Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Masterarbeit, 2021
75 Seiten, Note: 1,0
Zusammenfassung
Abstract
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Placebo
2.1 Geschichte des Placebos
2.2 Faktoren und Mechanismen
2.2.1 Erwartungen
2.2.2 Konditionierung
2.2.3 Kommunikation und Umgebung
3. Nocebo
3.1 Studien
4. Priming
4.1 Formen des Primings
4.1.1 Perzeptuelles Priming
4.1.2 Semantisches Priming
4.1.3 Affektives Priming
4.2 Priming-Experimente
4.2.1 Semantische Priming-Experimente
4.2.2 Affektive Priming-Experimente
5. Beobachter-Effekte
5.1 Versuchsleiter-Effekte in der Forschung
5.2 Quanten-Bayesianismus
5.3 Convivial Solipsism
5.4 Unus Mundus-Theorie
5.5 Beobachter-Effekte in der Quantentheorie
5.5.1 Die Unschärferelation
5.5.2 Die Superposition
5.5.3 Die Dekohärenz
5.6 Das Gestaltkonzept
6. Empirischer Teil
Methoden
Teilnehmende
Stichprobe
Materialien
Ablauf
Ergebnisse
7. Diskussion
Literaturverzeichnis
Als Placebo-Effekte gelten die positiven Wirkungen einer Scheinsubstanz oder Scheinbehandlung. Ein Placebo versucht die positiven Wirkungen eines Arzneimittels oder einer Intervention nachzuahmen, ohne aber dabei das spezifische Arzneimittel oder die spezifische Behandlungsmethode zu beinhalten. Als Hauptmechanismen haben sich die Erwartungen auf das Behandlungsergebnis durch den Patienten , assoziative Lernprozesse sowie die Qualität der Beziehung zwischen Patienten und Behandler herausgestellt. Placebo-Effekte können aber auch vom Behandler oder Versuchsleiter ausgehen. Die Erwartungen eines Arztes oder Versuchsleiters auf den Ausgang einer Behandlung können die wahrgenommene Wirksamkeit des Patienten und somit die Ergebnisse der Intervention beeinflussen. Ähnliche Einflüsse auf den Ausgang eines Experimentes durch die Erwartungen des Experimentators sind in der Psychologie aus der Priming-Forschung bekannt. Begründungen, warum die Erwartungen eines Versuchsleiters das Experiment selbst beeinflussen, lassen sich in der Psychologie und der Quantenphysik finden.
In dieser Arbeit werden die unterschiedlichen Wirkfaktoren des Placebo-Effekts aufgezeigt und in einem Online-Experiment nachgestellt. Der Einfluss der Erwartungen eines Versuchsleiters wird herausgearbeitet und mit verschiedenen Theorien aus der Psychologie und der Quantenphysik begründet. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit geben einen Hinweis auf die Objektivität von wissenschaftlichen Studien und Experimenten. Diese scheint nicht immer gegeben zu sein, da auch die Erwartungen des Versuchsleiters einen Einfluss auf die Resultate haben. Das wäre auch eine Erklärung dafür, dass viele Replikationsstudien andere Ergebnisse liefern als die Originalstudien.
Schlagwörter: Placebo, Priming, Quantenphysik, QBismus, Convivial Solipsism, Unus Mundus
The positive effects of a sham substance or treatment are considered placebo effects. A placebo tries to mimic the positive effects of a drug or an intervention, but does not include the specific drug or treatment. The main mechanisms that have emerged are expectations of the patient's treatment outcome, associative learning processes and the quality of the relationship between patient and practitioner. Placebo effects can, however, also originate from the practitioner or test director. A doctor's or investigator's expectations of the outcome of a treatment can affect the perceived effectiveness of the patient and thus the results of the intervention. Similar influences on the outcome of an experiment due to the expectations of the experimenter are known in psychology from priming research. Reasons why the experimenter's expectations influence the experiment itself can be found in psychology and quantum physics.
In this work, the different active factors of the placebo effect are shown and simulated in an online experiment. The influence of the examiners' expectations is worked out and justified with various theories from psychology and quantum physics. The results of the present work give an indication of the objectivity of scientific studies and experiments. This does not always seem to be the case, as the investigator's expectations also have an influence on the results. That would also explain why many replication studies give different results than the original studies.
Keywords: Placebo, Priming, Quantum Physics, QBism, Convivial Solipsism, Unus Mundus
Abbildung 1: Elemente des Behandlungskontextes
Abbildung 2: Neuropsychologische Mechanismen von Placebo und Nocebo
Abbildung 3: ViolEX-Modell
Abbildung 4: Die vier Schritte in der Arzt-Patienten-Beziehung
Abbildung 5: Soziale Verbreitung negativer Informationen
Abbildung 6: Deklaratives und nondeklaratives Gedächtnis
Abbildung 7: Semantisches Netzwerk
Abbildung 8: Affektives Priming-Trial
Abbildung 9: Mechanismen einer Behandlung
Abbildung 10: Korrelationen der Archetypen durch Synchronizität
Abbildung 11: Aufbau eines Doppelspaltexperiments
Abbildung 12: Bahn (Fig. 1) und Orte (Fig. 2) eines Elektrons
Abbildung 13: Kopenhagener Deutung der Kollaps-Theorie
Abbildung 14: Viele-Welten-Theorie
Abbildung 15: Dekohärenz in Abhängigkeit von Subjekt-Objekt-Umwelt
Abbildung 16: M.C. Escher: Sphäre mit Engel und Teufel
Abbildung 17: Gruppenmittelwerte und Standardabweichungen
Tabelle 1: ANOVA-Analyse der Gruppenmittelwerte, gegeben Messzeitpunkte und Treatment
Tabelle 2: Gruppenmittelwerte und Standardabweichungen
Tabelle 3: Richtige Antworten in Pre- und Postgruppe
Tabelle 4: ANOVA-Analyse zum Vergleich der Pre- und Postmittelwerte für die Experimental und Meta-Experimentalgruppe
Tabelle 5: T-Test für die Meta-Experimentalgruppe zum Vergleich der richtigen Antworten von Pre- zu Postgruppe
Tabelle 6: T-Test für die Experimentalgruppe zum Vergleich der richtigen Antworten von Pre- zu Postgruppe
Tabelle 7: T-Test für die Kontrollgruppe zum Vergleich der richtigen Antworten von Pre- zu Postgruppe
CS konditionierter Stimulus
ED erektile Dysfunktion
fMRT funktionelle Kernspintomografie
IST Intelligenz-Struktur-Test
QBismus Quanten-Bayesianismus
SST Scrambled Sentences-Test
UR unkonditionierte Reaktion
US unkonditionierter Stimulus
VAS visuelle Analogskala
ZRM Zürcher Ressourcen Modell
Placebo-Effekte sind den meisten Menschen bekannt als positive Wirkung einer Scheinsubstanz oder Scheinbehandlung. Ein Placebo versucht, die positiven Wirkungen eines Arzneimittels oder einer Intervention nachzuahmen, ohne aber dabei das spezifische Arzneimittel oder die spezifische Behandlungsmethode zu beinhalten. Placebo-Effekte sind äußerst vielfältig und unterscheiden sich je nach Organ und Patient. So können sich körperliche und psychische Symptome verbessern, Placebo-Effekte können aber auch Einfluss auf das Immunsystem und den Blutdruck haben. Diese Effekte werden auf neuropsychologische Phänomene zurückgeführt, welche die Selbstheilungskräfte aktivieren. Als Hauptmechanismen haben sich die Erwartungen auf das Behandlungsergebnis durch den Patienten , assoziative Lernprozesse sowie die Qualität der Beziehung zwischen Patienten und Behandler herausgestellt. Aber auch Erwartungen eines Behandlers auf den Ausgang einer Behandlung können die wahrgenommene Wirksamkeit einer Behandlung des Patienten beeinflussen. Da Placebo-Effekte bis zu 60% der Symptomverbesserungen ausmachen können, werden von der Medizin und der Wissenschaft placebokontrollierte Studien für neue Präparate und Behandlungen gefordert. Erst wenn die Wirkung des Medikaments (Verum) deutlich stärker ist als die des Placebos, gilt seine Wirksamkeit als bewiesen. Das Gegenteil des Placebo-Effekts ist der Nocebo-Effekt, der auftreten kann, wenn eine inerte Substanz in einem negativen Kontext verabreicht wird, was negative Erwartungen bezüglich des Ergebnisses hervorruft. Nocebo-Effekte sind Beschwerden, die unter einer Scheinbehandlung oder durch Suggestion negativer Erwartungen entstehen. Unter einer Nocebo-Antwort versteht man Beschwerden, die durch negative Erwartungen des Patienten erzeugt werden. Die Aufklärung über mögliche Komplikationen einer Therapie und negative Erwartungen des Patienten erhöhen die Häufigkeit unerwünschter Wirkungen. Ein Teil der subjektiven unerwünschten Wirkungen von Medikamenten sind auf Nocebo-Effekte zurückzuführen.
In dieser Arbeit werden zuerst die Begriffe Placebo und Nocebo erläutert sowie deren Wirkung in verschiedenen Studien verdeutlicht. Im Anschluss an die Placebo- und Nocebo-Effekte werden unterschiedliche Formen des Primings in der Psychologie beschrieben, die mit einer subliminalen Bahnung bei Probanden ähnliche Effekte wie Placebo-Effekte hervorrufen können. Erklärungen, wie es zu solchen Beeinflussungen kommen kann, sowohl von Seiten des Patienten oder Probanden wie auch von Seiten des Behandlers oder Versuchsleiters, kann mit der Quantenphysik und der Unus Mundus-Theorie erklärt werden. Im empirischen Teil werden die Annahmen aus dem theoretischen Teil in einer Online-Studie überprüft und ausgewertet. Abschließend soll eine Aussage darüber gemacht werden, ob eine bewusste oder unbewusste Beeinflussung des Versuchsleiters auf die Ergebnisse eines Experiments möglich ist und somit möglicherweise zur Verfälschung der Ergebnisse beitragen kann.
Ein Placebo ist eine inerte (wenig reaktionsfreudige) Behandlung ohne spezifische therapeutische Eigenschaften, während der Placebo-Effekt das Ansprechen auf die inerte Behandlung ist. Obwohl dies die gebräuchlichste Definition ist, ist sie nicht vollständig korrekt, da Placebos aus vielen Dingen bestehen, wie z. B. Wörtern, Ritualen, Symbolen und Bedeutungen. Ein Placebo ist also nicht nur die inerte Behandlung, sondern seine Verabreichung innerhalb einer Reihe von sensorischen und sozialen Reizen, die dem Patienten mitteilen, dass er eine für ihn vorteilhafte Therapie erhält. Ein Placebo ist somit das gesamte Ritual des therapeutischen Aktes (vgl. Benedetti 2014, S. 623). Im klinischen Wörterbuch Pschyrembel wird Placebo als „pharmakologisch unwirksame, indifferente Substanz in Arzneimittelform, eingesetzt, um einem subjektiven Bedürfnis nach Pharmakotherapie zu entsprechen und im Rahmen der klinischen Erprobung neuer Arzneimittel“ beschrieben (Pschyrembel online 2016). Nach Shapiro & Shapiro (1997) ist ein Placebo „any therapy (or that component of a therapy) that is intentionally or knowingly used for its nonspecific, psychological, or psychophysiological, therapeutic effect, or that is used for a presumed specific therapeutic effect on a patient, symptom, or illness but is without specific activity for the condition be treated” (Shapiro & Shapiro 1997, S. 41). Die Terminologie des Placebo-Konzepts beinhaltet weitere Begriffe:
- Placebo: „ich werde gefallen“, abgeleitet von dem lateinischen Wort placere = gefallen, wird verwendet, um eine Scheinbehandlung oder inerte Substanzen wie Zuckerpillen oder Kochsalzinfusionen anzuzeigen.
- Placebo-Effekt: eine Verbesserung eines Symptoms oder eines physiologischen Zustands nach einer Placebo-Behandlung. Diesem Phänomen liegen verschiedene Mechanismen, wie u.a. spontane Remission, natürlicher Krankheitsverlauf, Neigung oder Placebo-Reaktion zugrunde.
- Placebo-Antwort: die Placebo-Reaktion bezieht sich auf das Ergebnis einer Placebo-Manipulation. Es spiegelt eine neurobiologische und psychophysiologische Reaktion eines Lebewesens auf eine inerte Substanz oder Scheinbehandlung wider und wird durch verschiedene Faktoren im Behandlungskontext beeinflusst.
- Aktives Placebo: ist eine Substanz, welche die Nebenwirkungen des getesteten Wirkstoffs nachahmt und somit per Definition keine inerte Substanz ist. Aktive Placebos werden verabreicht, um eine Entblindung aufgrund unterschiedlicher Nebenwirkungen zu vermeiden.
- Pseudoplacebo: ist eine Substanz, die zwar pharmakologisch aktiv ist, aber bei der behandelten Erkrankung keine Wirkung zeigt, weil sie zu niedrig dosiert ist oder bei der Erkrankung nicht wirken kann.
- Nocebo: „ich werde schaden“, abgeleitet von dem lateinischen Wort nocere = schaden, wurde eingeführt, um die positiven von den schädlichen Auswirkungen von Placebos zu unterscheiden. Diese können auftreten, wenn eine inerte Substanz in einem negativen Kontext verabreicht wird, was negative Erwartungen über das Ergebnis hervorruft (vgl. Schedlowski et al. 2015, S. 700, Bingel & Schedlowski 2019, S. 29-31).
Wenn jedoch Placebos inert sind und somit keine spezifischen Effekte haben können, was ist dann für den Placebo-Effekt verantwortlich? Bevor die verschiedenen Mechanismen und Faktoren näher betrachtet werden, soll zuerst ein Einblick in die Geschichte des Placebos gegeben werden.
Shapiro & Shapiro (1997) zeigen auf, dass in der Geschichte die meisten medizinischen Behandlungen auf einen Placeboeffekt beruhen, wenn man die verabreichten Ingredienzien aus heutiger wissenschaftlicher Sicht betrachtet. „Until the middle of the twentieth century, treatment was primitive, unscientific, for the most part ineffective, and often shocking (to the modern mind) and dangerous. Useful drugs appeared infrequently in medical history, and for thousands of years physicians described what we now know were useless and often dangerous medications” (Shapiro & Shapiro 1997, S.228). Das Wort „Placebo” erscheint als Definition zum erstem Mal 1785 als „eine alltägliche Methode oder Medizin“ in Quincy, Lexicon Physico-Medicum (1787). Die erste Anspielung auf das Placebo als inerte Substanz taucht 1894 in Forsters Wörterbuch auf mit der Definition „a make-believe medicine, sometimes administered for its effect on the patient's imagination rather than because it is of medicinal value" (vgl. Shapiro 1968, S. 658-659).
Die Anfänge der wissenschaftlichen Forschung über Placebos sollen auf Henry Knowles Beecher gründen. Sein Schlüsselerlebnis war ein Aufenthalt in einem Kriegslazarett während des zweiten Weltkrieges in Italien, bei dem er beobachten konnte, wie verwundeten Soldaten aus Mangel an Morphium eine Kochsalzlösung verabreicht wurde, mit dem Hinweis, sie erhielten ein starkes Schmerzmittel. Zu seinem Erstaunen schien es den Soldaten zu nützen. 1955 schrieb er im Journal der American Medical Association einen Artikel mit dem Titel „The Powerful Placebo“, in dem er nach Durchsicht von 15 veröffentlichten Interventionsstudien mit 1082 Patienten zu dem Schluss kam, dass „35 percent of a drug’s or a doctor’s success is due to the patient expectation of a desired outcome, or the placebo response“ (vgl. Bensing & Verheul 2010, S. 293, Barrett et al. 2006, S. 3). Zu diesem Zeitpunkt in den 1950er Jahren wurde vermutet, dass auch chirurgische Eingriffe zu Placeboeffekten führen könnten. In dieser Zeit wurde für Patienten mit einer Angina pectoris, einem schmerzhaften Engegefühl in der Brust, hervorgerufen durch Sauerstoffmangel des Herzens, eine bilaterale Ligatur (Abbindung) der inneren Brustarterien durchgeführt. Diese Operation wurde als wirksam angesehen, da Patienten nach der Operation über verminderte Brustschmerzen und eine erhöhte Belastungstoleranz berichteten. Da die physiologische Linderung der Angina durch diesen Eingriff nicht vollständig erklärt werden konnte, führten Leonard Cobb und Kollegen (1959) eine Doppelblindstudie durch, bei der die Operation und eine Scheinoperation verglichen wurden, um das Verfahren zu testen. Die Patienten in beiden Gruppen berichteten von starken Verbesserungen nach dem Eingriff mit einer tendenziell größeren Verbesserung in der Placebogruppe (vgl. Barrett et a. 2006, S. 3).
Heute bilden placebokontrollierte klinische Studien eine wesentliche Grundlage für die evidenz-basierte Medizin. Randomisierte, placebokontrollierte Studien (RCTs) werden durchgeführt, um die Frage der Wirksamkeit eines Medikamentes, insbesondere für die Arzneimittelzulassung, zu beantworten. In diesen Studien wird ein Placebo zur Kontrolle eingesetzt, die Wirksamkeit gilt als nachgewiesen, wenn das Medikament besser als das Placebo wirkt (vgl. Jütte et al. 2011, S. 69).
Ein Placebo ist eine Behandlung, ein Medikament oder ein Gerät, das physisch und pharmakologisch inert ist und somit – per Definition – keine direkte therapeutische Auswirkung auf den Körper hat. Jedoch wird eine Behandlung in einem Kontext durchgeführt, zu dem soziale und physische Hinweisreize, verbale Äußerungen und der Behandlungsverlauf gehören. Dieser Kontext wird vom Gehirn aktiv interpretiert und kann Erwartungen, Erinnerungen und Gefühle wecken, die ihrerseits eine Veränderung der Gesundheit in Körper und Gehirn beeinflussen können. Folglich sind Placeboeffekte eine Gehirn-Körper-Reaktion auf Kontextinformationen, die Gesundheit und Wohlbefinden fördern. Hierbei kann zwischen externen Kontexten wie verbaler Suggestion, der Umgebung und sozialen Einflüssen und internen Kontextinformationen wie Erinnerungen, Emotionen und Erwartungen sowie der Einschätzung des Kontextes auf das künftige Wohlbefinden unterschieden werden (vgl. Wagner & Atlas 2015, S. 403-404).
Abbildung 1: Elemente des Behandlungskontextes
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Wagner & Atlas 2015, S. 404
Der Placebo-Effekt selbst – die Symptomverbesserung nach inerten Behandlungen in klinischen Studien – setzt sich aus verschiedenen Faktoren zusammen, z.B. dem natürlichen Krankheitsverlauf oder der Fluktuation von Symptomen, aus Reaktionsverzerrungen, der Regression auf den Mittelwert, Antwortverzerrungen und falsch positiven Antworten oder Auswirkungen von Co-Interventionen. Tatsächliche Placebo-Reaktionen beziehen sich auf die Auswirkungen von neuropsychologischen Mechanismen, die über drei voneinander abhängige Faktoren vermittelt werden: die Erwartungen der Patienten hinsichtlich des Behandlungsnutzens, die Qualität und Quantität der Kommunikation zwischen Arzt und Patient sowie assoziative (konditionierende) Lernprozesse. Diese Mechanismen können sowohl positive (Placebo) als auch negative (Nocebo) Ergebnisse zeigen, abhängig von den Erwartungen und Erfahrungen der Behandler oder der Patienten sowie der Kommunikation und des Umfelds (vgl. Bensing & Verheul 2010, S. 297, Schedlowski et al. 2015, S.698).
Abbildung 2: Neuropsychologische Mechanismen von Placebo und Nocebo
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Schedlowski et al. 2015, S. 699
„Erwartungen sind Kognitionen, die in unseren Person-Umwelt-Interaktionen häufig vorkommen und auch Auswirkungen auf weitere psych. Prozesse haben. Sie drücken die Vorwegnahme von oder auch die Vorausschau auf künftige Ereignisse aus und implizieren oft eine Wahrscheinlichkeitseinschätzung ihres Eintretens. Auch der Placebo-Effekt beruht auf Erwartungen. Personen können eine Maßnahme als wirksam erleben und sich gesund fühlen, obwohl sie eine unspezifische Behandlung oder ein chemisch unwirksames Medikament erhalten haben“ (Dorsch 2013, S. 491). Es wird angenommen, dass Erwartungen die Aufmerksamkeit lenken und die Interpretation sowohl interner als auch externer Empfindungen leiten, Informationen, die mit einer Erwartung übereinstimmen, werden leichter codiert als irrelevante oder erwartungsinkonsistente Informationen. Wenn man eine Erwartung hat, werden Informationen, die mehrdeutiger Natur sind, typischerweise als mit der Erwartung kongruent interpretiert (vgl. Geers et al. 2006, S. 172).
Geers und Kollegen (2006) untersuchten, ob eine positive Placebo-Erwartung dazu führt, dass Personen selektiv auf Anzeichen einer Verbesserung achten, auch wenn ihre körperliche Gesundheit nicht verändert wurde. Wenn diese Anzeichen bemerkt werden, sollten sie von den Personen als Beweis dafür genommen werden, dass die Placebo-Behandlung wirksam war. Wenn die Aufmerksamkeit nicht auf somatische Erfahrungen gerichtet ist, besteht für eine Placebo-Erwartung weniger Gelegenheit, die Symptomwahrnehmung zu beeinflussen, was zu schwächeren Placebo-Effekten führen sollte. In ihrer Studie wurde einer Gruppe mitgeteilt, dass sie ein aktives Medikament einnehmen, einer zweiten Gruppe, dass sie möglicherweise ein aktives Medikament einnehmen, und der Kontrollgruppe, dass sie kein aktives Medikament einnehmen. Zusätzlich wurde die Hälfte der Teilnehmenden jeder Gruppe aufgefordert, die Veränderungen ihrer Gefühle und Körperempfindungen genau zu überwachen. Geers et al. konnten zeigen, dass eine erhöhte somatische Aufmerksamkeit zu einer stärkeren Reaktion auf das Placebo führte, mit einem stärkeren Effekt bei der Gruppe, die ein aktives Medikament erwartete: „Consistent with our predictions, increased somatic attention resulted in greater placebo responding“ (Geers et al. 2006, S 176).
In ihrer Studie über Placebo- und Nocebo-Effekte untersuchten Corsi & Colloca (2017), wie stark die Erwartung von Schmerz das tatsächlich empfundene Schmerzerleben beeinflusst. Hierzu wurde den Teilnehmenden in einer Einführungsphase je sechsmal verschiedene Schmerzreize zugeführt, die jeweils mit einem zusätzlichen Farbcode versehen waren:
sehr schmerzhaft (47,5) = rot
mittel schmerzhaft (44,5) = gelb
wenig schmerzhaft (41,5) = grün
In der Testphase kam zuerst für vier Sekunde der visuelle Reiz, und die Teilnehmenden sollten auf einer visuellen Analogskala (VAS) (0 = kein Schmerz – 100 = maximal tolerierbarer Schmerz) den erwarteten Schmerz festlegen. Der Schmerzreiz war während der gesamten Testphase immer auf mittel eingestellt. Im Anschluss sollten die Probanden ihren empfundenen Schmerz wiederum auf der VAS eintragen. Corsi & Colloca fanden sowohl robuste Placebo-hypoalgetische (weniger Schmerzen) als auch Nocebo-hyperalgetische (mehr Schmerzen) Reaktionen, die in hohem Maße mit der Erwartung niedriger und hoher Schmerzen korrelierten (vgl. Corsi & Colloca 2017. S. 3-4).
Im ViolEX-Modell zeigen Rief & Petrie (2016) das Zusammenspiel verschiedener Einflüsse auf die Erwartungen und die Wechselwirkung zwischen Erwartungseffekten, Erwartungsverletzungen und deren Rückkopplungsschleifen. Der Kern des Modells ist das Zusammenspiel von Erwartungen und klinischen Situationen, z.B. ein Arztbesuch zur Behandlung störender Symptome. Diese Interaktion führt zu Vorhersagen, Ergebnissen und Ergebnisbewertungen, die bereits bestehende Erwartungen bestätigen oder entkräften. Placebo-Effekte treten dann auf, wenn eine medizinische Behandlung und ihr Kontext spezifische Erwartungen an ein positives therapeutisches Ergebnis auslösen. Bereits bestehende optimistische Erwartungen können die positiven Auswirkungen von Behandlungen (Placebo-Effekte) verstärken, negative Erwartungen können jedoch auch nachteilige Behandlungseffekte wie Nebenwirkungen oder das Fehlen behandlungstypischer Verbesserungen (Nocebo-Effekte) hervorrufen.
Drei Faktoren tragen zur Entwicklung der Erwartungen bei:
- frühere Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem (assoziatives Lernen)
- soziale Einflüsse auf Gesundheitsprobleme, die durch direkte vorherige Beobachtungen oder indirekt von wichtigen anderen Personen oder durch Medienquellen wie das Internet ermittelt wurden
- die individuelle persönliche Konstruktion von Annahmen sowie die direkten Anweisungen, die sie von anderen erhielten.
Patienten haben selbst oft Kontakt oder beobachten andere Patienten, sei es im Wartezimmer oder in einer typischen medizinischen Umgebung. Diese anderen Patienten können die Ergebnisse der Behandlung entweder loben oder tadeln, die Fähigkeiten eines bestimmten Arztes kommentieren oder sich über unerwünschte Auswirkungen von Interventionen beschweren. Es hat sich gezeigt, dass die Beobachtung eines solchen Verhaltens die Ergebnisse der Behandlung der beobachtenden Patienten beeinflusst (vgl. Rief & Petrie 2016, S. 3).
Abbildung 3: ViolEX-Modell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Rief & Petrie 2016, S. 3
Die Erwartungen anderer, z. B. von Lehrern an den Fortschritt ihrer Schüler, kann sich ebenfalls auf die Leistungen auswirken. Dieser Effekt wird als Pygmalion-Effekt bezeichnet und bezieht sich auf „die Auswirkungen zwischenmenschlicher Erwartungen, d.h. die Feststellung, dass das, was eine Person von einer anderen erwartet, als sich selbst erfüllende Prophezeiung dienen kann“ (Rosenthal, 2010, S. 1398). In einer experimentellen Studie teilten Rosenthal und Jacobson (1968) Grundschullehrern mit, dass bestimmte Kinder aufgrund ihrer Testergebnisse „Bloomer“ seien und in den kommenden Monaten eine große Verbesserung ihrer intellektuellen Kompetenz zeigen würden. Die „Bloomer“ wurden jedoch nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und unterschieden sich nur in den Erwartungen, welche die Lehrer an sie haben sollten. Trotzdem hatten diese Schüler am Ende des Schuljahres im Vergleich zur Kontrollgruppe erheblich an intellektueller Leistung gewonnen (vgl. Rosenthal & Jacobson 1968, S. 17-19).
In einem Experiment über den Einfluss der Erwartungen des Behandlers zeigten Gracely et al. (1985) signifikante Ergebnisse, die ebenfalls für den Pygmalion-Effekt sprechen. In ihrer Studie untersuchten sie selbst berichtete Schmerzen nach einer Zahnoperation bei zwei Gruppen von Patienten, die nach dem Zufallsprinzip ein Medikament oder ein Placebo erhielten. Je nach Gruppenzuweisung glaubten die Patienten, dass sie zufällig ein Medikament erhalten würden, das ihre Schmerzen lindert (Fentanyl), ihre Schmerzen erhöht (Naloxon) oder keinen Einfluss auf ihre Schmerzen hat (Placebo). Auch die Behandler wurden in zwei Gruppen geteilt: Die einen glaubten, dass die Patienten eine 33-prozentige Chance hatten, Fentanyl zu erhalten, während die anderen wussten, dass sie sicher ein Placebo verabreichen würden. Der Fokus der Untersuchung lag auf der Behandlung der Patientengruppe, die glaubten, ein Placebo zu erhalten. Interessanterweise berichtete nur die Placebogruppe, von der die Behandler annahmen, dass sie Fentanyl verabreichten, 60 Minuten nach der Behandlung über eine Abnahme der Schmerzen. Diese Studie legt nahe, dass die Erwartungen der Behandler an die Wirksamkeit der Behandlung die Behandlungsergebnisse der Patienten beeinflussen können (vgl. Gracely et al. 1985, S. 43).
Konditionierung kann in klassisch und operant unterschieden werden. Klassische Konditionierung „ist ein Effekt, der beobachtet werden kann, wenn ein neutraler Reiz (CS, konditionierter Stimulus) mit einem affektiv bedeutsamen Reiz (US, unkonditionierter Stimulus) wiederholt gemeinsam dargeboten wird und der CS durch diese Kontingenz ebenfalls eine in vielen Fällen dem US ähnliche Reaktion hervorruft“. Eine operante Konditionierung „bezeichnet ein lernpsychologisches Verfahren, in dem unter Anwesenheit bestimmter Kontextreize die Auftretenshäufigkeit von Verhaltensweisen dadurch erhöht oder reduziert wird“ (Dorsch 2016, S. 860). Konditionierungen sind assoziative Lernprozesse, die zu einem späteren Zeitpunkt abrufbar sind. Ein therapeutisches Verfahren kann einen Placebo-Effekt auf das Gesundheitsergebnis haben, wenn es – bewusst oder unbewusst – mit früheren Erfahrungen in Verbindung gebracht wird. Eine Konditionierung tritt auf, wenn ein neutraler Reiz (z.B. ein Arzt, der auf warme empathische Weise kommuniziert) mit einem Effekt (z.B. Erholung) zusammenfällt. Dieser neutrale Reiz wird dann zu einem konditionierten Reiz, der als Mittel zur subjektiven oder objektiven Verbesserung der Gesundheit wirkt (vgl. Bensing & Verheul 2010, S. 5).
Goebel et al. (2002) untersuchten diesen Effekt mit einem Experiment, bei dem die Unterdrückung des körpereigenen Abwehrsystems durch ein Immunsuppressivum (US) in einem Getränk mit einem ausgeprägten Geschmack (CS) konditioniert wurde. Die Probanden wurden in dieser Doppelblindstudie in vier Sitzungen konditioniert und erhielten alle zwölf Stunden das Immunsuppressivum zusammen mit einem Getränk mit ausgeprägtem Geschmack. Nach einer Woche waren alle Probanden erneut dem konditionierten Reiz (Getränk) ausgesetzt, jetzt jedoch gepaart mit Placebo-Kapseln. Obwohl die Kapseln keinen Wirkstoff enthielten, wurden die objektiv messbaren Immunfunktionen ebenso wie nach Erhalt des Immunsuppressivums unterdrückt (vgl. Goebel et al. 2002, S. 1869). Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch in Tierversuchen. So konnten Lückemann et al. (2019) zeigen, dass bei Ratten, die an einer chronisch entzündlichen Autoimmunerkrankung (Arthritis) litten, eine zuvor erlernte Immunsuppression zu einem späteren Zeitpunkt mit einem Präparat, das nur 25% der vollen therapeutischen Dosis enthielt, aufrechterhalten werden konnte. Dieses Verfahren zur „Gedächtnisaktualisierung“ stabilisierte die erlernte Immunantwort und unterdrückte das Fortschreiten der Krankheit bei immunisierten Ratten signifikant (vgl. Lückemann et al. 2019, S. 588-589).
Die beschriebenen Experimente zeigen, dass ein Placeboeffekt durch Konditionieren möglich ist. Bei dem bekanntesten Experiment klassischer Konditionierung von Pavlov (1927) wurde Hunden als unkonditionierter Stimulus (US) Futter angeboten, das zu der unkonditionierten Reaktion (UR) „Speichelfluss“ führt. Pavlov konnte beobachten, dass nach mehrmaliger Paarung des Tons einer Glocke als CS mit dem Futter als US eine der UR ähnliche Reaktion schon bei dem Glockenton auftrat (die sog. konditionierte Reaktion).
Flaten & Blumenthal (1999, 2003) untersuchten, ob die Präsentation von koffein-assoziierten Stimuli für Koffeinkonsumenten konditionierte Reaktionen auslöst. Dazu wurden 20 Probanden, die mindestens zwei Tassen Kaffee pro Tag tranken, vier Bedingungen ausgesetzt, bei denen sie Kaffee oder Orangensaft erhielten, entweder mit 200 mg Koffein oder ohne Koffein (Placebogruppe). Gemessen wurden Hautleitfähigkeitsreaktionen und Schreckreflexe bei einem plötzlichen lauten Geräusch (85 dB), Blutdruck, Herzfrequenz und subjektive Erregungsmessungen. Ihre Ergebnisse zeigten, sowohl Koffein (koffeinhaltiger Saft) als auch koffeinassoziierte Reize (koffeinfreier Kaffee) erhöhten die subjektive und physiologische Erregung (vgl. Flaten & Blumenthal 1999, S. 105-106).
Dass Versuchsleitererwartungen auch den Ausgang eines Experimentes mit Tieren beeinflussen können, zeigten Rosenthal und Lawson 1963. Sie teilten in ihrem Experiment zwölf Versuchsleitern mit, dass die Ratten, die sie während ihres Trainings beobachten sollten, entweder sehr gut (maze-brightness) oder weniger gut (maze-dullness) darin waren, ein Labyrinth zu durchqueren. Die Ratten, die alle aus einem Wurf stammten und zufällig in die jeweilige Gruppe eingeteilt waren, wurden bei ihren Versuchen, das Labyrinth zu durchqueren, an dessen Ende ein Futterspender montiert war, insgesamt fünf Tage lang beobachtet. Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die Ratten, deren Versuchsleiter glaubten, sie seien sehr gut für diese Aufgabe geeignet (maze-brightness), auch die besseren Leistungen erzielten (vgl. Rosenthal & Lawson 1963, S. 61-62).
Ärzte kennen die Auswirkungen der Beziehung zu ihren Patienten seit langem und verwenden dementsprechend geeignete Worte und Einstellungen ihnen gegenüber. Ärzte, Krankenschwestern und Therapeuten sind wesentliche Elemente der gesamten Atmosphäre rund um die Therapie, und ihre Beziehung zu Patienten kann viele Placebo-Effekte, aber auch Placebo-bezogene Effekte umfassen. Jedes Element des psychosozialen Kontexts ist in die Interaktion zwischen Arzt und Patient eingebettet und scheint auf die Anwesenheit des Arztes angewiesen zu sein. Sowohl Heilungsworte als auch Heilungsaktionen (Verabreichung von Pillen, Injektionen und Medikamenten) wecken das Vertrauen, die Hoffnung und die Erwartungen der Patienten, und diese können wiederum zu Veränderungen in der Wahrnehmung von Symptomen oder im Krankheitsverlauf führen. Die Beziehung zwischen Patienten und Arzt lässt sich in vier Schritten aufzeigen:
- Eine Person muss sich krank fühlen und nach einer Möglichkeit suchen, das physische oder psychische Unbehagen zu überwinden.
- Die Suche nach Erleichterung kann als motiviertes Verhalten gesehen werden, einen Arzt aufzusuchen, der selbst bereits ein starkes und aktives Therapeutikum darstellt.
- Wenn der Patient den Therapeuten trifft, entsteht eine besondere soziale Interaktion, und es emergieren psychologische Mechanismen wie Vertrauen und Hoffnung beim Patienten sowie Empathie und Mitgefühl auf Seiten des Arztes.
- Schließlich erhält der Patient seine Therapie, wobei schon das Ritual des therapeutischen Akts durch die Erwartung und Überzeugung des Patienten eine Reaktion hervorrufen kann (vgl. Frisaldi et al. 2020, S. 1-7).
Abbildung 4: Die vier Schritte in der Arzt-Patienten-Beziehung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Frisaldi et al. 2020, S. 6
Um die Stärke des Effektes der Arzt-Patienten-Beziehung aufzuzeigen, führten Amanzio et al. (2001) eine Studie durch, in der im einen Fall bei Patienten nach einer Thoraxoperation von einem Arzt im weißen Kittel am Krankenbett eine offene Injektion durchgeführt wurde. Der Arzt sagte dem Patienten, dass die Injektion ein starkes Analgetikum sei und dass die Schmerzen in wenigen Minuten nachlassen würden. Im anderen Fall wurde eine Injektion der gleichen analgetischen Dosis versteckt von einem automatischen Infusionsgerät durchgeführt, das die schmerzstillende Infusion ohne einen Arzt oder eine Krankenschwester im Raum startete, so dass die Patienten überhaupt nicht wussten, dass die analgetische Therapie begonnen hatte. Die erforderliche analgetische Dosis war bei der versteckten Infusion um 50% höher, um eine Schmerzlinderung zu erzielen, als bei der offenen Verabreichung. Eine versteckte Verabreichung scheint weniger wirksam zu sein als eine offene. In einer ähnlichen Studie wurde festgestellt, dass die Intensität der postoperativen Schmerzen bei Patienten, die eine versteckte Injektion eines Analgetikums erhalten hatten, viel höher war als bei Patienten, die eine offene Injektion erhalten hatten. Bei postoperativen Schmerzen nach oraler Operation (Gracely et al. 1983) wurde festgestellt, dass eine versteckte Injektion von 6 bis 8 mg Morphin dieselbe Wirkung hatte wie eine offene Injektion, in der nur eine Kochsalzlösung verabreicht wurde. Allein die Mitteilung, dass ein Schmerzmittel injiziert wird, ist genauso wirksam wie 6 bis 8 mg verabreichtes Morphin. Eine stärkere analgetische Wirkung als das Placebo wurde erst beobachtet, wenn die versteckte Morphin-Dosis auf 12 mg erhöht wurde. Dies weist darauf hin, dass eine offene Injektion von Morphin, wie es in der medizinischen Praxis üblich ist, wirksamer ist als eine versteckte Injektion, da bei letzterer die Placebokomponente fehlt (vgl. Colloca & Benedetti 2005, S. 549, Amanzio et al. 2001, S. 205-206, Gracely et al. 1983, S. 265).
Wie stark der Einfluss der Kommunikation auf den Behandlungserfolg selbst in einer Placebo-Studie sein kann, untersuchten Kaptchuk et al. (2008). Dazu testen sie über einen Zeitraum von drei Wochen bei Patienten mit Reizdarmsyndrom eine reine Placebo-Akupunktur und eine Placebo-Akupunktur, die zusätzlich durch eine verstärkte Interaktion zwischen Behandler und Patienten begleitet war. Diese positive Interaktion äußerte sich in einer warmen, einfühlsamen und vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung. Sie beobachteten einen deutlich stärkeren Placebo-Effekt bei der Gruppe, die zusätzlich zur Placebo-Akupunktur einfühlsame Gespräche mit dem Behandler führten (vgl. Kaptchuk et al 2008, S. 1-2).
Nocebo: „ich werde schaden“, abgeleitet von dem lateinischen Wort nocere = schaden, wurde eingeführt, um die positiven von den schädlichen Wirkungen von Placebos zu unterscheiden. Letztere können auftreten, wenn eine inerte Substanz in einem negativen Kontext verabreicht wird, was negative Erwartungen bezüglich des Ergebnisses hervorruft. Nocebo-Effekte sind Beschwerden, die unter einer Scheinbehandlung oder durch Suggestion negativer Erwartungen entstehen. Unter einer Nocebo-Antwort versteht man Beschwerden, die durch negative Erwartungen des Patienten oder Suggestionen des Behandlers ohne eine wirksame Behandlung erzeugt werden. Die Aufklärung über mögliche Komplikationen einer Therapie und negative Erwartungen des Patienten erhöhen die Häufigkeit unerwünschter Wirkungen. Ein Teil der subjektiven unerwünschten Wirkungen von Medikamenten sind auf Nocebo-Effekte zurückzuführen. Zu unbeabsichtigten, aber unerwünschten Suggestionen im klinischen Alltag zählen u.a.:
- Auslösen von Verunsicherung: „Vielleicht hilft dieses Medikament“, „Probieren wir mal dieses Mittel aus“
- Fachjargon: „Wir verkabeln Sie jetzt“, „Wir haben nach Metastasen gesucht – der Befund war negativ“
- Doppeldeutige Worte: „Dann machen wir Sie jetzt fertig“ (Vorbereitung zur Operation), „Wir schläfern Sie ein, gleich ist alles vorbei“ (Narkoseeinleitung)
- Negative Suggestion: „Sie sind ein Risikopatient“, „Das tut schon immer höllisch weh“
- Fokussierung der Aufmerksamkeit: „Ist Ihnen übel?“, „Rühren Sie sich, wenn Sie Schmerzen haben“
- Unwirksamkeit von Verneinungen und Verkleinerungen: „Sie brauchen jetzt keine Angst zu haben“, „Das blutet jetzt mal ein bisschen“.
Es gibt zwei Varianten dieser Nocebo-Reaktionen: Die eine ist durch neue Symptome oder eine Symptomverschlechterung im Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten oder Placebos gekennzeichnet, obwohl der chemische Wirkstoff selbst diese Symptome nicht auslösen kann. Die andere Variation der Nocebo-Reaktionen ist die verringerte Wirksamkeit klinischer Interventionen aufgrund negativer Erwartungen oder früherer Erfahrungen (vgl. Schedlowski et al. 2015, S. 700, Häuser et al. 2012, S. 459).
Nocebo-Antworten sind in zahlreichen Studien nachgewiesen worden. In einer experimentellen Studie von Pfingsten et al. (2001) wurden 50 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen nach dem Zufallsprinzip vor einem Beinbeugetest in zwei Gruppen unterteilt: Eine Gruppe erhielt die Information, dass der Test zu einer leichten Schmerzzunahme führen könne. Der anderen Gruppe wurde mitgeteilt, dass der Test keinen Einfluss auf die Schmerzen habe. Die Gruppe mit der negativen Information gab stärkere Schmerzen während des Tests an und führte weniger Beinbeugungen durch als die Gruppe mit neutraler Instruktion (vgl. Pfingsten et al. 2001, S. 259).
Ein Nocebo-Effekt auf mögliche Nebenwirkungen bei der Einnahme eines bestimmten Medikaments wurde von Cocco (2009) bei Bluthochdruckpatienten untersucht. Einige Blutdruckmedikamente können u.a. eine erektile Dysfunktion (ED) verursachen, weshalb die betroffenen Männer die Therapie oft abbrechen. Die Frage, ob die erektile Dysfunktion von dem Medikament herrührt oder auf einen Nocebo-Effekt zurückzuführen ist, untersuchte Cocco, indem er 114 Männern (Durchschnittsalter 57 Jahre) ohne ED, aber mit neu diagnostizierter arterieller Hypertonie (Bluthochdruck) mit einem Blutdrucksenker (METO) behandelte. Die hypertensiven Männer wurden in drei Gruppen randomisiert.
- in Gruppe 1 wurden die Patienten vollständig informiert (sie wussten, dass das Medikament METO war und ED induzieren könnte).
- in Gruppe 2 wurden die Patienten teilweise informiert (sie wussten, dass das Medikament METO war, wurden jedoch nicht darüber informiert, dass es ED induzieren könnte).
- in Gruppe 3 wurden die Patienten weder über das verwendete Medikament noch über das mögliche Auftreten von ED informiert.
Die erste Phase der Studie dauerte 60 Tage. Nach 60 Tagen betrug die Inzidenz von ED in Gruppe 1: 32%, in Gruppe 2: 13% und in Gruppe 3: 8% (vgl. Cocco 2008, S. 174).
Negative Erwartungen sind starke Determinanten und Prädiktoren für die Entwicklung von Nebenwirkungen bei Medikamenten. Die Berichterstattung über Nebenwirkungen wurde mit den Erwartungen des Patienten, früheren Erfahrungen mit Medikamenten, mit Geschlecht, Alter, Angstzuständen und Depressionen in Verbindung gebracht. Barsky et al. (2002) führten eine gezielte Überprüfung der Literatur durch, in der verschiedene Faktoren identifiziert wurden, die mit dem Nocebo-Phänomen oder der Meldung unspezifischer Nebenwirkungen während der Einnahme aktiver Medikamente in Zusammenhang zu stehen schienen. Sie identifizierten als mögliche Faktoren die Erwartungen des Patienten an Nebenwirkungen zu Beginn der Behandlung; ein Konditionierungsprozess, bei dem der Patient aus früheren Erfahrungen lernt, die Einnahme von Medikamenten mit somatischen Symptomen in Verbindung zu bringen; bestimmte psychologische Merkmale wie Angstzustände, Depressionen und die Tendenz zur Somatisierung sowie situative und kontextbezogene Faktoren (vgl. Barsky et al 2002, S. 622, Schedlowski et al. 2015, S. 715, Faase & Petrie 2013, S. 2). Eines der ersten Forschungsergebnisse, die belegen, dass Erwartungen die Erfahrung und Berichterstattung über unerwünschte Arzneimittelwirkungen beeinflussen können, sind durch das versehentliche Auslassen von bestimmten Informationen auf einem Einverständnisformular entstanden. In einer Aspirin-Studie von Myers et al (1987), die an mehreren Zentren stattfand, unterschieden sich die Informationen auf dem Einverständnisformular zwischen den verschiedenen Studienorten geringfügig. Einige Teilnehmer erhielten Einverständniserklärungen, die Informationen über mögliche gastrointestinale Nebenwirkungen der Behandlung enthielten, während andere Einverständniserklärungen erhielten, die diese Informationen nicht hatten. Infolgedessen zogen sich sechsmal mehr Teilnehmer, welche die „zusätzlichen“ Informationen erhielten, aufgrund gastrointestinaler Nebenwirkungen aus der Studie zurück (vgl. Myers et al. 1987, S. 250).
Beobachtungslernen wie das Beobachten und/oder Zuhören von anderen Menschen, die nach der Einnahme eines bestimmten Arzneimittels über schwerwiegende Probleme berichten, ist ein weiteres wirksames Instrument zur Symptomentwicklung, das manchmal sogar noch wirksamer ist als die bloße verbale Andeutung von Nebenwirkungen. Die soziale Verbreitung somatischer Symptome wurde in einer Studie von Benedetti et al. (2014) erforscht. Die Autoren informierten nur eine Person in einer Gruppe über Hypoxie-induzierte (Sauerstoffmangel) Kopfschmerzen, bevor die Gruppe sauerstoffarmen Zuständen in den Alpen in großer Höhe ausgesetzt werden sollte. Aus einer Gruppe von 121 Studenten wurde eine Person zufällig ausgewählt. Dieser wurde ein Flyer mit Informationen über induzierte Kopfschmerzen gegeben und ein Film mit einem Kopfschmerzkranken auf 3500 Meter Höhe gezeigt, der auf einem Bett lag, das Gesicht verzog und Tabletten nahm. Der „Trigger“-Person wurde auch gesagt, dass Kopfschmerzen in großer Höhe gut mit Aspirin zu behandeln seien. Daher wurde ihr dringend empfohlen, Aspirin mitzunehmen. Außerdem wurde ihr mitgeteilt, sie solle sich zwei Tage vor der Reise mit dem Forscherteam in Verbindung setzen, um zu entscheiden, welche Aspirin-Dosen sie mitnehmen sollte. Dieser Symptombericht „infizierte“ andere Gruppenmitglieder in Abhängigkeit von der Intensität der sozialen Kontakte mit der informierten Person. In der folgenden Woche wurde das Team von 36 Probanden kontaktiert, die nach weiteren Einzelheiten zu Kopfschmerzen in großer Höhe und den benötigten Aspirin-Dosen fragten. Diese 36 Studenten repräsentierten die Gruppe mit negativen Erwartungen (Nocebo-Gruppe). Die Abbildung zeigt die soziale Ansteckung, die innerhalb einer Woche von Person 1 ausging. Die verbleibenden 85 Probanden, die keine negativen Informationen erhalten hatten, wurde zur Kontrollgruppe. Als die Studentengruppe den Ort auf 3500 m Höhe erreichte, wurden aus der Nocebo-Gruppe signifikant mehr und stärkere Kopfschmerzen berichtet als aus der Kontrollgruppe (vgl. Benedetti et al. 2014, S. 2-6). Dieses Experiment zeigt, dass es keine Fachperson sein muss, die negative Erwartungen über eine Behandlung oder ein Medikament auslösen kann, es reicht das individuelle soziale Umfeld. Je enger eine Person dem Patienten steht, desto höher kann ihr Einfluss auf ihn angenommen werden.
Abbildung 5: Soziale Verbreitung negativer Informationen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Benedetti et al. 2014, S. 3
Dass Filme, Berichte und ärztliche Auskünfte negative Erwartungen auslösen können, hat sicher jede/r schon selbst erlebt. Richter & Weiß (2018) untersuchten mittels funktioneller Kernspintomografie (fMRT), ob auch einzelne Wörter Reaktionen im Gehirn auslösen können. Sie benutzten für ihr Experiment schmerzassoziierte Wörter, denn diese aktivieren die Schmerzmatrix im Gehirn und triggern das aktuelle Schmerzempfinden. Unter Assoziation versteht man die Fähigkeit, einfache kognitive Elemente, Emotionen oder Sinneseindrücke unter bestimmten Bedingungen miteinander zu verknüpfen. Die Verknüpfung zeigt sich darin, „dass das Auftreten des einen das Bewusstwerden des anderen (mit ihm assoziierten) nach sich zieht oder wenigstens begünstigt“ (Dorsch 2013, S 196).
Schmerz ist eine somatosensorische Wahrnehmung, und Menschen empfinden Schmerzen fast ausnahmslos als unangenehm. Gleichzeitig ist bekannt, dass noxische Stimuli nicht per se als schmerzhaft empfunden werden müssen, sondern kontextabhängig sind. So gibt es viele Faktoren, welche die Verarbeitung schmerzhafter Reize im Gehirn beeinflussen wie etwa Emotionen, Aufmerksamkeit, Lern- und Gedächtnisprozesse sowie Erwartungshaltungen. Wenn nun Menschen bestimmte Worte, wie z.B. „brennend“ oder „stechend“, mit einer Schmerzerfahrung verbinden, dann sollte das Auftauchen dieser Worte im Gehirn nachweisbar sein. Gemäß der Netzwerktheorie von Donald Hebb (1949) steigert sich die Assoziationsstärke von Stimuli, die gemeinsam und wiederholt auftreten (Wort und Schmerz). „The general idea is an old one, that any two cells or systems of cells that are repeatedly active at the same time will tend to become ‘associated’ so that activity in one facilitates activity in the other. “ (Hebb 1949, S. 70). Ein Schmerzwort sollte somit die Schmerzmatrix im Gehirn aktivieren, was anschließend mit Hilfe von Kernspintomografie sichtbar gemacht werden kann.
Richter & Weiß erstellten zuerst Wortlisten mit Adjektiven, deren Inhalt neutral, positiv, negativ ohne schmerzrelevanten Inhalt und negativ mit schmerzrelevantem Inhalt waren. Die Probanden sollten sich, während sie im Kernspintomografen lagen, Situationen vorstellen, die mit den gezeigten Adjektiven beschreibbar sind. Sie konnten nachweisen, dass schmerzassoziierte Adjektive verschiedene Regionen der Schmerzmatrix aktivieren, wenn sich die Testpersonen diese Situationen vor Augen führten. Bei einem weiteren Experiment wurde untersucht, ob Patienten mit chronischen Schmerzen stärker auf die dargebotenen Schmerzworte reagieren. Tatsächlich wird bei chronischen Schmerzpatienten die Neuromatrix des Schmerzes durch schmerzbeschreibende Adjektive intensiver aktiviert als bei Gesunden gleichen Alters (vgl. Richter & Weiß 2018, S. 169-172). Diese Vorgehensweise, Reaktionen mit Hilfe von Wörtern zu provozieren, ist in der Psychologie unter semantischem Priming bekannt.
[...]