Examensarbeit, 2015
42 Seiten, Note: 2
1. Einleitung
2. Begriff Gebet
2.1. Kriterien christlichen Betens
2.2. Das Neue Evangelische Pastorale
3. Begriff Ritual
3.1. Ritualforschung und ihre Bedeutung in der Seelsorge
3.2. Das Ritualverständnis nach Morgenthaler
3.2.1. Spannung zwischen Gespräch und Ritual
3.2.2. Ritual im Seelsorgeprozess
4. Begriff Seelsorge und Seelsorgekonzepte
5. Das Seelsorgekonzept kerygmatische Seelsorge von Edward Thurneysen
5.1. Das Seelsorgeverständnis von Edward Thurneysen
5.2. Gebet und Seelsorge bei Edward Thurneysen
5.3. Zusammenfassung
6. Das Seelsorgekonzept von Joachim Scharfenberg
6.1. Das Seelsorgeverständnis von Joachim Scharfenberg
6.2. Gebet und Seelsorge bei Joachim Scharfenberg
6.3. Zusammenfassung
7. Das Seelsorgekonzept von Peter Bukowski
7.1. Seelsorgeverständnis von Peter Bukowski
7.2. Gebet und Seelsorge bei Peter Bukowski
7.2.1. Psalmen und Seelsorge
7.2.2. Zur Kunst, ein Gespräch zu beenden
7.3. Zusammenfassung
8. Das Seelsorgekonzept von Michael Klessmann
8.1. Das Seelsorgeverständnis von Michael Klessmann
8.2. Gebet und Seelsorge bei Michael Klessmann
8.2.1. Gebet als Schweigen
8.2.2. Gebet als Ritual
8.2.2.1. Definition der Rituale von Klessmann
8.2.2.2. Wiederentdeckung der Rituale
8.2.3. Gebet als „Ritual“ in der Seelsorge
8.3. Zusammenfassung
9. Fazit
10. Literatur
10.1. Hilfsmittel und Bibelausgaben
10.2. Agenden und Gesangbücher
10.3. Sekundärliteratur
Während meiner Zeit der Krankenhauseelsorgeausbildung (KSA) im Universitätsklinikum Würzburg wurde ich folg im Rahmen meiner Rufbereitschaft an einem Nachmittag auf die Intensivstation gerufen. Angehörige eines Kranken hatten um geistlichen Beistand gebeten. Als ich ins Zimmer kam, erzählte mir die Schwester des Kranken von ihrem Bruder und fragte mich, ob ich für den Kranken beten kann. Ich habe damals ohne große Überlegung ein frei formuliertes Bittgebet gesprochen. Die Angehörige bedankte sich und bat mich, ihr zu zeigen, wie sie beten sollte, um den Zustand des Kranken zu verbessern. Ich schlug ihr vor, um Gottes Hilfe bei der Heilung des Kranken zu bitten und darum, dass der Kranke seine Schwester nicht verlassen soll. Die Angehörige sprach mehrmals dieses Bittgebet laut. Ich fühlte mich aber unwohl. Denn ich wusste, dass sich sein Zustand hochwahrscheinlich nicht verbessern wird, da er nur noch durch Maschinen am Leben erhalten wurde. Dann kam der Arzt und bat die Angehörigen, zum Gespräch zu kommen. Da die Angehörigen mich baten, beim Kranken zu bleiben, blieb ich bei ihm. Als nun die Angehörigen zurückkamen, hatten sie die Lage des Bruders verstanden und baten mich, sie beim Ausschalten der Maschinen zu unterstützen und dabei ein Gebet und einen Segen auszusprechen. Anders als vor dem Gespräch mit dem Arzt waren die Angehörigen nun sehr ruhig. Ich vollzog die kleine liturgische Form, die im Buch „Neues Evangelisches Pastorale“ beim Abschnitt „Sterben“ zu finden war.
Aus dieser und ähnlichen Erfahrungen resultiert mein großes Interesse am Thema Gebet in der Seelsorge. Einerseits interessiert mich, wie wissenschaftlich mit diesem Thema umgegangen wird v.a. da das Gebet ein Ritual ist und dadurch einen anderen Charakter als ein Gespräch hat. Das Gebet kann im Gespräch unterschiedliche Funktion einnehmen. Dies zeigt m.E. die beschriebene Begegnung: Das erste Gebet vor dem Gespräch mit dem Arzt hatte die Funktion, die Gefühle, Ohnmacht und Ärger, und den Wunsch der Angehörigen zur Sprache zu bringen und dies vor Gott zu bringen. Das Gebet nach dem Gespräch mit dem Arzt hatte dagegen einen anderen Charakter, nämliche die Bitte um Schutz des Kranken und der Angehörigen während des Sterbens. Andererseits möchte ich in Bezug auf meine persönliche Praxis herausfinden, wie ich mit solchen Seelsorgesituationen als Seelsorgerin gut umgehen kann, in denen das Gebet ein Zentralthema des Gespräches wird.
Im Rahmen dieser Arbeit gehe ich insbesondere der ersten Fragestellung nach, indem ich sie anhand von vier unterschiedlichen Seelsorgekonzeptionen beleuchte, anschließend am Ende der Arbeit ein paar Gedanken zur zweiten Fragestellung.
In der Durchführung werde ich zunächst die Hauptbegriffe „Gebet“, „Ritual“ und „Seelsorge“ erörtern, um dann im Hauptteil näher auf vier im deutschen Sprachraum gängige Seelsorgekonzepte im Kontext des Gebets einzugehen. Danach sollen die ausgewählten Konzepte kurz umrissen werden. Die Darstellung der einzelnen Konzeptionen ist also nicht vollständig, sondern beschränkt sich auf jene Punkte, die ich für das Verständnis des Gebetes innerhalb der jeweiligen Seelsorgekonzeption für notwendig halte. Nach dieser Darstellung der Konzeptionen wird dann das Gebet im Kontext der jeweiligen Konzeptionen geschildert.
In der gesamten Arbeit wird für die Bezeichnung des Menschen, der Seelsorge in Anspruch nimmt, durchweg mit dem Wort „das Gegenüber“ ausgedrückt. Diejenigen Personen, die mit der Seelsorge beschäftigt sind, nenne ich „Seelsorger“. Ausgenommen sind die wörtlichen Zitate aus den jeweiligen Seelsorgekonzeptionen.1
Beten gehört „zu dem wichtigsten und fast universalen Phänomen des religiösen Kultus“2. Ganz zweifellos ist das Beten „ein zentrales Phänomen der Religion, der Feuerherd aller Frömmigkeit“3 ist. Gebet kann aber unterschiedlich gestaltet werden, je nach Gottesbild, Glauben und kulturellem Leben. Allein die unterschiedlichen Formen des Betens im Christentum, wie Psalter und Vaterunser, Bittgebet, liturgisches Beten, häusliches und persönliches Beten, Morgen-/Abendgebete, Tischgebet, Stoßgebet, sowie deren mannigfache Sammlungen in Gebetbüchern, Agenden und Gesangbücher, zeigen in sich eine ungeheurere Vielfältigkeit.
Anhand eines Aufsatzes von Walter Sparn, der theologisches Denken und Forschen von mehreren Jahrhunderten prägnant zusammenfasst, möchte ich das Phänomen Gebet genauer untersuchen. Als Beispiele für Gebete in der Seelsorge werden dann die Texte des Neuen Evangelischen Pastorales vorgestellt. Es handelt sich um eine weit verbreitete Sammlung von Texten, Gebeten und kleinen liturgischen Formen für die Seelsorge und wird herausgegeben von der Liturgischen Konferenz der EKD.
Sparn nennt in seinem Aufsatz vier unterschiedliche Kriterien des christlichen Betens.
1. Die fundamentaltheologische Relevanz des Betens: Gebet hat konstitutive und fundamentaltheologische Relevanz. Denn die hermeneutische Struktur des Gebets ist es, dass es im Medium sprachlicher Deutungsbewegungen und Verstehensereignisse in einem Vorgang Selbstbegegnung und Gottesbegegnung vollzieht. Gebet ist als „Ereignis“4, was Theologie als Diskurs ist: Erkenntnis Gottes und unserer selbst. Das Gebet „bildet, auch in seiner Vergegenwärtigung der Väter und Mütter im Beten, ein theologisches Erkenntnismedium: indem es Gottes Gegenwart in der Welt reflektiert, das Sein und der Beter vor Gott situiert und in diesem Horizont die Geschichten Gottes mit diesen Menschen erzählt“.5 Zudem hat das Gebet eine trinitarische Struktur. Im christlichen Gebet wird Gott unmittelbar und vertraut als Vater angesprochen. Ob ausdrücklich oder nicht, wird es immer „durch Christus“ und in der Kraft des Heiligen Geistes gesprochen.6
2. Persönliches Bittgebet und gemeinschaftliches Vaterunser: Im Gebet ist ein Sprecher gegenwärtig, da der Beter selbst das „Du“ anspricht. Das ist „eine freie Vergegenwärtigung Gottes“7 und nach Sparn hängt es mit der Bedeutung des Bittgebets zusammen. „Bitte ist die Grundform des Betens. Beten macht das Bitten prinzipiell“8. Im Bittgebet geht es nicht nur um die Behebung der Bedürftigkeit des Beters sondern auch um Anerkennung der Person des Beters.9 Dieses Beten hat den Charakter von individuellem und gemeinschaftlichem Gebet. Ein christliches Beten hat „irreduzibel individuelle“10 Gestalt, weil es ein intimes Gebet um Glauben ist, es um nur für Gottes Hören bestimmtes „Reden des Herzens mit Gott“ geht. Gleichwohl hat christliches Beten immer auch gemeinschaftliche Gestalt. Denn man erlernt solches Beten durch Gemeinschaft. Mit diesem Gebet bleibt der Beter ein Glied am „Leib Christi“ in seiner Gemeinde. Im Vaterunser wird dieses individuelle Gebet und gemeinschaftliche Gebet verflochten, weil es den Beter in das Kommen des Reichs Gottes hineinzieht.11
3. Erhörung des Gebets: Erhörung richtet sich nicht darauf, dass das Gebet Gott in konkreter Werkes beeinflussen kann. Sondern Erhörung gründet sich darauf, dass Gott sich im Gebet vergegenwärtigt und dies den Betenden gewiss macht. Die eigentliche Erfüllung des Gebets liegt daher darin, dass Gott im Gebet als „summum bonum“ (höchstes Gut), als Schöpfer, Versöhnter, Vollender die Fülle alles Wünschbaren dargestellt wird. Somit wird die Erfüllung von Wünschen, die dem Gebet äußerlich sind, dann Gottes eigene Sache. Der Aspekt der ausbleibenden Erhörung des Gebets kann zur Folge haben, dass der Beter in seinem Glauben in Zweifel gerät, weil seine Wünsche nicht erfüllt werden. Trotzdem ist es sinnvoll, weiter geduldig zu beten, weil so Gott „beim Wort des Evangeliums genommen wird, das empfundene Ausbleiben des Handelns Gottes als Schein zu behaupten auffordert“12.
4. Beten und Arbeiten: Das Gebet ist eine Sprachhandlung, die an sich selber Beten und Arbeiten unterscheidet, indem sie Gottes Werk und menschliches Werk unterscheidet. Gebet unterbricht die Praxis des Beters und deutet sein gelebtes Leben im Zuspruch Gottes und es nimmt in seiner Würde wahr. Darum steht der Beter vor seinem Tun und Lassen, Handeln und Erleiden. Da das Gebet daher ein Nichthandeln ist, wird der Beter das Gebet intensiver erleben, sowohl im religiösen als auch im ethischen Sinn.13 Ein Beispiel ist das schweigende Gebet der mystischen Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott, das eine besonders deutliche Form der Arbeit am Gottesbild zeigt. Beten ist also Arbeit am Gottesbild. Man erkennt und versteht im Gebet, wie Gott sich uns zuwendet und wie man z.B. auch seinen Zorn vor Gott lassen kann. Durch die ethische Dynamik des Gebetes wird der Beter in der Freiheit des Glaubens zum Mitarbeiter Gottes.14
5. Beten lernen: Beten muss wie Glauben erlernt werden. Beten ist ein wichtiges Medium biographischen Lernens, weil man im Gebet reflektiert seine Identität differenziert erarbeitet und diese narrativ reflektiert und aufbaut. Jedes Gebet ist also „ein Moment des Bildungsprozess eines Menschen“.15 Seine Lernorte sind Elternhaus, Schule, Kirche, und Seelsorge. Außerdem ist das Gebet als Medium religiöser Innovation für religiöse Bildungsprozesse wichtig, da Menschen durch Meditation Gebetsgemeinschaften ihre Gemeinschaft erneuern.16
Im Jahr 1981 erschien das Buch „Neues Evangelische Pastorale“. Das Buch ist entstanden, nachdem die Liturgische Konferenz (LK)17 der Evangelischen Kirche in Deutschland beschlossen hatte, eine Handreichung mit biblischen und literarischen Texten, Gebeten und kleineren liturgischen Formen für die Seelsorge herauszugeben. Ihr Konzept lautete: „Praktische Seelsorgehilfe, nur auf der Grundlage und mit der Hilfe von biblischem Wort und Gebet“18. Somit bewegt sich das Buch auf der Grenze zwischen Seelsorge und Liturgie.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Nach der Einführung (Abschnitt I) kommt der Abschnitt 1. „Texte-Gebete-Segen“. Die Texte sollen helfen in Situationen, wo die Gefühle wie Freude, Angst, Trauer, Leere, Scham und Wut eine Rolle spielen, das Gegenüber seelsorgerlich liturgisch zu begleiten. Die Texte sind so aufgebaut, dass man anhand dieser Texte eine Andacht mit dem Gegenüber halten kann. Ihre Gliederung: Zuerst kommt die Einleitung ins Thema (Reflexion für Seelsorger), dann schließt sich ein Textteil an (Psalmen- Gesangbuchtexte- Texte der Bibel- Kontexte, Gebete und Segensworte). Im Abschnitt II „Kleine liturgische Formen“ schließen sich liturgische Formulare für Anlässe an, die SeelsorgeInnen häufig in ihrer Pastoraltätigkeit begegnen, vom Geburtstagsbesuch bis zu die Situationen, wo Menschen anderer Religionen begleitet werden. Abschnitt VI lautet „Für alle Fälle“. Die wichtigsten Texte stehen voran, auf die in Abschnitt II und III häufig verweisen werden, stehen voran. Es sind Psalm 23, Psalm 121, der Aaronitischer Segen, ebenso das das Vaterunser in Deutsch und Englisch, das Ehre sei dem Vater und das Apostolische Glaubensbekenntnis. Die Texte und kleine liturgische Formen wollen Menschen begleiten und unterstützen, um Lebensübergänge besser bewältigen zu können. Auch an jene ist gedacht, die der Kirche fern stehen. Auch sie sollen durch die Textauswahl angesprochen werden, um ihre Gefühle auszudrücken: Viele Texte im Buch stammen aus der Bibel, aber es gibt auch Texte von alten und neuen Theologen, von Augustin bis Jörg Zink. Die Texte sind überkonfessionell und in Teilen interreligiös. Auch Gebete von katholischen Theologen, wie z.B. Huub Oosterhuis, und jüdische Gebete wurden aufgenommen.
Bei jeder Überarbeitung der Auflage kommt es zu Änderungen. Damit werden die Seelsorgesituationen, die in den vergangenen Jahren nicht im Blick waren, aufgenommen. Im fünften überarbeiteten und erweiterten Buch aus dem Jahr 2014 wurden folgende Seelsorgesituationen aufgenommen: Segnung und Salbung und Tod in der Schule. Das Buch funktioniert als das „kirchenoffizielle Gebetbuch für Krisen“ und allgemeine Seelsorgesituationen.
Nach Christoph Morgenthaler gehört das Gebet zu den Ritualen. Um den Gebrauch des Gebets in der Seelsorge zu verstehen ist es deshalb notwendig, den Begriff „Ritual“ und seine Bedeutung in der Seelsorge zu erörtern. Anhand von Morgenthaler wird dies in folgendem Abschnitt der Arbeit dargestellt. Denn Morgenthaler fasst in seinem Artikel das Phänomen Ritual und den bisherigen Lauf der Ritualforschung in der Poimenik hier prägnant zusammen und stellt seine These zum Verständnis des Rituals in der Seelsorge dar.
Das Gebet gehört zu den kleinen liturgischen Formen. Es gehörte lange Zeit zum Grundbestand kirchlicher Seelsorge. Am reformerischen Aufbruch der Seelsorgebewegung in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wird der mangelnde Gebrauch des Gebets kritisiert, weil die Seelsorge nicht unwesentlich rituell bestimmt wurde.19 Nach dieser Ritualkritik der 70er Jahre gingen etwa zwei Jahrzehnte ins Land, bis Ritual geprägte Seelsorge wieder praktiziert und gelernt wurde.
Nachfolgend werden Grundsteine der Ritualforschung dargestellt, verknüpft mit der Fragestellung von Morgenthaler, was diese Perspektiven für die Seelsorge bedeutet haben.
1. Ritual, Unbewusstes und Entwicklung: Der Psychoanalytiker Sigmund Freud stellte fest, dass Rituale mit unbewussten Vorgängen verbunden sind und daher sinnvolle psychologische Funktionen erfüllen und sie insbesondere für die Verarbeitung von Ambivalenzen wichtig sind. Freud versuchte aber Rituale durch Bewusstmachung aufzulösen, und mit der Vernunft zu erklären, da das Ritual zu einem neurotischen Zeremoniell verfallen ist. Er verstand auch in der Menschheitsgeschichte die Funktion von Ritualen eher als Verdrängung.
Die Perspektive, die Rituale in der Seelsorge aus diesem Aspekt der psychologischen Analyse erhalten, ist nach Morgenthaler, dass Gebete und Segensformen Übergangsräume eröffnen, in denen Transformationen möglich werden. In den Inszenierungen kleiner liturgischer Formen verbinden sich aktuelle Erfahrung und biographische Vergangenheit. Es ist dabei hilfreich, die Entwicklungsanforderungen und polaren Spannungen der jeweiligen Phasen des Lebenszyklus zu berücksichtigen.20
2. Ritual, Übergang und Transformation: Ethnologische Theorien, die den Zusammenhang zwischen individueller Entwicklung und rituellem Verhalten betreffen, kommen zu dem Ergebnis, dass Rituale Übergänge zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Räumen gestalten. Dies findet in drei Schritten statt. Zuerst eine Phase der Trennung vom bisherigen gesellschaftlichen Status: Trennungsriten, wie Waschung und Reinigung. Dann kommt eine Schwellen- und Umwandlungsphase, die ebenfalls von Ritualen flankiert ist. Schließlich kommt eine Phase der rituellen Reintegration in neue soziale Positionen und Rollen.21
So gesehen sind Rituale in der Seelsorge sinnvoll, weil Seelsorge Menschen in Übergangssituationen begleitet, in denen sie kritische Lebenssituationen bewältigen müssen. Rituale helfen beim Strukturieren. Sie fordern den Ausdruck von Erfahrungen und Wünschen. Gefühle wie z.B. Ängste werden wach. Rituale helfen, Gefühle zu kanalisieren und wecken in Vertrauen, so dass Menschen ihren Weg wieder neu finden. Außerdem können Seelsorgerin und Patient im Gebet vor Gott auf die gleiche Stufe und zu einer communitas Erfahrung eigener Art kommen.22
3. Ritual, Nemesis und Performanz: Rituale können als Aufführung, als eine Form von Inszenierung verstanden werden, da Rituale „kulturelle Praxis in Raum und Zeit“ sind. So gesehen können Rituale durch ihren performativen Charakter in der Seelsorge bewirken, dass Denken, Gefühl und Handlung gleichzeitig in Gang kommen.23
4. Rituale, Alltag und Feiertag, Ritual Studies: Rituale strukturieren Alltag. Nach Goffman24 sind die Begegnungen durch alltägliche Rituale voraussehbar und ermöglichen Sicherheit und Vertrauen auch in unvertrauten und unsicheren Situationen, koordinieren Transaktionen. Morgenthaler beobachtet, dass dies für Seelsorgesituationen gilt. Die Rituale in Seelsorgesituationen nehmen nicht nur zeitlich und räumlich isolierte Ereignisse wahr, sondern vermögen sie zu der Vielfalt alltäglicher Rituale in Beziehung zu setzen. Sie aktivieren sozusagen einen Schatz von Erfahrungen mit Ritualen aus ihrem Alltag mit sich. Zudem können Ritualkompetenzen in der Gestaltung liturgischer Formen genutzt und integriert werden.25
5. Rituale, Heilung und Psychotherapie: Als traditionelle Heilmethode haben Rituale in vielen Kulturen große Bedeutung. Diese heilende Funktion der Rituale ist auch in der Seelsorge hilfreich. Denn die Rituale bringen Bewegungen in Gang, die sonst durch Gespräche nicht möglich sind. Rituale beziehen sich auf Bedürfnisse und Beziehungskonstellationen des Gegenübers und entwickeln sich über traditionelle Festlegungen hinaus. Um dies zu ermöglichen, sollen die Rituale für den Sinn- und Lebenswelt und den Rhythmus des Seelsorgers angepasst werden.26
Zusammenfassend stellt Morgenthaler die Funktion der Rituale folgendermaßen dar: „Kleine liturgische Formen schaffen Öffentlichkeit (gegenüber der Intimität einer personalen Begegnung); sie strukturieren Kommunikation und machen sie vorhersehbar (gegenüber ihrer Verflüssigung und Öffnung); sie schaffen unmittelbare und ausdrückliche Bezüge zu Tradition und Transzendenz (gegenüber einer reflexiven Distanzierung und Durcharbeiten solcher Bezüge); sie inszenieren und agieren (gegenüber einer Entschlüsselung von symbolischer Sprache im szenischen Verstehen).“27
Morgenthaler benennt die Spannungen von Gespräch und Ritual und reflektiert, wie Rituale aufgrund ihres erwähnten Charakters im Gegensatz zum Gespräch stehen und in der Seelsorge fruchtbar werden können. Anhand einer Abbildung erklärt Morgenthaler diese.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 28
Gespräche und Ritual sind nach Morgenthaler zwei Medien einer Begegnung, in denen die Begegnung sich entwickelt, vertieft und ihre verändernde Kraft entfaltet. In beiden Medien entsteht Beziehung und beide haben je eigene Stärken und Grenzen. Durch Rituale werden Beziehungen in Szene gesetzt, und Situationen „aufgeweicht“, was das Gespräch nicht kann. Gespräche können dagegen die Situationen differenzieren und reflektieren. In der Seelsorge werden Rituale und Gespräche auf unterschiedliche Weise eingesetzt. Wichtig ist es dabei, dass Ritual und Gespräch nicht voneinander isoliert, sondern eher wie zwei Pole einer Ellipse verstanden werden. Das heißt, Rituale können unter Gesichtspunkten des Gesprächs gesehen, wie Gespräche unter Gesichtspunkten des Rituales verstanden werden. Seelsorgegespräche können wie Rituale in Raum und Zeit inszeniert werden. Sie bewegen sich auch an Übergängen und suchen diese zu gestalten. Ohne Gespräch sind Rituale aber nicht denkbar. Das Einverständnis für Rituale muss eingeholt und ihr Ablauf geklärt werden. Nach dem Ritual soll sein „Nachklang“ im Gespräch möglich sein. Rituale können Strukturen des Denkens und Fühlens verändern. Gespräch und Ritual stehen also zueinander in einer produktiven Spannung, weil keines durch das andere ersetzbar und keines ohne das andere praktizierbar ist.29
Morgenthaler versucht nun das Ritual im Seelsorgeprozess in drei Phasen einzuordnen, jeweils mit unterschiedlichen Funktionen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 30
Phase 1 Vorbereitung: In dieser Phase finden zuerst Indikation, ursächliche Veränderung (causa transitionis), dann förmlichen Beschluss, Auftragsklärung (solemnis intentio) statt. Ausgangspunkt eines Rituals ist meist eine Veränderung, ein Übergang. Rituale können nicht durchgeführt werden, ohne dass sich die Beteiligten innerlich dafür öffnen und verpflichten.31
Phase 2 Durchführung: In dieser Phase erfolgen formale Handlungs- bzw. Gestaltungskriterien. Durch formale Durchführungskriterien, nämlich Förmlichkeit, Öffentlichkeit, Unwiderrufbarkeit und Liminalität, sind Rituale charakterisiert. Dann folgen modale Handlungskriterien (actiones modaliter ritorum). Zu diesen zählen Vergemeinschaftung (societas), Transzendenz (religio) und Wirkung (impressio). Auch hier lassen sich Reflextionsfragen ableiten.
Phase 3: Nachbereitung: In dieser Phase fallen die Veränderungen von Identität, Rolle, Status, Kompetenz (novae classificationes, transitio vitae). Liturgische Formen sprechen neue Identität zu, bieten symbolische Rollen an, verändern imaginativ den Status und üben Kompetenzen ein. Dies kann auch durch Nachbereitung einer kleinen liturgischen Form reflektiv eingeholt und vertieft werden.32
Diese Darstellung des Rituals im Seelsorgeprozess ordnet Rituale in einen kommunikativen Prozess ein. Rituale sind zwar nicht durch das Gespräch ersetzbar, aber zugleich auch nicht von Gespräch und Kommunikation ablösbar. Umgekehrt kann man sagen, so behauptet Morgenthaler, dass das Gespräch aus dem Ritual wächst und ins Ritual führt. So ist auch das Gespräch nicht durch Ritual ersetzbar und doch auch nicht lösbar von den Glaubensgesten liturgischer Formen.33
Neben Gottesdienst und Unterricht ist Seelsorge eines der klassischen kirchlichen Handlungsfelder und somit Reflextionsgegenstand der Praktischen Theologie. Es ist weiterhin unbestritten, dass Seelsorge eine wesentliche Aufgabe der Kirche ist, allerdings werden Definition, Ziel oder Umfassung ihres Aufgabenbereiches unterschiedlich definiert. Das Neue Pastorale definiert Seelsorge z.B. folgendermaßen: „Seelsorge ist ein Beziehungsgeschehen.“34 Denn „Seelsorge lebt in dialogischen Prozessen, die wechselseitige Erschließungen von gegenwärtiger Situation und den Texten und Symbolen der Tradition ermöglichen“.35
Die Pluralität der Definitionen zeigt, dass jede Konzeption eine eigene Definition von Seelsorge hat, so dass ihr Ziel, Menschenbilder und Rollen der Seelsorger unterschiedlich dargestellt werden. Dabei hat eine intensive kontroverse Debatte der 1960er und 1970er Jahre in der poimenischen Diskussion eine große Bedeutung. Diese Jahrzehnte waren von der Auseinandersetzung zwischen dem kerygmatischen Ansatz („kerygmatischen Seelsorge bzw. verkündigende Seelsorge “) und der Seelsorgebewegung („therapeutische Seelsorge“, „Seelsorgebewegung“) bestimmt.36
Nach diesem Streit erlangte die Seelsorgebewegung großen Einfluss auf die praktische Ebene v.a. in den Aus- und Fortbildungen. Seit den 1990er Jahren ist wieder Bewegung in die Seelsorgetheorie gekommen. Neue Themen wurden benannt, andere Fragen gestellt und neue Ansätze veröffentlicht. Es wird kontrovers diskutiert, ob ein erneuter Paradigmenwechsel stattgefunden hat.37 Deutlich ist auf jeden Fall, dass die Gegenwart die Landschaft der Seelsorge sich in der Gegenwart in unterschiedliche Ansätze zum Teil verwandter Fragestellungen ausdifferenziert hat. Diese Ansätze haben in der Regel nicht den Anspruch, einen Gesamtentwurf zu bieten, sondern präsentieren sich in einer eher fragenden und suchenden Haltung.38
Heute gibt es zahlreiche Seelsorgekonzepte. In dem Kompendium „Seelsorge im Widerstreit“ werden von Nauer (2001) die wichtigsten 38 Seelsorgekonzepte mit ihren Vertretern vorgestellt.
In den vier folgenden Kapiteln sollen ausgewählte Konzepte kurz umrissen werden. Es sind die Seelsorgekonzepte von Edward Thurneysen, Joachim Scharfenberg, Peter Bukowski und Michael Klessmann.
Die Kriterien zur Auswahl waren, dass diese vier Theologen markante Beiträge geliefert haben und die eben dargestellten poimenischen Debatten mitgeprägt haben. Ein Vertreter, von der „kerygmatischen Seelsorge“(Thurneysen), ein Vertreter von der „Seelsorgebewegung“ (Scharfenberg), ein Vertreter mit einem neuen Akzent der Seelsorge nach den 90er Jahren (Bukowski). Dazu ein Vertreter, der noch aktiv ist und beide Seiten der Seelsorgerichtung in sich gut vereinbart (Klessmann).
Neben Hans Amussen ist Eduard Thurneysen39 ein Vertreter der kerygmatischen Seelsorge. Thurneysen stellt seine These als Antithese zum Kulturprotestantismus dar, der sich bemüht in seinem Seelsorgeverständnis an menschlich-natürliche Gegebenheiten anzuknüpfen. Der Seelsorgeansatz von Thurneysen geht von der zentralen Bedeutung des Rechtfertigungsgeschehens aus. Rechtfertigung bedeutet nach Thurneysen das „Urdatum des christlichen Glaubens“40. Rechtfertigung ist „Gerechtsprechung des Sünders durch die freie Gnade Gottes“41. Die Rechtfertigung ist „ihrem Wesen nach Wort“42. Daher ist die Predigt „die ihr entsprechende Form der Vermittlung der Predigt“43. Predigt ist somit nichts anderes als die Verkündigung des Wortes Gottes.
Dieser homiletische Ansatz gilt nach Thurneysen in gleicher Weise auch für die Seelsorge. „Seelsorge ist Verkündigung des Wortes Gottes. “44 Zwei Grundgedanken der Wort-Gottes-Theologie sind in Thurneysens Seelsorgelehre beinhaltet. Zum einen gibt es eine Diastase („Gott ist im Himmel und du auf Erden“) und zum anderen gilt das Vorzeichen der Gnade (Triumph der Gnade), unter welchem dieser Gegensatz letztlich steht.
[...]
1 Außerdem wird in dieser Arbeit die Sprachform des generischen Maskulinums aus Gründen der besseren Lesbarkeit angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.
2 Sparn, Gebet, 287.
3 Heiler, Gebet, 1; zitiert nach Sparn, Gebet, 287.
4 Casper, Ereignis; zitiert nach Sparn, Gebet, 292.
5 Hiller, Erkennen; zitiert nach Sparn, Gebet, 292-293.
6 Vgl. Sparn, Gebet, 293.
7 ebd.
8 Korsch, Dogmatik, 201; zitiert nach Sparn, Gebet, 293.
9 Vgl. Sparn, Gebet, 293-294.
10 Sparn, Gebet, 294.
11 Vgl. ebd.
12 Sparn, Gebet, 294.
13 Vgl. Sparn, Gebet, 295.
14 Vgl. Sparn, Gebet, 296.
15 ebd.
16 Vgl. Sparn, Gebet, 297.
17 In der LK sind etwa fünfzig Experten für Liturgie aus den verschiedenen evangelischen Kirchen des deutschen Sprachraums tätig. Die Konferenz arbeitet in Projektausschüssen und Fachtagungen. Sie veröffentlicht ihre Ergebnisse mit dem Ziel, das gottesdienstliche Leben in evangelischen Kirchen im deutschsprachigen Raum zu fördern. Den Vorsitz hat seit Herbst 2001 Christian Grethlein, Professor für Praktische Theologie in Münster.
18 Neues Pastorale, 11.
19 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 174.
20 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 175-176.
21 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 176-177.
22 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 177.
23 Vgl. ebd.
24 Goffman, Individuum, 139ff.
25 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 178.
26 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 179.
27 Morgenthaler, Rituale, 180.
28 ebd.
29 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 181.
30 Morgenthaler, Rituale, 182.
31 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 182.
32 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 183.
33 Vgl. Morgenthaler, Rituale, 183-184.
34 Neues Pastorale, 11.
35 Neues Pastorale, 11.
36 Vgl. Pohl-Patalong, Seelsorge, 677.
37 Vgl. Hauschildt, Seelsorgebewegung, 260ff.
38 Vgl. Pohl-Patalong, Seelsorge, 678.
39 Der Schweizer Eduard Thurneysen studiert evangelische Theologie in Basel und in Marburg. Ab dem Jahr 1913 arbeitet er als Pfarrer in Leutwil. Das Dorf liegt von dem Dorf Safenwil in fußläufiger Entfernung, wo Karl Barth als Pfarrer arbeitet. Die beiden begegnen sich und vertiefen ihre Freundschaft durch ihren intensiven Briefwechsel. Nach diesem Austausch entwickeln sie gemeinsam eine neue theologischen Richtung: Die Dialektischen Theologie. Von 1920 bis 1927 ist Thurneysen Pfarrer in St. Gallen-Bruggen. Er wechselt 1927 und tritt eine neue Pfarrstelle am Basler Münster an. 1929 wird er Privatdozent in Basel. Ab 1941 ist er außerordentlicher Professor für Praktische Theologie.
40 Zimmer, Seelsorge, 81.
41 Thurneysen, Rechtfertigung, 208. In Wintzer, Seelsorge, 73.
42 ebd.
43 ebd.
44 Thurneysen, Rechtfertigung, 211. In Wintzer, Seelsorge, 86.
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