Bachelorarbeit, 2011
45 Seiten, Note: 1,1
0 Einleitung
1 Naturpädagogik
1.1 Begriffsfindung
1.2 Natur bezogene Pädagogik
1.2.1 Pädagogisches Konzept
1.2.2 Ziele
1.2.3 Grenzen
2 Pädagogischer Mehrwert von Naturerfahrungen
2.1 Lerntheorie
2.2 Neurobiologische Erkenntnisse zum Prozess des Lernens
2.3 Bedeutung von Emotionen beim Lernen
3 Natur bezogene Pädagogik in Bildungskonzepten
3.1 Bildungssystem am Beispiel Berlin
3.1.1 Das Berliner Bildungsprogramm
3.1.2 Grundschule
3.2 Naturpädagogische Bildungskonzepte
3.2.1 Der Waldkindergarten
3.2.2 Wildnisschulen bzw. die Rucksackschule
3.3 Fazit
4 Naturwissen (Jugendreport Natur 2010)
4.1 Hintergrund der Studie
4.2 Darstellung der Ergebnisse
4.3 Fazit
5 Nachhaltigkeit von Naturerfahrungen
5.1 Naturerfahrungen
5.2 Umwelt bewusstes Handeln
5.3 Umwelthandeln in Abhängigkeit von Naturerfahrungen
5.4 Fazit
6 Ansatz für institutionelles Lernen
7 Ausblick
8 Literatur
„Lasst sie raus!“ (WEBER 2010, S. 91) lautet die Überschrift eines Geoartikels der Augustausgabe aus dem Jahr 2010. Gemeint sind damit die Kinder unserer Gesellschaft. Die Lebensweise der Kinder hat sich, beeinflusst durch die Umgestaltungen der Lebensumwelt, verändert und wirft somit Fragen für Eltern und PädagogInnen auf. Begriffe wie „Verhäuslichung“, „Verinselung“ und die Zunahme des Medienkonsums prägen heute den Alltag von jungen Menschen und veranlassen zur kritischen Betrachtung der kindlichen Entwicklungsmöglichkeiten.
Kinder ziehen sich in ihre Kinderzimmer zurück, nutzen ihre Spielkonsolen oder den PC und werden überwiegend am Abend von ihren Eltern u.a. zum Sportverein, zur Musikschule oder zum Sprachunterricht gefahren und wieder abgeholt. Überspitzt, jedoch in immer mehr Fällen Alltag der Kinder, lässt sich eine Lebensweise mit dieser Tendenz bei vielen Kindern feststellen. Die zu beobachtende Zunahme von Terminen, die die Kinder in ihrer Freizeit wahrnehmen, bringt dies sehr gut zum Ausdruck. Hier sind nach Burkhard Fuhs inzwischen drei und mehr Termine die Regel geworden (vgl. FUHS 2000, S. 87ff.). Darüber hinaus, lässt sich das Fernsehen als bedeutsames Medium im kindlichen Alter kennzeichnen. Viele Umfragedaten weisen darauf hin: Fast dreiviertel der Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren (73%) geben laut der KIM-Studie 2008 an, den Fernseher für das Medium zu halten, dass unverzichtbar für sie geworden ist („jeden/fast jeden Tag“). „Drinnen Spielen“ ist für mehr als jedes zweite Kind (51%) „jeden/fast jeden Tag“ eine Option (im Gegensatz aber spielen immerhin 59% „jeden/fast jeden Tag“ draußen) (MPFS 2009, S. 9 auch OERTER/MONTADA 2008, S. 889). Wiederum andere Studien verweisen auf eine hohe Verweildauer vor dem Fernseher: Alleine die durchschnittliche Verweildauer der Fernsehernutzung bei Kindern zwischen 1995-2009 lag bei den drei bis 13 jährigen zwischen 145 und 159 Minuten pro Tag; dies erfährt noch ein Mal eine Steigerung im Alter von zehn bis 13 Jahren zwischen 164 und 173 Minuten pro Tag (vgl. FEIERABEND/KLINGLER 2010 S. 183 auch BRÄMER 2006, S. 21). Kinder und Jugendliche verbringen demnach zunehmend Zeit in geschlossenen Räumen.
Der „Jugendreport Natur 2010“ spiegelt diese Entwicklung ebenfalls wider. Hieraus könnte der Schluss gezogen werden: Die Distanz zwischen der „Natur“ und den Kindern sowie Jugendlichen wird zunehmend größer. Zum einen verringert sich das Wissen über Prozesse in der Natur und zum anderen fehlt immer häufiger das Bewusstsein über die Nutzung von natürlichen Ressourcen für den Alltag. Der Zusammenhang zwischen dem natürlichen Produkt hin zum abgepackten Artikel im Einkaufszentrum und der damit verbundene Aufwand und Eingriff in die Natur, ist vielen Kindern und Jugendlichen nicht mehr bewusst.
Zunehmende Umweltbelastungen durch Waldrodung, Abgase oder Mülldeponien erfordern ein Umdenken der Lebensweise dahingehend, dass natürliche Ressourcen wieder schonender und nachhaltiger genutzt werden. Vor dem Hintergrund der Naturentfremdung der Kinder drängt sich jedoch die Frage auf: Wie können Menschen natürlich und umweltbewusst handeln, wenn sie sich der Natur nicht bewusst sind?
Die Vertreter der Naturpädagogik versuchen sich diesem Dilemma zu stellen und bieten einen pädagogischen Ansatz für Kinder und Jugendliche an, in dessen Mittelpunkt Naturerfahrungen stehen. In unterschiedlichen Formen und Umsetzungen sind naturpädagogische Ansätze in Kindergärten und Schulen, sowie in außerschulischen Projekten präsent.
In der folgenden Ausarbeitung werden entsprechend dieser Thematik zwei Fragen näher untersucht.
Im ersten Teil meiner Arbeit versuche ich näher auf die Naturpädagogik einzugehen. Was ist Naturpädagogik und wie wird sie im pädagogischen Alltag umgesetzt? Dieser Frage nachgestellt, soll es im zweiten Teil dann um die Nachhaltigkeit von Naturerfahrungen in Bezug auf das Handeln gehen. Welchen pädagogischen Wert haben Naturerfahrungen für das (Umwelt-) Handeln?
Im Anschluss daran werde ich einen Ausblick geben, der die naturbezogene Pädagogik hinterfragt und sich den neuen Entwicklungen stellt.
Die Bezeichnungen Naturpädagogik oder „Ökologische Pädagogik“ sind Ausformulierungen eines progressiven Entwicklungsprozesses, die den heutigen Stand der Wissenschaft und Pädagogik verdeutlichen. In diesem Zusammenhang gewinnen die Forderungen von Uri Bronfenbrenner (1976) an Gewicht, die alltäglichen Umwelten als unmittelbaren, dauerhaften Lebensraum im Sinne einer „ökologischen Pädagogik“ in eine mehr Validität beanspruchende Forschung und Praxis einzubeziehen. Hier zeichnet sich schon eine Wende in der Sozialisationsforschung ab, die die Komplexität der Alltagswirklichkeit in ihrer Bedeutung für Lern- und Bildungsprozesse hervorhebt, auf die ich hier aber nicht näher eingehen kann (vgl. WALTER 1980, S. 285ff.). Eduard W. Kleber dokumentiert auf Grund des historischen Kontextes eine Veränderung der Begrifflichkeit, die in Abhängigkeit der inhaltlichen Schwerpunktsetzung steht: „Der lange Weg zu einer ökologischen Pädagogik“ (KLEBER 1993, S. 59). Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur gliedert er chronologisch beginnend mit Umweltschutz über Umwelterziehung bis hin zur Natur bezogenen Pädagogik. Umweltschutz als erster Entwicklungsschritt verzeichnet Kleber in den 1960er- und 1970er Jahren. Als impulsgebend für die Umorientierung des Umweltdenkens nennt er unter anderem die Auswirkungen und Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Ergebnisse des Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit1. In der Umsetzung geht es zunächst darum, wieder Akzeptanz und Verständnis für die Natur zu erlangen (vgl. KLEBER 1993, S. 65), woraus ein emotionales Verhältnis zwischen Mensch und Natur resultieren soll. In einem weiteren Schritt wird der Begriff der Erziehung berücksichtigt. Diese Entwicklung verdeutlicht den Standpunkt, dass Akzeptanz und Verständnis von Natur nicht ausreichend für nachhaltigen Naturschutz sind. Denn Umwelterziehung hat den Anspruch „ökologische Handlungskompetenzen“ (EULEFELD 1981, in BÖLTS 1995, S. 1) zu vermitteln.
Über die sogenannte „Ökopädagogik“, die alle umwelterzieherischen Maßnahmen zu vereinen versucht (vgl. BÖLTS 1995, S. 2), entwickelt sich zu Beginn der 1990er Jahre die begriffliche und praktische Differenzierung der Natur bezogenen Pädagogik oder „Ökologische Pädagogik“. Ergänzend zur Umwelterziehung strebt die Natur bezogene Pädagogik das bewusste Mitleben in einem komplexen Ökosystem an. Der Mensch „übernimmt Verantwortung für sein Denken und Handeln“ (KLEBER 1994, S. 70) und bezieht sich dabei auf sein „umfassendes Verständnis des Lebenssystems unseres Planeten“ (KLEBER 1994, S. 69). Bei der Betrachtung dieses Verlaufs wird deutlich, dass die Intensität der Zielsetzung und der Handlungsebene zunimmt. Natur bezogene Pädagogik versteht sich in dieser Überlieferung als sinnvolle und reichhaltige Konsequenz für ökologisches Denken und Handeln. Trotzdem können diese Entwicklungsstadien nicht getrennt voneinander betrachtet werden, vielmehr sind es unterschiedliche Ebenen umweltpädagogischer Auseinandersetzungen.
Unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Veränderungen und wissenschaftlicher Fortschritte, ist eine weitere Anpassung der Bezeichnung und inhaltlichen Ausrichtung zu vermuten. Resultierend aus dieser Begriffsentwicklung ordne ich den Begriff Naturpädagogik der Natur bezogenen Pädagogik zu und werde im weiteren Verlauf dieser Ausarbeitungen die beiden Begriffe äquivalent benutzen.
Der Begriff „Naturpädagogik“ setzt sich aus den Wörtern Natur und Pädagogik zusammen. Der Etymologie folgend ist Naturpädagogik eine wissenschaftliche Disziplin die sich theoretisch und praktisch mit „Bildung und Erziehung“ von Umwelt befasst.
Grundvoraussetzungen für Naturpädagogik sind primär Naturerfahrungen. Damit verbunden ist ein Wahrnehmen mit allen Sinnen, was nicht zeitlich oder räumlich den individuellen Bedürfnissen der Kinder entgegen wirkt. Sich „zuallererst Einlassen auf Selbst- und Naturerfahrungen“ (GÖPFERT 1994, S. 21) hat also Auswirkungen auf das ErzieherInnen-Kind-Verhältnis, sowie auf die räumlichen Voraussetzungen von Naturerfahrungen. In der pädagogischen Konsequenz heißt das, dass die Kinder überwiegend draußen sind, wobei die PädagogInnen die Gestaltung der Lernsituation den Kindern selbst überlassen. Unterstützend und begleitend nehmen sie am Alltag der Kinder teil. Den Kindern oder auch Jugendlichen soll somit eine Teilnahme an der „natürlichen Lebensfülle“ ermöglicht werden (vgl. GÖPFERT 1994, S. 22), wodurch Naturerfahrungen nicht nur partiell, sondern „sinnlich-ganzheitlich“ (GÖPFERT 1994, S. 22) stattfinden. Dabei kann es nicht mehr ausschließlich um das Erlangen von Wissen gehen, sondern vordergründig um das Erleben von Emotionen. Michael Kalff bezieht sich in seinem Handbuch zur Natur- und Umweltpädagogik auf den Bildungsbegriff von Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), der Herzensbildung über die Wissensbildung setzt (vgl. KALFF 2001, S. 32). Naturpädagogik konzentriert sich daher zuvorderst auf emotionale Erfahrungen. Neben diesen emotionalen Erfahrungen lernen Kinder die Dinge in der Natur und ihre Zusammenhänge kennen, ohne diese explizit und fachdidaktisch benennen zu können. Das implizite Wissen von Umwelt kann in der weiteren Bildungsbiographie helfen, auch formales Wissen zu erlernen. Erst auf der Grundlage der emotionalen Bindung und des impliziten Wissens, kann eine Wissensvermittlung und Wissensaneignung stattfinden (vgl. dazu die Abschnitte 2.2 und 2.3). Die Wissensvermittlung ist im Sinne des „nicht-entfremdeten Lernens“ (GÖPFERT 1994, S. 67) in Lerntempo, Lernart und Lerninhalt selbstbestimmt und abhängig von den individuellen Interessen des Kindes. Darin spiegelt sich die Notwendigkeit wider, Erfahrungen nicht sinnentleert zu lassen, sondern interdisziplinär-kontextuell und ganzheitlich zu betten (vgl. JUNG 2004, S. 12). Aufgabe der PädagogInnen ist es, diese Prozesse wahrzunehmen und zu begleiten (vgl. GÖPFERT 1994, S. 68). Die didaktische Vernetzung von Selbstbildung und pädagogischer Begleitung nennt W. E. Fthenakis Ko-Konstruktion2.
Der natürlichen Vielfalt von verschiedenen Emotionen und Wahrnehmungen in der Natur gerecht zu werden, formuliert Michael Kalff zwölf Aspekte dessen sich PädagogInnen bewusst sein müssen, wenn ein Zugang zur Natur ermöglicht werden soll (vgl. KALFF 2001, S. 41ff.):
1. Vielfalt des Lebendigen: Die Vielfalt und Differenziertheit der Natur kann Anlass für Kinder sein, sich ihrer Position in der Gesellschaft bewusst zu werden. Nichts ist gleich, nichts ist besser oder schlechter, alles ist daseinsberechtigt und lebt friedlich nebeneinander.
2. Zuhören und genau hinsehen: Das Erkennen von diesen Unterschieden kann ein sehr emotionales und befriedigendes Ereignis sein. Selbst bekannte Dinge geben immer wieder Anlass für Neuentdeckungen.
3. Sinneserfahrungen: Die reichhaltige Natur bedient alle Sinne und fördert somit die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen.
4. Wahrnehmung für Lebendige Prozesse: Die Wahrnehmung bezieht sich auf Veränderungen, welche dann auch auf individuelle Veränderungen Übertragen werden können.
5. Natur als Spiegel der Seele: Das Naturerfahren kann dabei helfen, individuelle Prozesse zu verstehen und zu verarbeiten.
6. Seinserfahrung: Existentielle Erfahrungen helfen, sich über seinen Körper bewusst zu werden und die Sinnhaftigkeit von Handlungen zu kennen und zu verstehen.
7. Leben und Tod: Leben und Tod sind in der Natur allgegenwertig, so kann der Rhythmus des Lebens nachvollzogen werden und die eigene Endlichkeit bekommt eine andere Bedeutung.
8. Wahrnehmung von Zeit als Lebenszeit: In der Natur ist kein Tag wie der andere, alleine die Jahreszeiten verdeutlichen die Bedeutung und Qualitäten von den verschiedenen Lebenszeiten.
9. Geborgenheit im Sein: Die Erfahrung in der Natur, dass alles einem bestimmten Zweck dient, kann helfen sich selbst in diesem Gefüge wieder zu finden und sich geborgen zu fühlen.
10. Schönheit und Verletzlichkeit: Bei Naturbetrachtungen kann man sich ins Detail vertiefen oder in der Ferne verlieren. Ein ästhetisches Bedürfnis wird somit befriedigt.
11. Ehrfurcht vor dem Leben: Das Bewusstsein über die Verletzlichkeit des natürlichen Lebens kann den Stellenwert des eigenen Handelns verdeutlichen.
12. Liebe: Die positiven Begegnungen mit der Natur bewirken eine aktive Liebe zum Natürlichen, und wer liebt kann auch Liebe empfangen.
Diese Auflistung, von emotionalen Erfahrungen und gezielten Wahrnehmungen in der Natur, verdeutlicht den Stellenwert von Emotionen in der Naturpädagogik. In der praktischen Umsetzung bedeutet das für PädagogInnen, dass sie diese Emotionen selbst kennen und in der Lage sind, Kinder und Jugendliche in diesen Prozessen dialogisch zu unterstützen.
Zunächst ist Naturpädagogik eine Reaktion auf die sich fortlaufend entwickelnde Diskrepanz zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt. Sie versucht sich der „Zukunftsverantwortung“ (OELKERS 1989, S. 81) zu stellen, indem sie grundlegende Naturerfahrungen unbedingt macht. Nobert Jung bestimmt Naturerfahrungen als motivationale Voraussetzungen für Umwelthandeln (vgl. JUNG 2004, S. 10) und hebt zugleich den Menschen als „Bindungs- und Beziehungswesen“ (JUNG 2004, S. 11) hervor. Demnach sind menschliche Verhaltensweisen abhängig von Beziehungen. Diese Beziehungen benötigen einen Raum in dem sie sich entwickeln können. Übertragen auf die Naturpädagogik sind das Naturerfahrungen, die eine Naturvertrautheit bedingen. Über die Naturvertrautheit soll sich ein Bewusstsein entwickeln, dass den Menschen als Naturwesen beschreibt. Ein Naturwesen, das sich nicht durch Wissenschaft und Kultur über seine Umwelt stellt, sondern seine Zugehörigkeit akzeptiert (vgl. GÖPFERT 1994, S. 17). Die zivilisatorischen Prozesse und Entwicklungen werden sich unter dem Einfluss von Naturpädagogik dahingehend verändern, dass sich der Mensch wieder als Teil der Natur versteht und sein Leben danach verantwortungsbewusst ausrichtet (vgl. KLEBER 1993, S. 206).
Der Naturpädagogik ausschließlich die Bildung von Naturvertrautheit zuzuschreiben wird dem inhaltlichen Umfang des Konzeptes jedoch nicht gerecht, „(…) denn Bildung in der Natur vermag vielmehr und auch ganz anderes, als nur ökologisches Bewusstsein zu vermitteln“ (KALFF 2001, S. 25). Der pädagogische Anspruch von NaturpädagogInnen ist mit dem Anspruch der PädagogInnen in klassischen Bildungseinrichtungen gleich zu setzen. „Vieles, was im Regelkindergarten mit Mühe aufgeboten wird (…), alles das ist im Wald schon lange da(…)“ (KALFF 2001, S. 25). Diese Aspekte werde ich im zweiten Kapitel „Pädagogischer Mehrwert von Naturerfahrungen“ und im dritten Kapitel „Natur bezogene Pädagogik in Bildungskonzepten“ näher erläutern.
Das naturpädagogische Modell hat den Anspruch ein ganzheitliches Bildungskonzept zu sein. Alternativ zur klassischen Pädagogik, bedient es sich reformpädagogischer Ideen, wie die des selbstbestimmten und partnerschaftlichen Lernens (vgl. EICHELBERGER 1997, S. 12). Emotionalität wird als Motor für Lernbereitschaft verstanden und steht im Mittelpunkt dieses Ansatzes. Die unmittelbaren Naturerfahrungen haben dabei eine elementare Position.
Gregory Bateson grenzt das Verstehen der ökologischen Ganzheit ein und äußert so Kritik an der Lehr- und Lernbarkeit von Ökologie. „Ganzheit in diesem Sinne ist ausdrücklich jeder Erfahrung enthoben“ (zitiert nach OELKERS 1989, S. 68). Die kausalen Wirkungszusammenhänge können demnach nur im Ansatz erkannt werden, die Entwicklung jedoch lässt sich nicht beherrschen (vgl. OLKERS 1989, S. 67). Auch wenn damit die Pädagogik und andere Wissenschaften an sich in Frage gestellt werden, ist dies keine absolute Aussage. Natürlich lassen sich Prozesse beeinflussen, jedoch darf daraus nicht das Dogma entstehen, diese Prozesse absolut zu dirigieren. Folglich bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit den Konsequenzen des eigenen Handelns, woraus sich eine optimistisch gestalterische Pädagogik entwickeln kann.
Im Weiteren stellen Dietmar Bolscho und Hansjörg Seybold Umwelt bewusstes Handeln auf Grund von emotionalen Naturerfahrungen in Frage (vgl. BOLSCHO/SEYBOLD 2000, S. 86) und kritisieren zugleich die fehlende Tiefe des Konzeptes. „Zu den weiteren Faktoren, die außer Einstellungen und Werthaltungen umweltbewusstes Handeln bedingen, werden in dieser Konzeption fast keine Aussagen gemacht“ (BOLSCHO/SEYBOLD 2000, S. 86).
Darüber hinaus wird deutlich, dass das Konzept der Naturpädagogik in seiner Zielsetzung und Umsetzung mit klassischen Bildungskonzepten kollidiert. Benotung, Klassenstufen und Rahmenpläne sind für Hans Göpfert Strukturen, die dem Gedanken der Naturpädagogik zuwider handeln (vgl. GÖPFERT 1994, S. 19 ff.). Daraus ergeben sich die Fragen: Welche Vorteile hat der frühe und emotionale Kontakt zwischen den Kindern und der Natur? Und wie lassen sich die Ideen der Naturpädagogik in die Bildungsbiographie integrieren?
Im Folgenden wird zunächst der pädagogische Mehrwert von emotionalen Naturerfahrungen herausgearbeitet, sodass sich der Stellenwert von Naturpädagogik für die kindliche Entwicklung definieren lässt. In den darauf folgenden Kapiteln werden konzeptionell begründete Naturerfahrungen in einzelnen Bildungskonzepten untersucht und anschließend die Nachhaltigkeit von Naturerlebnissen dargestellt.
Ein Schwerpunk in der Erziehungswissenschaft ist es, die Zusammenhänge von menschlichem Lernen zu ergründen. Dabei wird hinterfragt wie Lernen funktioniert und was es beeinflusst. Aus den Untersuchungen ergeben sich bis heute verschiedene Lerntheorien, die sich in ihrer Interpretation von Lernen unterscheiden. Während in der früheren Entwicklung die Lerntheorien von den jeweils anderen separiert wurden erscheint es heute für sinnvoll, die einzelnen Lerntheorien nicht getrennt von einander zu betrachten, sondern Lernen als komplexen Prozess zu verstehen. Abhängig von den Situationen und dem Lerngegenstand verändern sich auch die Lernprozesse.
Diesem Gedanken folgend beschreiben Michael Göhlich und Jörg Zirfas vier Verläufe von Lernen (vgl. GÖHLICH/ZIRFAS 2007, S. 180). Demnach „verläuft Lernen erfahrungsbezogen, dialogisch, sinnvoll und ganzheitlich“ (GÖHLICH/ZIRFAS 2007, S. 180). Im Einzelnen heißt das, dass Lernen immer auf bereits gesammelte Erfahrungen fußt und die neuen Lerninhalte darauf aufgebaut und gegebenenfalls angeglichen werden. Dialogisch meint, dass Lernen eine gelingende Auseinandersetzung ist. Diese Auseinandersetzung kann mit anderen Menschen stattfinden aber auch individuell sein, indem sich die Lernenden mit Erfahrungen oder mit Literatur auseinandersetzen. Lernen bedeutet, dass dem Lernen eine progressive sich weiter entwickelnde Bedeutung immanent ist. Durch Lernprozesse verbinden sich die Dinge und Ereignisse unserer Umwelt zu einem sinnvollen Gefüge. Ganzheitlich meint letztlich, dass das Lernen den „Lernenden berührt und ggf. auch jenseits des im Lernen fokussierten transformiert“ (GÖHLICH/ZIRFAS 2007, S. 180).
Der Annahme folgend, dass sich Lernen in diesen Prozessen vollzieht, lassen sich Bildungskonzepte auf ihren Lernerfolg und Lerngehalt untersuchen. Um den pädagogischen Mehrwert von Naturpädagogik zu ermitteln, muss das Konzept dahingehend geprüft werden.
Da sich die Kinder und Jugendlichen nach dem naturpädagogischen Konzept zunächst nur auf der Erfahrungsebene befinden, um die Erlebnisse anschließend im Diskurs mit den PädagogInnen, mit Literatur oder durch Experimente zu hinterfragen, wird Naturpädagogik den zwei zuerst genannten Verlaufsformen von Lernprozessen gerecht.
Des Weiteren bilden sich die Kinder überwiegend selbst. Rätsel oder Probleme, mit denen die Kinder und Jugendlichen in der Natur konfrontiert werden, versuchen sie zu lösen. Damit hat Lernen in der Naturpädagogik stets eine individuelle Substanz und ist nicht sinnentleert.
Die Bildungsprozesse in der Naturpädagogik verfolgen wie oben bereits beschrieben nicht ausschließlich das Ziel, Umwelt bewusstes Handeln zu bewirken. Das Lernen der natürlichen Prozesse und die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Wirkungen kann auch auf andere Lebensbereiche transformiert werden.
Die konzeptionelle Ausrichtung der Naturpädagogik wird durchaus den Ansprüchen der Lerntheorien nach Michael Göhlich und Jörg Zirfas gerecht.
Ich wende mich nun den neurobiologischen Erkenntnissen von Lernen zu. Die Neurobiologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Untersuchung des Nervensystems beschäftigt. Dabei werden die einzelnen Funktionsweisen von Nervenfasern und Neuronen untersucht und deren Verschaltungen und Zusammenwirken im Gehirn erforscht. Die genaue Lokalisation von Gehirnarealen und das Wissen über deren Funktionen ermöglicht es, menschliche und tierische Handlungsweisen zu ergründen. Mit den nicht invasiven, Bild gebenden Forschungsmethoden wie der Magnetresonanztomographie gelingt es, kognitive Leistungen zu orten. Sprache, Denken und Gefühle wie Glück und Freude werden durch verschiedene Techniken am Computerbildschirm erkennbar. Darüber hinaus lassen sich beeinflussende und sich korrelativ bedingende Faktoren sowie Stimulanzien bestimmen. Durch die Neurobiologie wird ein Einblick in die Funktion des Gehirns ermöglicht. Die Forschungsergebnisse können somit Lösungsansätze für Bildungs- und Erziehungsprozesse geben (vgl. HERRMANN 2009, S. 9ff.).
Informationen werden im Gehirn in neuronalen Netzwerken verarbeitet. Die einzelnen Netzwerke haben unterschiedliche Aufgaben. Untereinander können sich Netzwerke durch Informationsflüsse beeinflussen (vgl. GUDJONS 1997, S. 223). Dadurch entsteht eine hohe Datensammlung, welche die Grundlage für kognitive Leistungen und Verhaltenssteuerungen bildet (vgl. GUDJONS 1997, S. 223). Die beständige Nutzung dieser Netzwerke bewirkt das Wachstum der Verarbeitungsbereiche im Gehirn. Die Nervenfasern werden dicker, was die Informations- und Verarbeitungsprozesse beschleunigt. Die synaptische Vernetzung nimmt zu, was einen umfangreicheren Informationsfluss bedingt (vgl. SPITZER 2007, S. 229ff.). Diese Tatsache wird mit der Neuroplastizität beschrieben. Das Gehirn hat mit dem sechsten Lebensjahr die größte mögliche Vernetzung von Neuronen erreicht. Danach entwickeln sich die Netzwerke entsprechend ihrer Nutzung. Junge Menschen lernen mit sehr hoher Geschwindigkeit. Ältere Menschen verwenden bereits bekannte Lerninhalte, um Analogien zu finden und ihr Wissen zu vertiefen (vgl. SPITZER 2007, S. 229). Kinder setzen sich mit den Sachinhalten auseinander und verinnerlichen die Zusammenhänge. Im Laufe der Entwicklung entsteht dadurch ein implizites Wissen von Gesetzmäßigkeiten und Verbindungen. Erst mit zunehmenden kognitiven Fähigkeiten kann dieses implizite Wissen mit explizitem Wissen beschrieben werden (vgl. SPITZER 2007, S. 62). Den verinnerlichten Gesetzmäßigkeiten werden wissenschaftlich fundierte Regeln und Formeln zugeordnet.
Das bedeutet übertragend auf die Ausbildung unseres gesamten Gehirns, dass ein vielseitiger Input und dessen Verarbeitung ausschlaggebend für die positive und vielseitige Entwicklung unserer kognitiven Fähigkeiten ist.
„Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungsstärke. Solche Modifikation findet nur an Synapsen statt, die aktiv sind. Je aktiver neuronales Gewebe in einem bestimmten Bereich der Gehirnrinde ist, desto eher findet in ihm Veränderung von Synapsenstärken und damit Lernen statt“ (SPITZER 2007, S. 264).
Des Weiteren beschreibt Manfred Spitzer: „Die Voraussetzung für Lernen ist es, mit der Welt in Wechselwirkung zu treten“ (SPITZER 2007, S. 225). Aus seinen Ergebnissen leitet er eine Lerntheorie ab, die Lernen mit einem vielfältigen und reichhaltigen Input verlangt. Die neuronale Eigenschaft dazu heißt Superaddivität. „Neuronen reagieren auf einen gesehenen und einen gehörten Reiz nur sehr wenig, auf einen zugleich gesehenen und gehörten Reiz jedoch sehr heftig“, was eine erhöhte Verarbeitung und Erinnerung bewirkt (SPITZER 2009, S. 60). Eine nach Möglichkeit große Anzahl von Inputs zu einer Sachinformation kann somit den Lernerfolg erleichtern. Herbert Gudjons bekräftigt diese Aussage mit dem Terminus der „Nebeninformationen“ (vgl. GUDJONS 1997, S. 226). Die Aufnahme von Informationen über verschiedene Kanäle bzw. Sinne ermöglicht eine präzisere Repräsentation des Erfahrenen im Gehirn. „Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas erinnert wird ist dann größer“ (GUDJONS 1997, S. 226). Ein Sinnzusammenhang von Informationen unterstützt diesen Lernerfolg zusätzlich (vgl. GUDJONS 1997, S. 226). Anderen Falls kann es zu sogenanntem „trägen Wissen“ (GUDJONS 1997, S. 226) kommen. „Träges Wissen“ ist zusammenhangslos, eine kontextuelle Verbindung zum aktuellen Wissensstand und zur Praxis fehlt. Dadurch wird der Information wenig Relevanz zugeordnet, was einen geringen Lernerfolg zur Folge hat. Wenn also alle Sinne bei der Auseinandersetzung von Lerninhalten berücksichtigt werden und eine Sinnhaftigkeit besteht, kann der Rezipient das Erlebte verstehen. Sein Wissensschatz wird erweitert und dem Erlebten werden Regeln zugeschrieben. Sprache, soziale Kommunikation und Naturerscheinungen, all diese Dinge folgen bestimmten Regeln, die von dem Kind erst erlernt und erfahren werden müssen.
Das Gehirn verarbeitet kontinuierlich die Reize seiner Umwelt. Während dieser Verarbeitungsprozesse werden verinnerlichte Regeln mit dem neu Erlebten verglichen. Wenn die Realität mit der inneren Repräsentation übereinstimmt, wird das Geschehnis als irrelevant bewertet. Es wird nicht weiter verarbeitet. Beim Eintreten einer unerwarteten Situation, welche zudem als positiv gewertet wird, lernt der Rezipient (vgl. SPITZER 2007, S. 176). In der gesamten menschlichen sowie in der individuellen Entwicklung optimiert der Organismus somit sein Verhalten in Bezug auf seine Umwelt (vgl. SPITZER 2007, S. 175ff.). „Entdeckendes Lernen und Problemlösen“ (GUDJONS 1997, S. 230) sind Methoden aus der Praxis, die den beschriebenen Funktionsweisen des Gehirns gerecht werden. Die Kinder und Jugendlichen setzen sich „forschend“ mit den Lerninhalten auseinander, suchen individuell nach Lösungsansätzen und verinnerlichen so den Lehrstoff3
Begebenheiten mit positiven Konsequenzen können verarbeitet und gelernt werden. Die positive Konsequenz wird vom Organismus als Belohnung wahrgenommen. Im Gehirn wird Dopamin freigesetzt, welches wiederum die Ausschüttung von körpereigenen Opioiden bewirkt. Opium beziehungsweise die endogenen Opioide wirken sich positiv auf den Gemütszustand aus. Das „gute Gefühl“ hat zur Folge, dass der Mensch von sich heraus motiviert ist, Neues zu lernen (vgl. SPITZER 2007, S. 177f.). Anders als beim Modell des Operanten Lernens von Burrhus Frederic Skinner4 geht es nicht ausschließlich um Belohnungen, die Lernen bedingen. Erst wenn eine Situation unerwartet positiv von der ursprünglichen Erwartung abweicht, lernt der Organismus. Die positive und eigenständige Informationsverarbeitung ist hier die Belohnung in sich.
[...]
1 Club of Rome: Informeller Zusammenschluss von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, Industriellen und Humanisten aus 25 Staaten (1972: 70 Mitglieder). Die Vereinigung wurde 1968 in der Academia die Lincei in Rom gegründet. Der Bericht zur Lage der Menschheit wurde auf Anregungen der Clubmitglieder von der Stiftung Volkswagen finanziert und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erarbeitet (KLEBER 1994, S. 27).
2 Ko-Konstruktion ist Lernen durch soziale Interaktionen. Im Vordergrund steht die Erforschung von Bedeutungen. Wissen kann dann dialogisch mit den PädagogInnen und anderen Kindern gemeinsam generiert werden (vgl. Fthenakis 2009, S. 9ff.).
3 Als Vorläufer für endeckendes Lernen gelten P. Petersen und G. Kärschensteiner. Es ist auf Selbsttätigkeit, Neugier und Erfolg gerichtet, sowie an Materialien und Medien orientiert und bezieht das Sozialisations- und Handlungsfeld des Lernenden mit ein In einer stärkeren Ausdifferenzierung kommt Wolfgang Einsiedler (1981 S. 128) unter anderen zu dem Begriff des „forschenden Lernen“, der vor Allem für ein experimentieren steht. Forschendes Lernen eröffnet die Fähigkeit, Probleme aus eigener Kraft zu lösen und steht unter der Intentionalität der autonomen Orientierung des Lernenden. D.h., forschendes Lernen betrachtet den Lernenden als aktives Wesen und als Subjekt des eigenen Lernens (hierzu auch NEBER 1981).
4 „ Burrhus Frederic Skinner (1904 – 1990) experimentierte systematisch vor allem mit dem Lernen am Erfolg, dem Lernen durch Verstärkung. Verstärker kann jedes Ereignis sein, das die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöht“ (GUDJONS 1997, S. 219).
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