Bachelorarbeit, 2017
42 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
2. Was ist Leistung?
2.1. Der schulische Leistungsbegriff
2.2. Definition von Leistungsbewertung
2.3. Wissenschaftliche Kriterien
2.3.1. Objektivität
2.3.2. Reliabilität
2.3.3. Validität
3. Bezugsnormen der Leistungsbewertung
3.1. Soziale Norm
3.2. Kriteriale Norm
3.3. Individuelle Norm
3.4. Problematik der Bezugsnormen
4. Funktionen von Leistungsbewertung
4.1. Pädagogische Funktionen
4.2. Gesellschaftliche Funktionen
5. Bildungserfolg und sein Einfluss auf Lebenschancen und Verteilung
5.1. Definition von Bildungserfolg
5.2. Definition einer leistungsorientierten Gesellschaft
5.3. Zusammenhang von Bildungserfolg und Verteilung in einer leistungsorientierten Gesellschaft
6. Die Rawls'sche Gerechtigkeitstheorie
6.1. Gerechtigkeit als Fairness
6.2. Der Urzustand und der Schleier des Nichtwissens
6.3. Die Grundsätze der Gerechtigkeit
6.3.1. Der erste Grundsatz der Gerechtigkeit
6.3.2. Der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit
7. Die Rawls'sche Gerechtigkeitstheorie und Leistungsbewertung
8. Analyse der Leistungsbewertung der deutschen Regelschulen
8.1. Die wissenschaftlichen Kriterien der Leistungsbewertung unter der Lupe der Rawls'schen Gerechtigektstheorie
8.1.1. Die Gütekriterien der Leistungsbewertung
8.1.2. Die Bezugsnormen der Leistungsbewertung
8.2. Die Funktionen der Leistungsbewertung unter der Lupe der Rawls'schen Gerechtigkeitstheorie
8.2.1. Pädagogische Funktionen
8.2.2. Gesellschaftliche Funktionen
8.2.3. Die Funktionen der Leistungsbewertung aus Sicht des Urzustands
8.3. Eine Leistungsbewertung nach der Rawls'schen Gerechtigkeitstheorie
9. Fazit
Literaturverzeichnis
Die Debatte über die Leistungsbewertung wird schon seit mehreren Jahrzehnten geführt und die Mängel der damals wie heute bestehenden Leistungsbewertung werden beschrieben, untersucht und kritisiert. Karlheinz Ingenkamp beispielsweise stellte schon 1989 dar, dass die Leistungsbewertung ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Mit der Kritik dieser Praktiken und deren Folgen geht häufig die Frage der Gerechtigkeit einher. Autoren wie Felix Winter, Werner Sacher oder Eiko Jürgens schreiben ebenfalls seit bis zu 30 Jahren über unzureichende Leistungsbewertung und lassen die Zweifel gegenüber dem Status Quo und der Leistungsgerechtigkeit wachsen (vgl. Winter 2014).
Artikel, betitelt mit: „Noten sind ungerecht“ (Hildebrandt 2017), schließen von Unzulänglichkeiten der heutigen Leistungsbewertung stets auch auf Fragen der Gerechtigkeit und rütteln so weiter am Konstrukt der aktuellen Leistungsbewertung der deutschen Regelschulen. Dem gegenüber stehen Artikel und Berichte wie „Notengebung in der Schule“ von der D.A.S., welche Zweifel an der Leistungsbewertung vollkommen außen vor lassen und stattdessen auf Vorteile hinweisen (vgl. D.A.S. 2017).
Die Frage nach der Gerechtigkeit von Leistungsbewertungen ist wichtig, denn die Funktionen der Leistungsbewertung ziehen weitreichende Folgen nach sich. Besonders problematisch wird diese Frage jedoch, sobald verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit aufeinander treffen. Die Entscheidung über gerecht und ungerecht liegt weit außerhalb aller Individuen, welche nur im Geringsten damit in Verbindung stehen, da hier ihre eigenen Interessen oder Prägungen keine objektive Betrachtung mehr erlauben. So wie bei jeglicher Bewertung von Leistung stets ein Bezugspunkt notwendig ist, kann auch Gerechtigkeit nicht ohne einen solchen analysiert werden. Das Ziel dieser Bachelorarbeit ist es daher, zu analysieren, ob die Leistungsbewertung der deutschen Regelschulen nach der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls als gerecht bezeichnet werden kann oder nicht. Dieser Bezugspunkt ermöglicht eine klare Antwort auf die Frage der Gerechtigkeit der Leistungsbewertung.
Die Rawls'sche Theorie der Gerechtigkeit ist eine sehr respektierte (vgl. Schmidt 2009, S. 252f.), welche ihren Vorteil unter anderem darin hat, dass sie verschiedene Theorien von Gerechtigkeit kombiniert und auf ein abstrakteres Level hebt (vgl. ebd., S. 230f.).
Betrachtet wird in dieser Arbeit lediglich die Leistungsbewertung von Regelschulen, da sie die klassische Leistungsbewertung in Form des sechs-gliedrigen Ziffernsystems und Zeugnis- 3 sen anwendet und allgemein unter der stärksten Kritik steht. Schulen ohne klassische Leistungsbewertung, wie beispielsweise Modellschulen, freie Schulen oder andere Projekte, in denen teilweise gar keine herkömmliche Leistungsbewertung vollzogen wird, bleiben bei der Analyse außen vor.
Sämtliche Betrachtung und gegebenenfalls Kritik von Leistungsbewertung setzt voraus, dass Leistung existiert, gemessen und bewertet werden kann. Aus diesem Grund wird in Kapitel 2 zunächst Leistung definiert und im Anschluss der schulische Leistungsbegriff dargestellt, um verstehen zu können, was tatsächlich bewertet werden soll (Kapitel 2.1). Es folgt eine für diese Arbeit gebräuchliche Definition von Leistungsbewertung (Kapitel 2.2), welche in den Kapiteln 2.3 bis 2.3.3 mit ihren wissenschaftlichen Kriterien der Messung dargestellt wird und auch damit verbundene Kritikpunkte erklärt werden. In den Kapiteln 3 bis 3.3 wird auf die verschiedenen Bezugsnormen der Bewertung von Leistung eingegangen und auch hier werden damit verbundene Mängel erläutert (Kapitel 3.4).
Die Funktionen der Leistungsbewertung werden in Kapitel 4, aufgeteilt in pädagogische (4.1) und gesellschaftliche (4.2) Funktionen, dargestellt und erklärt.
Das darauf folgende Kapitel beschreibt die Zusammenhänge von Bildungserfolg, Verteilung und Lebenschancen (Kapitel 5). Hierfür werden zunächst Bildungserfolg (Kapitel 5.1) und leistungsorientierte Gesellschaft (Kapitel 5.2) entsprechend definiert und anschließend der Zusammenhang von Bildungserfolg und Verteilung in einer leistungsorientierten Gesellschaft erläutert (Kapitel 5.3). Diese vorausgehenden Darstellungen des Leistungsbewertungssystems und dessen Funktionen und Folgen sollen im Hauptteil der Arbeit anhand der Theorie der Gerechtigkeit analysiert werden.
Kapitel 6. leitet die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls ein, welche dann in ihren einzelnen Aspekten umrahmend dargestellt wird. Zunächst werden die Grundideen der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness gegeben (Kapitel 6.1). Um die im Anschluss erklärten Grundsätze der Gerechtigkeit leichter ergreifen zu können, wird in Kapitel 6.2 zunächst der Urzustand dargestellt, aus welchem diese entspringen sollen. Die einzelnen Aspekte der Gerechtigkeitsgrundsätze, anhand welcher später unter anderem die Analyse der Leistungsgerechtigkeit vollzogen werden soll, werden detaillierter in den Kapiteln 6.3 bis 6.3.2 erläutert.
Da es sich bei der Theorie der Gerechtigkeit um eine politisch-philosophische Theorie handelt, muss vor der endgültigen Analyse erklärt werden, warum und in welcher Form sich diese Theorie überhaupt eignet, um die Leistungsbewertung zu analysieren. Dies wird in Kapitel 7 erklärt. Im Anschluss daran wird die Analyse der vorher beschriebenen Leistungsbewertung in seinen einzelnen Aspekten geleistet (Kapitel 8 - 8.2.3).
In Kapitel 8.3 wird angeschlossen an die Analyse versucht, eine mögliche Alternative zur bestehenden Leistungsbewertung zu umrahmen, welche als erstes Ziel verfolgt, der Rawls'schen Gerechtigkeit zu entsprechen und falls möglich auch realistisch und funktional zu sein.
Die Arbeit wird abgeschlossen, indem anhand der Analyse Bilanz über die bestehende Leistungsbewertung gezogen wird. Hier wird Antwort auf die Frage gegeben, ob unsere aktuelle Leistungsbewertung an den deutschen Regelschulen den Ansprüchen der Rawls'schen Gerechtigkeitstheorie entspricht oder nicht, woran dies liegen könnte, welche Schlüsse daraus gezogen werden sollten und abschließend wie auf diesem Gebiet möglicherweise weitergehend geforscht werden könnte.
Die Leistungsbewertung sowie deren Kritik basieren in dieser Arbeit hauptsächlich auf Werken von Werner Sacher, Jörg W. Ziegenspeck und Felix Winter, da sie über eine einfache Darstellung der schulischen Leistungsbewertung hinaus gehen und eine kritische Perspektive sowie mögliche Änderungsvorschläge bieten. Es handelt sich bei diesen Autoren um Experten, deren oftmals kritische Darstellung der Gegebenheiten der Analyse und Beantwortung der Fragestellung dient.
Bei der Umrahmung der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls wird fast ausschließlich das Hauptwerk selber herangezogen und nur zur Ergänzung und zum klareren Verständnis Sekundärliteratur angeführt.
Fragt man nach der Definition von Leistung, so lassen sich verschiedene Auslegungen heranziehen, welche jeweils aus verschiedenen Perspektiven erstellt wurden und dementsprechend auf unterschiedliche Dinge fokussiert sind. Es gibt einen physikalisch-technischen Leistungsbegriff, einen wirtschaftlichen Leistungsbegriff, die Semantik des Wortes Leistung und nicht zuletzt eine Definition schulischer Leistung, also was in der Schule als Leistung angesehen wird. In dieser Arbeit wird die Leistungsbewertung der deutschen Regelschulen analysiert, daher wird hier von den genannten Leistungsbegriffen nur der schulische Leistungsbegriff vertieft dargestellt, während die anderen zur Herleitung dienen.
Die Semantik des Wortes Leistung ist zweigeteilt und seine Wurzeln gehen sowohl in die indogermanische als auch in die romanische Sprache zurück. Die beiden Sprachen verbanden die Ursprünge des heutigen Begriffs Leistung mit verschiedenen Bedeutungen. Das gotische „laistjan“, was als „folgen, nachfolgen, oder einer Spur folgen“ übersetzt werden kann, findet seinen Ursprung im indogermanischen „lis“ was gehen bedeutet. Zusammen mit der Silbe „jan“, geben sie dem Begriff Leistung eine prozesshafte, dynamische Konnotation (Ziegenspeck 1999, S. 29f.). Sacher weist darauf hin, dass Leistung auch heute noch den Grad ausdrückt, „in dem sie [Schüler] Maßstäben und Anforderungen zu entsprechen vermögen“ (Sacher 2014, S. 13). Im Gegensatz zum dynamischen Leistungsbegriff wird dem Begriff Leistung von seinen romanischen Wurzeln eine statische Bedeutung zugewiesen, welche sich von dem lateinischen Verb „preastare (vorstehen, später auch: sich auszeichnen)“ herleiten lässt. Heute hat sich die Begriffsbedeutung hauptsächlich auf seine statische Bedeutung verlagert und meint „meist etwas Abgeschlossenes, Beendetes“ (Ziegenspeck 1999, S. 30f.).
Der schulische Leistungsbegriff ist ein viel diskutierter und kritisierter, welcher nach Ziegenspeck „die Schule der Gegenwart zur ,Leistungsschule‘“ (Ziegenspeck 1999, S. 52) macht, in der Leistung auf ihren Nutzen in der Ökonomie reduziert wird. Eine umfassende Definition von Leistung ist äußerst kompliziert. Ziegenspeck führt hier zunächst Carl-Ludwig Forcks vier Aspekte von prozesshafter Leistung in der Schule auf: „Anforderung, Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten, Ergebnis der Anstrengung des Einzelnen oder der Gruppe und schließlich die ,Leistung der Jugend innerhalb der Gesellschaft oder der Schule im Betrieb‘“ (ebd., S. 53). Hinzugefügt werden müssen hier noch eine Relationsgröße, oder auch Bezugsnorm, wovon allgemein drei gegeben sind: eine „intrasubjektive“, welche sich allein auf die Entwicklung des Schülers fokussiert, eine „intersubjektive“, welche als Bezugspunkt die Gruppe und Mitschüler heranzieht und schließlich eine „objektive Relation“, deren Bezugsgegenstand der Inhalt selbst ist. Diese Bezugsnormen können schließlich wieder auf den Prozess, also dynamische Leistung oder die statische Leistung, das Ergebnis gerichtet sein (Ziegenspeck 1999, S. 54). Auf sie wird im späteren Verlauf der Arbeit noch vertieft eingegangen, hier dienen sie vorerst zur Verdeutlichung der Vielschichtigkeit des Leistungsbegriffs in der Schule.
Es muss klargestellt werden, dass hinter der kritischen Betrachtung des Leistungsbegriffs Leistung an sich nicht als etwas Negatives zu verstehen ist. Das „Bestreben, etwas zu leisten“, ist tief im Menschen verankert, es geht einher mit dem Wunsch nach extrinsischer Wertschätzung, welche den Selbstwert und die „Selbstachtung“ steigert, und zieht sich durch das gesamte Leben (Sacher 2014, S. 13).
Obgleich Leistung scheinbar ein so fundamentales Element moderner Gesellschaften ist, schließt sich diese Arbeit der Aussage von Eiko Jürgens (2010, S. 26) an: „Es gibt keine Leistung per se“. Auch Jörg W. Ziegenspeck (1999, S. 31) kommt zu dem Schluss: „die Leistung schlechthin gibt es nicht“ und es kann lediglich ein „momentaner Bedeutungsgehalt des Begriffs ,Leistung‘ auf dem Hintergrund verschiedener Wirklichkeitsfelder“ analysiert werden. Werner Sachers vertritt den Standpunkt, dass Leistung „in unserer Gesellschaft ideologisch geprägt“ (Sacher 2014, S. 50) und inhaltlich „immer nur von spezifischen Lebensbereichen her zu definieren“ ist (ebd., S. 49).
Im vorausgegangenen Kapitel wurde bereits die Problematik der Definition von Leistung angeführt, welche auch bei der Leistungsbewertung auftritt. In den folgenden Kapiteln wird zunächst die hier verwendete Definition von Leistungsbewertung dargestellt, gefolgt von einer Beschreibung wissenschaftlicher Kriterien und ihrer Kritik. Anschließend werden die bereits erwähnten Bezugsnormen der Leistungsbewertung detaillierter erläutert.
Leistungsbewertung ist nicht gleichzusetzen mit Leistungsmessung, auch wenn die Begriffe oft synonym verwendet werden. Messen ist „ im weitesten Sinne die Zuordnung von Kategorien zu Objekteigenschaften “ und „ im engeren Sinne die Zuordnung von Zahlen zu Objekteigenschaften “ (Sacher 2014, S. 33). Leistungsbewertung hingegen gibt ein Werturteil zu ge- messener Leistung ab. Leistungsbewertung in Form von Ziffernbenotung ist also „ lediglich formal ein Messen, inhaltlich aber ein Bewerten “ (Sacher 2014, S. 83).
Der Begriff Leistungsbewertung wird im folgenden Verlauf dieser Arbeit also als Leistungsmessung mit anschließender Bewertung durch Zuweisung von Ziffern (Zensuren) verstanden (vgl. Ziegenspeck 1999, S. 129), welche auf Zeugnissen zusammengefasst werden, um einen Leistungsstand anzugeben (vgl. Winter 2014, S. 39).
Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit kann die vollständige Leistungsbewertung mit verschiedenen Aspekten beziehungsweise den unterschiedlichen Methoden nicht mit einbezogen werden (vgl. Ingenkamp / Lissmann 2008).
Die Leistungsbewertung, welche eine Leistungsmessung beinhaltet, muss dementsprechend auch den Gütekriterien einer Messung (Objektivität, Reliabilität, Validität) genügen, anderenfalls sind die Ergebnisse nicht verwertbar (Sacher 2014, S. 35). Darüber hinaus muss sich ein Werturteil stets auf eine Norm beziehen, um wissenschaftlich zu sein und um eine Aussage darüber treffen zu können, ob etwas gut oder schlecht ist (ebd., S. 84). In den folgenden Kapiteln (2.3.1-2.3.3) werden zunächst die wissenschaftlichen Kriterien der Leistungsbewertung dargestellt und anschließend dominante Mängel und Kritikpunkte daran herausgearbeitet.
Das Gütekriterium der Objektivität setzt voraus, dass ein Messungsergebnis unabhängig von der messenden Person zustande kommt. Es sollte also gegeben sein, dass verschiedene Messende mit dem gleichen Messinstrument zu dem gleichen Ergebnis kommen (vgl. Ziegenspeck 1999, S. 133). Werner Sacher fügt noch die „ Durchführungs -“, „ Auswer- tungs -“ und „ Interpretationsobjektivität “ hinzu. Mit diesen Kriterien fordert Sacher die Hin- terfragung, ob andere Lehrkräfte den jeweiligen Schritt gleichermaßen vollziehen würden (Sacher 2014, S. 35f.).
Der größte Mangel und Kritikpunkt des Gütekriteriums Objektivität ist die gescheiterte Erfüllung in der Praxis. So scheint es außerhalb der Möglichkeiten der Leistungsbewertung zu liegen, über mehrere Klassen und erst recht Schulen, „Beurteilungsdivergenzen“ zu vermeiden. Studien haben ergeben, dass die „Urteilsübereinstimmung zwischen Prüfern“ bei der Leistungsbewertung in Schulen nur Werte zwischen 0,35 und 0,85 erreicht (vollkommene Urteils- übereinstimmung: 1,00 / keine Urteilsübereinstimmung: 0,00) (Sacher 2014, S. 42). Karlheinz Ingenkamp stellt daher fest, dass bei einem Klassen- oder Schulwechsel, Noten zu „Falschgeld“ werden (Ingenkamp zit. nach Winter 2014, S. 42). Im Gegensatz zu den Ansprüchen der Objektivität ist es mitentscheidend, welche Person die Bewertung vornimmt.
Reliabilität ist ein Maß für die Zuverlässigkeit einer Messung, misst also „ ihre Genauigkeit und Sicherheit “ (Sacher 2014, S. 36). Eine Messung ist reliabel, wenn die gemessenen Werte nicht vom Zeitpunkt der Messung abhängen und „verschiedene Messungen desselben Objekts mit demselben Meßinstrument [sic!]“ zum selben Ergebnis führen (Ziegenspeck 1999, S. 134). Um die Reliabilität zu überprüfen, bietet sich beispielsweise das zeitversetzte Wiederholen eines Tests an (Wiederholungsmethode), die zeitlich getrennte Auswertung eines Tests mit zwei strukturgleichen Hälften (Halbierungsmethode), oder die Paralleltestmethode, bei welcher ein Test aus zwei strukturgleichen Hälften besteht, welche zu versetzten Zeitpunkten ausgegeben werden (vgl. Sacher 2014, S. 36).
Ähnlich wie bei der Objektivität ist auch die Reliabilität in der Praxis nur mangelhaft gegeben, sodass im Gegensatz zu der normativen Erwartung, der Zeitpunkt der Messung und der Bewertung einen erheblichen Einfluss auf das Ergebnis der Leistungsbewertung hat. Beeinflussende Faktoren sind hier beispielsweise „die Reihenfolge, in welcher Arbeiten korrigiert werden“ und ob es sich bei der Leistung um eine extrem ausfallende oder mittlere Leistung handelt (Sacher 2014, S. 43).
Messinstrumente sind valide beziehungsweise gültig, wenn sie „das zu messende Merkmal repräsentieren“ (Ziegenspeck 1999, S. 135), also tatsächlich das gemessen wird, was gemessen werden soll (vgl. Sacher 2014, S. 36). Es ist zu beachten, dass es immer einige externe Faktoren gibt, welche die Messung beeinflussen. Folglich ist eine „völlig isolierte Messung einzelner Fachkompetenzen“ nicht möglich (ebd., S. 37).
Im Falle des Gütekriteriums der Validität lassen sich wie bei der Objektivität weitere Aspekte unterscheiden. Sacher differenziert zwischen „Inhaltsvalidität, Prognosevalidität, Übereinstimmungsgültigkeit, Konstruktvalidität“ und „Testfairness“. Die Inhaltsvalidität gibt an, ob die gemessene Eigenschaft mit dem Messverfahren übereinstimmt (vgl. ebd., S. 37), während die Prognosevalidität darüber Auskunft geben soll, ob ein Messergebnis zuverlässig auf zu- künftige Ergebnisse von Messungen schließen lässt. Wenn Ergebnisse durch verschiedene Untersuchungsinstrumente gewonnen werden und dennoch übereinstimmende Ergebnisse aufweisen, liegt Übereinstimmungsgültigkeit vor, beispielsweise in der Schule bei mündlicher und schriftlicher Leistung (Sacher 2014, S. 40). Konstruktvalidität setzt voraus, dass „die gemessene Eigenschaft mit einem theoretischen Modell übereinstimmt“ (ebd., S. 41). Die zuletzt genannte Testfairness bedeutet, dass niemand durch die Aufgabenstellung benachteiligt werden darf (ebd., S. 41).
Winter unterstreicht, dass neben der Objektivität insbesondere die Validität bemängelt wird, da „eine Reihe sachfremder Einflüsse die Aussagekraft beeinträchtigen können“ (Winter 2014, S. 42f.). In der Praxis ist oft der soziale Hintergrund ein beeinflussender Faktor der Bewertung. So kommt es häufig vor, dass beispielsweise. im Deutschunterricht Kompetenzen geprüft und bewertet werden, welche „in der Familie erworben wurden“ oder auf „Lebenserfahrungen“ zurückgehen (Sacher 2014, S. 38). Genauer betrachtet sind dies nicht nur familiäre Einflüsse, sondern schichtspezifische Einflüsse, denn die Bewertung fällt bei Kindern aus der Unterschicht fast immer schlechter aus als bei Kindern aus gehobenen Schichten. Des Weiteren wurde festgestellt, dass beispielsweise Mädchen anders bewertet werden, als die erfasste Leistung verlangen würde (vgl. Ingenkamp 1989, S. 60; Ziegenspeck 1999, S. 145f.).
Zu beachten ist auch die Prognosevalidität, sprich der Zusammenhang von Leistungsbewertungsergebnissen und Studien- oder beruflichem Erfolg. Dieser Zusammenhang ist mit einem Durchschnittswert der Korrelation von Abiturnoten und Studienerfolg von 0,46 kaum gegeben. Der Notendurchschnitt des Abiturzeugnisses sagt vergleichbar wenig über den Studienerfolg aus und der einzige verwertbare Zusammenhang besteht zwischen Fachnoten und Examensnoten im selben Studienfach (vgl. Sacher 2014, S. 45). Auch Winter (2014, S. 70) bestätigt: „Für Prognosen über Schul-, Studien- oder Berufserfolg sind die Zensuren im Einzelfall nicht brauchbar und entsprechende Entscheidungen sind mit hoher Fehlerquote belastet“. Was die mangelhafte Prognosefähigkeit der Leistungsbewertung angeht, so schreibt Ziegenspeck, dass Zensuren fälschlicherweise als Messwerte behandelt werden und anschließend „ungenaue und unzulässige Meßdaten [sic!] mit mathematischen Operatoren ,veredelt‘ werden“ (Ingenkamp zit. nach Ziegenspeck 1999, S. 120).
Um etwas bewerten zu können, muss zunächst ein Ausgangspunkt festgelegt werden, von welchem aus bewertet wird. Ansonsten lässt sich keine Aussage über positive oder negative Leistung treffen, sondern lediglich ein Leistungsbericht anfertigen. Für die Leistungsbewertung von Schülern werden drei Bezugsnormen herangezogen, welche nun dargestellt werden (vgl. Sacher 2014, S. 83f.).
Die soziale Norm, auch gruppenbezogener Maßstab genannt, stellt die Leistung des Einzelnen ins Verhältnis mit der Leistung der Gruppe. Gute oder schlechte Leistung entscheidet sich hier anhand höherer oder geringerer Leistung des Einzelnen im Vergleich zur Bezugsgruppe (vgl. Sacher 2014, S. 84).
Die kriteriale Norm wird auch sachbezogener Maßstab genannt (Ziegenspeck 1999, S. 131), da ihr als Bezugspunkt der Bewertung „fachlich-sachliche Anforderungen zu Grunde“ liegen, „die unabhängig von der Gruppe formuliert werden“ (Sacher 2014, S. 84f.). Eine solche rein inhaltliche Anforderung sollte theoretisch das Zentrum der Leistungsbewertung darstellen (vgl. Winter 2014, S. 64f.)
Bei der individuellen Bezugsnorm wird eine vorausgegangene Leistung der Person als Bezugspunkt der folgenden Bewertung genutzt, daher nennt Ziegenspeck (1999, S. 131) diese Norm auch „personenbezogenen Maßstab“. Bewertet wird hier, ob und wie weit sich eine Leistung verbessert, beziehungsweise verschlechtert hat, sprich „der Lernfortschritt“ (vgl. Sacher 2014, S. 85).
Die Bezugsnormen sind unter anderem aufgrund der vorausgegangenen Darstellung der Gütekriterien kritisch zu betrachten. Die soziale Bezugsnorm ist insbesondere zu kritisieren, da Leistungsbewertung mit nur mangelhafter Information über vergleichbare, beispielsweise parallele Klassen stattfindet und die Zusammensetzung der Klasse dadurch willkürlich beziehungsweise zufällig ist (vgl. Ingenkamp 1989, S. 59). Zwar wird vorausgesetzt, dass die Lernenden einen ähnlichen Wissens- und Kompetenzstand haben, dies ist aber statistisch nicht gesichert (vgl. Kapitel 2.2.3) und führt zu dem Urteil, dass die soziale Bezugsnorm keine zuverlässige Aussage über den Einzelnen treffen kann. Ein weiteres Problem der sozialen Be- zugsnorm ist, dass „es immer Gewinner und Verlierer auf der Notenskala“ gibt und im Vergleich schwächere Lernende durch das stetige Besetzen der letzten Rangplätze entmutigt werden (vgl. Winter 2014, S. 48). Ebenfalls zu hinterfragen ist die am Durchschnitt ihrer Klas- senkameraden/innen gemessene Deklarierung von Lernenden als gut oder schlecht (vgl. ebd., S. 65).
Wird die kriteriale Bezugsnorm bei der Leistungsbewertung herangezogen, so steht auch diese unter dem Einfluss der Mängel der Gütekriterien. Eine gleichmäßige Bewertung kann folglich auch bei vorher festgelegten Kriterien nicht als gegeben betrachtet werden (vgl. Winter 2014, S. 65). Der kriterialen Bezugsnorm ist des Weiteren hinzuzufügen, dass sie „ eher unflexibel, undifferenziert und uniform “ ist und die Gefahr besteht, dass die erwarteten Kriterien rein normativ sind, aber nicht die „anlagemäßige[n] Grenzen als auch Umwelteinwirkungen“ beachten und folglich zu Überforderung führen können (Sacher 2014, S. 93). Eine weitere Problematik der kriterialen Norm ist explizit die „Außengeleitetheit und Außenbestimmtheit“, welche von externen Interessengruppen mitbestimmt und beeinflusst werden können (vgl. ebd., S. 88). Winter ergänzt, dass sich bei Anwendung dieser Bezugsnorm „die Lage der schwächeren Schüler vermutlich nicht verbessern und ihnen die große Distanz ihrer Leistung gegenüber dem Geforderten nur noch deutlicher machen“ würde. Dies wirkt sich wiederum negativ auf die „motivationsrelevante Befindlichkeit“ der Lernenden aus (Winter 2014, S. 48).
Für alle Bezugsnormen ist es als problematisch zu betrachten, dass die zur Bewertung herangezogene Norm nicht offen gelegt wird (vgl. Sacher 2014, S. 94). Die Einschränkung des Blickfeldes durch die bezugsnormorientierte Bewertung, welche jeweils nur die Betrachtung eines Ausschnitts der Leistung ermöglicht, ist ein weiteres allgemeines Problem. Die Lupe der Bezugsnormen lässt jegliche erbrachte Leistung außerhalb ihres Blickpunktes unscharf erscheinen und so wird diese Leistung leicht übersehen (vgl. Winter 2014, S. 66). Darüber hinaus folgt die Bewertung anhand dieser Normen der vorausgegangenen, fehlerbehafteten Leistungsmessung. Die Bewertung anhand einer ungenauen Messung ist folglich inakzeptabel, auch wenn die Bezugsnormen perfekt wären (vgl. Sacher 2014, S. 85).
Der in dieser Arbeit verwendeten Definition von Leistungsbewertung werden verschiedene Funktionen zugeschrieben, von denen einige sehr kritisch betrachtet werden müssen und andere nicht über ihren normativen Charakter hinausgehen. Allgemein ausgedrückt wird die Leistungsbewertung benutzt, „um erfasstes Schülerverhalten anhand eines vorgegebenen Maßstabs (der Zensurenskala) zu kategorisieren und in eine Reihenfolge zu bringen“ (Jürgens 2010, S. 56). Es ist deshalb zwischen zwei grundlegenden Funktionen dieser Aktion zu unterscheiden. Die pädagogische Funktion ist auf das Individuum ausgerichtet, um dessen „Persönlichkeitsentfaltung“ zu fördern und zugleich „zur Optimierung von Lernprozessen“ beizutragen (vgl. ebd., S. 56). Die gesellschaftliche Funktion erfüllt Erwartungen, „welche von anderen gesellschaftlichen Bereichen an die Schule gerichtet werden“ (Beutel, Vollstädt 2000, S. 28) und ist beispielsweise auf spätere Verteilung von „gesellschaftlichen und beruflichen Positionen“ ausgerichtet (Breidenstein, Meier, Zaborowski 2011, S. 17). Die Leistungsbewertung in Form von Noten unterstreicht darüber hinaus ein Machtgefüge, nach welchem die Lehrperson die Macht der Belohnung oder Sanktion hat und diese teilweise auch zur Disziplinierung anstatt zur Bewertung von Leistung gebraucht (vgl. Winter 2014, S. 52f.). Im Folgenden werden die Funktionen der Leistungsbewertung und ihre Teilaspekte detaillierter dargestellt, wobei hinzuzufügen ist, dass „eine eindeutige Abgrenzung“ der jeweiligen Funktionsaspekte nicht möglich ist (Ziegenspeck 1999, S. 98).
Zu den pädagogischen Funktionen zählt Ziegenspeck zunächst allgemein eine verstärkende Wirkung von Zensuren, welche eine gesteigerte Lernmotivation herbeiführen sollen, zugleich aber auch einen ermahnenden Charakter und schließlich einen erzieherischen Effekt haben können (vgl. ebd., S. 107).
Werner Sacher vermeidet eine strikte Unterteilung in pädagogische und gesellschaftliche Funktionen und beschreibt Funktionen, welche in beiden Bereichen Anwendung finden. Ergebnisse einer Leistungsbewertung dienen unter anderem dazu, „über den erreichten Lernstand und die gemachten Lernfortschritte“ sowie über die mögliche Notwendigkeit, die „Lernanstrengungen [zu] intensivieren“, zu informieren (Sacher 2014, S. 28). Eine disziplinierende Funktion der Leistungsbewertung ist insofern auch pädagogisch, solange sie versucht „die natürlichen und wirklichen Folgen eines unangemessenen Lernverhaltens vor Augen zu führen“ (ebd., S. 29). Die „Lern- und Leistungserziehung“ durch Leistungsbewertung bewirken eine pädagogische Funktion, indem sie „zur eigenverantwortlichen Gestaltung“ von Lernprozessen beitragen (ebd., S. 30). Im weitesten Sinne ist auch die in der Schule allgegenwärtige Sozialisation eine pädagogische Funktion der Leistungsbewertung, da geübt wird, Teil einer leistungsorientierten Gesellschaft zu sein (vgl. ebd., S. 24).
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