentizität und Handlungsfähigkeit. Die Frage nach gelungener Identität ist jedoch nicht nur aus der Sicht des Subjekts, sondern auch aus der seiner Mitmenschen und dem sozialen Umfeld zu beantworten (vgl. ebd., S. 274 f.). Demzufolge ist gelungene Identität auch von äußeren Faktoren abhängig. Keupp et al. beschreiben diese Faktoren als Ressourcen und verdeutlichen, dass soziale, ökonomische und kulturelle Ressourcen das Gelingen von Identität befördern können. Bedeutsame soziale Ressourcen sind Anerkennung und Integration. Das soziale Kapital der Subjekte wird von ökonomischen und kulturellen Kapitalien mitbestimmt. Folglich sind Menschen aus unterprivilegierten Milieus dem Risiko sozialer Isolation ausgesetzt, weil erforderliche Ressourcen zur Verarbeitung vieler Belastungen knapp sind (vgl. ebd., S. 278).
[...]
1 Andere wird groß geschrieben, wenn es als etwas, das dem Subjekt als Nicht-Ich oder als das Fremde gegenübersteht.
2 Die Meadschen Begriffe me und I wurden mangels einer eindeutigen deutschen Übersetzung als Ich und Ich übersetzt. Für ein besseres Verständnis wird an dieser Stelle auf die originalen englischen Begriffe zurückgegriffen.
3 vgl. hierzu Keupp et al. 2002
4 Wie das Subjekt sich selbst beschreibt, beispielsweise als „Tochter/Ehefrau von“ (vgl. Keupp et al., 2002, S. 234).
Bachelorarbeit, 88 Seiten
Bachelorarbeit, 30 Seiten
Magisterarbeit, 97 Seiten
Medien / Kommunikation - Film und Fernsehen
Magisterarbeit, 170 Seiten
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