Bachelorarbeit, 2021
45 Seiten, Note: 1,5
Anhang
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Ausgangslage
1.2 Erkenntnisinteresse und Zielsetzung
1.3 Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise
2 Einordnung der zentralen Begriffe
2.1 Das Erlebnis
2.2 Das Abenteuer
2.3 Wagnis und Wagnissport
2.4 Risiko und Risikosport
2.5 Der Extremsport
3 Erklärungsansätze für das Aufsuchen von Wagnissen
3.1 Gesellschaftstheoretische Hintergründe
3.2 Flow-Theorie
3.3 Sensation Seeking
3.4 Anreiztrias
4 Wagnis im Kontext Schule
4.1 Die pädagogische Perspektive „Etwas wagen und verantworten“
4.2 Die Umsetzung des Wagnisses
4.2.1 Studie nach Schmoll
4.2.2 Studie nach Poweleit und Ruin
4.3 Die Sicherheitsdebatte
4.4 Reflexion und Selbstkonzept
5 Diskussion: Die Bedeutung des Wagnisses im Schulsport
5.1 Die Repräsentation des Wagnisses in der Schule
5.2 Die Rahmenbedingungen
5.3 Die schwache Repräsentation des Wagnisses
5.4 Der Mehrwert des Wagnisses
5.5 Kritik am Wagnis
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Anhang
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
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Ein Blick auf den Wandertag der 7. Klasse. Die Schüler*innen halten sich in einem Hochseilgarten auf. Die gesamte Klasse hat den Parcours hinter sich gebracht. Es fehlt nur noch das letzte Element: ein Sprung aus 10 Metern Höhe mit einem kurzen Stück freien Falls. Ein Schüler steht lange oben und überlegt. Die anderen schauen ihn erwartungsvoll an. Schließlich dreht er sich um und steigt über die Hängeleiter ab. War diese Erfahrung für den Schüler gewinnbringend? Hat er Mut bewiesen, indem er ,Nein‘ gesagt hat? Wie geht die Lehrkraft damit um?
Situationen wie die beschriebene, sind Wagnissituationen. Vorzufinden sind diese in diversen Sportbereichen und weisen für Kinder und Jugendliche einen enormen Aufforderungscharakter auf. Wagnisse sind höchst individuell, da jede und jeder Einzelne andere Situationen als ein persönliches Wagnis auffasst. Das Empfinden des Wagnisses hängt vom persönlichen Erleben ab. In der Schule sollen Kinder und Jugendliche mit diesem Themenkomplex vertraut gemacht werden und somit wertvolle Erfahrungen sammeln und sich dadurch weiterentwickeln. In dieser Arbeit soll es um das Wagen im pädagogischen Kontext an Gymnasien in NRW gehen.
Dieses Thema ist von Bedeutung, da es einen wesentlichen Teil zur ganzheitlichen Bildung eines jeden Schülers und einer jeden Schülerin beiträgt. Indem das Wagnis als fester Bestandteil in die Rahmenvorgaben (vgl. MSW NRW, 2001) aufgenommen wurde, ist die Bedeutung des Wagnisses offiziell bestätigt. Die Aufnahme der Perspektive hat zum Ziel, die Handlungskompetenzen und Fähigkeiten der Schüler*innen zu erweitern. Sie sollen in entsprechenden Handlungsfeldern mit Wagnissen konfrontiert werden und daran wachsen. Jedoch kommt es bei der tatsächlichen Umsetzung von Wagnisaspekten zu einer großen Diskrepanz zu den Vorgaben des Ministeriums. Das Wagnis und seine Pädagogische Perspektive spielen eine untergeordnete Rolle im schulischen Kontext, wie die angeführten Studien (vgl. Schmoll, 2015 und Poweleit & Ruin, 2016) zeigen. Dies ist der Tatsache zuzuschreiben, dass Lehrkräfte bei der Umsetzung häufig mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert werden können. Angelehnt an dieses Studien, ist es wichtig einige, der oben genannten Forschungsfragen aufzugreifen und im Zuge diese zu beantworten.
Damit hat das Thema eine Relevanz für Lehrkräfte, die die Hauptakteure darstellen, sowie für das Ministerium für Schule und Weiterbildung, um sich die Realität der Wagnisumsetzung vor Augen zu führen und gegebenenfalls nachsteuern zu können.
Bei der Literaturrecherche im Bereich Wagnissport wurde der Aspekt der gleichwertigen Repräsentation der pädagogischen Perspektiven vertieft. Die Forschungsmotivation ist es zu klären, wie das Wagnis in der Schule repräsentiert ist und welchen Stellenwert es einnimmt.
Um in diesem Themengebiet einen sinnvollen Beitrag zur Forschung zu leisten und einen Mehrwert für die Entwicklung des Schulsports zu generieren, wurden 5 Forschungsfragen entwickelt, auf die der Fokus gelegt wird:
Frage 1: Wie ist das Wagnis in der Schule repräsentiert?
Frage 2: Was ist wichtig, damit Wagnisaktionen stattfinden können?
Frage 3: Was sind die Gründe, für die schwache Repräsentation des Wagnisses?
Frage 4: Warum ist Wagnis für Schüler*innen sinnvoll?
Frage 5: Was kann am Wagnis im Schulsport kritisch gesehen werden?
Das Ziel der Ausarbeitung ist es, durch die Auswertung der Literatur im Laufe der Arbeit die Forschungsfragen beantworten zu können. So soll geklärt werden, wie das Wagnis im Schulsport repräsentiert ist und welche Bedeutung es hat. Außerdem soll geklärt werden, welche Rahmenbedingungen nötig sind und was die Vor- und Nachteile des pädagogischen Wagnisses sind. Es soll in Augenschein genommen werden, inwiefern das Wagnis einen Mehrwert für Schüler*innen haben kann. Durch die Beantwortung der oben genannten Fragen soll eine etwaige Forschungslücke geschlossen werden.
Zum Verständnis der Ausarbeitung wird im Folgenden auf das Vorgehen eingegangen und der Aufbau der Arbeit skizziert.
Da es sich um eine rein literaturgestützte Ausarbeitung handelt, war die Literaturrecherche das wichtigste Instrument, um eine gute Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfragen zu bieten. Dahingehend wurden zuerst Definitionen zu den zentralen Begriffen gesucht. Es wurde darauf geachtet diese möglichst breit aufzustellen, um eine treffende eigene Definition formulieren zu können. Anschließend wurde die Problemstellung der Arbeit näher untersucht. Während der Literaturrecherche wurde der Fokus auf die gleichmäßige Bedeutung der verschiedenen Pädagogischen Perspektiven gelegt. Als sich in dieser Hinsicht ein Ungleichgewicht herausstellte, wurden Studien gesucht, um diesen Aspekt wissenschaftlich zu untermauern. Im Anschluss wurden Argumente für und gegen das Wagen gesammelt, die den Mehrwert, aber auch die Risiken und Herausforderungen des Wagens in den Blick nehmen. Um das Thema ganzheitlich abzurunden, wurden die gesammelten Ergebnisse diskutiert und abschließend kritisch beleuchtet. Es folgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie eine Beantwortung der Forschungsfragen mit einem Ausblick im Fazit.
Um einen Einstieg in die Theorie der Arbeit zu geben, ist es bedeutsam, die wichtigsten Begriffe Erlebnis, Abenteuer, Wagnis(sport), Risiko(sport) und Extremsport zu erklären und zu jedem Begriff eine knappe Arbeitsdefinition zu formulieren. Da es in der Literatur eine Reihe an unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu den Begrifflichkeiten gibt, werden die allgemeingültigsten genannt. Dabei ist anzumerken, dass die Ausdrücke nicht klar zu unterscheiden sind. Viele Autor*innen verwenden mehrere Wörter synonym, wie beispielsweise Schleske (1977, S. 45) kritisiert. Dennoch soll das Ziel dieses Kapitels sein, zu jedem Begriff eine konsensfähige Definition zu erarbeiten. Dafür werden mehrere Autor*innen mit ihren Sichtweisen zitiert, um anschließend mit je einer eindeutigen Begriffserklärung zu schließen. Dabei sei angemerkt, dass es sich bei der Breite der verschiedenen Definitionen, um einen recht breiten Rahmen handeln wird, in dem sich die Begriffsdefinitionen bewegen.
Der Erlebnisbegriff ist ein weit und vage gefasster Ausdruck. Nach Schleske gehen Erlebnisse über den Sport hinaus. So sind nach seinem Verständnis auch „Kneipentouren und Schlägereien, [.] Sexualität und Drogen“ (Schleske, 1977, S. 48) Aspekte, die in den Bereich des Erlebnisses fallen. Nach diesem Verständnis ist der Erlebnisbegriff unbrauchbar für diese Arbeit, da er zu ungenau ist und sich hauptsächlich auf außersportliche Aktivitäten bezieht. Darüber hinaus umfasst das Erlebnis Aspekte, die, so wie Schleske sie präsentiert, im schulischen Kontext keine Relevanz haben, sondern im Freizeitbereich angesiedelt sind und ohne kritische Beleuchtung oder Reflexion stattfinden.
Nach Schulze ist „[d]as Leben schlechthin [.] zum Erlebnisprojekt geworden“ (1992, S. 13). Er führt aus, dass die Menschen Erlebnisse aufsuchen, um positive Momente zu genießen und nach Glück zu streben (vgl. ebd., S. 14). Auch bei Schulze dominiert der freizeitliche, leichtlebige Charakter des Erlebnisses, welches nicht hinterfragt oder reflektiert wird. Es dient lediglich dem Vergnügen und der Belustigung. Dem Begriff fehlt der ernsthafte Charakter, deswegen wird der Begriff des Erlebnisses nachfolgend vermieden, jedoch treten verwandte Begriffe im Folgenden auf.
Abenteuer gelten vor allem im kindlichen Bereich als Möglichkeit, Neues auf spielerische Weise zu entdecken (vgl. Becker, 2005, S. 72). In diesem Kontext geht man nicht von großen Gefahren aus, dennoch wird das „eigenverantwortlich[e] Handeln“ (Böttcher, 2017a, S. 17) durch die Konfrontation mit etwas Fremdem erprobt. Schleske ergänzt die Merkmale „des Überraschenden und Zufälligen“ (Schleske,1977, S. 45), die für ihn das Abenteuer prägen. An diese Charakteristika knüpft auch Neumann an, der im Abenteuer eine Unternehmung mit unsicherem Ausgang sieht (vgl. Neumann, 1999, S. 9). Weiterführend schreibt Becker dem Abenteuer eine „Lerngelegenheit“ (1994, S. 16) zu. Es können Primärerfahrungen mit „geringer Komplexität“ (ebd.) gemacht werden, wobei die Folgen des Handelns recht gering und zudem gut abzuschätzen sind (vgl. ebd.). Becker ergänzt den Abenteuerbegriff um den Aspekt der Identitätsbildung. Für ihn stellt dies das Ziel des Abenteuers dar. Durch Gespräche und Austausch wird so das Erlebte zum Erfahrungsschatz (vgl. Becker, 2002, S. 10). Becker spricht hiermit den Aspekt der Reflexion an, der das Abenteuer wertvoller und langfristig brauchbar macht.
Alle Autor*innen, die im Abenteuerkontext rezipiert wurden, liefern wichtige und sinnvolle Teilaspekte, die zu einer eigenen Definition verknüpft werden sollen. Die Arbeitsdefinition zum Thema Abenteuer, die in dieser Arbeit Verwendung findet, lautet demnach:
Das Abenteuer basiert auf eigenverantwortlichem Handeln und bietet so eine Lerngelegenheit. Der Ausgang des Abenteuers ist stets zufällig, unsicher und hat höchstens geringe Folgen. Durch Austausch und Reflexion kann das Abenteuer zur Identitätsbildung beitragen.
Als vermutlich wichtigster Begriff der Arbeit wird der Wagnisbegriff behandelt. Das Wagnis kann sowohl dem freizeitlichen Bereich als auch dem pädagogischen Bereich zugeordnet werden. Bei der Betrachtung des Ausdrucks fällt auf, dass sich das Wagnis auf eine konkrete Person bezieht, die sich einer Wagnissituation aussetzt (vgl. Hebbel-Seeger & Liedtke, 2003, S. 111). Das Individuum steht im Zentrum. Geht man ein Wagnis ein, so ist es eine Situation des „unsicheren Handelns“ (Pfitzner, 2001, S. 85). Diese ist aktiv herbeigeführt und hat das Ziel, eine Unsicherheit selbst wahrzunehmen (vgl. Neumann, 1999, S. 67). Durch ein Wagnis hat man die „Möglichkeit [...] Grenzsituationen zu erfahren [...]. Tod und Leid als mögliche Folgen des Wagens verleihen einen existenziellen Charakter“ (ebd., S. 62). Für Neumann wird das Wagnis durch die Möglichkeit eines schuldvollen Ausgangs charakterisiert, der im schlimmsten Fall mit dem Tod des Wagenden enden kann, aber mindestens schwere Verletzungen mit sich bringt (vgl. ebd., S. 62). Die Definition für das Wagnis mit freizeitlichem Charakter wird für diese Arbeit wie folgt lauten:
Das Wagnis mit freizeitlichem Charakter ist geprägt durch ein unsicheres Handeln, welches das Individuum aktiv aufsucht und damit direkt konfrontiert wird. Es erfährt die Grenzsituationen mit existenziellem Charakter am eigenen Körper und schließt dabei einen schuldvollen Ausgang nicht aus.
Demgegenüber steht das Wagnis im pädagogischen Kontext. Hier soll ein schwerwiegender Ausgang auf jeden Fall verhindert werden. Im Zentrum stehen viel mehr „besondere Erfahrung[en]“ (Schwarz, 1968, S. 152), die über ein Erlebnis hinausgehen und durch „individuelle Verarbeitung und Reflexion“ (ebd.) nutzbar gemacht werden. Bei einem pädagogischen Wagnis ist die psychische Komponente von Bedeutung, damit meinen Hebbel-Seeger und Liedtke, dass der oder die Wagende nicht unbedingt „seine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel [setzt], sondern vielleicht nur die Kontrolle über die Situation oder das Bild, das andere von ihm haben“ (Hebbel-Seeger & Liedtke, 2011, S. 112).
Im Zentrum soll die Persönlichkeitsbildung stehen, aber auch die Sozial- sowie Sicherheitsund Umwelterziehung soll thematisiert werden (vgl. Neumann, 1999, S. 156). Die Definition des Wagnisses im pädagogischen Kontext lautet daher:
Das Wagnis im pädagogischen Kontext bezieht sich direkt auf das Individuum, welches eine Situation unsicheren Handelns selbst aufsucht. Auch hier kann der Ausgang der Situation eine Verletzung mit sich ziehen, was es zu vermeiden gilt. Viel mehr steht der pädagogische Wert im Fokus, der durch Austausch und Reflexion erreicht werden soll, dabei stehen Ich-Erfahrungen und die psychische Komponente des Individuums im Zentrum.
Mit dem Wagnis eng verbunden steht der Begriff des Wagnissports. Dieser weist vorerst dieselben Charakteristika auf wie das Wagen im Freizeitbereich. Jedoch unterscheidet er sich in einem wichtigen Punkt. Denn „[d]ie Pole Leben oder Tod ersetzen im Wagnissport - so die These - die Konkurrenz und ihr Spannungsgefüge von Sieg und Niederlage“ (Stern, 2003, S. 55). Somit wird das Gewinnen und Verlieren aus dem Wagnisbereich verdrängt und stattdessen findet der oben beschriebene Ernstfallcharakter auch in dieser Definition seinen Platz.
Neben dem Wagnis wird häufig der Begriff Risiko verwendet. Des Öfteren werden die beiden Ausdrücke synonym verwendet. Hier soll eine klare Abgrenzung zwischen Wagnis und Risiko geschaffen werden.
Wenn man die Geschichte des Risikobegriffs betrachtet, fällt auf, dass dieser seine Wurzeln im sechzehnten Jahrhundert in Europa in der Versicherungsbranche hat (vgl. Gissel & Schwier, 2003, S. 8). Damit wird der erste Unterschied zum Wagnis deutlich, denn dieses hat keinen gesellschaftlichen Hintergrund, da dort, wie oben beschrieben, das Individuum im Fokus steht. Demnach wird das Risiko im gesellschaftlichen Kontext wie folgt beschrieben: ein Risiko ist „ein Wagnis, das man bewusst im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten eingeht. [...] Der Begriff des Risikos setzt eine Gesellschaft voraus, die aktiv danach strebt mit der Vergangenheit zu brechen“ (Giddens, 2001, S. 35). Auffällig ist hierbei die Verwendung des Wagnisbegriffs, um das Risiko zu beschreiben. Dadurch wird deutlich, dass die Ausdrücke Wagnis und Risiko eng miteinander verknüpft sind.
Betrachtet man die lexikalische Bedeutung des Risikos, findet man folgenden Eintrag: Risiko meint „[d]ie Möglichkeit, dass eine Handlung oder Aktivität einen körperlichen oder materiellen Schaden oder Verlust zur Folge hat oder eine unmittelbare Bedrohung bezeichnet“ (Brockhaus-Enzyklopädie, 1992, S. 440). Bei dieser Definition wird der Fokus auf die Körperlichkeit gelegt, die mit dem Risiko einhergeht.
Betrachtet man das Risiko aus der technischen Perspektive, so definieren Hebbel-Seeger und Liedtke es als ein „Produkt aus Schadenshöhe und Schadenswahrscheinlichkeit“ (Hebbel-Seeger & Liedtke, 2003, S.110). Luhmann (1992) ergänzt diese Beschreibung und bringt die Komponente der Entscheidung mit hinein. Für ihn bedeutet Risiko einen Schaden in Kauf zu nehmen, der aus einer eignen Entscheidung resultiert (vgl. Luhmann, 1922, S. 142).
Betrachtet man den Risikobegriff aus einer sportwissenschaftlichen Sicht, ist Kurz zu nennen. Er führt aus, dass das Risiko „durch Gefahren charakterisiert wird, die von außen auf das Individuum zukommen und die es durch seine eigenen Fähigkeiten nicht entscheidend verringern kann“ (Kurz, 1997, S. 28). Müller nennt diesen Aspekt den „Ernstfallcharakter des Risikos“ (Müller, 2008, S. 46). Dieser bringt die Möglichkeit mit sich, komplett zu scheitern und gegebenenfalls das Leben zu verlieren, aber mindestens schwere Verletzungen davontragen zu können. Weiterhin bringt Müller die Essenz des Risikos auf den Punkt: „Die Verwandlung von Unsicherheit in Sicherheit bedeutet im Risikosport ja unter Umständen eine Überlebensaufgabe“ (ebd.).
Trotz der verschiedenen Sichtweisen haben alle Autoren und Autorinnen den gemeinsamen Konsens, dass Risiko etwas mit Verlust zu tun hat. Auf dieser Basis und den anderen genannten Aspekten folgt eine eigene Arbeitsdefinition:
Ein Risiko wird bewusst, aber aufgrund von einer eigenen Entscheidung eingegangen. Dabei ist bekannt, dass man sich in eine Bedrohungssituation begibt, die mit einem körperlichen und oder einem materiellen Schaden einhergehen kann. Dies nennt man den Ernstfallcharakter eines Risikos.
Mit dem Risiko stark verbunden ist der Risikosport. Dieser soll im Folgenden betrachtet werden. Brandauer definiert den Risikosport aus einer sportwissenschaftlichen Sicht, nach der „jene sportliche Betätigung bezeichnet [wird], in denen individuelle Verhaltensfehler, aber auch technische Mängel, schwerwiegende Auswirkungen haben können, was die Gesundheit und das Leben der Akteure betrifft“ (Brandauer, 2002, S. 116). Dieser Definition stimmen andere Sportwissenschaftler*innen und Psycholog*innen wie Kuhn und Todt (vgl. Kuhn & Todt, 2003, S.13) weitgehend zu. Des Weiteren kann eine Verbindung vom Risikosport zum Extremsport hergestellt werden: „Im Risikosport stehen körperliche Primärerfahrungen und außeralltägliche Sinneseindrücke im Vordergrund“ (Böttcher, 2017b, S. 19). Durch die zunehmende Technisierung unseres Alltagslebens, wird das Erleben von Ermüdung und Schweiß viel seltener. Diese sind für den Risikosport prägend, stellte Bette (vgl. Bette, 2005, S. 309) fest.
Zusammenfassend kann man festhalten:
Im Risikosport können die Auswirkungen eines Scheiterns im Sport auf den Körper signifikant sein. Diese werden gerne in Kauf genommen, um dem Alltag zu entkommen und andere, neue reizvolle Erfahrungen zu machen.
Dem Risikosport nah verwandt ist der Extremsport, trotzdem sollten die Begriffe nicht gleichgesetzt werden. Extremsport meint einen Grenzbereich, in dem sich junge Athlet*innen bewegen und wo „bereits kleine Fehler fatale Folgen haben, also zu schweren Verletzungen oder zum Tod führen können“ (Orley, 2014, S. 3). Für Orley zählen zum Beispiel, das Klettern ohne Sicherung an hohen Felswänden, das Surfen auf riesigen Wellen oder das Hinabfahren eines Wasserfalls im Kajak zum Extremsport (vgl. ebd.). So ist der Extremsport durch eine „äußerste körperliche und seelische Beanspruchung über einen längeren Zeitpunkt“ sowie durch ein „erhöhtes Lebensrisiko“ (Aufmuth, 1983, S. 21) gekennzeichnet.
Schwierigkeiten bei der Eingrenzung des Extremsports macht das Adjektiv extrem. Denn was gilt als extrem? Ebenso kann zum Beispiel Extrem-Gehen, das schnelle Gehen über eine lange Strecke, unter den Begriff Extremsport fallen, obwohl vom Gehen keine grundsätzliche Gefahr ausgeht. „Der Begriff Extremsport ist aufgrund seiner Vieldeutigkeit möglichst zu vermeiden, es sei denn, das Extrem des jeweiligen Sports würde näher bestimmt werden“ schlussfolgert Müller (2008, S.51).
Die Bezeichnung Extremsport wird somit im Kontext dieser Arbeit als problematisch aufgefasst und im Folgenden vermieden, da der Begriff einerseits nicht klar eingegrenzt werden kann und andererseits für den schulischen Kontext irrelevant ist, da dort keine schweren Verletzungen in Kauf genommen werden. Trotzdem wurde der Begriff kurz aufgenommen, um eine Abgrenzung zu anderen Bereichen des Wagens zu schaffen. Auf eine eigene Definition wird verzichtet.
Dieses Kapitel soll dazu dienen, gesellschaftstheoretische sowie pädagogische und psychologische Hintergründe für das Eingehen von Wagnissituationen zu umreißen und dahingehend verschiedene Erklärungsansätze vorzustellen, die in der Sportpädagogik hinsichtlich des Wagens rezipiert werden. Dazu wird zunächst eine Einordnung im gesellschaftstheoretischen Rahmen vorgenommen, indem die zwei relevantesten gesellschaftstheoretischen Hintergründe von Schulz und Beck in ihren Ansätzen vorgestellt werden (Kap. 3.1). Es folgt eine knappere Vorstellung eines psychologischen, motivational geprägten Ansatzes: der Flow-Theorie, welche durch Csikszentmihalyi begründet und durch seine Studie untermauert wird (Kap. 3.2). Anschließend wird die genetisch begründete Theorie des Sensation Seekings von Zuckerman in ihren groben Zügen betrachtet und durch eine knappe Darstellung der Studie Schusters eingerahmt (Kap.3.3). Ein letzter relevanter Ansatz, nämlich der der Anreiztrias, welcher von Rheinberg geprägt ist, wird im letzten Unterkapitel (Kap. 3.3) aufgegriffen.
Jedes Unterkapitel schließt, indem es auf den Umgang mit Wagnissen im Alltag oder einen pädagogischen Kontext bezogen wird, um so eine Verbindung zum Thema der Arbeit herzustellen.
Im Folgenden gilt es, den Wagnis- und Risikosport gesellschaftstheoretisch einzuordnen. Aufgrund der Vielzahl der Theorien im soziologischen Bereich muss eine Auswahl getroffen werden, die für das Thema der Arbeit relevant erscheinen. Demnach werden einige Theorien ausgeschlossen, da sie entweder den Wagnisaspekt nicht berücksichtigen oder für die Fragestellung der Arbeit nicht zielführend sind.
Um herauszustellen, auf welchen Hintergründen der Wagnissport basiert, wird im Folgenden die Erlebnisgesellschaft (Schulze, 1992) und die Risikogesellschaft (Beck, 1986) in den Blick genommen. Es folgt ein knapper Umriss beider Theorien.
Die Individuen der Risikogesellschaft, nach Beck, sind ständig abstrakten Risiken ausgesetzt. Diese können naturwissenschaftlicher Natur sein, wie „Smog und radioaktive Strahlung“ oder sozialer Natur, wie „Arbeitslosigkeit“ (Beck, 1986, S. 31). Es handelt sich bei diesen Risiken nicht „um ein frei wählbares oder individuell beeinflussbares Risiko, sondern um technisch-ökonomische oder wissenschaftlich-technische Risiken“ (Böttcher, 2017b, S. 14). Diese Risiken sind zwar nicht neu für die Gesellschaft, werden jedoch durch die „wachsende Dynamisierung“ (ebd.), welche durch die Industrialisierung hervorgerufen wird, weiter verschärft. Nach Beck sehen sich alle Menschen der Risikogesellschaft individuell in gleich mehreren Risikosituationen, die von höheren Gewalten ausgehen, die sie selbst nicht beeinflussen können.
Die Erlebnisgesellschaft nach Schulze strebt nach Genuss, Erlebnis und Freizeitvergnügen (vgl. ebd., S. 16). Die Menschen sind stets auf „der Suche nach Glück“ (Schulze, 1992, S.14). Auch Schulze sieht bei der Erlebnisgesellschaft eine „zunehmende Individualisierung“ (ebd., S. 15). Dadurch ergeben sich Chancen, wie z. B. keinen Rollenzwang durch eine bestimmte Herkunft, aber auch Risiken durch das eigenständige Treffen von Entscheidungen, für die jedes Individuum selbst verantwortlich ist (vgl. Böttcher, 2017b, S. 15).
Um die gerade beschriebenen Theorien für diese Arbeit brauchbar zu machen, werden sie auf den Wagnisaspekt bezogen. Dazu werden die sportsoziologischen Erkenntnisse von Becker (1994) herangezogen, die sich schwerpunktmäßig auf Schulze (1992) und Beck (1986) beziehen.
Becker erklärt in seinem Artikel, dass wir Menschen in unserem schnelllebigen Alltag auf Überraschungen treffen, die uns aus dem Konzept bringen. Dadurch erleiden wir „Sicherheitsverluste und Gewissheitsschwund“ (Becker, 1994, S. 4). Weiterhin ist unser Leben zeitlich stark strukturiert, weshalb wir ständig auf einer „angstvollen Such[e] nach Sicherheiten“ (ebd.) sind, um unsere Termine und unser Freizeitleben zu koordinieren. Aber gleichzeitig sind wir zu einer „lustvollen Suche nach risikoreichen und spannenden Aktivitäten“ (ebd., S. 5) hingezogen, die unser Leben aufregender und genussvoller macht. Nach Becker befinden wir uns in einem ständigen Zwiespalt zwischen dem Streben nach Sicherheit und dem aufregenden Abenteuer. Er betont weiterhin, dass es nicht nur die Abenteurer*innen und Entdecker*innen sind, die mit riskanten Entscheidungen konfrontiert sind, sondern es sich um alle Menschen der Gesellschaft handelt (vgl. ebd., S. 6). Becker stellt Untersuchungen über unser Alltagsleben und Abenteuer- und Wagnissituationen an und stellt erstaunlich viele Parallelen fest. Als Beispiel ist die Ähnlichkeit zwischen „Abenteuern und jugendlicher Entwicklung“ (Böttcher, 2017a, S. 17) zu nennen: der spielerische Umgang mit Neuem im Jugendalter ähnelt dem abenteuerlichen Unterwegssein. Von beiden Kontexten gehen lediglich geringe Gefahren aus und man wird mit etwas Fremdem konfrontiert, das in einem Lernzuwachs enden soll.
Abschließend ist festzuhalten, dass die gesellschaftstheoretischen Hintergründe eine Verbindung zum Wagnisumgang der Gesellschaft erkennen lassen. Diese Verbindung äußert sich nach Becker unteranderem im spielerischen Abenteuer und stärkt die Gesellschaft mit Kompetenzen und Erfahrungen. Nach Becker gilt das Wagnis und das Abenteuer als ein „optimales Lernmodell für die Bewältigung für die Anforderungen der modernen Gesellschaft“ (Becker, 1994, S. 16) und bietet so eine gute Grundlage für die Wagniserziehung.
Eine weitere Ursache für das Aufsuchen von Wagnissen kann in einem psychologischen Ansatz gesehen werden. Dieser ist unter dem Namen Flow-Theorie bekannt.
Die Flow-Theorie wurde von Csikszentmihalyi im Jahre 1975 begründet und basiert auf der motivationstheoretischen Annahme, dass man durch intrinsische Motivation in einer Tätigkeit so stark aufgeht, dass man jegliches Zeit- und Risikogefühl verliert und seine Umgebung ausblendet - man gerät in den Flow. Der Akteur geht ganz in seinem Tun auf (vgl. Csikszentmihalyi, 1975, S. 10). Voraussetzung, um in den Flow zu kommen, ist „ein gewisses Maß an Erfahrung und Können“ (Csikszentmihalyi, 2004, S. 103). Bei einem optimalen Verhältnis zwischen Fähigkeit und Anforderung - dann, wenn eine Überforderung und eine Unterforderung ausgeschlossen ist (vgl. Stoll & Kiefer, 2003, S. 71) - stellt sich der Flow-Zustand am wahrscheinlichsten ein. Dies ist am Modell in Abbildung 1 zu erkennen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Weitere Merkmale des Flows sind „das Verschmelzen mit der Aktivität, [...] Kontrollerleben sowie das Gefühl optimaler Beanspruchung von Körper und Geist“ (Böttcher, 2017b, S. 24). Insbesondere das Merkmal der kompletten Kontrolle über eine riskante Situation ist in Bezug auf das Wagnis von spezieller Bedeutung. In diesem Zusammenhang merkt Böttcher an, dass den Akteur*innen, die sich im tiefen Flow in riskanten Situationen befinden, das Risiko nicht als solches erscheint, da sie nach ihrem Empfinden die komplette Kontrolle über die Situation haben (vgl. ebd., S. 25).
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