Bachelorarbeit, 2020
55 Seiten, Note: 1,1
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung/Problemstellung
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Querschnittslähmung
2.1.1 Definition
2.1.2 Epidemiologie
2.1.3 Physiologische Entwicklung
2.1.3.1 Veränderungen des Muskelgewebes
2.1.3.2 Veränderungen des Knochengewebes
2.1.4 ASIA-Klassifikation des Querschnittssyndroms
2.2 Elektromyostimulation
2.2.1 Generelle und spezifische Merkmale von EMS
2.2.2 Risiken von EMS
2.2.3 Einstellungsspezifikationen von EMS
2.3 Ziel der Arbeit
3. Methodik
3.1 Suchstrategien und Datenquellen
3.2 Einschluss- und Ausschlusskriterien
3.3 Datenanalyse
4. Ergebnisse
4.1 Suchergebnisse
4.2 Merkmale der Stichproben
4.3 Interventionen
4.4 Stromparameter
4.5 Ergebnisse der Messungen
4.5.1 Parameter des Muskelgewebes
4.5.2 Parameter des Knochengewebes
4.5.3 Blutparameter
4.5.4 Weitere Parameter
5. Diskussion
5.1 Muskulatur
5.2 Knochen
5.3 Blut
5.4 Weitere Parameter
5.5 Zusammenführung der diskussionsrelevanten Ergebnisse
6. Fazit
7. Abstract
Literaturverzeichnis
Anhang
QSL - Querschnittslähmung
EMS - Elektromyostimulation
MQF - Muskelquerschnittsfläche
mm. - musculi
m. - musculus
KMD - Knochenmineraldichte
GKV - Ganzkörpervibration
s. - siehe
MBV - Mean Blood Velocity (durchschnittliche Flussgeschwindigkeit des Blutes)
PBV - Peak Blood Velocity (spitzen Flussgeschwindigkeit des Blutes)
OGTT - Oral Glucose Tolerance Testing (oraler Glukose-Toleranztest)
HDL - High Density Lipoprotein (Lipoprotein hoher Dichte)
LDL - Low Density Lipoprotein (Lipoprotein geringer Dichte)
g/cm3 - Gramm pro Kubikzentimeter
mA - Milliampere
GK-EMS - Ganzkörper Elektromyostimulation
|im - Mikrometer
mj - Millijoule
Hz - Hertz
ASIA - American Spinal Injury Association (Amerikanischer Verband für Rücken
marksverletzungen)
MRT - Magnetresonanztomographie
Personen mit einer Querschnittslähmung (QSL) erleiden verschiedene körperliche Schäden unterhalb des Verletzungsniveaus, welche sich negativ auf die Unabhängigkeit und Gesundheit jedes einzelnen auswirkt (Thomaz et al., 2019). Die reduzierte Skelettmuskelmasse durch die fehlende körperliche Aktivität und die willentliche Kontraktion gelähmter Gliedmaßen bei Patienten mit einer kompletten oder inkompletten QSL können sekundäre Gesundheitskomplikationen wie Diabetes mellitus, eine abnorme Glukosetoleranz, kardiovaskuläre Erkrankungen und periphere Gefäßerkrankungen verursachen (Nash, 2005). Daher spielt Bewegung eine wichtige Rolle bei der Verbesserung von Fitness, körperlicher Aktivität und Gesundheit in dieser Bevölkerung (Maffiuletti, 2010). Für Patienten mit einer QSL, die nicht in der Lage sind, traditionelle Formen der körperlichen Betätigung durchzuführen, kann die Elektromyostimulation (EMS) eine alternative Methode zur Verbesserung physiologischer und metabolischer Parameter sein.
Die Elektromyostimulation hat eine lange Geschichte in der Diagnose und Behandlung von Störungen des Zentralnervensystems (Clark & Findlay, 2017). Die Anwendung dieser physikalischen Modalität in der Rehabilitation von Menschen mit einer QSL wurde als mögliche therapeutische Anwendung umfassend untersucht (Gorgey & Khalil, 2015; Thomaz et al., 2019). Klinische und experimentelle Studien weisen darauf hin, dass die neuromuskuläre EMS-Applikation sowohl Veränderungen der Kontraktionseigenschaften der Muskelfasern und des Stoffwechsels, als auch Reaktionen auf physiologischer und funktioneller Ebene beeinflussen und bewirken kann (Maffiuletti et al., 2006).
Die aktuelle Studienlage zeigt, welche bedeutende Rolle die EMS im Bereich der Rehabilitation spielt und gibt teilweise Aufschluss darüber, inwiefern sie sich auf die bedeutenden pathologischen Reaktionen nach einer Verletzung des Rückenmarks auswirkt. Allerdings ist nicht eindeutig herausgestellt, wie eine gezielte Anwendung aussehen muss, um verschiedene rehabilitative Maßnahmen zu begünstigen und wie die verschiedenen Belastungsnormative dementsprechend zu steuern sind.
Diese Arbeit soll daher in Form einer Literaturrecherche Überblick über die aktuelle Forschungslage der Applikation von EMS bei querschnittsgelähmten Personen geben und den Einfluss einer durch EMS induzierten Intervention auf eben diese Populationsgruppe genauer darlegen. Im Fokus steht dabei die Umkehrung der durch die QSL bedingten Atrophie der Skelettmuskulatur und die Demineralisierung des Knochengewebes sowie die durch den Blutfluss interpretierte Nährstoffversorgung. Dabei stehen bezüglich der EMS-Applikation die Art und Intensität des angewandten Protokolls im Vordergrund. Der Einfluss des Zeitpunkts der Lähmung sowie der Intervention und der Läsionshöhe auf die pathologischen Reaktionen werden genauer betrachtet und der Ort der lokalen EMS-Applikation durch Elektroden oder ähnliches werden ebenfalls hinsichtlich ihres Einflusses untersucht. Ebenfalls von Relevanz ist die Glukoseaufnahme, die Insulinsensitivität und das Verhältnis verschiedener Hormone sowie Biomarker, da sie durch die QSL maßgeblich verändert werden und Einfluss auf auftretende Komorbiditäten haben können (Thomaz et al., 2019).
Die Querschnittslähmung ist nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) die Folge einer vollständigen oder inkompletten Schädigung des Rückenmarks und der Cauda equina. Sie kann eine traumatische und nicht-traumatische Ursache mit akutem oder chronisch fortschreitendem Verlauf sein. Die neurologischen Ausfälle treten isoliert auf oder kombinieren motorische, sensible und vegetative Funktionen. Dies führt zu motorischen, sensiblen und vegetativen Funktionsstörungen in und unterhalb der Läsionsebene (Diener, 2012).
Nach den Leitlinien der DGN liegt die jährliche Inzidenz akuter traumatischer Rückenmarksverletzungen bei 10 bis 30 Fällen pro Million Einwohner. Männer sind mit etwa 70% häufiger betroffen. Das Durchschnittsalter bei Unfällen liegt bei 40 Jahren. Die Inzidenz nicht-traumatischer Querschnittslähmungen ist nicht genau bekannt. In der Bundesrepublik Deutschland wird mit etwa 1.500 neuen Querschnittslähmungsfällen pro Jahr gerechnet. Etwa zwei Drittel davon sind traumatischen Ursprungs. Die Paraplegie ist mit rund 60% häufiger als die Tetraplegie (40%) (Diener, 2012).
Es gibt mehrere biochemische, morphologische und physiologische Veränderungen in den Muskelfasern, die nach einer QSL auftreten. Die Muskelatrophie ist hierbei die Auffälligste. Innerhalb der ersten Monate nach der Verletzung kommt es zu einem raschen Beginn einer Skelettmuskelatrophie und einer Abnahme der fettfreien Masse (Buchholz & Bugaresti, 2005; Gater & Clasey, 2006; Gorgey et al., 2011; Gorgey & Dudley, 2007). Die dramatische Muskelatrophie nach einer QSL beginnt innerhalb weniger Wochen nach der Verletzung und dauert mindestens bis zum Ende des ersten Jahres an (Gorgey & Dudley, 2007). Die Querschnittsfläche der Skelettmuskulatur könnte im Vergleich zu körperliche befähigten Kontrollpersonen bis zu 50% betragen (Clark & Findlay, 2017). Muskelatrophie ist auch mit einer massiven Fettgewebsinfiltration von intramuskulärem Fett verbunden (Gorgey & Dudley, 2007). Der ausgedehnten Muskelatrophie wurde einer Reihe von Faktoren zugeschrieben, einschließlich der Verminderung des Niveaus der körperlichen Aktivität, der Entlastung, der Nichtbenutzung und der Verminderung der anabolen Hormonsekretion sowie einer erhöhten Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen (Abilmona et al., 2019; Sumrell et al., 2018). Dies geht weiter einher mit einer Zunahme der Fettmasse (Buchholz & Bugaresti, 2005; Gater & Clasey, 2006), des Taillenumfangs und der viszeralen Adipositas (Gorgey & Gater, 2011).
Die Rate der Muskelatrophie variiert zwischen verschiedenen Spezies, verschiedenen Individuen derselben Spezies, verschiedenen Muskelgruppen desselben Individuums und sogar innerhalb der Fasern derselben Muskelgruppe (Eberstein & Eberstein, 1996). Bei Ratten ist zwei Wochen nach der Enervation der Muskulatur, also der Entnervung zwischen Gehirn und Organ, das Gewicht der Hintergliedmaßen um ca. 50% reduziert. Beim Menschen hingegen können die Veränderungen innerhalb desselben Zeitrahmens vernachlässigbar sein, da es erst etwa 2-3 Monate nach der Enervation zu einem 50-Prozentigen Verlust des Durchmessers der Muskelfasern kommt (Ohira, 1989).
Nach der Enervation kommt es zu einer terminalen Atrophie der Muskeln; dieser Prozess kann in verschiedene Stadien unterteilt werden (Thomaz et al., 2019). Die Dauer dieser Stadien ist bei den verschiedenen Arten unterschiedlich. Zum Beispiel könnte jedes Stadium bei Labortieren wie Ratten mehrere Monate dauern; beim Menschen könnte es jedoch Jahre sein, bis ein ähnliches Stadium erreicht ist (Carlson, 2014). Dieser fortschreitende Rückgang der Muskeln nach der Enervation kann hauptsächlich in drei Hauptstadien unterteilt werden (Lapalombella et al., 2008).
Das erste Stadium beginnt unmittelbar nach der Nervenverletzung und ist hauptsächlich durch einen sofortigen Funktionsverlust gekennzeichnet, der zu einer beschleunigten Muskelfaseratrophie und raschem Gewichtsverlust führt (Gorgey et al., 2011). Die enervierten Muskeln haben eine Wiederherstellungskapazität, die der eines normalen Kontrollmuskels entspricht, obwohl der Muskel am Ende der ersten Phase 90% seiner ursprünglichen Masse verliert. Während des zweiten Stadiums kommt es zu einer extremen Muskelatrophie, zusammen mit dem Zusammenbruch der Sarkomer- und Muskelfaserorganisation. Das dritte Stadium, das auch als Endstadium bezeichnet wird, ist die Fibrose der Gewebsarchitektur, die sich kennzeichnet durch stark geschrumpfte Muskelfasern, begleitet von einer übermäßigen Zunahme der Adipozyten, die als Fettinfiltration bezeichnet wird (Carlson, 2014).
Mödlin et al. (2005) stellten fest, dass bei menschlichen Probanden die Rate der Muskeldegeneration nach einer Enervation langsamer im Vergleich zu anderen Lebewesen ist. Der Quadrizeps-Muskel eines Individuums, das seit 0,7 Jahren enerviert ist, besteht aus kleinen, mehrwinkligen Myofasern mit einem mittleren Durchmesser von 18,6 Mikrometer (^m). Nach vier Jahren besteht der Quadrizeps aus stark atrophierten Myofasern mit einem mittleren Durchmesser von 9,0 |im. Während dieser Zeit beginnen auch die Muskelfasern durch Adipozyten und Kollagen ersetzt zu werden. Nach durchschnittlich 8,7 Jahren Enervation treten die Muskeln in das Langzeitstadium ein, das durch eine minimale Muskelstruktur definiert ist, die aus mehrwinkligen, atrophierten Fasern mit einem Durchmesser von 7,9 |im besteht (Mödlin et al., 2005).
Trotz der anfänglichen Zunahme des insulinähnlichen Wachstumsfaktors 1 (IGF1) in den ersten 3 Tagen mit Zunahme des Muskelflimmerns wurde eine Abnahme des IGF1 festgestellt, welches mit dem Ausmaß der Atrophie in Korrelation stand (Zeman et al., 2009). Wird die Muskelgröße nicht wiederhergestellt, kann dies zu schwerwiegenden gesundheitsbezogenen Komplikationen wie Adipositas, erhöhtem Risiko für Typ-II-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen (Buchholz & Bugaresti, 2005; Gater & Clasey, 2006; Gorgey et al., 2011; Gorgey & Dudley, 2007; Gorgey & Gater, 2011).
Knochenveränderungen bei einer QSL treten im Zusammenhang mit vielen physiologischen Störungen auf. Fast unmittelbar nach der QSL kommt es zu einem raschen und anhaltenden Verlust von Knochenmasse im sub-läsionalen Skelett (Garland et al., 2008). Nach etwa 18 Monaten, in denen die Knochenmineraldichte (KMD) im Vergleich zum Zeitpunkt der Verletzung um etwa 30% reduziert ist (Garland et al., 2008), verlangsamt sich der Knochenverlust, wenn sich der Knochen einer genetisch bedingten Mindestmasse nähert. Der Knochenverlust bei einer QSL ist von pathologischer Bedeutung, da er das Frakturrisiko stark erhöht. Mehr als 30% der erwachsenen Patienten erleiden Frakturen, häufig des distalen Femurs und der proximalen Tibia (Garland et al., 2004), was des Öfteren zu einem längeren Krankenhausaufenthalt und dem gleichzeitigen Risiko einer chirurgischen Wundinfektion, einer nicht gelenkigen Fraktur, Druckgeschwüren und einer heterotopen Ossifikation führt. Dies stellt eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität und Unabhängigkeit der Patienten dar (Ooi et al., 2012). Mechanisch gesehen scheint der Knochenverlust auf eine erhöhte Knochenresorption ohne gleichzeitige Zunahme der Knochenbildung zurückzuführen zu sein. Viele Studien berichten, dass die Knochenresorption auch mehrere Jahre nach der ErstVerletzung erhöht bleibt (Maimoun et al., 2011). Interessanterweise ist die Knochenbildung typischerweise nahezu normal, zumindest wie durch zirkulierende Marker bestimmt wurde (Maimoun et al., 2011). Langfristig kann sich die Knochenbildung und -resorption normalisieren, da biochemische Knochenmarker bei erwachsenen Patienten, die in der Kindheit verletzt worden waren, innerhalb der normalen Referenzbereiche lagen, wenn auch mit niedrigeren als den normalen KMD-Werten (Kannisto et al., 1998).
Der Verlust von Knochengewebe der unteren Extremität nach einer QSL wiegt schwerer als bei ansonsten neurologisch intakten Personen, welche durch die Bedingungen der Raumfahrt oder längerfristige Bettruhe solch einen Verlust zu verzeichnen hatten (Clark et al., 2007; Galea et al., 2015; Smith et al., 2015). Dies ist wahrscheinlich auf den einzigartigen Kontext zurückzuführen, in dem die Knochen- und Muskelveränderungen bei QSL auftreten. So kommt es bei Personen mit einer QSL hormonellen Veränderungen, die sowohl den Knochenumbau als auch den Mineralstoffwechsel negativ beeinflussen. Es entsteht ein negativer Kalziumhaushalt aufgrund einer verminderten Kalziumresorption im Darm sowie einer Unterdrückung der Parathormon-Vitamin-D-Achse der Nebenschilddrüse welcher sich anhand niedriger Kalziumkonzentrationen im Urin nachweisen lässt (Mechanick et al., 1997).
Die Klassifikation der erlittenen Querschnittslähmung erfolgt mit Hilfe des ASIA- Schemas der American Spinal Injury Association (ASIA). Die Lähmungen werden anhand der Funktion des letzten Segments des Rückenmarks (S5) in komplette und inkomplette Läsionen eingeteilt (siehe Tabelle 1).
(Tabelle 1: Klassifikation nach American Spinal Injury Association. International Standards for Neurological Classification of Spinal Cord Injury)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die EMS ist in den letzten Jahren sowohl in den Fokus der Forschung als auch der klinischen Anwendung gerückt. Mittlerweile wird die Trainingsmethode EMS jedoch nicht nur für forschungsorientierte Institutionen interessanter, sondern auch für Unternehmen mit kommerziellem Interesse, die Versuchen, die EMS der breiten Masse zugänglich zu machen. Das gesteigerte Interesse erklärt sich mit der im Vergleich zu herkömmlichen Krafttrainingsmethoden große Variationsmöglichkeit hinsichtlich unterschiedlicher Belastungsnormative, die diese bieten kann (Filipovic et al., 2012). Grundsätzlich umfasst die Elektromyostimulation nach (Maffiuletti, 2010) eine Reihe von intermittierenden Stimulationen auf oberflächliche Skelettmuskeln, mit dem Hauptziel, sichtbare Muskelkontraktionen aufgrund der Aktivierung der intramuskulären Nervenäste auszulösen. Elektrische Stimulationen werden im Allgemeinen mit einer oder mehreren aktiven in der Nähe des Muskelmotors positionierten Elektrode und vorprogrammierten Stimulationseinheiten ausgelöst (Gregory & Bickel, 2005). Ein intakter motorischer Nerv ist demnach eine Voraussetzung für das Herauslösen der Muskelkontraktionen durch EMS (Hultman et al., 1983). Weiterhin wird EMS als valides Forschungsinstrument zur Bewertung der neuromuskulären Funktion gesunder und beeinträchtigter Muskeln sowohl unter stabilen als auch unter ermüdeten Bedingungen eingesetzt (Horstman et al., 2008; Martin et al., 2004; Wüst et al., 2008). Mit dieser Technik ist es zum Beispiel möglich, die kontraktile Funktion eines intakten Muskels auf standardisierte Weise zu bewerten (z.B. Kraft-Frequenz-Beziehung, Ermüdbarkeit bei konstanter Stimulation). Noch wichtiger ist, dass EMS sowohl in der Forschung als auch in der Klinik weitgehend als Rehabilitations- & Trainingsmethode eingesetzt wird. Je nach Zustand des stimulierten Muskels kann EMS zur Erhaltung und Wiederherstellung von Muskelmasse und -funktion während längerer Phasen der Nichtbenutzung oder Immobilisierung (Gibson et al., 1988; Snyder-Mackler et al., 1995) und auch zur Verbesserung der Muskelfunktion bei gesunden Individuen eingesetzt werden (Caggiano et al., 1994).
Der exzeptionelle Aspekt der EMS ist die Aktivierungsreihenfolge der motorischen Einheiten, die sich vom physiologischen Rekrutierungsmuster („Größenprinzip'' nach HENNEMAN et al. (1965)) deutlich unterscheidet und die Aktivierung schneller motorischer Einheiten zusätzlich zu den langsamen begünstigen würde, selbst bei relativ geringen evozierten Kraftniveaus (Gregory & Bickel, 2005). Diese einzigartige Eigenschaft hat wichtige Implikationen für den Einsatz von EMS im Rahmen der Rehabilitations- & Krafttrainings, zum Beispiel für Patienten, die eine Atrophie der schnellen Muskelfasern aufweisen (Gosker et al., 2002) oder für Sportler, die ein hohes Maß an Muskelkraft und Leistung benötigen (Babault et al., 2007).
Die Anwendung von EMS als Rehabilitations- oder Trainingsmethode ermöglicht den Erhalt (Gibson et al., 1988) oder die Wiederherstellung (Eriksson & Häggmark, 1979) von Muskelmasse und -funktion bei Patienten und verbessert die Muskelkraft bei gesunden Probanden (Bax et al., 2005; Gondin et al., 2005) und Sportlern (Maffiuletti et al., 2006). Im Vergleich zu willentlichem Training und konventionellen Rehabilitationsverfahren könne EMS zum einen effektiver sein, um die Muskelfunktion während einer Phase reduzierter Aktivität/Immobilisierung zu erhalten (Bax et al., 2005; Glinsky et al., 2007; Vivodtzev et al., 2006) und zum anderen ebenso effektiv, um die Muskelfunktion nach einer Immobilisierungsphase wiederherzustellen (Bax et al., 2005), während die Behandlungsintensitäten aufeinander abgestimmt sind (Lieber et al., 1996). Zudem sei die EMS-Methode im Vergleich zur konventionellen Krafttrainingsmethode gleich oder weniger wirksam, um die gesunde Muskelfunktion zu verbessern (Bax et al., 2005). Das heißt, dass das EMS-Rehabilitationstraining nur dann ein besseres Ergebnis als ein konventionelles Training erzielen kann, wenn die Probanden teilweise oder vollständig immobilisiert sind. Dies gilt auch, wenn die Probanden nicht in der Lage sind, ein willentliches Training durchzuführen oder eine angemessene zeitliche Trainingsintensität und -dauer aufrechtzuerhalten, um von der Intervention zu profitieren. Unter den Profiteuren einer solchen Behandlung befinden sich ebenfalls unter Atemnot leidende Herz-Kreislauf-Patienten (Vivodtzev et al., 2006), neurologisch eingeschränkte (Glinsky et al., 2007) und kritisch kranke Patienten und Patienten mit Reflexhemmungen (Gerovasili et al., 2009).
Es scheint, dass das Gewebe von mehr beeinträchtigten Patienten sogar noch wirksamer auf EMS ansprechen würde (Roig & Reid, 2009). Im Gegensatz zu willentlichen Trainingsverfahren kann die EMS Methode zum selektiven Rehabilitationstraining spezifischer Muskeln, zum Beispiel des erector spinae, zur Prävention von Kreuzschmerzen im unteren Rückenbereich, oder zur Veränderung des relativen Ausmaßes der Rekrutierung bestimmter Köpfe innerhalb einer Muskelgruppe (Lake, 1992) eingesetzt werden. Darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass die akute Anwendung von EMS einzigartige faszilitatorische Effekte des kontralateralen homologen Muskels fördert. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass das EMS-Rehabilitationstraining im Vergleich zum willentlichen Training zu einer stärkeren Cross-Education führt (Hortobagyi et al., 1999). Solche die Gliedmaßen übergreifenden Effekte der EMS sind vermutlich besonders wichtig bei Patienten mit Erkrankungen, die vorwiegend eine Körperseite oder Körperhälfte betreffen.
Dies könnte die immer mehr in den Vordergrund rückende EMS-Applikation bei Menschen mit einer Querschnittslähmung erklären und rechtfertigen.
Nach den aktuellen europäischen Vorschriften für die Stimulation beträgt die maximale Ausgangsenergie für die Standard-EMS-Applikation 300 Millijoule (mj) pro Impuls (Mayr et al., 2002). Die meisten kommerziell erhältlichen Stimulatoren haben eine Amplitude, die 200 Milliampere (mA) nicht überschreitet, da bei Überschreitung ein höheres Risiko von Hautreizungen und Verbrennungen besteht, insbesondere bei Personen mit einer QSL. Dies reicht jedoch nicht aus, um über Oberflächenelektroden brauchbare Kontraktionen in enervierten Muskeln auszulösen, es sei denn, diese Muskeln bleiben teilweise innerviert (Mayr et al., 2002). Die beiden Haupteinschränkungen der EMS sind allerdings das starke Unbehagen im Zusammenhang mit der peripheren Stimulation (Lake, 1992) und die begrenzte räumliche Rekrutierung der Muskelfasern, die oberflächlich und weitgehend unvollständig ist (Maffiuletti, 2010). Diese beiden Faktoren, die im engen Zusammenhang mit der applizierten Stromstärke zusammenhängen, begrenzen unweigerlich die Anwendung von EMS bei gebrechlichen Personen sowie seine Wirksamkeit als gültige Behandlungsintervention. Um die Akzeptanz von EMS zu verbessern, versuchen Forscher seit langem, die Unannehmlichkeiten zu minimieren bei gleichzeitiger Maximierung der räumlichen Rekrutierung, indem sie die Eigenschaften der EMS-Parameter verändern.
In der Peripherie stellt das EMS-Training eine große metabolische Anforderung dar und beschleunigt somit den Beginn der Muskelermüdung, hauptsächlich wegen der wiederholten kontraktilen Aktivität innerhalb derselben Muskelfaser. Da die Stimulierungen im Allgemeinen unter einem festen Winkel durchgeführt werden, wird außerdem davon ausgegangen, dass die Auswirkungen von EMS-Rehabilitationstrainingsprogrammen in geringem Zusammenhang mit funktionellen Aktivitäten des täglichen Lebens oder mit sportlichen Aktivitäten stehen (Duchateau & Enoka, 2002). Dennoch können methodische Vorkehrungen getroffen werden, um die Auswirkungen dieser Einschränkungen auf die Anwendung von EMS zu minimieren (Maffiuletti, 2010).
Die richtige Einstellung der Belastungsmerkmale stellt einen wichtigen Aspekt bei dem EMS-Training dar. Diese haben sowohl einen Einfluss auf die Unversehrtheit und Sicherheit des Probanden sowie auf die Effektivität des Trainings. Nach (Lake, 1992) wird bis heute zwischen sechs verschiedenen Belastungsmerkmalen unterschieden:
- Die Impulszeit/Impulspause („duty cycle") beschreibt das Verhältnis von Stimulation und Regeneration während der Applikation.
- Die Impulsintensität beschreibt die genutzte Stromstärke, die in Zusammenhang zu der Kontraktionsintensität steht.
- Die Impulsart beschreibt die Modulation der Fließrichtung des elektrischen Stroms. Dabei wird der monophasische Impuls, der lediglich in eine Richtung fließt (entweder positiv oder negativ), von dem biphasischen Impuls, dessen Fließrichtung stetig wechselt, unterschieden.
- Die Impulsform beschreibt die Art des Anstiegs bis zur maximalen Amplitude und des darauffolgenden Abfalls.
- Die Impulsbreite beschreibt die Dauer eines Impulses in |is.
- Die Stimulationsfrequenz gibt an, wie oft der Muskel innerhalb einer Sekunde stimuliert wird. Für eine gleichmäßige Kontraktion des Muskels muss eine Frequenz von mindestens 20 Hertz (Hz) gegeben sein.
Die EMS-Applikation bei enervierten Körpersegmenten gilt als annehmbare Maßnahme, um körperlichen Erkrankungen entgegenzuwirken (vgl. Abschnitt Nr. 2.2.1 Generelle und spezifische Merkmale von EMS). Insgesamt liegt eine überschaubare Anzahl an Reviews zur Wirksamkeit von EMS-Interventionen bei querschnittsgelähmten Personen vor. Allerdings beziehen sich diese überwiegend auf einzelne Teilaspekte wie das metabolische Profil und sind teilweise nicht mehr aktuell (Dudley-Javoroski & Shields, 2008; Gorgey et al., 2015). Der Forschungsstand zum Thema EMS bei querschnittsgelähmten Personen in den verschiedenen Stadien der Lähmung bietet wiederum unterschiedliche Evidenzlagen. Während der Einfluss auf die Muskulatur mäßig bis gut untersucht worden ist, bietet die vorhandene Literatur zum Einfluss auf das Knochengewebe keine aufschlussreichen Ergebnisse, die sich sogar teilweise widersprechen (Arija-Blazquez et al., 2013; Clark et al., 2007). Weitere interessante Parameter wie den Blutfluss oder die Hormonentwicklung wurden in vergangenen Studien und Reviews lediglich angemerkt und nicht genauer erörtert oder zusammengefasst. Weiterhin existiert eine geringe Anzahl an Untersuchungen, welche das EMS-Training mit herkömmlichen Krafttraining im Bezug zur QSL vergleichen. Dies liegt unter anderem daran, dass von verschiedensten Wissenschaftlern verschiedenste Trainingsprotokolle angewandt wurden, um die Auswirkungen eines EMS-Trainings zu messen. Es gilt also zu untersuchen, in welchen Aspekten die vorhandenen Studien Überschneidungen aufweisen und inwiefern diese relevant für das Training querschnittsgelähmter Personen sind, beziehungsweise wie sich diese Überschneidungen mit Blick auf die Ergebnisse interpretieren lassen.
Aus diesem generierten Forschungsbedarf ergibt sich die Forschungslücke, welcher in dieser Arbeit nachgegangen wird. Daraus resultierend ergibt sich der folgende Forschungstitel, welcher im Einzelnen anhand verschiedenste Parameter (vgl. Abschnitt Nr. 3.3 Daten Analyse) analysiert wird: Anwendbarkeit und Effekte von Elektromyostimulation als alternative Trainingsmethode bei querschnittsgelähmten Personen: Eine systematische Übersichtsarbeit.
Diese Arbeit wurde auf Grundlage der Analyse der wichtigsten Studien zu diesem Thema aus objektiver und kritischer Perspektive erstellt. Diese Arbeit wurde in Anlehnung an die Hinweise im „Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analysis“ (PRISMA) konzipiert (Moher et al., 2015).
Die erste Durchsuchung fand am 28. April 2020 statt, die letzte am 25. Mai 2020. Zur Untersuchung der Fragestellungen hinsichtlich des aktuellen Forschungsstandes, wurde für die erfolgte Recherche nach Primärstudien die Datenbank Pubmed genutzt. Diese wird von dem „National Center for Biotechnology Information“ an der „US National Library of Medicine“ betrieben und beinhaltet mehr als 28 Millionen biomedizinische Literaturstellen aus MEDLINE, Zeitschriften für Biowissenschaften und Online- Büchern. Die Zitationen und Abstracts stammen sowohl aus den Feldern der Biomedizin als auch der Gesundheit, decken aber auch Teile der Verhaltenswissenschaften, chemischen Wissenschaften und des Bioingenieurwesens ab. Somit war eine umfassende Suche nach qualitativ hochwertigen Studien möglich, die sich in dem zu untersuchenden Themenbereich befinden.
Pubmed ist eine englischsprachige Datenbank und aus diesem Grund wurden für die Recherche ausschließlich Begriffe aus der englischen Sprache genutzt. Bei der Auswahl der Schlagwörter wurde darauf geachtet, dass eine gezielte Eingrenzung der zu sichtenden Studien entstand, ohne dabei potenziell relevante Studien auszuschließen. Gemäß den Richtlinien der Datenbank wurden die folgenden Suchbegriffe verwendet: {EMS ODER Electromyostimulation} UND {Paraplegia ODER spinal cord injury}. Darüber hinaus wurde eine manuelle Suche anhand der bibliographischen Listen der eingeschlossenen Artikel durchgeführt, um zusätzliche Studien zu identifizieren.
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