Bachelorarbeit, 2021
47 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Grundlagenexkurs in die allgemeine Psychologie
2.1.1 Grundlagen der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
2.1.2 Grundlagen zum Gedächtnis
2.1.3 Fazit
3 Die Zeugenvernehmung
3.1 Einführung
3.2 Die Strukturmodelle
3.2.1 Das GEMAC-Modell
3.2.2 Das PEACE-Modell
3.2.3 Die strukturierte Zeugenvernehmung
3.3 Die Vernehmungsphasen im Detail
3.3.1 Die Vorbereitung
3.3.2 Kontakt und Orientierung
3.3.3 Der freie Bericht
3.3.4 Die Befragung
3.3.5 Abschluss und Auswertung
3.4 Fazit
4 Die aussagepsychologische Begutachtung
4.1 Einführung in die neuere Aussagepsychologie
4.2 Die Nullhypothese und deren Spezifizierung
4.3 Analysekriterien der Aussagebegutachtung
4.3.1 Aussagekompetenz
4.3.2 Aussageentstehung und -entwicklung
4.3.3 Aussagemotivation
4.3.4 Die Aussagequalität
4.3.5 Qualitäts-Kompetenz-Vergleich
4.4 Fazit
5 Das Krankheitsbild der Schizophrenie
5.1 Allgemeines
5.2 Vorstellung der Symptomatik
5.2.1 Negativsymptomatik
5.2.2 Positivsymptomatik
5.3 Diagnose, Verlauf und Typisierung
5.3.1 Diagnose und Verlauf
5.3.2 Die traditionellen Subtypen
5.4 Fazit
6 Vernehmung und Aussagebegutachtung eines schizophrenen Zeugen
6.1 Allgemeines
6.2 Konsequenzen für Vernehmung und Begutachtung
6.2.1 Zur Zeugenvernehmung
6.2.2 Zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung
7 Allgemeines Fazit
I. Literaturverzeichnis
Die Aussage eines Zeugen ist seit jeher einer der wesentlichen Bestandteile der strafrechtlichen Gerichtsbarkeit. Sie bildet als Personalbeweis zusammen mit dem Sachbeweis die Basis für eine gerichtliche Entscheidungsfindung. Von dem wahrgenommenen Ereignis, über die polizeiliche Ersterhebung der Aussage und bis hin zur späteren Würdigung vor Gericht, durchläuft die Zeugenaussage einen mittlerweile sehr komplex gewordenen Prozess. Durch fortwährende Praxis und Forschung hat sich die Methodik zur Erhebung sowie Bewertung der Aussage im Verlauf der Zeit kontinuierlich gewandelt. Fatale Rechtsirrtümer verursacht durch die falsche Erhebung einer Zeugenaussage und bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse zum menschlichen Gedächtnis sowie zur Wahrnehmung haben die Weiterentwicklung dieser Methodik maßgeblich beeinflusst.
Die Rechtspsychologie hat dabei zum einen Modelle und Techniken entwickelt, welche die Aussageerhebung im Rahmen der polizeilichen Vernehmung verbessern soll. Zum anderen beschäftigt sich das Teilgebiet der Aussagepsychologie mit der empirisch fundierten Entwicklung einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Zeugen, um einen Richter bei seiner Entscheidungsfindung durch fachspezifischen Sachverstand zu unterstützen, wenn die Würdigung der Zeugenaussage aufgrund mangelnder weiterer Beweise oder einen als problematisch zu betrachtenden Zeugentypen erschwert wird.
Eine Zeugenaussage kann nicht wie eine Videoaufzeichnung oder ein Fingerabdruck behandelt werden. Die Erhebung und Bewertung der Aussage ist aufgrund der komplexen menschlichen Psyche eine große Herausforderung. Eine völlig lückenlose bzw. fehlerfreie Arbeit wäre selbst bei einem sehr fähigen und kooperativen Zeugen utopisch. Gegenteilig können daher viele Faktoren diese Aufgabe erschweren und in Extremfällen sogar unmöglich machen. Diese Erschwernis muss dabei nicht zwingend ein bewusstes Gegenarbeiten des Zeugen zur Ursache haben, sondern kann auch durch mangelnde mentale Fähigkeiten, geistige Behinderung oder psychische Störungen entstehen, auf die der Zeuge keinen Einfluss hat.
Einen besonderen Härtefall bilden dabei Psychosen ab, bei welchen nicht nur die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten beeinträchtigt sind, sondern es bei einigen durch Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, zeitweise oder dauerhaft, zu gravierenden Störungen der Wahrnehmung und des gesamten Erlebens kommt. Oftmals können Betroffene dann nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden, misstrauen selbst ihrem engsten Umfeld und ziehen sich weitestgehend aus dem Sozialleben zurück. Dies macht sie ohne Frage zu sehr problematischen Zeugen, sowohl für die polizeiliche Vernehmung als auch für eine spätere Begutachtung. Der falsche Umgang mit ihnen kann neben einer fehlerhaften Aussage auch gefährlich für die Beamten und den Betroffenen selbst sein. Auch wenn eine solche Vernehmungssituation aufgrund der geringen Prävalenz der Störung nicht häufig vorkommt, ist für den eintretenden Fall eine besondere Vorbereitung und Sorgfalt von Nöten. In der Arbeit soll zu diesem Zweck die Aussageerhebung im Rahmen der Vernehmung sowie die spätere Aussagebegutachtung bei einem Zeugen mit einer psychotischen Störung näher betrachtet werden. Die bekannteste und häufigste Form einer psychotischen Störung ist die Schizophrenie, auf die sich in der Arbeit des Umfanges wegen beschränkt wird.
Zunächst soll eine Auswahl der aktuellen wissenschaftlichen Grundlagen im Bereich der Vernehmung sowie der Aussagebegutachtung vorgestellt werden. Zuvor werden zur Erläuterung dieser Grundlagen einige Ausführungen zum heutigen Verständnis der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses gemacht. Im Weiteren wird die bestehende Symptomatik und Diagnostik der Schizophrenie zweckorientiert zusammengefasst. Im finalen Teil werden die gelegten Grundlagen der Vernehmung und Aussagebegutachtung unter Inbezugnahme der Schizophrenie erneut betrachtet. Dabei sollen Handlungsempfehlungen und Hinweise als Konsequenz des Störungseinflusses erörtert und mögliche Grenzen einer Erhebung und Begutachtung der Aussage in etwaigen Fällen aufgezeigt werden.
Die Wahrnehmungsforschung spielt für die Rechtspsychologie eine zentrale Rolle. Zusammen mit den Erkenntnissen zum Gedächtnis bildet sie das wissenschaftliche Fundament für viele getroffenen Annahmen und entwickelte Theorien in der Rechtspsychologie. Daher sollen im Rahmen dieses Exkurses die wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammengefasst werden.
Die wohl wichtigste Erkenntnis in der Wahrnehmungspsychologie ist diese, dass kein Mensch dazu in der Lage ist, die Welt so zu erfahren, wie sie tatsächlich ist. Sämtliche unserer Eindrücke sind das Resultat eines mehrstufigen chemischen sowie neurologischen Prozesses, in welchem neben den Sinnesorganen vor allem das Gehirn eine zentrale Rolle spielt. In der Psychologie wird dieser Prozess in drei Phasen unterteilt. Zunächst werden über die fünf Sinnesorgane Informationen in Form von Reizen, auch Rohdaten genannt, aufgenommen. Diese Informationen werden bei der zweiten Phase in einer spezifischen Weise enkodiert, sodass die für die Reizverarbeitung zuständigen Hirnareale diese nutzen können. Diese beiden Phasen werden auch als Bottom-Up-Verarbeitung bezeichnet.
In der dritten Phase werden aus den Informationen Sinneseindrücke (z.B. Bilder oder Akustik) erzeugt. Entscheidend ist, dass unser Gehirn bei diesem Prozess eine nicht unerhebliche Interpretationsarbeit leistet. Es werden bisherige Erfahrungen sowie gesammeltes Wissen in die Entwicklung der Sinneseindrücke mit einbezogen. Letzterer Prozess nennt sich auch Top-Down-Verarbeitung.
Sämtliche dieser Abläufe sind nicht immer störungsfrei. So kommt es gelegentlich zu Wahrnehmungstäuschungen oder Wahrnehmungsambiguitäten. Täuschungen entstehen nach bisherigem Wissensstand bei der Reizverarbeitung und lassen uns Dinge sehen, die gar nicht oder nicht in der wahrgenommenen Weise existieren. Anders hingegen sind Ambiguitäten das Produkt einer unterschiedlichen Interpretation. Das berühmteste Beispiel sind Kippbilder, bei welchen bei mehreren Blicken unterschiedliche Dinge gesehen werden (Bak, 2020).
Ein weiterer Grund, warum unsere Wahrnehmung von der tatsächlich exsistierenden Welt abweicht, ist das Phänomen der Aufmerksamkeit. Von allen einströmenden Sinneseindrücken in der Umgebung wird nur ein Bruchteil bewusst wahrgenommen. Dies wird mit einer begrenzten geistigen Kapazität begründet. Es wäre uns unmöglich sämtliche Reize zu verarbeiten und final zu interpretieren. Die Aufmerksamkeit beschreibt de facto den selektiven Fokus der Wahrnehmung, einerseits bestimmte Reize gesondert wahrzunehmen und andere wiederum zu ignorieren (Ansorge & Leder, 2017).
Diese Selektion spielt auch bei inneren Reizen und Gedanken eine Rolle. Viele Tätigkeiten (z.B. Autofahren) haben wir automatisiert und wir können sie problemlos ausführen, ohne sie bewusst wahrnehmen zu müssen. (Bak, 2020).
Im Anschluss an die Wahrnehmung soll nun der bisherige Forschungsstand zum menschlichen Gedächtnis skizziert werden. Dabei wird zunächst der grundlegende Ablauf der Informationsverarbeitung erläutert. Im Anschluss soll kurz auf mögliche Fehlerquellen in diesem Prozess eingegangen werden.
Der Verarbeitungsprozess im Gedächtnis umfasst das Enkodieren, das Speichern sowie den Abruf von Informationen. Verarbeitet werden verschiedenste Arten von Informationen, welche unterschiedliche Zwecke erfüllen. Neben bloßen Reizinformationen wie Bilder und Geräusche werden autobiographische Details, Faktenwissen, semantisches Wissen, Sprache oder auch besondere motorische Fertigkeiten wie akrobatisches Können oder Klavierspielen gespeichert (Gruber, 2011).
Das Gedächtnis lässt sich in Bezug auf den o.g. Prozess der Verarbeitung in drei verschiedene Bereiche unterteilen. Das sensorische Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis (auch Arbeitsgedächtnis) sowie das Langzeitgedächtnis.
Jeder sinnlich aufgenommene Reiz gelangt zunächst in das sensorische Gedächtnis. Dort ist er originalgetreu und ohne jede Kategorisierung vorhanden. Dieses Gedächtnis besitzt dadurch eine enorme Speicherkapazität. Jedoch wird die Dauer der Speicherung nur auf den Bruchteil einer Sekunde geschätzt. Daher ist es kaum möglich diesen Vorgang bewusst wahrzunehmen. Nach dieser Zeitspanne werden die alten Eindrücke nahtlos durch die Folgeeindrücke überschrieben, sodass ein fließender Prozess entsteht (Becker-Carus & Wendt, 2017).
Dem sensorischen Gedächtnis ist das Kurzzeitgedächtnis nachgeschaltet. Dort findet eine erste Selektion der Informationen statt. Es werden nur Informationen aus dem sensorischen Gedächtnis weitergeleitet, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Die Speicherkapazität ist begrenzt und Informationen verschwinden nach maximal 20 Sekunden, wenn man sich nicht weiter mit ihnen beschäftigt. Neben den über das sensorische Gedächtnis aufgenommenen Reizen werden zudem Informationen aus dem Langzeitgedächtnis reaktiviert, wenn wir uns an etwas erinnern. Daher wird dieses Gedächtnis auch Arbeitsgedächtnis genannt. Es bildet in gewisser Weise unser Bewusstsein ab.
Im Langzeitgedächtnis werden alle für relevant erachteten Informationen final gespeichert bzw. aufbewahrt. In diesem Gedächtnis sind Dauer und Kapazität der Speicherung zunächst unbegrenzt. Das Alter gespeicherter Informationen reicht von wenigen Minuten bis über viele Jahrzehnte. Schematisch werden die Informationen in zwei übergeordneten Gedächtnissystemen verortet. Das erste System, das sogenannte deklarative Gedächtnis, bearbeitet sämtliche Informationen, welche bei einer späteren Reaktivierung bewusst wahrgenommen werden. Dazu zählen zum einen Faktenwissen und semantisches Wissen. Zum Beispiel in der Schule gelerntes Geschichtswissen oder die Bedeutung bestimmter Wörter. Des Weiteren das episodische Wissen. Also Erinnerungen über kürzliche Geschehnisse oder persönliche, lange zurückliegende Ereignisse in Form des autobiographischen Gedächtnisses.
Im zweiten System, dem nondeklarativen Gedächtnis, befinden sich Informationen, die uns bei Bedarf ebenfalls zur Verfügung stehen. Allerdings erfolgt deren Aktivierung durch ein unbewusstes System und eine aktive Suche nach ihnen ist nicht möglich. Dabei handelt es sich u.a. um motorische Fertigkeiten, Sprache oder um das Erkennen bekannter Gesichter (Bak, 2020).
Innerhalb dieses Verarbeitungsprozesses kann es jedoch in allen drei Phasen (Enkodierung, Speicherung und Abruf) zu einem Informationsverlust bzw. Veränderungen der Informationen kommen.
Zum einen wird nicht jeder Sinneseindruck wahrgenommen bzw. enkodiert und im Weiteren nicht jede bewusste Wahrnehmung letztlich gespeichert. Auch können weitere Faktoren wie Lichtverhältnisse, Stress, Gewalteinwirkungen oder emotionale Betroffenheit eine adäquate Wahrnehmung und Speicherung erschweren (Milne & Bull, 2003).
Ferner kann das menschliche Gedächtnis nicht mit einer Festplatte verglichen werden, auf welcher Informationen statisch, transparent und jederzeit abrufbar sind. Es handelt sich vielmehr um ein lebendiges System aus komplexen Netzwerken, in welchen mit den Informationen auch nach der Speicherung noch weitergearbeitet werden kann. Es ist sogar möglich, Informationen durch eine intensive gedankliche Beschäftigung zu Verändern oder durch fiktive Details zu ergänzen, die nie wahrgenommen oder erlebt wurden.
Weitere Faktoren können zu Fehlern im Abruf der Informationen führen. Bei Erinnerungslücken oder geringer Plausibilität der Erinnerung können teils unbewusst ähnliche Ereignisse oder abstrahierte bzw. standardisierte Ereignisabläufe (sog. Skripte) genutzt werden, um diese Defizite auszugleichen. Dieser Ablauf kann auch durch persönliche Motive und Intentionen gelenkt werden. Ferner können externe Faktoren Abruffehler bewirken. Durch Suggestion bzw. Induktion, kollektives Erinnern oder externe Erwartungen bzw. externen Druck kann es ebenfalls zum Abruf fehlerhafter oder gar völlig falscher Informationen kommen (Rohmann, 2019).
Insbesondere auf die Suggestion wird wegen ihrer enormen Relevanz für Vernehmungen und die Aussagepsychologie in den folgenden Kapiteln genauer eingegangen.
Dieser kurze und zweckorientierte Exkurs führt zu der bereits in der Einleitung angedeuteten relevanten Erkenntnis, dass Aussagen über menschliche Erinnerungen das finale Resultat eines teils sehr langen und vielschichtigen Prozesses sind, welcher in jeder Phase diverse Quellen für die Entstehung unvollständiger und fehlerhafter Informationen aufweist.
Wie bereits erwähnt, macht die Vernehmung von Zeugen einen Großteil der polizeilichen Arbeit in der Strafermittlung aus. Meistens ergeben sich zentrale Hinweise für weitere Ermittlungen aus den Angaben von Zeugen (Milne & Bull, 2003). Die Erhebung einer möglichst umfangreichen, detaillierten und fehlerfreien Aussage ist daher enorm wichtig. Neben dem primären Ermittlungserfolg ist zudem ein bestellter psychologischer Gutachter auf eine gründliche und bedachte Arbeitsweise durch die Polizei angewiesen. Wie durch den Grundlagenexkurs festgestellt, handelt es sich bei der Erhebung einer menschlichen Erinnerung nicht um das Auslesen einer Videokamera. Die menschliche Wahrnehmung und das Gedächtnis bilden selten einen genauen und fehlerfreien Sachverhalt ab. Die Herangehensweise der Polizei bei der Vernehmung hat nachweislich einen maßgeblichen Einfluss auf das Resultat der Zeugenaussage und kann bei unüberlegten Methoden zu fatalen Folgen führen. Ein berühmtes Beispiel ist der sogenannte Montessori-Prozess[CE(1] 1.Mittlerweile wird versucht die Fehlerrate in Vernehmungen durch die Entwicklung und Anwendung von Strukturmodellen und Befragungstechniken zu reduzieren. Im folgenden Abschnitt soll zunächst eine Reihe von aufeinander aufbauenden Modellen vorgestellt werden, welche versuchen die optimale Struktur einer Vernehmung zu entwickeln. Im Anschluss dieser Vorstellungen sollen zu den einzelnen entwickelten Phasen weitere Hinweise und Konsequenzen der bisherigen Forschung und Praxis der Vernehmung ergänzt werden. Die Ergänzung beziehen sich im Großteil auf die reine Verbesserung der Aussageerhebung, jedoch sind Überschneidungen mit rechtlichen sowie organisatorischen Aspekten, um welche es hier nicht primär gehen soll, teilweise nicht zu vermeiden.
Dieses Modell gilt als ein wichtiger Grundstein für eine bedeutende Veränderung in der Kriminaltaktik. Es gilt als einer der ersten Ansätze eine Vernehmung unter psychologischen, arbeitsökonomischen und auch finanziellen Gesichtspunkten im Rahmen eines Gesamtkonzeptes zu strukturieren.
Das GEMAC -Modell wurde im Jahre 1988 von den Forschern Sherperd und Kite in Großbritannien entwickelt. Das Wort GEMAC ist ein Akronym und setzt sich aus den wesentlichen Handlungsschritten des Modells zusammen. Es wird mit der Begrüßung (Greeting ) begonnen. Diese wird gefolgt von der Erklärung (Explanation ) und mit der gemeinsamen Aktivität (Mutual Activity ) weitergeführt. Bei letzterer handelt es sich um den Hauptteil der Vernehmung, welcher einen freien Bericht durch den Zeugen sowie eine anschließende Befragungsphase beinhaltet. Dabei soll der Zeuge durch aktives Zuhören der Vernehmenden in ihrem Aussageverhalten gesteuert werden. Die Vernehmung wird mit dem Abschluss (Closure ) beendet (Hermanutz & Litzcke, 2009).
Des Weiteren wollen die Forscher den Irrglauben ausräumen, dass ein Widerstand in der Vernehmung nur auf eine mögliche Schuld zurückzuführen ist. Die Ursache könne auch andere Gründe wie Furcht über das Geschehene zu sprechen, Erinnerungslücken oder mangelnde Kooperationsbereitschaft gegenüber der Vernehmenden sein. Der Widerstand ergebe sich demnach aus zwei wesentlichen Quellen. Die mangelnde Bereitschaft sowie die mangelnde Fähigkeit zu sprechen. Diese zwei Quellen bilden vier Kombinationsmöglichkeiten:
- Die Person ist gewillt und fähig zu sprechen
- Sie ist fähig, jedoch nicht bereit zu sprechen
- Sie ist bereit zu reden, aber nicht dazu fähig
- Sie ist weder zu einer Aussage bereit noch dazu fähig
Alle Varianten sollten im Umgang mit Widerstand in Betracht gezogen werden. Dadurch kann die Chance einer Fehlinterpretation der Situation gemindert werden. Ferner fordern Sheperd und Kite einen offenen, respektvollen und empathischen Umgang auf gleicher Ebene. Nur so könne eine gesunde Arbeitsbeziehung hergestellt werden (Milne & Bull, 2003).
Als gedanklicher Nachfolger und Weiterentwicklung dieses Prinzips gilt das sogenannte PEACE -Modell. Auch hinter dieser Begrifflichkeit verbirgt sich ein schrittweises Vorgehen. Hierbei lassen sich jedoch bereits Ergänzungen und Konkretisierungen in der Vorgehensweise feststellen. Somit beginnt die Arbeit des Vernehmenden bereits mit der Planung und Vorbereitung (Planing and Preperation ) der Vernehmung. Dieser Arbeitsschritt wird häufig unterschätzt und sorgt bei richtiger Umsetzung für mehr geistige Kapazitäten in der eigentlichen Vernehmung. Letztere beginnt dem Modell nach mit Herstellen von Einvernehmen sowie mit der Erklärung (Engage and Explain ). Hier finden sich die oben genannten Arbeitsschritte Begrüßung und Erklärung wieder. Ziel dieses Schrittes ist es insbesondere durch Höflichkeit und Transparenz eine gute Arbeitsbeziehung herzustellen, was die Qualität des späteren Ergebnisses nachweislich positiv beeinflussen kann. Im Anschluss wird die eigentliche Aufnahme der Aussage mit dem freien Bericht sowie der Befragungsphase (Account ) eingeleitet. Bei der Auswahl der Fragen soll eine Suggestion des Aussagenden möglichst ausgeschlossen werden. Nach Beendigung der Befragung wird dem Vernommenen im Rahmen des Abschlusses (Closure ) der Verlauf des Verfahrens näher erläutert und offene Fragen beantwortet. Auch wird das Einvernehmen des Aussagenden über die dokumentierte Aussage durch eine Unterschrift auf dem Protokoll sichergestellt. Anders als im ersten Modell endet das PEACE-Modell erst mit der Auswertung (Evaluation ) der Ergebnisse. Dabei werden die Informationen in ihrem Wert sowie ihrer Bedeutung für weitere Ermittlungen bemessen (Artkämper, Floren & Schilling, 2021).
Die strukturierte Zeugenvernehmung wurde auf Basis des bereits vorgestellten PEACE-Modells entwickelt und wird zum Teil in der Aus- und Fortbildung der Polizei NRW im Rahmen von Vernehmungstrainings vermittelt. Sie unterscheidet sich dabei neben den begrifflichen Variationen in Bezug auf Bedeutung sowie Struktur kaum von seinem Vorgänger. Der einzige Unterschied ist die Trennung der Accountphase in den freien Bericht und die Befragungsphase (Artkämper et al., 2021).
Neben Festlegung von Ort, Zeit, Teilnehmern sowie der Protokollierungsform ist der wichtigste Teil der Vorbereitung das Aktenstudium.
Zunächst muss sich in ausreichendem Maße mit dem Sachverhalt vertraut gemacht werden. Insbesondere müssen klärungsbedürftige Fragen zum Tatbestand herausgearbeitet und auf die Agenda der Vernehmung gesetzt werden. Des Weiteren ist dies relevant, damit objektive Befunde sowie Aussagen anderer Zeugen oder des Beschuldigten direkt mit denen des Vernommenen abgeglichen werden können. [CE(2] So können offensichtliche Lügen, Irrtümer und Widersprüche entlarvt werden, welche sonst evtl. unentdeckt bleiben würden.
Ferner sollte sich mit der zu vernehmenden Person vertraut gemacht werden. Zum einen können allgemeine Informationen zur Person wie Schulbildung, Beruf, oder der bisherige Lebensweg relevant sein. Zum anderen sollte ihre [CE(3] Rolle sowie ihre [CE(4] Beziehungen im aktuellen Verfahren ermittelt werden. Ob sie [CE(5] z.B. mit dem Beschuldigten bekannt bzw. verwandt ist. Oder ob und in welcher Rolle sie bereits polizeilich in Erscheinung getreten ist und wie sie [CE(6] sich in diesen Fällen der Polizei gegenüber verhalten hat (Artkämper et al., 2021).
Im Rahmen des ersten Kontaktes sind zunächst die Angaben zur Person zu erheben und die Belehrung durchzuführen. Außerdem muss die Vernehmungsfähigkeit festgestellt werden. Ein Zeuge ist dann zur Vernehmung fähig, wenn er die Situation der Vernehmung versteht, ihm die Bedeutung und Tragweite seiner Aussagen bewusst ist und man ihm zumutet seine Interessen vernünftig wahrzunehmen. Diese Fähigkeit kann beispielsweise eingeschränkt sein bei
- Zeugen unter dem Einfluss berauschender Mittel
- Abhängigen auf Entzug ihrer Droge
- besonders jungen oder alten Menschen
- sonstigen körperlichen bzw. geistigen Mängeln
Die Vernehmungsfähigkeit muss immer individuell festgestellt werden (Artkämper et al., 2021).
Wie bereits erwähnt ist auch der Aufbau einer guten Arbeitsebene unabdingbar. Arntzen (2008) spricht in diesem Kontext von der „Öffnung und Enthemmung des Zeugen“. Oftmals werden viele und z.T. auch sehr relevante Informationen aufgrund einer Gehemmtheit zurückgehalten. Diese zeigt sich nicht selten nur recht subtil in Form von kaum erkennbarer Mimik und Gestik oder durch bestimmte, sehr allgemein gehaltene Äußerungen. Der Umgang mit diesem Phänomen erfordert daher ein gewisses Maß an Feingefühl. Ein offener und freundlicher Stil ist für den Anfang einer Vernehmung sowohl aus taktischer Sicht als auch für das Wohlbefinden des Zeugen zunächst der bessere Weg. Dies bedeutet nicht, dass in manchen Fällen später zu energischeren Mitteln gegriffen werden kann. Jedoch kann eine Konfrontation mit dem Zeugen die Arbeitsbeziehung nachhaltig schädigen und sollte daher das letzte Mittel bleiben. Es sollte zudem darauf geachtet werden, den eigenen Sprachgebrauch an die sprachlichen Gewohnheiten des Zeugen anzupassen. Ansonsten könnte es aufgrund unbekannter Worte oder eines zu komplizierten Satzbaus zu Verständigungsproblemen kommen.
Weiterführend kann eine transparente Darstellung des Ablaufes der Vernehmung sowie des weiteren Verfahrens zu mehr Verständnis und einer höheren Kooperationsbereitschaft des Zeugen führen (Arntzen, 2008).
Der freie Bericht ist sowohl für die Ermittlungen als auch für spätere Glaubhaftigkeitsgutachten von enormer Wichtigkeit. Im Optimalfall gibt er ungefiltert und ohne fremden Einfluss den Sachverhalt aus der Sicht des Zeugen wieder und ist der Ausgangspunkt für die anknüpfende Befragungsphase. Die Wahl der preisgegebenen Informationen, die Erzählweise und auch das generelle Auftreten des Zeugen sind für ein späteres Glaubhaftigkeitsgutachten essenziell.
Das Forscherteam Geiselmann und Fisher entwickelte [CE(7] eine spezielle Methode zur Aussageerhebung, das sog. kognitive Interview. Sie basiert auf aktuellen psychologischen Erkenntnissen zum menschlichen Gedächtnis. Das Ziel des kognitiven Interviews ist es, durch gedächtnisfördernde Techniken eine detailreiche und qualitativ hochwertige Aussage zu erzielen. Die ursprüngliche Form besteht aus vier anwendbaren Techniken. Die Methode wurde durch die Forscher im Rahmen des erweiterten kognitiven Interviews verbessert, indem die Techniken in eine strukturierte Vernehmung integriert wurden.
Zwei Techniken des kognitiven Interviews können dabei auch im freien Bericht Anwendung finden. Die erste Technik wird mit der Anweisung „ Berichten sie alles “ eingeleitet. Was zunächst sehr trivial und selbstverständlich klingt hat einen durchaus sinnvollen Hintergrund. Denn nicht wenige Personen selektieren ihre Aussage bereits unaufgefordert und lassen einige Aspekte aus. Das kann den Grund haben, dass sie befürchten den Vernehmenden mit vermeintlich belanglosen Geschehnissen wichtige Zeit zu stehlen oder weil sie nur das berichten wollen, wobei sie sich ganz sicher sind. Auch ist möglich, dass manche Personen sogar glauben der Polizei damit Ermittlungsarbeit abzunehmen. Wenn sie also dazu aufgefordert werden, keinen Aspekt zum Geschehen auszulassen, kann dieser Informationsverlust vermindert [CE(8] werden. Wichtig ist dabei jedoch, dass diese Aufforderung stets mit dem Hinweis begleitet wird, dass Unsicherheiten oder Erinnerungslücken offen angesprochen und keine Informationen erfunden werden sollen (Milne & Bull, 2003).
Nach Arntzen (2008) ist der freie Bericht häufig eine Wunschvorstellung und nicht in dem Umfang und der Detaillierung vorhanden, wie es gewünscht wäre. Denn für viele Zeugen stellt diese freie Erzählweise eine enorme kognitive Herausforderung dar. Somit benötigen sie oft eine formale Einstiegshilfe.
Diese Hilfe kann durch eine weitere Technik des kognitiven Interviews geboten werden. Die Technik soll die Person in die Situation bzw. den Wahrnehmungskontext zurückbringen. Dadurch können möglicherweise zunächst nicht abrufbare Informationen reaktiviert werden. Dies geschieht in der Regel mittels einer gedanklichen Führung durch den Vernehmenden, welcher die Person durch seine Aussagen erneut in das Geschehen zurückversetzt. Bei dieser Technik besteht jedoch eine größere Gefahr der Suggestion, da der Person gegebenenfalls Details des Falls mitgeteilt werden, welche sie gar nicht kannte. Daher ist darauf zu achten, dass insbesondere ermittlungsrelevante Informationen dem Zeugen keinen unzulässigen gedanklichen Vorteil bringen. Diese Vorgehensweise wird aufgrund der Suggestionsgefahr sehr kritisch beäugt (Artkämper et al., 2021).
Grundsätzlich sollte der Zeuge in seinem freien Bericht nicht unterbrochen werden. Wenn der Zeuge allerdings in seinen Ausführungen so sehr abschweift, dass keine Verbindung mehr zum Sachverhalt besteht[CE(9] , kann er ohne Probleme darauf hingewiesen werden. Jedoch sollten Abschweifungen in der Sache selbst zunächst zugelassen werden, da deren spätere Relevanz für die Ermittlung sowie die Glaubhaftigkeitsbegutachtung nie genau eingeschätzt werden kann (Arntzen, 2008).
Mit der Befragungsphase beginnt die eigentliche ermittelnde Tätigkeit der Vernehmenden. Das Ziel dieser Befragung ist es[CE(10] , „Ordnung in einen sprunghaft ungeordneten Bericht zu bringen, Lücken zu schließen und dem Prinzip gerecht zu werden, möglichst viel Aussagematerial zu gewinnen“ (Arntzen, 2008, S. 30).
Die gestellten Fragen müssen dabei nach Arntzen (2008) suggestionsfrei sein. Wenn eine Frage dem Zeugen die Antwort, aufgrund einer sehr geschlossenen Formulierungsweise, bereits vorgibt, werden dem Zeugen wenig bis keine Alternativen geboten, mit eigenen Angaben zu reagieren. Bei besonders suggestiblen Zeugen kann dadurch ein erheblicher Informationsverlust entstehen. Ein Zeuge ist z.B. besonders empfänglich für Suggestion, wenn er dem Vernehmenden kognitiv bzw. sprachlich unterlegen ist (z.B. Kleinkinder). Daher sollten solche Suggestivfragen nach Möglichkeit gar nicht verwendet werden. Die Fragen sollten anfangs möglichst offen sein und den Inhalt der Antwort möglichst wenig vorbestimmen [CE(11] (z.B. Wie ging es weiter?).
Allerdings müssen geschlossene Fragen nicht zwingend eine suggestive Wirkung haben und können auch sinnvoll eingesetzt werden. Bei der häufig genutzten Trichterbefragung wird die Aussage des Zeugen in Handlungsabschnitte untergliedert. Relevante Abschnitte (z.B. das Tatgeschehen) werden bei dieser Technik isoliert betrachtet. Durch gezielte Fragen, welche anfangs sehr offen gestellt und später immer geschlossener werden, sollen mehr Details zu diesem Abschnitt erhoben werden. Da sich der Inhalt der geschlossenen Fragen nach den Aussagen des Zeugen richtet, ist die Gefahr suggerierter Aussagen sehr gering (Artkämper et al., 2021).
Milne und Bull (2003) betonen, dass mehrfache Abrufversuche im selben Handlungsabschnitt durchaus zu neuen Informationen führen können. Jedoch sollte dafür die Suchstrategie variiert werden. Dazu bietet das erweiterte kognitive Interview eine weitere Möglichkeit mit den zwei Techniken Abruf in umgekehrter Reihenfolge und den Perspektivenwechsel.
Wenn die Reihenfolge der Geschehnisse variiert werden soll, ist die Wiedergabe für den Zeugen zwar zunächst anspruchsvoller. Aber die Variation kann nachweislich vermeiden, dass der Zeuge zum Auffüllen von Erinnerungslücken auf erlernte Skripte zurückgreift, welche dem menschlichen Gedächtnis dabei helfen[CE(12] , bekannte und alltägliche Vorgänge zu abstrahieren.
Die Aufforderung an den Zeugen, eine Situation aus einem anderen Blickwinkel oder der Sicht eines anderen Beteiligten zu beschreiben, kann dieser Perspektivwechsel verborgene Erinnerungen reaktivieren. Allerdings ist bei dieser Vorgehensweise die Gefahr hoch, dass der Zeuge fehlende Informationen mutmaßend dazuerfindet.
Bei sehr suggestiblen Zeugen sollten diese Techniken grundsätzlich nicht angewandt werden.
Der Vernehmungsabschluss sollte dem Zeugen eindeutig signalisiert werden. Neben der schriftlichen Bestätigung der Vernehmungsprotokollierung durch den Zeugen sollte diesem noch die Möglichkeit gegeben werden offene Fragen zum weiteren Geschehen und Verfahrensablauf zu stellen. Ferner sollten die Erreichbarkeiten für weitere Rückfragen oder zum Nachtragen weiterer Hinweise ausgetauscht werden. Der hier hinterlassene Eindruck der Beamten kann auch für künftige Vernehmungen mit dem Zeugen noch relevant sein.
Die Auswertung der Aussage dient insbesondere dem Zweck, ihren Wert bzw. ihre Bedeutung für die weiteren Ermittlungen zu bemessen. Basierend auf den neuen Erkenntnissen werden neue Maßnahmen wie z.B. weitere Vernehmungen geplant (Hermanutz, Litzcke & Kroll, 2018).
Die nun vorgestellten Modelle und weiterführenden Hinweise können die Qualität der Aussageerhebung nachweislich verbessern. Jedoch bilden sie keinen Bauplan für die perfekte Vernehmung ab und müssen immer auf den individuellen Fall angewandt und für diesen konkretisiert werden. Je nach Zeugen kann die Vorbereitung umfangreicher sein oder der freie Bericht, nicht in der gewünschten Form vorgetragen werden. Oder es muss bei suggestiblen Zeugen in der Frageweise und Anwendungen von Techniken des kognitiven Interviews bedachter vorgegangen werden.
Das Feld der Aussagepsychologie befasst sich mit der Begutachtung einer Zeugenaussage durch einen psychologischen Sachverständigen. Bereits um 1900 gab es anfängliche Forschungen im Bereich der Aussagepsychologie, welche sich mit dieser Thematik befassten. Jedoch bestand die empirische Basis nur aus älteren Strafakten und Laborstudien, weshalb Ansätze aus dieser Zeit heute nicht mehr wirklich vertreten werden. Zudem wurden zu der Zeit nur wenig Gutachten bestellt.
Mit Beginn der 1950er Jahre wurden Glaubhaftigkeitsgutachten bei Gerichten populärer und nach und nach regelmäßig angefordert. Zudem erhielten die Gutachter neben dem reinen Aktenstudium mehr Möglichkeiten, sich mit dem Zeugen und seinen Erlebnissen in persönlichen Gesprächen weitergehend auseinanderzusetzen, was gleichermaßen die empirische Forschung enorm voranbrachte. Auch neue Ansätze der Wahrnehmungs- und Gedächtnispsychologie waren für die Weiterentwicklung der Gutachten förderlich. Das größte Einsatzfeld für solche Gutachten ist bis heute das der Sexualdelikte. Jedoch könne man empirische Erkenntnisse mit einigen Abweichungen gut verallgemeinern und auf andere Deliktsbereiche anwenden. Während in früheren Gutachten oftmals nur die Persönlichkeit des Zeugen (Glaubwürdigkeit) untersucht wurde, gewann mit der Zeit die Aussage selbst (Glaubhaftigkeit) für die Begutachtung immer mehr an Bedeutung (Arntzen, 2011).
Durch eine im Jahre 1999 gefällte Grundsatzentscheidung des BGH wurden an sämtliche aussagepsychologische Gutachten allgemein geltende wissenschaftliche Grundanforderungen gestellt. Auf Basis der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse wird eine hypothesengeleitete Aussagebeurteilung vorgegeben. Diese wird in allen Fällen mit der sogenannten Nullhypothese begonnen. Sie besagt sinngemäß, dass die zu untersuchende Aussage nicht auf einem tatsächlich realen Erlebnis basiert. Die Nullhypothese soll für jedes Gutachten spezifiziert werden. Damit ist gemeint, dass im konkreten Fall nach weiteren Hypothesen gesucht werden soll, welche die Annahme der Nullhypothese stützen. Dabei werden Szenarien entwickelt, die unterschiedliche Möglichkeiten darstellen, in welcher Weise die getätigte Aussage nicht erlebnisbasiert sein könnte. In diesem Prozess sollen alle vorhandenen Informationen für die Hypothesengenerierung mit einbezogen werden. Zudem handelt es sich nicht um eine statische und endgültige Entscheidung. Vielmehr sollen fortlaufend weitere Hypothesen gebildet werden, wenn neue Informationen dies erfordern.
Erst wenn alle aufgestellten Hypothesen nachweislich widerlegt werden können, wird die Nullhypothese verworfen und die Alternativhypothese, dass die Aussage tatsächlich erlebnisbasiert ist, kann angenommen werden. Diese Vorgehensweise, welche die Wahrheit einer Aussage zunächst immer negiert, soll verhindern, dass bei einer möglicherweise selektiven Informationssuche zur Bestätigung der aufgestellten Hypothese manche Varianten eines Falls erst gar nicht in Betracht gezogen werden. Oder dass die Zuverlässigkeit von Informationen, welche die zu testende Hypothese stützt, überschätzt wird (Jansen, 2012).
Für die Hypothesengenerierung kommen regelmäßig zwei wesentliche Annahmen in Betracht. Zum einen ist dies die Annahme einer teilweise bzw. vollständig erfundenen bewussten Falschaussage. Die zweite Annahme geht der Frage nach, ob eine mögliche Auto- oder Fremdsuggestion zu einer unbewussten Falschaussage geführt haben könnte (Pfundmair, 2020).
Regelmäßig wird für Gutachten daher folgende Leitfrage verwendet:
- mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen
- unter den gegebenen Befragungsumständen und
- unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten
„Könnte dieser Zeuge diese spezifische Aussage machen, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert“ (Jansen, 2012).
Bei der Analyse der Aussagekompetenz, auch Aussagetüchtigkeit genannt, werden die geistigen Fähigkeiten der Aussageperson genauer untersucht. Gemeint sind zum einen die allgemeinen Leistungsfähigkeiten. Darunter fallen sämtliche Bereiche der Wahrnehmung sowie des Gedächtnisses. Zum anderen wird die sprachliche Leistungsfähigkeit der Person näher betrachtet. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, ob die Person grundsätzlich dazu in der Lage ist, den geschilderten Sachverhalt wahrzunehmen, längerfristig im Gedächtnis abzuspeichern, später wieder abzurufen und in den gewählten Worten der getätigten Aussage wiederzugeben (Hermanutz & Litzcke, 2009).
Bei der Prüfung handelt es sich jedoch nicht immer zwangsläufig um ein mehrstufiges Testverfahren und es werden keine fehlerfreien Aussagen erwartet. Es wird lediglich überprüft, ob ein gewisser geistiger Mindeststandart besteht. Zudem wird im Hinblick auf die Suggestionshypothese untersucht, wie suggestibel, d.h. wie empfänglich der Zeuge für Suggestion ist. Bei Menschen im Jugend- sowie frühen und mittleren Erwachsenenalter kann dies meistens problemlos bejaht werden. Bei Kindern im Vorschulalter oder sehr alten Menschen kann eine solche Prüfung regelmäßig umfangreicher ausfallen. Gleiches gilt, wenn der Verdacht eines temporären oder dauerhaften psychopathologischen Zustandes besteht. Ein temporärer Zustand wird häufig durch die Einnahme von Alkohol, Cannabis oder anderen Drogen bzw. berauschenden Mitteln erzielt. In seltenen Fällen auch durch akut psychotische Schübe. Bei einem temporären Zustand ist relevant, ob sich die Person während der Tatzeit oder der getätigten Aussage in diesem Zustand befunden hat. Dauerhafte psychopathologische Zustände liegen häufig bei schweren geistigen Behinderungen oder bei manchen psychischen Krankheiten wie bei einigen Persönlichkeitsstörungen oder bei Schizophrenie vor. Jedoch wird bei keinem der o.g. Fälle ein generelles Fehlen der Aussagekompetenz angenommen. Vielmehr bedarf es immer einer individuellen Prüfung (Pfundmair, 2020).
Des Weiteren wird im Rahmen der Begutachtung auch immer die Genese der untersuchten Aussage betrachtet. Im Vordergrund stehen hierbei die erste polizeiliche Erhebung der Aussage sowie sämtliche weitere Vernehmungen durch die Polizei. Zum einen wird diese Untersuchung durchgeführt, um die Konstanz der Aussage zu ermitteln. Dazu wird die Erstaussage des Zeugen mit allen weiteren bei der Polizei getätigten Aussagen verglichen und dahingehend überprüft, ob sich die Kernaspekte der Aussage sinngemäß verändert haben. Ferner wird nach möglichen Erweiterungen des Aussageinhaltes durch selbstinduzierte Verbesserungen und Präzisierungen gesucht (Hermanutz et al., 2018).
Des Weiteren ist eine solche Untersuchung besonders wichtig, wenn ein Suggestionsverdacht besteht. Wie bereits im Abschnitt über die Zeugenvernehmung festgestellt, kann das Verhalten des Vernehmenden das Aussageverhalten des Zeugen erheblich beeinflussen. Diese Einflussnahme muss dabei nicht einmal gewollt sein, sondern wird durch den Vernehmenden oft unbewusst herbeigeführt. So können besonders suggestible Zeugen durch eine unüberlegte Frageweise sowie durch ausreichenden und anhaltenden Druck dem Vernehmenden irgendwann genau die Antworten liefern, nach denen er verlangt (Hermanutz & Litzcke, 2009).
Die Beeinflussung des Zeugen kann auch bereits vorher geschehen sein. Deckers (2019) bemängelt, dass die Untersuchung der [CE(13] Aussagegenese häufig nicht gründlich genug sei. Vielfach wird das soziale Umfeld des Zeugen nicht genauer untersucht. Bei familienrechtlichen Konflikten könne gerichtliches Aktenmaterial genutzt werden, um eine dort ggf. stattgefundene Beeinflussung des Zeugen zu ermitteln. Bei Opfern von sexuellem Missbrauch können therapeutische Bewältigungsmaßnahmen wichtige Erinnerungsinhalte überlagern. Daher sollte bereits die Zeitspanne vor der ersten Aussage Teil dieser Untersuchung sein.
Neben der Entstehung und Entwicklung der Aussage wird auch die Motivation des Zeugen in die Begutachtung einbezogen. Dazu werden sämtliche Informationen zur Lebensgeschichte, zur Beziehung mit dem Beschuldigten sowie zur aktuellen Situation des Zeugen zusammengetragen und ggf. weitere erhoben. Auf dieser Basis werden vermutete Interessen, Wünsche und Intentionen des Zeugen benannt und Szenarien für eine mögliche Falschaussage erstellt (Hermanutz & Litzcke, 2009). Für Arntzen (2011) sind die häufigsten Motive für Falschaussagen ein Geltungsbedürfnis, ein Bedürfnis nach Rache, sexuelles Wunschdenken, Not und Verlegenheit sowie Hilfsbereitschaft (Kameradschaftlichkeit). Zudem sind auch fremde Motive in Form einer induzierten Aussage nicht selten. Die Aussagemotivation ist für die Bewertung mancher Glaubhaftigkeitsmerkmale eine wichtige Komponente.
Im Rahmen der Aussagequalität werden in einem Gutachten die Aussagen selbst analysiert, welche der Zeuge getätigt hat. Zu diesem Zweck wurden Glaubhaftigkeitsmerkmale, auch Realkennzeichen genannt, aufgestellt. Diese Merkmale sind empirisch untersucht worden und werden, mit gegebenenfalls leichten Abwandlungen, von den meisten Forschern und Gutachtern akzeptiert und angewandt (Hermanutz et al., 2018).
Bei der Auswahl der Merkmale [CE(14] war insbesondere wichtig, dass sie hinreichend bestimmbar und von anderen Kennzeichen abzugrenzen sind. Sie müssen im konkreten Fall objektiv erfassbar sein und ihr Vorliegen darf nicht strittig sein. Zudem müssen die Kennzeichen bei einem Zeugen auch reproduzierbar sein, damit sich das Gericht ein eigenes Bild machen kann. Entweder treten sie in der eigentlichen Gerichtsverhandlung direkt in Erscheinung oder sind durch ausführliche Schilderungen früherer Aussagen und Verhaltensweisen hinreichend rekonstruierbar. Das heutige vorliegende System ist das Resultat vieler Jahrzehnte an Forschung sowie forensischer Praxis und viele Persönlichkeiten haben ihren Beitrag zu diesem System geleistet (Arntzen, 2011).
Jedoch darf die Aussagekraft dieser Merkmale nicht fehlinterpretiert werden. Isoliert gesehen haben sie keine wirkliche Validität. Erst die Summe aller in der Aussage auffindbaren Merkmale kann genutzt werden. Ferner besteht die Auswertung der Merkmale auch nicht in einem bloßen Aufaddieren dieser. Sie müssen immer im Kontext des individuellen Falls betrachtet werden und sind nur ein weiterer Teilaspekt der gesamten Begutachtung. Somit bedeutet weder ein zahlreiches Vorliegen der Merkmale automatisch, dass die Aussagen zweifelsfrei erlebnisbasiert sind. Noch ist das massive Fehlen dieser ein klarer Beweis für eine bewusste oder unbewusste Falschaussage (Hermanutz et al., 2018).
Nach Jansen (2012) ist zudem das Resultat der Hypothesenbildung entscheidend für die Aussagekraft der Merkmale. Die Merkmale können auch bei Falschaussagen kodiert [CE(15] werden, insbesondere wenn [CE(16] sich der Zeuge der Unwahrheit nicht bewusst ist. Daher ist diese merkmalsorientierte Begutachtung bei unbewussten Falschaussagen wie bei dem Verdacht einer Auto- oder Fremdsuggestion nicht anwendbar.
Die Glaubhaftigkeitsmerkmale lassen sich grob in drei Kategorien einteilen. Die erste beinhaltet Merkmale, welche eher die gesamte Aussage in ihrer Entwicklung und ihrer Struktur analysieren. Die Merkmale der zweiten Kategorie untersuchen den speziellen Inhalt der Aussage. Die dritte Kategorie beinhaltet Merkmale, welche anhand spezieller inhaltlicher Aspekte die Aussagemotivation des Zeugen betrachten. Eine genauere Einteilung kann je nach Autor leicht variieren. So unterteilt Arntzen (2011) in Aussageinhalt, Aussageentwicklung, Aussageweise und Motivationsumfeld. Jansen (2012) und Pfundmair (2020) hingegen nutzen die Darstellungsweise nach Steller und Köhnken aus dem Jahr 1989. Auch in der Merkmalsbezeichnung gibt es bei den Autoren Abweichungen. Jedoch besteht in deren Definition bzw. inhaltlicher Bedeutung Einigkeit. Zum Zwecke der Übersichtlichkeit wird sich in dieser Arbeit auf die Darstellung nach Steller und Köhnken festgelegt.
Die folgenden Kategorie- und Merkmalsbezeichnungen stammen von Steller und Köhnken (1989), durch Pfundmair (2020) in tabellarischer Form zitiert. Demnach werden die Merkmale in die Kategorien untergliedert.
- allgemeine Merkmale
- spezielle Inhalte
- inhaltliche Besonderheiten
- motivationsbezogene Inhalte
- deliktsspezifische Inhalte
Die Kategorie der allgemeinen Merkmale beinhaltet
- die logische Konsistenz
- die ungeordnet sprunghafte Darstellung
- den quantitativen Detailreichtum.
Damit eine Aussage in Gänze das Merkmal der logischen Konsistenz aufweist, müssen sich ihre einzelnen Teile gegenseitig stützen und dürfen nicht zu inneren Widersprüchen führen. Die Aussage muss also in sich stimmig sein. Eine Struktur in der Erzählweise ist dafür nicht erforderlich. Vielmehr spricht eine ungeordnete Erzählweise für das Merkmal der ungeordnet sprunghaften Darstellung . Dieses lässt sich durch eine sprunghafte und chronologisch nicht geordnete Erzählweise nachweisen, in welcher es vermehrt zu zeitlichen Vor- und Rückgriffen kommt, solange die logische Konsistenz gewahrt wird und die Aussage einen gewissen Umfang hat. Dies spreche für eine erlebnisbasierte Aussage, da eine derartige Darstellung einer Falschaussage enorme kognitive Fähigkeiten beanspruchen würde. Ein Lügner würde eher versuchen seine Aussage geordnet vorzubringen, um sie plausibel klingen zu lassen und selbst nicht den Überblick zu verlieren (Hermanutz et al., 2018).
Ein quantitativer Detailreichtum ist dann gegeben, wenn die Aussage in ihrer Gesamtheit über viele Details verfügt. Für viele Zeugen ist es ohnehin schwierig, sich an viele Details einer tatsächlich erlebten Situation zu erinnern. Eine Falschaussage noch mit diversen Details auszuschmücken, wird nachweislich als eine überaus schwierige Aufgabe angesehen. Die Qualität der Details wird durch Merkmale der inhaltlichen Besonderheiten näher begutachtet (Arntzen, 2011).
In der Kategorie der speziellen Inhalte befinden sich die Merkmale
- Raum-zeitliche Verknüpfungen
- Interaktionsschilderungen
- Wiedergabe von Gesprächen
- Schilderungen von Komplikationen im Handlungsverlauf
Merkmale dieser Kategorie beziehen sich auf spezielle Teile der Aussage.
Das Merkmal der Raum-zeitlichen Verknüpfung liegt vor, sofern die Aussage in vielfältiger Weise an örtliche, zeitliche, handlungsbezogene sowie autobiographische Kontexte anknüpft. Dabei ist eine bloße Aneinanderreihung unterschiedlicher Nebenumstände ohne gegenseitigen inneren Bezug oder eine Verknüpfung mit dem Kerngeschehen nicht ausreichend. Vielmehr müssen jene eine spezielle Verbindung zum Hauptgeschehen besitzen und zusammen ein möglichst komplexes Konstrukt ergeben. Je komplexer die Verknüpfungen sind, umso schwieriger würde es fallen sie in eine Falschaussage zu integrieren (Jansen, 2012).
Die beiden Merkmale Interaktionsschilderungen und Wiedergabe von Gesprächen ähneln sich in ihren Anforderungen. Beide verlangen in der Aussage Dialoge bzw. Interaktionen, in welchen die beteiligten Personen in wechselseitiger Weise aufeinander reagieren und die Beiträge eindeutig Personen zugeordnet werden können. Gesprächsbeiträge können dabei sowohl in wörtlicher Rede als auch in indirekter Form angegeben werden. Die Dialoge und Interaktionen sollten psychologisch nachvollziehbar und nicht zu unkonkret sein. Die Beschreibung einzelner Handlungen ohne eine zugehörige Reaktion oder Gespräche, in denen ausschließlich mit Ja oder Nein geantwortet wird, sind zum Kodieren [CE17] dieser Merkmale nicht ausreichend.
Schilderungen von Komplikationen im Handlungsverlauf bezeichnen meist unvorhergesehene Unterbrechungen der Handlung bzw. Störungen im Kerngeschehen, welche den Handlungsverlauf in signifikanter Weise beeinflussen. Die Ursache für solche Komplikationen sind i.d.R. Interaktionsprobleme oder extern herbeigeführte Störungen. Beispielsweise konnte eine Person nicht zu einer Handlung überredet werden oder eine abgeschlossene Tür war nicht passierbar. Wenn das Kerngeschehen selbst in unerwarteter Weise zu einem Abbruch des Handlungsverlaufes führt (z.B. bei einem Verkehrsunfall), gilt dies nicht als Komplikation im Sinne dieses Merkmales (Hermanutz et al., 2018).
Die Merkmale in der Kategorie der inhaltlichen Besonderheiten nehmen ebenfalls Bezug auf spezielle Aussageinhalte und gehen dabei insbesondere auf die Qualität der erwähnten Details im Einzelnen ein. Sie können einen Hinweis darauf geben, dass eine Aussage von gängigen verwendeten Schemata abweicht. Im Folgenden werden die Merkmale behandelt.
- Schilderung ausgefallener Einzelheiten
- Schilderung nebensächlicher Einzelheiten
- phänomengemäße Schilderungen unverstandener Handlungselemente
- indirekt handlungsbezogene Schilderungen
- Schilderungen eigener psychischer Vorgänge
- der psychischen Vorgänge des Beschuldigten
Unter nebensächlichen Einzelheiten werden Detailbeschreibungen verstanden, welche für eine Rekonstruktion des Kerngeschehens überflüssig bzw. irrelevant sind. Allerdings müssen diese zum Kodieren dieses Merkmales zumindest im Zusammenhang mit dem Geschehen stehen und dürfen keine bloßen Abschweifungen sein. Mit ausgefallenen Einzelheiten sind hingegen solche gemeint, die zwar nicht unrealistisch, jedoch sehr originell sind (Pfundmair, 2020). Hermanutz et al. (2018) beschreiben ihre Erscheinung u.a. als besonders ausgefallen und überraschend, weshalb sie nur schwer in das Schema oder Skript einer erfundenen Aussage unterzubringen wären. Eine solche Einzelheit könnte beispielsweise vorliegen, wenn ein Zeuge genaue Angaben zum Raumduft in der Wohnung macht, wo sich das Kerngeschehen abspielt.
Eine weitere inhaltliche Besonderheit, welche selbst durch einen begabten Lügner nahezu unmöglich selbst erfunden werden kann, ist die phänomengemäße Schilderung von unverstandenen Handlungselementen . Gelegentlich beschreiben Zeugen den äußerlichen Ablauf einer Handlung, ohne den Sinn bzw. die Intention dahinter zu verstehen. Ein solches Unverständnis kann beispielsweise aus einer mangelnden geistigen Reife heraus resultieren. Dieses Merkmal tritt öfter in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch auf. Wenn ein Kind noch nie Erfahrungen mit sexuellen Handlungen gemacht hat, kann es auch mögliche sexuelle Absichten nicht erkennen und versucht etwaige Handlungen durch bekannte Abläufe auszudrücken. So kann ein Zungenkuss zum Beispiel als Zähneputzen mit der Zunge beschrieben werden. Da eine solche naive Sicht auf die Dinge nur schwer simulierbar ist, gilt dieses Merkmal als besonders wertvoll (Arntzen, 2011).
Wenn ein Zeuge bei seinen Schilderungen der Handlung Verknüpfungen zu ähnlichen Geschehnissen aus seiner Vergangenheit herstellt, wird bei der merkmalsorientierten Analyse u.a. von indirekt handlungsbezogenen Schilderungen gesprochen, einem weiteren Qualitätsmerkmal (Jansen, 2012). Hermanutz et al. (2018) bezeichnen etwaige Verknüpfungen als Querverbindungen zu ähnlichen Vorgängen.
Auch die Schilderung eigenpsychischer Vorgänge sowie solcher Vorgänge beim Beschuldigten können unter bestimmten Bedingungen ein Merkmal der Glaubhaftigkeit darstellen. „Die Wiedergabe einzelner sehr einfacher und nahe liegender Reaktionen weist dagegen noch nicht auf die Glaubhaftigkeit der Aussage hin“ (Arntzen, 2011, S. 27). Damit eine solche Schilderung einen Wert erhält, sollten neben der Benennung einer Emotion eine detailliertere Beschreibung des eigenen Innenlebens wie dazugehörige Gedanken oder zwiespältige Gefühlsregungen kommen. Auch können bei sich selbst oder beim Beschuldigten beobachtete physiologische Reaktionen für eine Glaubhaftigkeit sprechen (Hermanutz et al., 2018).
Neben der allgemeinen und speziellen Qualität der Aussage untersucht eine weitere Merkmalskategorie, inwiefern sich durch bestimmte Verhaltenstendenzen in der Erzählweise des Zeugen Hinweise auf seine Aussagemotivation finden lassen. Die Kategorie der Motivationsbezogenen Inhalte sucht dabei gezielt nach Verhaltensweisen, welche für einen Lügner untypisch bzw. für seine Strategie ungünstig wären. Dazu gehören die Merkmale
- Spontane Verbesserung der eigenen Aussage
- Eingeständnis von Erinnerungslücken
- Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage
- Selbstbelastungen
- Entlastungen des Beschuldigten (Pfundmair, 2020) .
Mit einer spontanen Verbesserung der eigenen Aussage ist nicht gemeint, dass ein Zeuge seinen Fehler unmittelbar korrigieren muss. Bei der Spontanität geht es in diesem Kontext um eine Korrektur durch eigene Initiative, die zeitlich und thematisch auch viel später erfolgen kann. Die Verbesserung darf lediglich nicht von außen veranlasst werden. In ähnlicher Weise wird ein Glaubhaftigkeitsmerkmal kodiert, wenn ein Zeuge Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage explizit und selbstständig einräumt. Dabei können beispielsweise an eigenen Wahrnehmungen gezweifelt oder mögliche Missverständnisse vermutet werden. Beide nun erläuterte Merkmale wären für einen Lügner untypisch, weil dieser seine Glaubhaftigkeit durch ein unsicheres Auftreten nicht gefährden wollen würde.
Weniger aussagekräftig ist hingegen das Eingestehen von Erinnerungslücken . Auch dieses Merkmal würde der Strategie eines Lügners zuwiderlaufen, da eine lückenhafte Darstellung ebenfalls zu einem unsicheren Eindruck führen kann. Jedoch wird dieses Merkmal in leichter Form gelegentlich auch in erwiesen falschen Aussagen gefunden (Jansen, 2012).
Wird der Beschuldigte in bestimmten Aussageteilen entlastet oder belastet sich der Zeuge ggf. sogar selbst , wird darin unter gewissen Bedingungen ebenfalls ein Glaubhaftigkeitsmerkmal begründet. Zum einen ist es für die Merkmalskodierung wichtig, dass dem Zeugen die Belastung selbst auch bewusst ist und sie nicht allein dem Vernehmenden auffällt. Damit erkannte Inschutznahmen und Entlastungen des Beschuldigten richtig eingeordnet werden können, müssen sie immer im Kontext der vermuteten Aussagemotivation gesehen werden. Es kann ohne Frage einen enormen Unterschied machen, ob es sich um einen Opferzeugen handelt oder der Zeuge ein enger Freund bzw. Verwandter des Beschuldigten ist (Hermanutz et al., 2018).
Kategorisch abgeschlossen wird die Analyse durch die deliktsspezifischen Inhalte, bei welchen deliktsspezifische Aussageelemente als Merkmal kodiert werden. Mit solchen sind Abläufe bzw. Verhaltensmuster gemeint, welche für ein bestimmtes Delikt typisch sind und welche der Zeuge aufgrund fehlender Erfahrungen bzw. fehlenden Wissens nur auf der Grundlage eines realen Erlebnisses berichten kann. Bisher konnte dieser Merkmalstyp nur im Zusammenhang mit Sexualdelikten ausreichend begründet werden. Diese Elemente treten am häufigsten bei Kindern in Form der o.g. phänomengemäßen Schilderung auf, konnten jedoch auch bei den Aussagen mancher Erwachsener gefunden werden (Arntzen, 2011).
Bei diesem finalen Arbeitsschritt wird die Aussagekompetenz des Zeugen mit der ermittelten Aussagequalität in Beziehung gesetzt. Das ist notwendig, da es einem Zeugen mit ausgeprägten geistigen Fähigkeiten höchstwahrscheinlich leichter fällt bestimmte Glaubhaftigkeitsmerkmale zu fälschen als jemandem mit eher niedrigen Kompetenzen. Im Umkehrschluss dürfen mögliche erkannte Hinweise auf eine erfundene Aussage nicht fehlinterpretiert werden. Somit müssen an die Aussagequalität, abhängig von den Kompetenzen des Zeugen, unterschiedlich hohe Anforderungen gestellt werden. Dazu werden ferner die Täuschungskompetenzen des Zeugen, welche auch Gestik und Mimik mit einbeziehen, ermittelt. Solche entwickeln sich erst nach und nach durch soziale Interaktionen und können z.B. bei Kindern im Vorschulalter als sehr niedrig eingestuft werden.
Es müssen bei diesem Vergleich jedoch auch immer Überlegungen zum Einfluss der situativen Begebenheiten angestellt werden. Dazu sollten die Informationen zur Aussageentstehung- und Entwicklung genutzt werden. Entscheidend ist u.a. die Dauer und Komplexität des Ereignisses, die Zeitspanne zwischen dem Erlebnis und der getätigten Aussage sowie auch die Vorgehensweise in der Vernehmung (Pfundmair, 2020).
Bilanzierend kann gesagt werden, dass ein Gutachten nie endgültig offenlegen kann, ob eine Aussage wahr oder unwahr ist. Selbst ein tadelloses Gutachten bildet nie eine Sicherheit, sondern immer nur eine Wahrscheinlichkeit ab. Ein Gutachter kann dem Richter die Entscheidung nicht abnehmen, sondern ihn nur mit seiner Sachkunde bei der Entscheidungsfindung unterstützen (Jansen, 2012). Die Qualität eines Gutachtens ist zudem sehr abhängig von der polizeilichen Vorarbeit im Rahmen der Vernehmung. So kann ein dort entstandener Schaden, welcher durch eine falsche Arbeitsweise entstanden ist durch ein Gutachten möglicherweise nicht mehr behoben werden. Auch wenn aussagepsychologische Gutachten nicht in jedem Fall helfen können, sind sie gleichwohl eine enorme Bereicherung für die Gerichtsbarkeit.
Im zweiten Teil dieser Arbeit soll nun die Schizophrenie in ihren Grundzügen vorgestellt werden. Der Schwerpunkt liegt mit Blick auf die Zielsetzung dieser Arbeit auf der Symptomatik und deren Einfluss auf die Wahrnehmung sowie das Gedächtnis. Zudem sollen auch kurze Ausführungen zum Verlauf und zur Diagnostik der Krankheit gemacht werden. In diesem Abschnitt werden weder nähere Ausführungen zur Ätiologie noch zur langfristigen Behandlung gemacht. Ferner wird auch auf die verwandten Störungsbilder des schizophrenen Spektrums nicht näher eingegangen, da sie sich lediglich im Verlauf und der Symptomkonstellation unterscheiden.
Der Begriff Schizophrenie stammt aus dem Altgriechischen und lässt sich sinngemäß mit den Wörtern gespaltene Seele übersetzen. Früher wurden Krankheitsbilder ihres Spektrums unter dem Begriff Dementia praecox eingefasst. Die Schizophrenie ist die wohl bekannteste Form der Psychose. Sie gilt als eine der schwerwiegendsten und folgenreichsten psychischen Erkrankungen (Leucht, Fritze, Lanczik, Vauth & Olbrich, 2012). Die Vielfalt in der Symptomatik ist sehr hoch und kann in ihrem Auftreten bzw. ihrer Konstellation bei den Erkrankten stark variieren, weshalb die klinischen Erscheinungsbilder sehr heterogen sind. Die Symptomatik reicht vom schleichenden Abbau mentaler Fähigkeiten bis hin zu Halluzinationen, Wahnvorstellung, Affektstörungen und auch psychomotorischen Symptomen (Caspar, Pjanic & Westermann, 2018).
Die weltweite Lebenszeitprävalenz wird zwischen 1,4 und 3,9/1000 verortet. Sie kann lokaler betrachtet jedoch erheblich variieren. Männer und Frauen erkranken in etwa gleich häufig. Männer erkranken i.d.R. im Zeitraum zwischen dem 15. Und 25. Lebensjahr während Frauen eher im mittleren Alter von 25 bis 35 Jahren erkranken. Die jährliche Mortalitätsrate wird im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr als doppelt so hoch gemessen, was insbesondere auf eine relativ hohe Suizidrate zurückzuführen ist. Zudem wird die Schizophrenie häufig mit einer Substanzkonsumstörung als Komorbidität (Begleiterkrankung) diagnostiziert.
Zur Behandlung bzw. Bekämpfung der Symptome hat sich die medikamentöse Behandlung mit Antipsychotika am besten bewährt. Diese Wirkstoffe nehmen direkten Einfluss physiologische Vorgänge im Gehirn und können dadurch den symptomatischen Verlauf der Krankheit mildern. Jedoch bringen sie oftmals erheblichen Nebenwirkungen mit sich und sollten immer durch Psychotherapie begleitet werden (Leucht et al., 2012). Die nachfolgenden Ausführungen zur Symptomatik sind in ihren hauptsächlichen Teilen dem aktuell geltenden Diagnostic [CE18] and Statistical Manual of Mental Disorders 5 (DSM-5) entnommen.
Die negative Symptomatik ist der erste wesentliche Symptombereich, welcher bei einer Schizophrenie zu beobachten ist. Die Negativität besteht in diesem Kontext darin, dass Funktionen und Aspekte der Psyche, welche ein gesunder Mensch im Durchschnitt besitzt, schwächer werden bzw. sich nahezu gänzlich zurückbilden. Diese Form der Symptomatik dominiert eher bei einem chronischen Verlauf (Leucht et al., 2012).
Zu den beiden häufigsten Negativsymptomen der Schizophrenie zählen ein verminderter emotionaler Ausdruck und eine reduzierte Willenskraft (Avolition ). Ersteres äußert sich durch eine Verminderung der mimischen Expression von Gefühlen und der generellen Körpersprache, Reduktion des Augenkontaktes sowie die Abnahme der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Die Avolition äußert sich durch fehlenden Antrieb und fehlendes Interesse an Aktivitäten wie Arbeit oder soziale Interaktionen.
Zudem werden weitere Negativsymptome mit der Schizophrenie in Verbindung gebracht. Dazu gehört zum einen die Alogie , welche durch eine inhaltliche Verarmung der Sprache erkennbar ist. Des Weiteren wird beobachtet, dass die Betroffenen durch äußere positive Stimuli oder Erinnerungen an schöne Ereignisse weniger Freude empfinden können (Anhedonie ). Oft sorgt die Negativsymptomatik auch für einen sozialen Rückzug des Patienten, in dessen Folge soziale Kompetenzen verkümmern können (Falkai & Wittchen, 2018).
Unter positiven Symptomen werden hingegen solche verstanden, die beim Erkrankten im Erleben und Verhalten etwas ergänzen, was bei einer gesunden Person nicht zu finden ist. Zu diesen Symptomen zählen zum einen Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Jedoch fallen auch psychomotorische Auffälligkeiten wie das grob desorganisierte Verhalten sowie Katatonie und zuletzt das Desorganisierte Denken unter diese Kategorie (Caspar et al., 2018).
Die Wahnvorstellung ist ein typisches und häufig auftretendes Symptom bei der Schizophrenie. „Defnitionsgemäß handelt es sich beim Wahn um objektiv „unzutreffende“ Überzeugungen, die im Normalfall nicht von anderen Personen geteilt werden und an denen von den Betroffenen trotz gegenteiliger Beweise hartnäckig festgehalten wird“ (Thoma, 2019, S. 15).
Diese Überzeugung kann sehr individuell sein. Jedoch treten sinngemäß bestimmte Themen regelmäßig auf, sodass die häufigsten Wahnvorstellungen zusammengefasst werden können.
Bei dem Verfolgungswahn ist der Betroffene davon überzeugt, dass er beispielsweise durch eine Person oder Organisation beobachtet und bedroht wird. Dieser Wahn tritt am häufigsten auf.
Der Kontrollwahn bringt den Erkrankten zu dem Gefühl von einer fremden Macht beherrscht und gesteuert zu werden. Für manche entsteht der Eindruck, ihre Gedanken wären die eines Fremden. Dieser Wahn wird in der Literatur z.T. auch als Ich-Störung bezeichnet.
Wenn der Betroffene glaubt, dass fremde (oftmals berühmte) Personen ihm durch bestimmte Gesten, Kommentare oder andere subtile Hinweise ein Interesse an einer Beziehung mit ihm vermitteln wollen, spricht man von Beziehungswahn .
Erkrankte mit Größenwahn gehen fälschlicherweise davon aus berühmt zu sein, über ein besonderes Talent oder eine einzigartige Fähigkeit zu verfügen.
Wenn jemand der festen jedoch unwahren Überzeugung ist, dass ein anderer ihn liebt, leidet er unter Liebeswahn.
Nihilistischer Wahn liegt vor, wenn ein Betroffener konsequent seine eigene Existenz bestreitet.
Betroffene mit körperbezogenem Wahn sind in krankhafter Sorge um ihren Körper und Gesundheitszustand.
Ist die angenommene Überzeugung völlig unmöglich und irrational, handelt es sich um bizarren Wahn [CE19] (Falkai & Wittchen, 2018).
Unter Halluzinationen werden subjektiv wahrgenommene Sinneseindrücke verstanden, welche ohne einen externen Reiz entstehen. Für den Betroffenen treten sie in der gleichen Qualität und Klarheit auf wie andere extern verursachte Eindrücke, weshalb sie oftmals nicht von realen Sinneseindrücken unterschieden werden können. Wichtig ist, dass sie bei klarem Bewusstsein und nicht während des Schlafens oder beim Aufwachen auftreten. Diese Eindrücke können in jeder Sinnesart in Erscheinung treten, wobei akustische Halluzinationen am häufigsten vorkommen. In dieser Form werden sie oftmals als bekannte oder fremde Stimmen vernommen (Falkai & Wittchen, 2018). Nach Thoma (2019) führen diese Stimmen häufig Gespräche mit dem Betroffenen bzw. sich selbst, kommentieren Geschehenes oder geben dem Betroffenen Befehle. Sie können ihm in Härtefällen auch befehlen sich oder jemand anderes umzubringen.
Die Schizophrenie kann in manchen Fällen auch zu äußerlich sichtbaren körperlichen Symptomen führen. Bei dem grob desorganisierten Verhalten besteht eine spontane, körperlich sichtbare Unruhe bzw. Nervosität. Ferner neigen manche Betroffene zu kindlicher Albernheit. Auf der anderen Seite manifestieren sich katatonische Verhaltensweisen. Darunter fällt die verminderte motorische Reaktion auf die Umgebung (katatoner Negativismus). Auch sind ungewöhnliche Bewegungen, ein starrer Blick und Grimassen möglich. Diese Symptome können in einem katatonen Stupor (Starrezustand) oder Mutismus (Stummheit) gipfeln, wobei der Erkrankte über einen längeren Zeitraum in bizarren Positionen verharrt bzw. nicht mehr ansprechbar ist. Diese Symptomgruppe ist jedoch nicht allein bei der Schizophrenie zu beobachten (Falkai & Wittchen, 2018).
Das Symptom des desorganisierten Denkens wird i.d.R. durch die sprachlichen Äußerungen eines Betroffenen erkannt, weshalb es auch desorganisierte Sprache genannt wird. Der Betroffene geht z.B. in seiner Antwort auf Fragen oder Einwände eines Gesprächspartners nur indirekt oder gar nicht ein, wodurch man auf sehr spontane Gedankensprünge bei jenem schließt. Eine solche gedankliche Zerfahrenheit kann im Extremfall dazu führen, dass Sätze und Wörter so gebildet werden, dass sie für das Gegenüber nicht mehr zu verstehen sind. Da zerfahrene Gedanken und Sprache in leichter Form keine Seltenheit sind, müssen sie zur Feststellung dieses Symptoms von einer gewissen Schwere sein (Falkai & Wittchen, 2018).
In diesem Teil werden kurze Ausführungen zu den wichtigsten Diagnosekriterien gemacht. Da in dieser Arbeit sowohl das DSM-5 wie auch das ICD-10 verwendet werden, wird sich hierbei auf beide Manuale bezogen.
Nach dem DSM-5 wird die Diagnose der Schizophrenie ab einer Dauer von mindestens 6 Monaten gestellt. In dieser Zeitspanne müssen im Großteil eines Monats zwei der o.g. Symptome auftreten. Bei einem der beiden muss es sich um Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder Desorganisiertes Denken handeln. Diese sog. floride Phase kann durch prodromale (ankündigende) sowie residuale (zurückbleibende) Symptomphasen umschlossen werden. Diese Randphasen können auch ausschließlich negative Symptomatik oder abgeschwächte positive Symptome beinhalten. Die Symptomatik insgesamt darf nicht die mögliche Folge einer physiologischen Wirkung durch berauschende Substanzen oder andere Krankheiten sein, welche Hirnschäden verursachen können. Auch kann eine Diagnose erschwert werden, wenn im Kindesalter Kommunikationsstörungen sowie Formen des Autismus bestanden, oder wenn durch die Symptomatik zusätzlich Hinweise auf eine affektive Störung (z.B. Major Depression, bipolare Störung) bestehen, da letztere auch über psychotische Merkmale verfügen können (Falkai & Wittchen, 2018).
Die Kriterien des ICD-10 decken sich im Großteil mit den o.g. des DSM-5. Nur in der Einteilung, der Wahl sowie der Bezeichnung der Symptomatik gibt es leichte Abwandlungen. Jedoch werden auch hier eindeutige floride Symptome (positive Symptome) im Großteil eines Monats gefordert. Eine Ausnahme bildet der Subtyp Schizophrenia Simplex, auf welchen später noch näher eingegangen wird. Zudem können die Symptome in der residualen Phase stabil bleiben oder auch zunehmen (Dilling, Mombour & Schmidt, 2015).
Der zeitliche Verlauf einer Schizophrenie ist, wie die Symptomatik der Störung, sehr heterogen. Sie kann in nur einer einzigen Episode auftreten. In anderen Fällen bricht sie im Rahmen multipler Episoden immer wieder aus. Es ist zudem auch möglich, dass die Störung sich chronifiziert, d.h. die Symptome nach Ausbruch kontinuierlich bestehen bleiben. Bei der episodischen Variante kann nach der akuten Phase eine teilweise oder vollständige Remission stattfinden. Unter Remission wird das vorübergehende Nachlassen von Krankheitssymptomen verstanden, jedoch ohne das eine Genesung stattfindet (Falkai & Wittchen, 2018).
Die folgenden Subtypen sind dem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) entnommen. Sie sind die gängige Form die Schizophrenie eines Patienten näher zu klassifizieren. Jedoch gibt es auch andere vorgeschlagene Konzepte, welche entweder ein anderes Subtypensystem vorschlagen (z.B. das Positiv-Negativ-Konzept) oder eine solche konsequente Subklassifizierung aufgrund der heterogenen Erscheinungsformen gänzlich ablehnen wie im dimensionalen Ansatz (Leucht et al., 2012). Auf diese soll hier jedoch nicht näher eingegangen werden.
Der Schizophrenie werden demnach folgende Subtypen zugeordnet:
- Paranoide Schizophrenie
- hebephrene Schizophrenie
- katatone Schizophrenie
- undifferenzierte Schizophrenie
- postschizophrene Depression
- schizophrenes Residuum
- Schizophrenia simplex
Die paranoide Schizophrenie tritt weltweit am häufigsten auf. Ihr Verlauf ist entweder episodisch mit teilweiser bzw. vollständiger Remission oder chronisch. Im Vordergrund dieses Subtyps stehen nahezu ständig andauernde Wahnvorstellungen, welche i.d.R. von akustischen Halluzinationen oder anderen Wahrnehmungsstörungen begleitet werden. Die Erkrankten weisen oftmals inadäquates Verhalten auf und neigen zu gestörter und wechselhafter Stimmung wie Furcht, Reizbarkeit, Misstrauen oder sehr spontane Wutausbrüche. Denkstörungen und Negativsymptomatik wie Affektverflachung und Antriebsstörungen können bei diesem Typ zwar auch auftreten, dominieren ihn jedoch nicht.
Die hebephrene Schizophrenie zeichnet sich hauptsächlich durch anhaltende Störungen des Affektes aus. Sie verläuft zumeist episodisch, jedoch mit zunehmendem Residuum. Die Stimmung ist meist sehr verflacht und unangepasst. Gedanken und Sprache sind ungeordnet bzw. zerfahren und der Antrieb ist ebenfalls gestört. Halluzinationen und Wahnvorstellungen können als Begleitsymptome ebenfalls vorkommen. All dies führt dazu, dass die Betroffenen sich verantwortungslos und unvorhersehbar verhalten. Des Weiteren können sie unpassend lächeln bzw. kichern, Grimassen ziehen, Manierismen (bizarre Bewegungsabläufe) vollführen, Schabernack treiben oder getätigte Aussagen fortwährend wiederholen. Zudem wirken sie nicht selten ziel- oder planlos und es fällt oftmals schwer ihrem Gesprächsbeitrag zu folgen.
Maßgeblich für die katatone Schizophrenie sind die psychomotorischen Symptome. Im Verlauf ist sie episodisch, mit stabilem Residuum. Die Symptome können sich in ihren Extremen wie z.B. Erregung und katatonem Stupor abwechseln und die Erkrankten können zudem in einen traumähnlichen Zustand verfallen, welcher von szenischen Halluzinationen begleitet wird.
Fällt die Konstellation der Symptome bei einer Schizophreniediagnose in keine der bisher genannten Subtypen (paranoid, hebephren sowie kataton ), oder kann eine eindeutige Festlegung nicht erfolgen, kommt die undifferenzierte Schizophrenie als Subtyp zum Tragen. Jedoch schließt diese sich mit den nun folgenden Subtypen aus.
Die nun folgenden Subtypen unterscheiden sich charakterlich von den ersten vier Subtypen (paranoid, hebephren, kataton, undifferenziert ), da sie über kein psychotisches Zustandsbild verfügen oder eher Folgeerscheinungen letzterer sind.
Zur Diagnose einer postschizophrenen Depression muss der Erkrankte in den letzten 12 Monaten an Schizophrenie gelitten haben und nach wie vor einige Symptome aufweisen. Jedoch wird das Erscheinungsbild dieses Subtyps durch eine depressive Episode beherrscht, welche zumindest zwei Wochen andauert. Sie ist gleichzusetzen mit der depressiven Episode einer bipolaren Störung.
Das schizophrene Residuum wird diagnostiziert, wenn nach einer Schizophrenie mit einer oder mehrerer psychotischer Episoden ein Zeitraum von mindestens einem Jahr anschließt, welcher durch nahezu ausschließlich negative Symptomatik gekennzeichnet ist.
Den Subtyp Schizophrenia simplex zeichnet charakterlich aus, dass ausschließlich negative Symptome auftreten, welche sich in einem schleichenden Prozess, von mindestens einem Jahr Dauer, nach und nach verstärken. Die Diagnose wird selten gestellt und auch grundsätzlich nicht empfohlen, da dieser Subtyp aufgrund der fehlenden Positivsymptomatik nur schwer von anderen psychischen Störungen zu unterscheiden ist (Dilling et al., 2015).
Zusammengefasst kann die Störung je nach Erscheinungsform bzw. Subtyp enorme Einflüsse auf die Wahrnehmung und das gesamte Erleben des Betroffenen haben. Bizarre Wahnvorstellungen in Kombination mit akustischen Halluzinationen können die Erinnerung an eine Situation völlig verzerren und zu unberechenbaren, teils sehr bedrohlichen Verhaltensweisen führen. Zudem können weitere Symptome wie das desorganisierte Denken, die Katatonie sowie die Negativsymptomatik eine Verständigung mit dem Betroffenen erschweren. Jedoch ist die Erscheinung der Störung sehr heterogen und die Betroffenen stehen nicht zwingend kontinuierlich unter dem Einfluss der Symptome, weshalb eine adäquate Aussagegewinnung und deren valide Beurteilung durchaus möglich ist.
In diesem finalen Abschnitt sollen die herausgearbeitete Zeugenvernehmung und die dargestellte Entwicklung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens unter Einbeziehung der zuvor dargestellten Symptomatik sowie der Diagnostik der Schizophrenie erneut betrachtet werden. Dabei sollen mögliche Störungen bzw. Probleme in den Abläufen ermittelt werden, welche zu signifikanten Verfälschungen des Ergebnisses führen könnten. Simultan sollen als Konsequenz mögliche alternative Handlungsempfehlungen bzw. Hinweise erörtert werden. Dazu wird zur Vergleichbarkeit an dem zuvor dargelegten Aufbau der Zeugenvernehmung und Gutachtenentwicklung im Wesentlichen festgehalten.
Vorweg kann zu den psychomotorischen Symptomen gesagt werden, dass sie auf beide Untersuchungsgegenstände keinen signifikanten Einfluss nehmen. Sie könnten zu Irritationen, Erstaunen oder ggf. unangemessener Belustigung führen, haben jedoch keine Bedeutung für die erhobene und zu begutachtende Aussage. Eine Ausnahme bildet ggf. die Ermittlung der Täuschungsfähigkeit im späteren Glaubhaftigkeitsgutachten, in welcher die Betrachtung von Mimik und Gestik durchaus eine Rolle spielen kann. Zudem könnten die extremen Symptome wie eine starke Erregung oder der katatone Stupor bzw. der Mutismus aufgrund der daraus resultierenden erheblichen Verständigungsprobleme zu einer Verschiebung des Vernehmungszeitpunktes führen.
Das erste Problem bei einer derartigen Betrachtung besteht darin, dass die Schizophrenie, wie jede andere psychische Krankheit, nur durch die Verhaltensweisen des Zeugen erkannt werden kann. Solange das Krankheitsbild nicht bereits diagnostiziert wurde und die Beamten darüber informiert werden, kann die Krankheit je nach individueller Erscheinung zunächst unentdeckt bleiben bzw. nicht direkt als Schizophrenie klassifiziert werden. Selbst wenn die Vernehmungsbeamten über die Störung Bescheid wissen, reicht dieses Wissen darüber aufgrund der heterogenen Erscheinungsformen der Störung allein nicht aus. Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass die Schizophrenie eine Vielzahl verschiedener Symptomkonstellationen vereint. Selbst die bereits durchgeführte Diagnose eines Subtyps gibt den Beamten keine Gewissheit über die genaue Symptomatik des Zeugen, da eine Subtypisierung in der Wissenschaft durchaus kritisch gesehen wird und durch sie nur äußerlich festgestellte Akzente in der Symptomkonstellation nachgewiesen werden. Eine allgemeine Vorbereitung auf dieses Krankheitsbild ist daher nicht möglich und es muss sich auf jeden Einzelfall individuell vorbereitet werden.
Im Rahmen der Vernehmungsvorbereitung empfiehlt es sich dringend einen psychiatrischen Sachverständigen oder ggf. den behandelnden Psychiater selbst einzuschalten, damit sich mehr Informationen zum individuellen Krankheitsbild des Zeugen, dessen Verlauf, sowie Hinweisen im Umgang mit der Person eingeholt werden können. Dieser kann nach Jansen (2012) auch selbst bei der Vernehmung anwesend sein und die Beamten durch seinen Sachverstand unterstützen. Mit diesem kann zudem über den Einsatz von Antipsychotika im Rahmen der Vernehmung diskutiert werden. Eine gründliche Vorbereitung dient hierbei nicht nur dem Erhalt einer qualitativen Aussageerhebung, sondern auch dem Schutz der Beamten und des Zeugen selbst. In manchen Fällen stellen Schizophrene eine ernstzunehmende Bedrohung für sich selbst und auch für andere dar. Objektiv harmlose Situationen kann der Erkrankte als lebensbedrohlich empfinden, weil er z.B. fälschlicherweise davon ausgeht, dass man vorhabe, [CE20] ihn zu töten. Durch solche fatalen Missverständnisse kam es beim polizeilichen Kontakt mit Schizophrenen in vergangener Zeit gelegentlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in dessen Folge ein Polizist oder der Erkrankte selbst das Leben verloren. So hat eine schizophrene Frau, welche unter Verfolgungswahn litt, einen Polizeibeamten durch die geschlossene Wohnungstür erschossen. Der Beamte sollte eine angeordnete Zwangseinweisung vollstrecken (Füllgrabe, 2011). Diese Fälle zeigen, wie wichtig es auch für die Vernehmung ist, genug über die individuelle Störung des Zeugen zu wissen und bei wenig Informationen sehr vorsichtig und bedacht vorzugehen.
Ein weiterer Grund für die Erforderlichkeit der Vorbereitung und des Einschaltens eines Sachverständigen bildet die Feststellung der Vernehmungsfähigkeit. Ob der schizophrene Zeuge die Bedeutung der Vernehmung und die mögliche Tragweite seiner Aussagen versteht, lässt sich ohne genauere diagnostische Maßnahmen nicht feststellen. Insbesondere in einer floriden Phase der Störung könnte eine Vernehmungsfähigkeit möglicherweise ganz ausgeschlossen werden. Eine Vernehmung ohne eine solche Vorbereitung ist in jedem Fall zu vermeiden. Ergeben sich erst während der Vernehmung Hinweise auf eine Schizophrenie, sollte diese grundsätzlich unterbrochen und erst mit ausreichender Vorbereitung auf diesen speziellen Fall fortgeführt werden.
Bereits die erste Kontaktaufnahme und das Herstellen einer gesunden Arbeitsbeziehung kann sich schwierig gestalten. Entweder weil ein Gespräch aufgrund von desorganisierten Gedanken und einer ausgeprägten Negativsymptomatik wie bei der hebephrenen Schizophrenie nur schleppend verläuft. Oder weil den Beamten infolge eines bizarren Wahns, verstärkt von inneren Stimmen, von Grund auf misstraut wird wie bei der paranoiden Schizophrenie. [CE21] Das mitunter irritierende und befremdliche Auftreten des Zeugen erzeugt ggf. Unbehagen, Erstaunen und Neugierde oder wird als komisch empfunden. Dadurch entstehende [CE22] normale Reaktionen in Mimik, Gestik und Verhalten der Beamten sind unmöglich völlig zu unterdrücken, aber man sollte sich ihrer bewusst sein und dem Zeugen nicht das Gefühl geben, als Verrückter behandelt zu werden. Dabei ist es wichtig, [CE23] auf die Befürchtungen bzw. Vorstellungen des Zeugen respektvoll und in ernstem Ton einzugehen, auch wenn diese sehr bizarr klingen. Denn für ihn bilden sie seine Realität und Wahrheit ab. Es empfiehlt sich nicht mit dem Zeugen über die mögliche Falschheit seiner Ansichten und Wahrnehmungen zu diskutieren. Er könnte sich dadurch unverstanden und nicht ernst genommen fühlen, was für das Erzielen eines Kooperationswillens, welcher für die weitere Vernehmung notwendig ist, kontraproduktiv wäre und im Hinblick auf die o.g. Fälle zu unberechenbaren Aggressionen führen könnte. Diese tolerante Vorgehensweise ist selbstverständlich im Verlauf der gesamten Vernehmung beizubehalten. Möglicherweise stellt sich bereits im Rahmen der Kontaktaufnahme heraus, dass der Zeuge aktuell oder allgemein nicht vernehmungsfähig ist. Oder dass wegen eines Misstrauens gegenüber den Beamten bzw. möglichen Verständigungsproblemen eine Fortsetzung der Vernehmung für nicht zielführend gehalten wird.
Grundsätzlich ist auch ein schizophrener Zeuge zu einem freien Bericht im Stande. Allerdings können sich im Bericht ggf. eine schlechtere Aussprache und inhaltliche Sprachverarmung als Negativsymptome sowie desorganisierte Gedanken bemerkbar machen. Häufige und belanglose Abschweifungen oder schwer zu verstehende Sätze und Wörter wären beim Vorhandensein der genannten Symptome naheliegend. Auch könnte dem Zeugen der Wille bzw. die Motivation (bei vorliegender Avolition) für einen umfangreichen Bericht fehlen. Da der freie Bericht ohnehin schon hohe Ansprüche an die geistigen Fähigkeiten des Zeugen stellt, könnten diese Symptome bei hinreichend starker Ausprägung einen solchen Bericht zu einer unmöglichen Aufgabe machen.
Bei der folgenden Befragung des Zeugen sollte beachtet werden, dass Schizophrene unter die Gruppe von Menschen fallen, welche als besonders anfällig für Suggestion gelten. Daher ist mit geschlossenen Fragen und Erinnerungstechniken besonders vorsichtig umzugehen. Gleichzeitig sind die Antworten des Zeugen ggf. sehr inhaltslos und unbrauchbar, wodurch ein Erfragen der wichtigen Details durch ausschließlich sehr offene Fragen nicht zielführend wäre. Wenn der freie Bericht eher kurz und dürftig ausgefallen ist, kann auch dieser bei der Auswahl der richtigen Fragen nicht helfen. Hier zeigt sich somit erneut, dass die Beamten bei der Wahl der Fragen durch einen Spezialisten unterstützt werden sollten.
Neben der detaillierten Erhebung des Geschehens könnte bei einem schizophrenen Zeugen ein weiteres Vernehmungsziel hinzukommen. Im Abgleich mit anderen objektiven sowie subjektiven Beweisen sollte ermittelt werden, ob bestimmte Beobachtungen und Schilderungen des Zeugen möglicherweise Produkte seiner positiven Symptome sind. Dabei ist insbesondere die grundsätzliche Frage zu beantworten, ob strafbare Handlungen tatsächlich stattgefunden haben. Hiermit sind keine bizarren Pseudostraftaten wie Gedankenentzug oder mentale Fremdkontrolle gemeint, bei welchen es nie zu einem Anfangsverdacht kommen würde. Sondern durchaus realistische Szenarien, wo nicht unmittelbar und eindeutig zwischen unverkennbarem Wahn bzw. Halluzinationen und einem realen Ereignis unterschieden werden kann. Diese Aufgabe würde allerdings erheblich erschwert werden, wenn weitere Beweise fehlen und wäre, sofern die Differenzierung überhaupt möglich ist, vermutlich nur über ein psychiatrisches Gutachten zu klären.
Bei der Beantwortung auftretender Fragen zum Abschluss der Vernehmung sollte in besonderer Weise darauf geachtet werden, ob der Zeuge die Antworten wirklich verstanden hat. Auch bis zum Schluss sind eigentümliche Aussagen oder bizarres Verhalten möglichst respektvoll hinzunehmen, da die Arbeitsbeziehung ansonsten für mögliche Folgevernehmungen geschädigt werden könnte.
Bei der Aussagebegutachtung eines schizophrenen Zeugen kommt dem erläuterten Aspekt der Aussagekompetenz eine tragende Rolle im Gutachten zu. Je nach vorliegendem Subtyp und Verlauf der Störung besteht ein temporärer oder ggf. auch dauerhafter psychopathologischer Zustand. Eine konkrete Diagnose und umfassende Informationen über das individuelle Erscheinungsbild der Störung sowie die Wirkungsweise eingesetzter Medikamente beim Zeugen sind hier unabdingbar für die weitere Begutachtung. Insbesondere das Stadium der Störung zu den Zeitpunkten des tatrelevanten Geschehens sowie der polizeilichen Vernehmungen ist möglichst genau zu rekonstruieren. Daher sollten für diese Untersuchung, wie bereits im Rahmen der Vernehmungsvorbereitung, geschulte und erfahrene Spezialisten oder der persönliche Psychiater des Zeugen herangezogen werden, was nach Jansen (2012) durch das Gericht in etwaigen Gutachten regelmäßig veranlasst wird.
Bestehen Hinweise auf eine floride Phase mit ausgeprägten Wahnvorstellungen und Halluzinationen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Suggestion, insbesondere einer Autosuggestion, sehr hoch. Eine verarmte bzw. desorganisierte Sprache können für eine höhere Wahrscheinlichkeit der Fremdsuggestion während der Vernehmung sprechen. Eine hierbei ggf. aufgestellte Suggestionshypothese könnte nicht durch die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse untersucht werden.
Ferner könnte die generelle Aussagekompetenz des Zeugen aufgrund besonders gravierender positiver Symptomatik oder kognitiver bzw. sprachlicher Mängel gänzlich verneint werden, wodurch das Gutachten insgesamt zu keinem nutzbaren Ergebnis mehr führen würde.
Sobald über die Aussagekompetenz des Zeugen entschieden wurde und ausreichend Informationen zum individuellen Krankheitsbild der Störung vorliegen, wäre basierend auf diesen neuen Erkenntnissen die Bildung weiterer Hypothesen zur Spezifizierung der Nullhypothese denkbar. Wenn bei dem Zeugen eine paranoide Schizophrenie mit ausgeprägten akustischen Halluzinationen in Form von imperativen Stimmen diagnostiziert wurde, könnte z.B. die hypothetische Annahme getroffen werden, dass die Stimmen dem Zeugen befehlen falsch auszusagen.
Die Symptomatik kann sich im Rahmen der Aussageentstehung und /-entwicklung auch auf die Konstanz der Aussage auswirken. Wenn sich der Zeuge zum Zeitpunkt der ersten Vernehmung in einer prodromalen Phase mit hauptsächlich negativen Symptomen befindet, könnten weitere Befragungen bereits in einer floriden Phase mit positiver Symptomatik stattfinden. Dann werden mögliche Handlungen bei weiteren Befragungen aus der Sicht eines Wahns ggf. anders dargestellt. Zudem ist im Kontext der Aussagegenese aufgrund der erhöhten Suggestionsgefahr i.d.R. ein strengerer Maßstab für mögliche Beeinflussung durch geschlossene Fragen sowie Erinnerungstechniken zu nutzen.
Wenn die Aussagemotivation des Zeugen untersucht werden soll, sind durch den Einfluss der Schizophrenie weitere Szenarien möglich, welche bei einem durchschnittlichen gesunden Zeugen nie in Betracht gezogen würden. Ein schizophrener Zeuge könnte z.B. nach dem Willen seiner inneren Stimme handeln oder seinen im Wahn erhaltenen göttlichen Auftrag ausführen.
Ob eine merkmalsorientierte Inhaltsanalyse im Rahmen der Aussagequalität trotz der vorliegenden Schizophrenie anwendbar und valide ist, kann nur individuell entschieden werden, im Optimalfall mit Unterstützung eines Psychiaters. Während einer floriden Phase mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen während des Ereignisses oder zum Vernehmungszeitpunkt kann der Zeuge, wie bereits angedeutet, bestimmte Aussageteile autosuggeriert haben. Dann wäre eine Anwendung der Analyse nur valide, wenn dem Zeugen eine hinreichende Fähigkeit zur Differenzierung zwischen der Realität und seiner Fiktion zugeschrieben wird. Selbst wenn dies der Fall wäre, würden Wahnvorstellungen und Halluzinationen dennoch eine adäquate Wahrnehmung oder eine spätere Wiedergabe des Ereignisses durch eine Reizüberflutung möglicherweise erschweren, wodurch ggf. trotz einer erlebnisbasierten Aussage Mängel in den Qualitätsmerkmalen wie Schilderungen von Handlungselementen, Interaktionen und Gespräche entstehen.
Aber auch ohne letztere Symptome kann die Störung Einfluss auf bestimmte Merkmale nehmen, welche die Logik bzw. die Nachvollziehbarkeit und den Detailreichtum der Aussage untersuchen. Unverständliche oder nicht nachvollziehbare Aussagen, fehlende Details oder eine ungeordnete Darstellungsweise können auch die Folge mangelnder sprachlicher Fähigkeiten oder desorganisierter Gedanken sein, was im Qualitäts-Kompetenz-Vergleich berücksichtigt werden müsste. Die phänomengemäße Schilderung unverstandener Handlungselemente könnte schlicht durch eine fehlende sprachliche Varietät entstanden sein. Ferner kann eine Verflachung des Affektes die Ursache für fehlende oder sehr undifferenzierte Ausführungen zu den eigenen Emotionen sein. Diese hier beispielhaft angedeutete Inbezugnahme ist längst nicht abschließend und sollte sich im konkreten Fall auf die individuelle Symptomatik des Zeugen fokussieren.
In gleicher Weise hängt bei dem späteren Qualitäts-Kompetenz-Vergleich der an die Aussage anzusetzende Maßstab, neben der generellen Kompetenzbeurteilung des Zeugen, ganz von dem Ergebnis der psychiatrischen Begutachtung ab. [CE24] Je nach Konstellation und Intensität der Symptomatik könnte die Aussagekompetenz und Täuschungsfähigkeit zwischen verschiedenen Erkrankten stark variieren. Wenn beispielsweise, wie zuvor angedeutet, sprachliche und soziale Kompetenzen aufgrund einer ausgeprägten Negativsymptomatik stark verkümmert, die Gedankengänge sehr sprunghaft sind, oder Halluzinationen bzw. Wahnvorstellungen als erschwerender Faktor hinzukommen, können an die Aussagequalität ohne Frage keine hohen Anforderungen gestellt werden. Möglicherweise sind zudem Gestik und Mimik aufgrund psychomotorischer und negativer Symptome zur Ermittlung der Täuschungsfähigkeit nicht wirklich aussagekräftig. Währenddessen könnte ein anderer Zeuge in einer residualen Phase mit geringer Negativsymptomatik und wenig Hinweisen auf positive Symptomatik über eine deutlich ausgeprägtere Aussagekompetenz sowie Täuschungsfähigkeit verfügen.
Der nun vollzogene Transfer der Schizophrenie auf die Zeugenvernehmung und Aussagebegutachtung, lässt klar erkennen, dass die Störung zu erheblichen Problemen und einem deutlich höheren Arbeitsaufwand führen kann. Gegebenenfalls ist die Aussage trotz aller Mühen und intensiver Rücksichtnahme aufgrund der Schwere und Erscheinung der Störung nicht verwertbar. Es sollte sich daher immer die Frage gestellt werden, ob die Erhebung der Aussage eines schizophrenen Zeugen im konkreten Verfahren ihren Aufwand wert ist.
Ferner hat sich herausgestellt, dass die Konstruktion allgemein geltender Empfehlungen und Hinweise aufgrund der heterogenen Erscheinungsform der Störung nicht wirklich möglich ist. Es kann nicht mit jedem Schizophrenen auf die gleiche Weise verfahren werden. Damit sich individuell und in adäquater Weise auf den Zeugen eingestellt werden kann, ist der Rückgriff auf einen psychiatrischen Sachverständigen ein notwendiger Schritt. Dies ist jedoch insbesondere im Rahmen der Vernehmung, aus zeitlichen Gründen nicht immer möglich. Aufgrund der relativen Seltenheit der Störung hat der Großteil der Polizeibeamten und Gutachter vermutlich wenig praktische Erfahrung mit Schizophrenen, gerade im Kontext einer Zeugenvernehmung. Damit in einem solchen Fall angemessen gehandelt werden kann, wären Aufklärungs- und Fortbildungsmaßnahmen von Seiten der Behörden bzw. des Arbeitgebers erforderlich.
Die in der Arbeit genannten Ausführungen sind nur als erste Ansätze im Vorgehen zu verstehen und längst nicht abschließend. Sie sind lediglich durch den Transfer ausgewählter Inhalte im Kontext [CE25] dieser Arbeit entstanden und sind weder empirisch fundiert, noch haben sie sich praktisch bewährt. Jedoch können sie ggf. als Inspiration für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik dienen.
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