Bachelorarbeit, 2020
48 Seiten, Note: 1,7
1. EINLEITUNG
2. EINFÜHRUNG IN DIE TRAUMAPÄDAGOGIK
2.1. Trauma, Traumaarbeit und Traumabearbeitung
2.2. Traumaspezifische Bedarfe anhand psychischer Grundbedürfnisse bei Jugendlichen im PÄDAGOGISCHEN KONTEXT
2.2.1. Bindungsbedürfnis
2.2.2. ORIENTIERUNG UND KONTROLLE
2.2.3. Lustgewinn und Unlustvermeidung
2.2.4. Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
2.3. Schlussfolgerung
3. DELINQUENZ IM JUGENDALTER
3.1. Aggressives-und delinquentes Verhalten im pädagogischen Kontext
3.2. Entwicklung Delinquenten Verhaltens anhand der Taxonomie von Moffitt
3.3. Schlussfolgerung
4. KONZEPT FÜR EINEN FACHLICH-SENSIBLEN UMGANG MIT JUGENDLICHEN, DIE TRAUMATISCHE ERFAHRUNGEN GEMACHT HABEN UND DELINQUENTE VERHALTENSWEISEN ZEIGEN
4.1. Ziele und Umsetzung des Konzepts
4.1.1. Rahmenziel (1): Bindung
4.1.2. Rahmenziel (2): Orientierung und Kontrolle
4.1.3. Rahmenziel (3): Lustgewinn und Unlustvermeidung
4.1.4. Rahmenziel (4): Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
4.2. Schlussfolgerung
5. FAZIT
6. LITERATURVERZEICHNIS
7. ABBILDUNGSVERZEICHNIS
8. ANHANG
ln der vorliegenden Arbeit wird sich mit einem fachlich sensiblen Umgang mit Jugendlichen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und delinquentes Verhalten zeigen - als ein neues Forschungsfeld mit noch wenig vorhandener Literatur - auseinandergesetzt. Es werden traumaspezifische Bedarfe auf Grundlage der psychischen Grundbedürfnisse untersucht und auf delinquentes Verhalten bei Jugendlichen übertragen. Anhand der psychischen Grundbedürfnisse werden Zusammenhänge in Bezug aufTrauma und Delinquenz hergestellt und angewendet. Ein selbsterstelltes Konzept soll eine Grundlage für mögliche Methoden für diesen Umgang zeigen. Dies soll im Handlungsfeld Schule anwendbar sein.
This work deals with the sensitive handling of young people who have had traumatic experiences and have shown delinquent behaviour. This is a new field of study with little literature available. Trauma-specific needs are examined on the basis of psychological needs and transferred to delinquent behaviour in adolescents. Based on psychological needs, relationships in regard to trauma and delinquency are established and applied. A self-developed concept should form a basis for possible methods for this handling. This should be applicable in the school field of action.
„Liebe mich dann am meisten, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am nötigsten.“ (Helen Keller)
Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen, die in der Schule immer wieder durch kleinere Straftaten auffallen, haben das gleiche Recht geliebt zu werden wie Heranwachsende, deren traumatische Erlebnisse durch von der Gesellschaft akzeptierte Verhaltensweisen im sozialen Umgang ausgedrückt werden. Dennoch fällt es in der Arbeit mit diesen Schülerinnen oft einfacher, denen Wertschätzung entgegenzubringen, die die Ratschläge der Pädagoginnen annehmen, als denen, die schon zum dritten Mal in der Woche die Schule schwänzen. Das obenstehende Zitat zeigt, dass beide dargestellten Formen von traumatisier- ten Jugendlichen diese Liebe benötigen, auch wenn unsoziales Verhalten einen hoffnungsvollen Umgang erschweren kann. Im Zusammenhang mit der Traumapädagogik wird oft von abweichenden Verhaltensweisen und Wut als Übertragung und Gegenreaktion geschrieben. Das macht die Forschung im Umgang mit Jugendlichen in Verbindung mit Trauma und Delinquenz bedeutsam. Diese Bezugnahme beider Aspekte ist noch unerforscht, weshalb in dieser Arbeit die Grundlage der für alle Menschen relevanten - psychischen Grundbedürfnisse immer wieder als Verbindungsstück herangezogen wird. Die folgende Arbeit ist auf Grundlage einer theoretischen Analyse bearbeitet. Kapitel Zwei und Drei stellen den theoretischen Teil der Arbeit dar. Mithilfe dieser theoretischen Vorarbeit soll im vierten Teil mit der expliziten Auseinandersetzung der Leitfrage begonnen werden. Das Wissen aus dem theoretischen Teil zu Traumapädagogik und dem anderen Teil zu Delinquenz soll miteinander verknüpft und mithilfe eines selbsterstellten Konzepts Lösungen für die Problemfrage gefunden werden. Das Ziel der Arbeit ist eine Grundlage zu konzipieren, um einen fachlich-sensiblen Umgang mit Trauma und Delinquenz in Kombination in der Schule zu gewährleisten.
Das folgende Kapitel gliedert sich in zwei abgrenzbare Teile. Im ersten theoretischen Teil werden die wichtigsten Begriffe der Traumapädagogik zum Verständnis dieser Arbeit geklärt. Der zweite Abschnitt stellt die psychischen Grundbedürfnisse mit abschließender Verknüpfung zu den traumaspezifischen Bedarfen von Jugendlichen dar, welche jeweils analog im Aufbau angelegt sind. Beginnend mit einer allgemeinen Erläuterung dieser Bedürfnisse, weiterführend auf das Handlungsfeld Schule bezogen und schließlich der Bezugnahme der genannten Aspekte zu traumaspezifischen Bedarfen, soll der zweite Teil anschaulich zum dritten Kapitel hinführen.
Die Leistung des Gehirns auf gefährdende - bis hin zu lebensbedrohliche Situationen - angemessen zu reagieren, liegt einer synaptischen Ursache zu Grunde (Hülshoff, 2017, S. 38). Äußere Umweltbedingungen werden über die Sinne registriert, interpretiert und verarbeitet, wodurch gewährleistet werden soll, dass extreme äußere Einflüsse keinen beziehungsweise nur einen geringen innerpsychischen Schaden verursachen (ebd.).
Ist ein Moment mit negativem Stressor nicht durch einen logischen und deeska- lierenden Umgang lösbar, folgt nach Hülshoff (2017) eine Reaktion mit Stereotypen - also erlernten Verhaltensmustern -, die nicht auf rein kognitiv bewussten Entscheidungen beruhen (S. 39).
Wird eine Situation als noch bedrohlicher eingeschätzt, sodass weder ein logischer Umgang noch stereotypes Verhalten die Sachlage lösen könnten, wird unter Zuhilfenahme aller vegetativen Ressourcen eine sogenannte Fight-and- Flight-Reaction1 hervorgerufen (ebd.). Demnach soll je nach Möglichkeit der bedrohlichen Situation mit Kampf und Konfrontation entgegengetreten oder durch Flucht entflohen werden (ebd.).
Nach Schmid (2016a) unterscheidet sich eine traumatische Situation vor allem im Fehlen einer Möglichkeit zu kämpfen oder zu flüchten von einer belastenden Situation (S. 4). Nach Lorke (2020) wird die Plötzlichkeit und Intensität explizit benannt, die als Ursache für die Überforderung der Verarbeitungsmöglichkeiten einer Person gilt. Diese Auffassung einer traumatischen Situation deckt sich mit der erwähnten Definition von Schmid (2016a, S. 4). Aufgrund der Plötzlichkeit und eventuell auch der Intensität wird die Möglichkeit zu kämpfen oder zu fliehen verhindert. Das vermeintlich ausweglose Ereignis wirkt jedoch nicht traumatisie- rend, sondern dass daraus entstehende individuelle Erlebnis kann zu einer Traumatisierung führen (Lorke, 2020). Ein Trauma ist nach Gröschner, Kapust und Lembcke (2013) ein Ereignis in Verbindung mit dem Erleben von erschütternden Eindrücken und psychischen Verarbeitungsschwierigkeiten, die längerfristig gesundheitliche Einschränkungen zur Folge haben (S. 272). Bausum (2013) schreibt in Bezug auf den Begriff Trauma von einer „tiefgreifenden seelischen Verwundung“ (S. 7). Die Beschreibung betont das individuelle emotionale Erlebnis einer betroffenen Person und verdeutlicht überwältigende Emotionen wie die Todesangst (Gröschner, Kapust, & Lembcke, 2013, S. 272). Auch nach Hülshoff (2017) führt erst die Phase der Erstarrung - auch Freeze genannt - zu einem traumatischen Erlebnis, da die übrigen Reaktionen aufgrund wesentlicher Hirnleistungen in der Regel zu einer erfolgreichen Verarbeitung des negativen Stressors führen (Hülshoff, 2017, S. 39 f. i. V. m. Schmid, 2016a, S. 4). Das Erleben von beispielsweise Ohnmacht, Desorientierung und Verwirrung stellt sich in der Phase der Erstarrung ein und verhindert vorübergehend die rationale Problemlösung (Hülshoff, 2017, S. 39). Dieses Stadium der Erstarrung ist ein biologisches letztes Bemühen durch Verhaltensweisen, die einen unsichtbar erscheinen lassen sollen, der Situation zu entfliehen (ebd.). In Anlehnung an die Definition eines Traumas nach Bohleber (2019) führen bestimmte traumatische Situationen dazu, dass sich diese mit der eigenen inneren psychischen Realität verknüpfen (S. 147). Grawe (2004)2 weist ebenso in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei einem erlebten Trauma zu pathologischen neuronal-physiologischen Stressreaktionen kommt und diese dauerhafte negative Folgen auf die psychische Entwicklung auslösen (S. 165). Negative Lebenserfahrungen können also das Gehirn beeinflussen, andere negative Reaktionen herbeizuführen, die sich belastend aufdas eigene Leben auswirken können (Besser, 2013, S. 44). Diese Feststellung lässt vermuten, dass folglich positive Lebenserfahrungen das Gehirn beeinflussen können, positive Reaktionen herbeizuführen. Obwohl ein trau- matisierter Mensch ein „dysfunktionales Subjekt“ (Jäckle, Wuttig, & Fuchs, 2017, S. 12) darstellt, kann die Funktionsfähigkeit mithilfe geeigneter Maßnahmen wiederhergestellt werden. Diese Maßnahmen beziehen sich auf therapeutische und pädagogische Zwecke im Kontext therapeutischer Behandlungen und pädagogischer Handlungen und Haltungen als Ziel (Besser, 2013, S. 44). In dieserArbeit wird aufgrund der thematischen Eingrenzung die pädagogische Sichtweise fokussiert betrachtet.
Die folgenden Begriffe-Traumaarbeit, Traumabearbeitung und Traumapädagogik-verfolgen dieses erwähnte Ziel, mithilfe affirmativer Erfahrungen das Gehirn wieder positiv zu beeinflussen, nachdem traumatisch prägende Erlebnisse stattgefunden haben.
2013 beschreibt Weiß die Traumaarbeit noch als,,[...] Unterstützung des Helfenden.“ (S. 14), wird in dieser Aussage drei Jahre später expliziter und beschreibt Traumaarbeit dann als Zusammenwirkung mit psychosozialen Fachkräften (2016b, S. 20). Traumaarbeit ist nicht nur Erinnerungsarbeit, sondern die Wiederherstellung von materieller Lebensqualität und verlorengegangener Glaubenssätze (Weiß, 2013a, S. 15).
Währenddessen Weiß die Traumabearbeitung 2013 noch als „Bearbeitung des Traumas durch den Betroffenen, [...]“ (ebd., S. 14) beschreibt, charakterisiert sie sie 2016 als,,[...] Bewältigung durch die Betroffenen [...]“ (20). Hülshoff merkt an, dass solch eine Bearbeitung eines Traumas einfacher bei einem einmaligen Trauma ist, um die Erfahrung in das bewusste Erleben zu integrieren und zu überwinden (Hülshoff, 2017, S. 41). Schwieriger sind sequenzielle - also aufeinanderfolgende - Traumatisierungen mit ähnlichen oder sogar gleichen Erfahrungen (ebd.). Neuronale Verschaltungen, die in der Extremsituation vielleicht lebensrettend waren, verfestigen und stabilisieren sich (ebd.). Es ist hier nicht einfach möglich, die Erfahrungen ins bewusste Erleben zu integrieren, da bei geeigneten Triggern3 jedes Ereignis, jeder Geruch, jeder Anblick, jede Emotion usw. mit dem Trauma assoziiert werden könnte (ebd.).,,[...] Traumabearbeitung [ist] mehr als eine Traumaexposition im therapeutischen Rahmen.“ (ebd., S. 14). Diese Aussage deckt sich inhaltlich mit der, welche 2016 von der Autorin jedoch im Zusammenhang mit Traumapädagogik erwähnt wird. Traumabearbeitung wird in dieser Literatur vor allem als einen Prozess der Selbstbemächtigung betrachtet, was der verbesserten Bedeutung einer Traumabearbeitung als Bewältigung näherkommt (Weiß 2016b, S. 20). Hier muss jedoch eine Abgrenzung zur Traumatherapie gezogen werden, die eventuell mit Traumabewältigung mehr in Verbindung gesetzt wird als die Traumapädagogik (ebd., S. 21). Letztere stellt großen Einfluss für die Heilung dar, da es bei der Überwindung von Traumata nicht zuletzt um die Wiederherstellung von Vertrauen, Zuversicht, Sicherheit und Liebe geht (ebd.).
Die Traumapädagogik stellt den wesentlichen Teil für eine erfolgreiche Traumabearbeitung dar, indem pädagogische Fachkräfte soweit gefördert werden, damit eine angemessene Arbeit mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen ermöglicht werden kann (Weiß, Kessler, & Gahleitner, 2016a, S. 11).
Im Folgenden wird von einem breit gefassten Traumabegriff mit psychosomatischer Reaktion auf einen komplexen Hintergrund ausgegangen. Aus existenzbedrohenden Lebenserfahrungen entstanden komplexe Zusammenhänge zwischen verschiedenen, voneinander abhängigen inneren Faktoren und äußeren Kontexten bei den Jugendlichen - der betroffenen Zielgruppe dieserArbeit.
Die Herausforderung, die das pädagogische Handeln mit sich bringt, stellt die Arbeit mit Menschen im Allgemeinen und deren individueller Erlebnisse im Besonderen dar. Wie bereits erwähnt, prägen äußere Gegebenheiten den Mensehen und machen ihn vor allem innerpsychisch zu der Person, die sie mit entsprechenden Verhaltensweisen verkörpert (Bohleber, 2019, S. 147). Auf diese spezifischen Erfahrungen konnten Pädagog*innen in der Vergangenheit keinen Einfluss nehmen, was die Arbeit mit Menschen generell von der Arbeit mit Gegenständen, die nach eigenen Vorstellungen konstruiert werden können, unterscheidet. Traumatisierte Jugendliche bilden einen besonderen Personenkreis, der aufgrund erlebnisbezogener Prägungen einen speziellen Umgang bedarf. Dennoch wird als gesellschaftliche und sozialpolitische Bedingung festgehalten, dass traumatisierte Jugendliche nicht auf das Opfersein reduziert werden sollten, sondern soweit gefördert werden, dass ein selbstständiges und gutes Leben geschaffen werden kann (Weiß, 2013a, S. 22). Dies soll unter Berücksichtigung traumaspezifischer Bedarfe gewährleistet werden. Die Aufgabe der Traumapädagogik besteht dementsprechend darin, ein Lebensumfeld für betroffene Jugendliche zu schaffen, in dem möglichst viele Resilienzfaktoren4 zur Verfügung stehen (Klemenz, 2012, S. 265). Diese Schutzfaktoren entstehen im Einklang mit einer erfolgreichen Kindererziehung, wenn die psychischen Grundbedürfnisse befriedigt werden (ebd.), welche im Zusammenhang mit traumaspezifischen Be- darfen auch bei einer misslungenen Kindererziehung hervorgehen sollen. Grawe (2004) versteht unter den psychischen Grundbedürfnissen angeborene Bedarfe, die bei unzureichender Befriedigung zur Schädigung der psychischen Gesundheit führen (S. 185). Die breite psychologische Forschung bietet verschiedene Inhalte dieser Bedürfnisse, wobei im Folgenden von dem Bedürfnismodell nach Grawe (2004) ausgegangen wird, welches in Anlehnung an S. Epstein (1990) weiterentwickelt wurde.
Dieses Modell bezieht sich auf die vier psychischen Grundbedürfnisse nach Bindung, Orientierung und Kontrolle, Lustgewinn und Unlustvermeidung und schließlich Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz (Klemenz, 2012, S. 265). Im weiteren Verlauf der Entwicklung eines vulnerablen Kindes5 kommen zu den psychischen Grundbedürfnissen individuelle traumaspezifische Bedarfe für Jugendliche hinzu, deren Wichtigkeit in diesen Zusammenhang gesetzt werden sollen. Aufgrund der Komplexität der psychischen Grundbedürfnisse in Bezug auf traumaspezifische Bedarfe bei Jugendlichen, werden die Bedürfnisse in begrenzter Form dargestellt.
John Bowlby gilt als Begründer der Bindungstheorie (Ahnert & Spangier, 2014, S. 405), weshalb im Folgenden darauf Bezug genommen wird6. Bowlby hat anhand seiner Bindungstheorie entstandene Persönlichkeiten erklärt, währenddessen Epstein die Bindung als einen Bereich in seiner Theorie zur Persönlichkeit verwendet (Epstein, 2014, S. 133). Epstein kritisiert diese Möglichkeit als Einzelne zur Interpretation von Persönlichkeiten, weil es dadurch zu Fehlinterpretationen kommen kann (ebd.). Das Verhalten von Menschen wird maßgeblich von anderen Tatsachen beeinflusst als nur von den jeweiligen Beziehungen (ebd., S. 134). Das angeborene Grundbedürfnis eines jeden Menschen, welches die Nähe zu einer oder wenigen Bezugspersonen meint, wird nach Bowlby Bindungsbedürfnis genannt (Klemenz, 2012, S. 269).
Geborgenheit und emotionale Sicherheit sind essenzielle Voraussetzungen für die Entwicklung des eigenen Selbst und sind gleichzeitig die Basis für die eigene Persönlichkeitsentwicklung (Groen & Petermann, 2011, S. 26). Erfolgreiche Traumabearbeitung besteht im Wesentlichen aus positiven Beziehungserfahrungen und kann deshalb nur erfolgreich sein, wenn es den Erwachsenen gelingt, performante Bindungen zu leben und die Kinder somit bei der Selbstbemächtigung zu unterstützen (Weiß 2013a, 16).
Durch die Gewährleistung dieses Bedürfnisses wird den Jugendlichen ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, was ein entscheidender Resilienzfaktor7 für emotionale Belastungen darstellt (Klemenz, 2012, S. 269). Ob es aufgrund von emotionalen Belastungen zu einer psychischen Störung kommt oder ob eigene Widerstandskräfte greifen, hängt nach Dauber (2017) von zwei Schutzfaktoren ab: Sichere Bindung und die Fähigkeit zur Verbalisierung (S. 35). In Anbetracht der thematischen Eingrenzung dieser Arbeit und der Tatsache, dass traumaspezifische Be- darfe in Verbindung mit dem Bindungsbedürfnis in einer so umfangreichen Literatur vorhanden sind, ist ein vollständiger thematischer Überblick in diesem Kapitel nicht möglich. In Kapitel 4 - Konzept für einen fachlich-sensiblen Umgang mit Jugendlichen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und delinquente Verhaltensweisen zeigen (S. 18) wird deshalb eingrenzend auf den Zusammenhang von Traumatisierungen und delinquenten Verhaltensweisen eingegangen, wobei auch traumaspezifische Bedarfe und das Bindungsbedürfnis thematisiert werden.
Regeln, Absprachen und Strukturen sind starke Sicherheitsgeber (Baierl, 2017, S. 74) und damit essenziell, um das psychische Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle zu befriedigen. Mit Kontrolle ist vor allem eine Absicht gemeint, die zur (Wieder-)Herstellung und Aufrechterhaltung eigener Ziele beiträgt (Klemenz, 2012, S. 271). Das Verhalten eines Menschen ist darauf ausgerichtet, mittels gesetzter Ziele bestimmte Wahrnehmungen zu initiieren, was gleichzeitig bedeutet, dass Kontrolle über Wahrnehmungen erzielt wird (Grawe, 2004, S. 231). Mithilfe von Orientierung und Kontrolle soll das Leben selbstständig gemeistertwerden (Klemenz, 2012, S. 271). Die Selbstständigkeitserziehung spielt also eine entscheidende Rolle, um die praktischen und sozialen Kompetenzen8 in der Selbstständigkeit zu fördern (ebd.). Daraus wird deutlich, dass die häuslichen Gegebenheiten einen großen Beitrag zu dieser Entwicklung leisten (ebd.). Regeln und Grenzen zu setzen, soll jedoch nicht mit autoritären Verhaltensweisen und der Befehls- und Gehorsamkeitsmentalität gleichgesetzt werden (Führer, 2009, S. 204). In der Traumapädagogik ist es wichtig, gemeinsam kreative Wege zu finden, um den individuellen Bedürfnissen nachzukommen. Struktur stellt dabei das Grundgerüst dar und spezifische Angebote führen zum Gelingen dieser Struktur, da sie den Betroffenen zum einen Grenzen geben und zum anderen Transparenz vermitteln (Baierl, 2017, S. 74). Innerhalb der festgelegten Grenzen können sich die Jugendlichen dennoch frei in ihren psychischen, körperlichen, geistigen oder sozialen Bedürfnissen entfalten (ebd.). Somit wird zum einen das Einhalten von Regeln und das Verständnis vom sozialen Miteinander gefördert. Zum anderen können aufgrund festgelegter Absprachen, Grenzen überschritten werden, welche durch pädagogische Konsequenzen geklärt und als notwendig im Prozess der kindlichen Entwicklung angesehen werden (ebd., S. 75). Es gehört zu den Entwicklungsaufgaben eines Menschen, Regeln zu brechen und führt zu einem Abschluss dieses Entwicklungsprozesses, weshalb autoritäre Handlungen - wie beispielsweise Disziplinierung - nicht ausnahmslos in diese Verbindung gestellt werden sollten (ebd.).
Lustgewinn meint die Gewährleistung von positiven -und die Unlustvermeidung die Vermeidung von negativen Gefühlszuständen (Klemenz, 2012, S. 273). Der Mensch strebt danach, möglichst angenehme Situationen zu erleben und dagegen unangenehme zu vermeiden, um für das psychische Wohlbefinden zu sorgen (Grawe, 2004, S. 261).
Wenn Jugendliche dazu allein nicht fähig sind, muss ihnen mithilfe von positiven emotionalen Erfahrungen zu einer stabilen Emotionalität verholfen werden (Klemenz, 2012, S. 274). Dadurch können sie gleichzeitig in ihrer Selbstsicherheit und in ihrem Denk- und Handlungsverhalten gefördert werden (ebd.). Folglich könnte mit negativen Emotionen, die beispielsweise aus Misserfolgen und Enttäuschungen resultieren, eigenständiger umgegangen werden und es entstehen möglicherweise dauerhafte individuelle Ressourcen (ebd.). Um diese selbstständige Regulation zu beherrschen, benötigen Jugendliche Unterstützung von Bezugspersonen, was zielführend zu einer eigenständigen Verwendung der eigenen positiven und negativen Emotionen führen soll (ebd.).
Wie bereits erwähnt, müssen positive Erfahrungen erlebt werden, um eine emotionale Stabilität im Lustgewinn zu erzielen. In der Arbeit mit traumatisierten Jugendlichen besteht das Hauptproblem oftmals nicht im Fehlen von positiven Erlebnissen, sondern vielmehr in der Fähigkeit positive Emotionen als solche wahrzunehmen (Baierl, 2017, S. 81) und folglich positive Erlebnisse als etwas Gutes zu schätzen. Zur Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Lustgewinn und Unlustvermeidung muss in der Traumapädagogik dementsprechend an einem ganz anderen Punkt angesetzt werden. Zum Etablieren und Fördern selbstregulatorischer Fähigkeiten, wie die emotionale Stabilität, benötigen Betroffene unter anderem Verarbeitungshilfen (ebd.). Auch hier spielt die Akzeptanz der eigenen Emotionen eine entscheidende Rolle, denn die Akzeptanz die eigenen Gefühle nicht deuten zu können, ist ebenso eine Wahrnehmung wie das Erkennen von positiven -oder negativen Emotionen. Bei gezielter Förderung zur Erkennung eigener Emotionen kann im Umkehrschluss die Steuerung und Bewältigung emotionaler Situationen kontrollierter erfolgen (ebd.).
Es kann davon ausgegangen werden, dass sich negative Bindungs- beziehungsweise Kontrollerfahrungen negativ auf die Entwicklung des Selbst auswirken können, was das Zusammenwirken der einzelnen psychischen Grundbedürfnisse deutlich macht (Grawe, 2004, S. 251). Der Selbstwert ist das Gesamtbild, welches aus der Bewertung der eigenen Person entsteht und zeigt damit die subjektive Haltung, die man sich selbst gegenüber einnimmt (Schütz, A. & Röhner, J., 2020). Währenddessen ein hoher Selbstwert im Einklang mit psychischer Gesundheit steht, kann ein niedriger Selbstwert zur Kritik der eigenen Person führen und damit oft entweder Ursache oder Folge von emotionalen -und sozialen Belastungen sein (ebd.). Damit Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz entstehen beziehungsweise sichergestellt werden kann, müssen die Begriffe Selbstakzeptanz9, Selbstvertrauen10 und Selbstwirksamkeit11 in dessen Abhängigkeit betrachtet werden (Weiß, 2013b, S. 167). Diese Selbstkonzepte resultieren aus der Fähigkeit zur Regulation innerpsychischer Vorgänge und können bei Verlust zu Störungen in der Ich-Wahrnehmung, der Impulskontrolle und zu Unsicherheiten in Beziehungen führen (ebd., S. 167f.). In Folge dessen reagieren traumatisierte Jugendliche oft mit Überreaktionen auf neutrale Reize. Das Unwissen über die eigenen traumaspezifischen Bedarfe kann demnach die Fähigkeit zur Selbstregulation und damit das Selbstwertgefühl beeinträchtigen (ebd.). In diesem Zusammenhang darf der Begriff Selbstbemächtigung nicht fehlen. Selbstbemächtigung bedeutet das Loslösen der - von Abhängigkeit und Ohnmacht - geprägten Erfahrungen (ebd., S. 167). Innerhalb der Traumapädagogik soll diese Befreiung mit einem Erwachsenen geschehen, der aufdie Bedürfnisse des Betroffenen insofern eingeht, dass ein unabhängiges Leben als Subjekt des eigenen Daseins sichergestellt werden kann (Weiß, 2016a, S. 93).
Im ersten Teil wurde deutlich, dass traumasensible Pädagogik notwendig ist, um nicht nur eine angemessene Arbeit mit Jugendlichen zu ermöglichen, sondern diese gezielt auf individuelle Probleme - mithilfe sensibler Fertigkeiten - in der sozialen Teilhabe zu unterstützen (Weiß 2016b, S. 20). Der festzuhaltende Aspekt, dass Sicherheit sich in mehreren Bereichen wiederfindet, wurde im zweiten Teil dargestellt. Die aufgezeigten traumaspezifischen Bedarfe anhand der psychischen Grundbedürfnisse stellen potentielle Möglichkeiten bereit, Kontrollver- luste an dem sicheren Ort Schule auszuleben und sie bewusst anzunehmen (Baierl, 2017, S. 80). Die Akzeptanz dieses Kontrollverlustes stellt auch im besonderen Maße eine Herausforderung für straffällige Jugendliche dar.
Der Aufbau dieses Kapitels erfolgt analog zum vorigen Kapitel. Beginnend mit bedeutenden Begriffsklärungen und aktuellen Statistiken der Jugendkriminalität im ersten Teil, soll danach das Thema Delinquenz im Jugendalter auf Grundlage der Taxonomie von Moffitt als Überlegungen zur Erklärung der im ersten Teil dargestellten Statistiken aufgezeigt werden. Abschließend soll das vorangegangene zweite Kapitel in Verbindung mit diesem Abschnitt verständlich auf das praktische vierte Kapitel hinleiten.
Delinquenz wird mit dem Begriff der Straffälligkeit (Caspar, 2020) übersetzt und beinhaltet ein Verhalten, was gegen rechtliche Normen verstößt (Wisniewski, 2016, S. 78). Es existieren viele Theorien und Ansätze zu möglichen Ursachen delinquenten Verhaltens, welche sich auf ungünstige, aktuelle Situationen (Caspar, 2020) oder vergangene persönliche Lebenskontexte beziehen können (Weikamp, 2016, S. 155). Ein Grund für delinquentes Verhalten kann auch eine vorliegende Persönlichkeitsstörung sein (Caspar, 2020), worauf im Folgenden nicht weiter eingegangen wird, da sich diese Arbeit hauptsächlich im pädagogischen Kontext bewegt und therapeutische Ansätze den gegebenen Rahmen überschreiten würden. Im Folgenden wird von delinquenten Verhaltensweisen, die auf emotionale Belastungen in der Vergangenheit oder Gegenwart zurückzuführen sind, ausgegangen. Delinquenz findet sich oft im Zusammenhang mit Aggressionen wieder.
[...]
1 Auch Kampf-und-Flucht-Reaktion genannt.
2 Da diese Quelle eine Grundlagenliteratur darstellt, werden Aspekte daraus - trotz der Veröffentlichung im Jahr 2004 - in dieser Arbeit berücksichtigt.
3 Beschreibt Auslösereize (Hecker, 2020).
4 Schutzfaktoren, die Individuen in ihrer Widerstandskraft - trotz schwieriger Lebensumstände - stärken (Warner, 2020).
5 (Krankheits-)anfälliges Kind (Stangl, 2020a).
6 Weil es eine Theorie darstellt, die heute noch als wegweisend gilt, soll trotz Publikation im späten 20. Jahrhundert darauf zurückgegriffen werden.
7 Ein Aspekt von Weiteren, um Resilienz zu erreichen (Warner, 2020).
8 Der Begriff Kompetenz meint die erfolgreiche Bewältigung von bestimmten Anforderungen auf Grundlage vorhandener Fähigkeiten und Fertigkeiten (Weinert, 2014, S. 27f. i. V. m. Wirtz, 2020).
9 Selbstakzeptanz beschreibt das Annehmen der eigenen Person inklusive der eigenen Schwächen (Potreck-Rose & Jacob, 2003, S. 21).
10 Selbstvertrauen beschreibt eine Überzeugung, die Fähigkeit für etwas zu besitzen (Potreck-Rose & Jacob, 2003, S. 20f.).
11 Selbstwirksamkeit beschreibt die eigene Einschätzung, die Fähigkeit zu besitzen, eigenständig mit Konsequenzen adäquat umzugehen (Heinecke-Müller, 2020).
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