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Bachelorarbeit, 2021
35 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
2. Die Interaktionssoziologie nach Erving Goffman
2.1 Das Alltägliche als Gegenstand
2.2 Die Interaktionsordnung
2.3 Der Interaktionsbegriff
2.4 Die Organisation von Körpern im Raum
2.5 Interaktionsrituale
3. Der Wandel der Interaktionsordnung
3.1 Abstand halten
3.2 Maske tragen
3.3 Neue Höflichkeiten
4. Schluss
Literaturverzeichnis
Eigenständigkeitserklärung
Abstand halten, Maske tragen und soziale Kontakte meiden. Das sind die Anforderungen die das Jahr 2020 an die gesamte Welt stellt. Seit März dieses Jahres grassiert das Coronavirus Sars-CoV-2 in Deutschland und hält die gesamte Bevölkerung in Atem. Der Atem ist es auch, der in dieser Zeit als besondere Bedrohung gilt. In der Bevölkerung herrscht die Angst vor den gefährlichen Viren, die zu der Lungenerkrankung Covid-19 führen können. Diese gilt als hochansteckende Krankheit, die sich im besten Fall nur in Form eines harmlosen Schnupfens zeigt und im schlimmsten Fall zum Tod führen kann.
Als die erste Corona-Welle im Frühjahr 2020 auf Deutschland zugerollt kam, haben sich die Minister der Bundesländer zusammen mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu entschieden, Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu initiieren. So kam es zu Ausgangsbeschränkungen, Schließungen von Geschäften und neuen Regelungen für das öffentliche Leben. Aufgrund dieser neuen Regelungen hat sich die Interaktionsordnung, wie man sie vor Corona kannte, verändert (vgl. Knoblauch 2020, o.S.). Wo immer möglich wurde das Leben auf die eigenen vier Wände begrenzt, um das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu vermeiden. Viele Interaktionen wurden in die digitale Welt verlagert und wo sie noch im öffentlichen Raum zu finden sind, haben sie sich gewandelt und an die neuen Gegebenheiten angepasst. Face-to-Face-Begegnungen haben sich in Folge der Corona-Maßnahmen reduziert, doch sie finden nach wie vor statt und bilden den Gegenstand dieser vorliegenden Arbeit. Es wird hierin der Frage nachgegangen, wie sich die Interaktionsordnung im öffentlichen Raum aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus verändert hat.
Als theoretischer Rahmen dient die Interaktionssoziologie von Erving Goffman, dessen Interesse auf den alltäglichen Interaktionen im öffentlichen Raum liegt und sich deshalb sehr gut für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit eignet. Wie der Soziologe Hubert Knoblauch festgestellt hat, zählt Goffman zu den populärsten soziologischen Autoren und auch Jahre nach seinem Tod sind seine Überlegungen aktuell wie nie (vgl. Knoblauch, 2001, S.7). Im Anschluss an die theoretischen Erläuterungen folgt im Hauptteil die Erörterung erster soziologischer Befunde, die zur Beantwortung der Forschungsfrage diskutiert und systematisch dargestellt werden. Die Argumentation gliedert sich in drei Kapitel, die sich an den empirischen Befunden orientieren. Als erstes wird das Phänomen des Abstandhaltens untersucht. Hierbei handelt es sich um die räumliche Vergrößerung der „Territorien“ (Goffman, 1974) eines Individuums zur Vermeidung einer Ansteckung mit dem Corona-Virus. Anschließend wird das Masketragen erörtert, welches als weitere Corona-Maßnahme für Sicherheit im öffentlichen Raum sorgen soll. Zum Schluss werden die neuen Höflichkeiten untersucht, die sich als Konsequenz der veränderten Interaktion im öffentlichen Raum fassen lassen. Der vergrößerte Abstand und die eingeschränkte Kommunikation durch die Maske machen neue Höflichkeitsrituale erforderlich. Zu guter Letzt folgt das Fazit mit einer Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse und einem Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten.
- Strukturierung des Theorieteils [m1]:
- Allgemeines zu Goffman: Alltagshandeln steht bei ihm im Fokus. Das Alltägliche als Gegenstand (keine ausschweifende Einbettung von Goffman, ihn einfach nur erklären)
- Der Interaktionsbegriff (was Goffman unter Interaktion versteht)
- Face-to-Face-Interaktion
- Zentrierte und nicht-zentrierte Interaktion
- Wechselseitige Wahrnehmung (Blicke?)
- Organisation von Körpern im Raum
- Territorien als Bindeglied zwischen Kapitel 3 und 4 (kommt in beiden vor, soll deshalb als Übergang dienen; Territorien dienen auch dem Schutz des Selbst).
- Interaktionsrituale (sollen vor allem für den Schutz des Selbst dienen)
Erving Goffmans Soziologie ist eine „Soziologie des Alltags“ (Dellwing, 2014, S.39) und dies sogar „in einem vierfachen Sinn“ (ebd.). Sie ist „eine Soziologie über den Alltag, im Alltag, mit Hilfe des Alltags und für den Alltag“ (ebd.). Dieser vierfache Alltagssinn lässt sich erstens an seinem Forschungsfeld erkennen. Der Alltag und insbesondere „der Bereich des öffentlichen Lebens“ (Goffman, 1974, S.14) ist Gegenstand seiner Forschung. Im Zentrum seines Interesses stehen alltägliche Interaktionen in denen „Begegnungen von Angesicht zu Angesicht“ (Raab, 2014, S.10) stattfinden. Bei diesen Face-to-Face-Interaktionen richtet Goffman sein Augenmerk auf jenes Verhalten, welches „im direkten Kontakt zwischen Menschen eine Rolle spielt“ (Goffman, 1971, S.21). Wie er selbst sagt, wurde „der ganz normale Umgang miteinander, die Struktur einfacher sozialer Kontakte“ (ebd., S.16) vor ihm in der Soziologie kaum beachtet.
Neben dem Alltag als Forschungsfeld ist zweitens auch Goffmans Forschungsmethode alltäglich. Er begibt sich selbst als teilnehmender Beobachter unter die Menschen und erforscht den Alltag im Alltag (vgl. Dellwing, 2014, S.39). Seine Art der Forschung unterliegt keiner „sterile[n] Wissenschaftlichkeit“ (ebd., S.40), sondern „bleibt durch und durch ‚alltäglich‘“ (ebd.). Das zeigt sich auch am Forschungsmaterial, welches Goffman überall dort sammelt, wo er sich gerade befindet. Er taucht in den Alltag der Menschen ein und „verwendet alles, was ihm begegnet, als Material“ (ebd., S.39). Der dritte Bezug zum Alltag findet sich in der Art und Weise wieder, wie Goffman sein gewonnenes Material soziologisch deutet. Dazu stellt er keine abstrakte Theorie auf, sondern verwendet „Metaphern und Erfahrungen des Alltags“ (ebd.). Anstelle einer theoriegeleiteten Deutung nutzt er Kategorien, die metaphorischen Charakter haben und dem Alltagsleben entspringen (vgl. ebd.). Er deutet seine im Alltag gewonnenen Erkenntnisse mit Hilfe von Metaphern aus dem Alltag.
Wie gezeigt wurde findet sich Goffmans Alltagsorientierung sowohl beim Forschungsgegenstand und der Forschungsmethode als auch bei der Deutung des Materials wieder. Als Folge daraus entsteht der vierte Sinn der Soziologie des Alltags, nämlich der, dass es sich bei Goffmans Arbeit um eine „Soziologie für den Alltag“ (ebd.) handelt. Seine Soziologie ist eingängig und bleibt durch die Verwendung von Metaphern und Anekdoten mit dem Alltag verbunden (vgl. ebd.). Das ist es auch, was seine Arbeit so „verständlich, zugänglich und bodenständig“ (ebd., S.40) macht. Kein Wunder ist es demnach auch, dass Erving Goffmans berühmtestes Werk „Wir alle spielen Theater“, in dem es um die „einfache Betrachtung von Alltagshandeln“ (Dellwing, 2014, S.73) geht, in der Bevölkerung so großen Anklang fand und vielfach rezipiert wurde.
Die Interaktionsordnung ist eine von mehreren sozialen Ordnungen, die in einer Gesellschaft bestehen. Eine soziale Ordnung tritt notwendigerweise immer als Konsequenz auf, wenn es ein moralisches Normensystem gibt, an das sich die Gesellschaftsmitglieder halten (vgl. Goffman, 1971, S.20). Das Normensystem selbst gibt keine Ziele vor, sondern regelt nur „die Art […], in der Personen irgendwelche Ziele verfolgen“ (ebd.). Goffman versteht unter einer Ordnung „einen besonderen Typ des Handelns“ (Goffman, 2001, S.63). Er meint dabei nicht, dass diese Handlungen geordnet ablaufen oder „daß Normen und Regeln eine besondere Rolle zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung spielen“ (ebd.). Dennoch liegen der Interaktionsordnung Regeln und Verhaltensnormen zugrunde, die vorgeben, wie sich ein Individuum in einer sozialen Interaktion verhalten soll (vgl. Goffman, 1971, S.20). Ohne sie wären Zusammentreffen auf öffentlichen Plätzen fast unmöglich, denn sie sorgen dafür, dass man sich bei Begegnungen auf der Straße nicht anrempelt oder körperlich verletzt (vgl. Dellwing, S.41). Doch mit diesen Regeln und Normen ist nicht die Interaktionsordnung gemeint. Wenn Goffman von der Interaktionsordnung spricht, geht es ihm nicht um die Aufdeckung von „festen Regeln, nach denen Gesellschaft funktioniert“ (ebd.). Vielmehr möchte er mit dem Begriff der Interaktionsordnung „zeigen, wie in face to face-Interaktionen lokale Ordnung immer wieder geschaffen wird“ (ebd., S.40). Goffman möchte erklären, wie diese Ordnungen entstehen und dass diese in jeder Situation immer wieder neu hergestellt werden müssen. Es gibt nicht eine bestehende universelle Interaktionsordnung, die in allen Situationen gleich ist. Dass es keine universelle Interaktionsordnung gibt, zeigt sich auch an den Handlungen der Akteure. Diese orientieren sich in einer Interaktion nicht an abstrakten Regeln oder Prinzipien, die in einer Gesellschaft gelten (vgl. ebd. S.42). Der Bezugspunkt der Handlungen ist immer „die ganz konkrete Unterstellung, was andere interpretieren und tun werden und die Positionierung dazu“ (vgl. ebd.). Das Individuum orientiert sich in einer Situation also nicht an geltenden Normen, sondern an seinem Gegenüber in einer spezifischen Situation. Somit ist der Bezugspunkt „niemals fest, sondern fluide und situational“ (ebd.).
Es sind die verschiedenen Situationen, welche die Grundlage für immer neu herzustellende Interaktionsordnungen bilden (vgl. ebd., S.40). Deshalb ist es eine lokale Ordnung, die an die jeweilige Interaktion in einer spezifischen Situation gebunden und nicht generalisierbar ist. Sie ist eine „lokale Leistung“ (ebd., S.42), die in unterschiedlichen Situationen mit verschiedensten Gegebenheiten immer wieder neu produziert werden muss (vgl. ebd.). Es ist nicht die Ordnung selbst, auf welcher der Fokus von Goffmans Arbeit liegt, sondern die Leistung der Akteure, diese Ordnung herzustellen (vgl. ebd.). Bildlich gesprochen sind es „nicht die Regeln des Spiels“ (ebd.), die Goffman untersuchen möchte, „sondern die spielerische Aktivität der Beteiligten“ (ebd.).
Die öffentliche Ordnung ist dazu da, persönliche Grenzen zu schützen, Störungen durch andere Personen zu unterbinden und „physische Bedrohung zu verhindern.“ (ebd.)
In jeder Situation gelten bestimmte Verhaltensregeln, an die man sich halten soll, um „dazuzupassen“ (ebd., S.22). Im Allgemeinen gilt, dass man sich in einer Situation „brav“ verhalten soll und keine Störung verursachen soll (ebd.)
Ein weiteres Problem ist, dass das selbe Verhalten in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich bewertet wird. In der einen Situation kann es angemessen und in der anderen unangemessen sein. Es kann geschehen, dass die eignen Einstellung „den Erfordernissen der Situation weichen muß.“ (ebd., S.Goffman will wissen, welche „gegenwärtige soziale Funktion“ die Regeln und Normen haben. Er möchte wissen, weshalb manches Verhalten an einer Stelle gebilligt und an anderer Stelle missbilligt wird. ( ebd.)
Unter einer Interaktion versteht man „Handlungen, die zwischen Menschen stattfinden“ (Maiwald & Sürig, 2018, S.9). Eine Interaktion entsteht, wenn mindestens zwei Menschen ihr Handeln wechselseitig aufeinander beziehen (vgl. ebd., S.13). Die Interaktion ist eine spezielle Form der Kommunikation, nämlich die „Kommunikation unter Anwesenden“ (Kieserling, 1999). Die Kommunikation unter der Anwesenheit von anderen Menschen existiert seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte. Für Goffman ist sie „die ursprüngliche, echte Sache“ (Maiwald & Sürig, 2018, S.15). Der Mensch lernt sich und andere durch gegenseitiges Anschauen kennen. Dazu zählt auch das Lesen der Körpersprache oder die Deutung von Wortbetonungen und Satzmelodien (vgl. ebd.). Im Gegensatz zur ursprünglichen Kommunikation unter Anwesenden, stellt die Kommunikation mit technischen Hilfsmitteln, wie zum Beispiel dem Telefon, eine „defizitäre Variante“ der Kommunikation dar (vgl. ebd.). Der durch Technik vermittelten Kommunikation fehlen wichtige Informationen wie die Mimik oder der Tonfall (vgl. ebd.). Die Interaktion stellt ein fremdbezogenes und kein selbstbezogenes Handeln dar, da sich die Handlungen der Beteiligten immer aufeinander beziehen. Deshalb ist Interaktion im Sinne des Soziologen Max Weber (1980) auch immer soziales Handeln. Soziales Handeln ist dabei nicht als Handeln im karitativen Sinne zu verstehen. Vielmehr meint soziales Handeln nur, dass es „auf eine oder mehrere andere gewisse oder ungewisse Personen bezogen ist“ (Maiwald & Sürig, 2018, S.9). Soziales Handeln lässt sich somit als Voraussetzung für Interaktion definieren (vgl. ebd.).
Die Face-to-Face-Interaktion
Erving Goffman versteht unter der „Interaktion von Angesicht zu Angesicht“ (Goffman, 1971, S.20) diejenige Interaktion, die aufgrund von „unmittelbarer physische[r] Präsenz“ (ebd.) stattfindet. Die körperliche Anwesenheit von mindestens zwei Personen zur selben Zeit am selben Ort ist eine von drei wesentlichen Merkmalen der Face-to-Face-Interaktion. Unter Anwesenheit versteht man in diesem Zusammenhang, dass Individuen „an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit präsent“ (Maiwald & Sürig, 2018, S.16) sind. Alle diejenigen Individuen, die sich zeitgleich an diesem einen bestimmten Ort aufhalten, werden als Anwesende in dieser bestimmten Situation bezeichnet (vgl. ebd., S.16f). Eine Voraussetzung für die Interaktion ist die soziale Situation. Hierbei handelt es sich um eine räumliche Umgebung, in die Personen ein- und austreten können. Jedes eintretende Individuum wird zum Mitglied der Versammlung und dadurch zu einem Anwesenden in der Situation. Goffman definiert es so, dass „Situationen entstehen, wenn gegenseitig beobachtet wird, sie vergehen, wenn die zweitletzte Person den Schauplatz verläßt“ (ebd., 1971, S.29). Ein Individuum allein macht noch keine soziale Situation aus. Diese entsteht erst, wenn eine zweite Person dazukommt und ist gleich wieder beendet, sobald ein Individuum allein auf dem Schauplatz zurückgelassen wird. Nach dieser Definition ist eine Face-to-Face-Interaktion also nur in einer sozialen Situation möglich, da es immer zwei Personen bedarf. Sie findet nur statt in „Umwelten, in denen zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, daß sie aufeinander reagieren können“ (Goffman, 1994, S.55).
Die Tatsache, dass bei einer Face-to-Face-Interaktion immer zwei Personen körperlich anwesend sein müssen, impliziert auch eine wechselseitige Wahrnehmung der anwesenden Personen. Die soziale Situation stellt einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum dar, innerhalb dessen sich die Individuen gegenseitig erfahren. Sie sind sich dabei so nahe, dass sie „sich gegenseitig wahr[..]nehmen, bei allem was sie tun […] und nahe genug auch, um wahrgenommen zu werden also solche, die fühlen, daß sie wahrgenommen werden“ (ebd., S.28). Diese gegenseitige körperliche Wahrnehmung macht die Individuen relevant füreinander und ermöglicht dadurch erst eine Interaktion (Maiwald & Sürig, 2018, S.17). Die Face-to-Face-Interaktion zeichnet sich durch ein Wechselspiel von Wahrnehmung und Kommunikation aus. Die Kommunikation kann dabei sowohl über „sprachliche Mitteilungen“ (Goffman, 1971, S.24) als auch über „expressive Botschaften“ (ebd.) stattfinden. Unter sprachlichen Mitteilungen ist dabei eine verbale Kommunikation zu verstehen. Der Sender einer Mitteilung kann hier „‘über‘ alles und jeden in der Welt“ (ebd.) reden. Die Mitteilung muss nicht notwendigerweise von ihm selbst handeln. Im Gegensatz dazu handelt eine expressive Botschaft immer vom Sender, da die Mitteilung vom Körper des Senders ausgeht (vgl. ebd.). Diese nonverbale Kommunikation findet in sozialen Situationen mit körperlich anwesenden Personen immer statt. Sie kann vom Sender nicht vermieden werden und ist auch immer Teil einer sprachlichen Mitteilung (vgl. ebd., S. 25). Die Botschaften, die in einer Kommunikation unter Anwesenden übermittelt werden, sind „im Körper konkretisiert“ (ebd.). Dazu zählen sowohl nonverbale Botschaften wie ein Stirnrunzeln, als auch verbale Mitteilungen wie ein gesprochenes Wort (vgl. ebd.). Wenn man nun davon spricht, dass sich Personen bei einer Face-to-Face-Interaktion körperlich wahrnehmen, kann man sagen, dass sie die Mitteilungen, die der Körper des anderen aussendet, empfangen (vgl. ebd.).
Es werden allerdings nicht nur die Botschaften des Körpers wahrgenommen, sondern auch das äußere Erscheinungsbild eines Individuums. Mit der gegenseitigen Wahrnehmung geht auch eine gegenseitige Sichtbarkeit einher. Man kann in einer Interaktion schweigen, aber man kann sich nicht unsichtbar machen (Maiwald & Sürig, 2018, S.17). Deshalb gibt schon das äußere Erscheinungsbild dem Gegenüber Aufschluss darüber, wie man bezüglich der gegenwärtigen Situation eingestellt ist. Vor allem das Gesicht, dies verdeutlicht der Begriff der Face-to-Face-Interaktion bereits, aber auch die Kleidung spielen hierbei eine Rolle (vgl. Goffman, 1971, S.38). So ist es beispielsweise wichtig, dass man in einer sozialen Situation seine Mimik kontrolliert, um vom Gegenüber als in der Situation anwesend eingestuft zu werden und gesprächsbereit zu erscheinen (vgl. ebd.). So gibt es auch für jeden sozialen Anlass eine eigene Art von Gesichtsausdruck. Auf einer Beerdigung setzt man sein Beerdigungsgesicht und auf einer Party sein Partygesicht auf (vgl. ebd.). Genauso verhält es sich auch mit der Kleidung. Mit ihr drückt man die eigene Kompetenz bezüglich der Situation aus. Begibt man sich ungepflegt und mit unpassender Kleidung in eine soziale Situation, kann das „leicht als Zeichen für eine Mißachtung des Ganzen und seiner Teilnehmer gewertet“ (ebd., S.36) werden. Man erscheint dann in den Augen der anderen Anwesenden als unfähig, sich angemessen in eine Interaktion zu begeben.
Wechselseitige Wahrnehmung
Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits erläutert wurde, ist die wechselseitige Wahrnehmung der Anwesenden in einer sozialen Situation ein wesentliches Merkmal der Face-to-Face-Interaktion. Da eine soziale Situation gekennzeichnet ist durch die Anwesenheit von mindestens zwei Personen, findet die wechselseitige Wahrnehmung nur in Kopräsenz statt. Goffman stellt diese „wechselseitige Verstricktheit der Teilnehmer“ (Goffman, 2001, S.57) sogar als den zentralen Aspekt der Interaktion heraus. Aufgrund dieser wechselseitigen Verstricktheit birgt eine soziale Situation auch immer eine gewisse Unsicherheit in sich. Da in einer Situation meist nichts notwendig zu tun aber auch gleichzeitig nichts möglich zu tun ist, wartet jedes Individuum auf eine Handlung des anderen. Nach Luhmann kommt es in solch einer Situation „zum Problem doppelter Kontingenz, bei dem alle Beteiligten ihr eigenes Handeln vom Handeln der anderen abhängig machen und deshalb keiner anfangen kann“ (Müller, 2014, S.350). Beide Individuen sind sich im Klaren darüber, dass eine Handlung vollzogen werden muss, doch keiner von Beiden kann den ersten Schritt machen, da das Handeln von Ego am Handeln von Alter orientiert ist. Als Folge dieser Notwendigkeit für eine Handlung aber auch der gleichzeitigen Unmöglichkeit für eine Handlung, entsteht eine doppelte Kontingenz. Von einer doppelten Kontingenz spricht man deshalb, weil es in der sozialen Situation zu einer doppelten Erwartungsunsicherheit kommt. Aufgrund der wechselseitigen Wahrnehmung entwickeln Alter und Ego Erwartungserwartungen, also Erwartungen darüber, was von ihnen erwartet wird (vgl. ebd.). Solche Erwartungsprobleme entstehen nur in unstrukturierten Situationen, wie es beispielsweise auch beim Elfmeterschießen der Fall ist. Der Torwart weiß nicht, in welche Ecke der Torschütze den Ball schießen wird und gleichzeitig weiß der Schütze nicht, in welche Ecke des Tors der Torwart springen wird. Beide Spieler stehen somit vor dem Problem, nicht zu wissen, welche Handlung der jeweils andere ausführen wird (vgl. ebd., S.358).
Die Individuen wollen Kontingenzen vermeiden und Sicherheiten in sozialen Situationen schaffen. Um Unsicherheiten abzumildern, entstehen Verhaltenserwartungen gegenüber den anderen Anwesenden. Es herrscht eine Erwartung und auch ein Vertrauen darüber, dass sich die anderen Anwesenden an die geltenden Normen halten werden. Diese Verhaltenserwartungen sind notwendig zur Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung, die den Akteuren Handlungssicherheit bietet (vgl. Schenk, 2014, S.52).
Zentrierte und Nicht-Zentrierte Interaktion
Weiter oben wurde bereits dargestellt, dass Interaktion Kommunikation beinhaltet. Um dieses „kommunikative Verhalten von unmittelbar anwesenden Personen“ (Goffman, 1971, S.35) zu untersuchen, bedient sich Goffman zweier Analyseschritte. Im ersten Schritt widmet er sich der Art von Kommunikation, „die praktiziert wird, wenn jemand sich eine Information verschafft über einen anderen Anwesenden“ (ebd.). Sich eine Information über einen anderen Anwesenden einholen passiert schon in dem Moment, in dem jemand (auch nur kurz) zu einem anderen hinüberschaut (vgl. ebd.). Hier spricht man von einer nicht-zentrierten Interaktion, die auf öffentlichen Plätzen den Großteil der Interaktionen ausmacht. Die Individuen haben keinen gemeinsamen Fokus und sind nur deshalb füreinander relevant, weil eine Kopräsenz besteht und diese gehandhabt werden muss (vgl. Schenk, 2014, S.14). Die Anwesenden teilen keinen gemeinsamen Interaktionsfokus, sie sind nur zufällig zur gleichen Zeit am gleichen Ort (vgl. Maiwald & Sürig, 2018, S.18). Obwohl es keinen gemeinsamen Fokus in der Interaktion gibt, läuft diese dennoch geordnet ab. Alle Anwesenden halten sich an eine „universale Ordnung“ (ebd.), die diesen reibungslosen Ablauf ermöglicht. Meistens halten sich alle Individuen auf einem Schauplatz unbewusst an die gleichen Regeln (vgl. ebd.). Bei der nicht-zentrierten Interaktion handelt es sich schlicht um ein „aufeinander abgestimmtes generalisiertes Verhalten“ (ebd., S.19).
Im zweiten Analyseschritt beschäftigt sich Goffman mit der Interaktion, die entsteht, wenn sich Individuen auf einen gemeinsamen Brennpunkt fokussieren. Bezeichnend für die zentrierte Interaktion ist, dass die anwesenden Personen „offensichtlich kooperieren“ (Goffman, 1971, S.35). Im Vordergrund dieser Interaktion steht eine gemeinsame Aktivität, auf welcher der Fokus der Anwesenden liegt (vgl. Maiwald & Sürig, 2018, S.19). Hierbei spielt die Blickrichtung eine bedeutende Rolle, denn schon ein sich gegenseitiges Anblicken stellt eine zentrierte Interaktion dar (vgl. ebd.). Die zentrierte Interaktion ist abzugrenzen von der bloßen Anwesenheit in einer Situation. Teilnehmende an einer sozialen Situation sind noch keine Teilnehmende an einer zentrierten Interaktion. Sie sind es erst, sobald sie adressiert werden (vgl. ebd., S.20). Die adressierten Teilnehmenden werden auch als „ratifizierte Teilnehmende“ (ebd.) bezeichnet. Diese befinden sich aufgrund eines gemeinsamen Fokus (beispielsweise ein Gespräch) in einer zentrierten Interaktion. Alle übrigen Anwesenden in der Situation, die nicht Teil des Gesprächs und somit nicht Teil der zentrierten Interaktion sind, werden als „nicht-ratifizierte Teilnehmende“ (ebd.) bezeichnet. Als „Zeugen einer fokussierten Interaktion“ (ebd.) nehmen sie die ratifizierten Teilnehmenden wahr und werden auch selbst von diesen wahrgenommen. Sie sind weiterhin Teilnehmende an der Situation.
Goffman unterscheidet fünf Interaktionsformate, von denen in der Öffentlichkeit die bewegliche Einheit am bedeutungsvollsten ist (vgl. Maiwald & Sürig, 2018, S.22). Demnach können Menschen in Bewegung entweder allein oder in Gruppen auftreten. Jedes Individuum oder jede Gruppe von Individuen tritt in der Öffentlichkeit als bewegende Einheit auf. In Bewegung sind die „Interaktionen mit anderen sich bewegenden Einheiten minimal“ (ebd.). Die Interaktionen beschränken sich darauf, Abstand zu den anderen Individuen zu halten und niemanden anzurempeln. Sehr gut zu beobachten ist dieses Phänomen, wenn sich Personen in Reihen und Schlangen anordnen (vgl. Knoblauch, 2001, S.36). Durch dieses minimale Interagieren entsteht „eine ganz basale Interaktionsordnung, die man am einfachsten damit beschreiben kann, dass man darauf achtet, einander nicht ins Gehege zu kommen“ (Maiwald & Sürig, 2018, S.22). Zur Aufrechterhaltung dieser minimalen Interaktionsordnung ist es notwendig, dass sich die Anwesenden physisch wahrnehmen, doch eine Kontaktaufnahme ist dafür nicht notwendig (vgl. ebd.). Die Individuen können sich in der Öffentlichkeit kontaktlos begegnen, indem die anderen Anwesenden „nur als zu umgehendes Hindernis relevant“ (ebd.) werden. Es kann aber auch zu einem singulären Kontakt kommen, welcher „alle Begegnungen einschließt, die eine direkte, persönliche Anerkennung einer anderen Person beinhalten“ (ebd.). Eine solche direkte Anerkennung einer Person kann schon durch einen Blick passieren. Durch diesen wird eine Person adressiert und erst dadurch entsteht die Möglichkeit zu einem Gespräch (vgl. ebd.).
Für die Interaktion ist eher das soziale Setting von Bedeutung als die Personen selbst (vgl. ebd., S.24). Es ist also der Raum, der die Interaktion determiniert und vorgibt, wie sich die Körper zu verhalten haben. Soziale Situationen funktionieren nur mit anwesenden Körpern. Diese Anwesenheit des Körpers macht das Individuum verwundbar. Es kann körperlich durch den Körper eines anderen angegriffen und die Psyche kann durch Worte und Gesten der anderen verletzt werden (vgl. Goffman, 2001, S.60). Um in Goffmans Sprache zu bleiben, können in Face-to-Face-Interaktionen die „Territorien“ (ebd., 1974, S.54) eines Individuums verletzt werden. Immer wenn sich Individuen in der Öffentlichkeit begegnen, „wird durch die Territorien des Selbst ein weitgespanntes Netz von Stolperdrähten auf einem Schauplatz hervorgerufen“ (ebd., S.152). Jedes Individuum möchte seine eigenen Territorien beschützen und die der anderen Anwesenden nicht verletzen.
Eines dieser Territorien ist der persönliche Raum. Darunter versteht man eine Kontur, die das Individuum umgibt (vgl. Goffman, 1974, S.56). Der Anspruch auf den Bereich, der vor einem Individuum liegt, ist größer als der Anspruch auf den Bereich hinter dem Individuum (vgl. ebd.). Ein fest installierter Gegenstand auf einem öffentlichen Platz, wie beispielsweise eine Parkbank, „kann zu einer einschränkenden Strukturierung des dem Individuum zur Verfügung stehenden Raumes […] führen“ (ebd.). Hieraus ergibt sich ein wesentliches Merkmal des persönlichen Raums: Der Anspruch auf ihn hängt von der Raumverteilung ab, die auf einem bestimmten Schauplatz vorherrscht. Der persönliche Raum ist deshalb kein „permanent besessenes, egozentrisches Anrecht“ (ebd., S.57), sondern „ein temporäres, situationelles Reservat, in dessen Zentrum sich das Individuum hineinbewegt“ (ebd.). Je nachdem wie viele Menschen sich auf einem gemeinsamen Schauplatz aufhalten, ist der persönliche Raum, auf den das Individuum seinen Anspruch erheben kann, größer oder kleiner. In einem überfüllten Aufzug ist der persönliche Raum beispielsweise kleiner als in einem Aufzug, in dem sich nur zwei Personen befinden (vgl. Hirschauer, 1999, S.230). Ein weiteres Territorium ist die Box. Darunter versteht Goffman einen „deutlich begrenzte[n] Raum, auf den Individuen temporären Anspruch erheben können“ (ebd., 1974, S.59). Boxen sind in der Regel auf dem öffentlichen Schauplatz befestigt und helfen bei der Strukturierung der Raumansprüche (vgl. ebd., S.60). Ein Beispiel hierfür ist ein Tisch in einem öffentlichen Café. Es können zwar mehrere Personen an einem Tisch sitzen, aber es ist nicht üblich, dass sich Fremde zu einem bereits sitzenden Individuum dazugesellen. Das Individuum kann seinen temporären Anspruch auf den Cafétisch geltend machen und davon ausgehen, dass dieser Anspruch von den anderen Anwesenden respektiert wird (vgl. Schenk, 2014, S.17).
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