Bachelorarbeit, 2017
44 Seiten, Note: 1,2
1. Einleitung
2. Methodisches Vorgehen
3. Psychische Traumata
3.1. Definition
3.2. Traumafolgestörungen
3.3. Behandlung
4. Tiergestützte Interventionen
4.1. Definition
4.2. Erklärungsansätze
4.3. Tiergestützte Interventionen in der Traumabehandlung
5. Traumabewältigung durch den heilpädagogischen Einsatz von Pferden
5.1. Grundlagen
5.2. Rechercheergebnisse
6. Diskussion
7. Resümee
Literaturverzeichnis
Abstract
Vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der Traumabewältigung durch pferdegestützte Interventionen im heilpädagogischen Arbeitsfeld. Es soll die Frage beantwortet werden, inwieweit sich der heilpädagogische Einsatz von Pferden in der Behandlung von traumatisierten Menschen derzeit als effektiv erweist und welche Mechanismen dieser Wirksamkeit möglicherweise zugrunde liegen. Grundlage für die Bearbeitung dieser Thematik stellen zum Einen die Erkenntnisse der Psychotraumatologie dar, die sich mit der Entstehung von Traumata, deren Auswirkungen in neurobiologischer, psychischer und körperlicher Hinsicht und möglichen Konsequenzen beschäftigt. Des Weiteren spielen als mögliche Erklärungsansätze die Theorie der analogen und digitalen Kommunikation zwischen Mensch und Pferd sowie die allgemeinen bio-psycho-sozialen Effekte, die Tiere auf den Menschen haben, eine wichtige Rolle.
Alle Informationen wurden per Literaturrecherche aus eigener Fachliteratur und den Da-tenbanken PubMed, Psyndex, Livivo und Google Scholar gewonnen. Insgesamt liegen vier Studien zum Thema vor, von denen drei mit einer sehr geringen Teilnehmerzahl und ohne Kontrollgruppe durchgeführt wurden, was an ihren jeweils vielversprechenden Resultaten Zweifel aufkommen lässt. In der vierten Studie schlussfolgert die Verfasserin nach Analyse ihrer Daten, dass der tiergestützten Therapie bei Patienten mit einer Traumafolgestörung keine spezifische Wirksamkeit zugeschrieben werden kann. Die Autoren drei weiterer Arbeiten, die durch systematische Literaturrecherchen entstanden sind, fassen zusammen, dass es erste Hinweise auf die Effektivität dieser Methode gibt. Auf mögliche Wirkmecha-nismen wird insgesamt nur ansatzweise eingegangen.
Die Auswertung von sieben wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema zeigt, dass die Therapie mit Pferden noch am Anfang ihrer Entwicklung steht und umfassende, methodisch anspruchsvolle Studien notwendig sind, um einen Rückschluss auf ihre Wirkung speziell auf traumatisierte Erwachsene zuzulassen.
Huber (2012) zufolge erleben 30 bis 60 Prozent aller Menschen in ihrem Leben ein schweres seelisches Trauma, bei dem keine Möglichkeit zu Kampf oder Flucht besteht und bei dem auf psychischer bzw. physischer Ebene Todesnähe erfahren wird. Weitere Kennzeichen sind ein Überwältigtsein von der Unerträglichkeit des Geschehnisses und eine teilweise oder vollkommene Abspaltung aus dem Bewusstsein. Mit langfristigen Folgen muss in etwa jede(r) Dritte rechnen, stellen Hidalgo und Davidson (2000) fest. Traumatisierte Menschen werden von ihrer leidvollen Vergangenheit Monate, Jahre oder Jahrzehnte hinweg verfolgt und haben häufig große Probleme bei der Alltagsbewältigung und der Gestaltung ihrer Beziehungen, beschreiben van der Hart, Nijenhuis und Steele (2006). Oft versuchen sie ihre Symptome wie beispielsweise Phobien, Süchte oder starke Stimmungsschwankungen hinter einer Fassade der Normalität zu verstecken, legt Mollica (2009) dar. In der Behandlung geraten viele Therapeuten aufgrund des meist diffusen Krankheitsbildes an ihre Grenzen, so Levine (2016). Um die Effektivität der konventionellen Methoden einer Psychotherapie zu steigern, ergänzen immer mehr Psychotherapeuten diese durch Komplementärmedizin, schildert Johnson (2009). Die immer populärer werdende tiergestützte Arbeit stellt ein alternatives Heilverfahren dar, bei der Tiere aller Art von interessierten Personen gezielt in ein bestimmtes Arbeitsfeld integriert werden, so Vernooij und Schneider (2010). Als eine spezifische Form ist der Einsatz von Pferden in der Behandlung von traumatisierten Menschen im Rahmen eines heilpädagogischen Settings zu betrachten. Diese Methode der Traumabewältigung insbesondere ihrer Effektivität und deren möglicher Begründung ist Inhalt der vorliegenden Bachelorarbeit.
Einleitend gehe ich auf psychische Traumata, ihre Entstehung und ihre Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten von Menschen ein, bevor eine kurze Zusammenfassung der zurzeit fruchtbarsten Behandlungsmöglichkeiten folgt. Zum allgemeinen Verständnis stelle ich im darauffolgenden Kapitel das tiergestützte Arbeiten vor, wobei mein Schwerpunkt auf der Theorie der analogen und digitalen Kommunikation liegt, die zurzeit bzgl. der Wirksamkeit dieses Verfahrens in der wissenschaftlichen Diskussion steht. Außerdem richte ich die Aufmerksamkeit auf die Effekte, die Tiere allgemein auf Menschen haben. Zuletzt vernetze ich die Inhalte beider Abschnitte miteinander, indem ich konkret auf die Bewältigung traumatischer Erlebnisse mithilfe von Pferden eingehe. Die Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Risiken und Methoden pferdegestützter Maßnahmen werden aufgrund des begrenzten Umfanges der Arbeit nur kurz beschrieben. Kernstück dieser Ausarbeitung stellt die Zusammenfassung der durch Literaturrecherche gewonnenen aktuellen Forschungsergebnisse dar, die sich mit der Effektivität und möglichen Wirkfaktoren dieser ganzheitlichen Methode auseinandersetzen sowie die daran anschließende kritische Reflexion dieser Erkenntnisse.
Zur Wahl dieser Thematik hat mich mein persönliches Arbeitsfeld sowie meine langjähriger Leidenschaft für Pferde motiviert. In meinem beruflichen Alltag habe ich täglich mit Erwachsenen zu tun, die aufgrund traumatischer Erfahrungen chronische psychische Störungen entwickelt haben und nach alternativen Möglichkeiten suchen, um ihre vielfältigen Symptome zu mildern. Für die Zukunft kann ich mir nach entsprechender Ausbildung die Integration von pferdegestützten Maßnahmen in meine heilpädagogische Berufspraxis sehr gut vorstellen.
In dieser Arbeit verwende ich die Ansprache in männlicher und weiblicher Form gleichermaßen. Um eine gute Leserlichkeit zu gewährleisten, beschränke ich mich zum Teil auf eine Form, wobei sich dabei jede Partei gleichermaßen angesprochen fühlen sollte.
Für die vorliegende Bachelorarbeit wurde von Hand im eigenen vorhandenen Literaturbestand sowie in den Datenbanken Pubmed, Psyndex und Livivo recherchiert. Folgende Suchbegriffe wurden dort einzeln und in unterschiedlicher Kombination auf Englisch und Deutsch eingegeben: „equine assisted“, „equine facilitated“, „animal assisted“, „horse(s)“, „therapeutic riding“, „therapy“, „trauma“, „traumatized“, „dissoziation“, „ptsd“, „anxiety“, „veteran(s)“, „psychotherapy“, „efficacy“, „effect mechanism“, „mode of action“, „orthopedagogy“ und „healing“.
Texte, die sich nicht explizit auf Pferde in Verbindung mit psychisch traumatisierten Menschen bezogen, sortierte ich aus. Die Recherche erbrachte sechs Ergebnisse, wobei sich davon nur vier mit der Effektivität pferdegestützter Maßnahmen beschäftigen, weshalb ich nur diese in meine Arbeit einbezogen habe. Um mehr Material zu finden, weitete ich meine Suche mit den gleichen Begriffen auf die Suchmaschine Google Scholar aus, was zu weiteren fünf Resultaten führte. Zwei Pilotstudien zum Thema musste ich leider ausschließen, da ich neben einem kurzen Abstract keine näheren Informationen dazu ermitteln konnte. Letztendlich konnte ich zu diesem Thema sieben wissenschaftliche Arbeiten recherchieren, die die Grundlage der Bearbeitung meiner Forschungsfrage bilden. Da es sich um wenige Ergebnisse handelt, habe ich alle zur Bearbeitung meiner Bachelorthesis herangezogen, auch wenn es sich bei den vier Studien um Forschungsarbeiten handelt, die in ihrer Methodik kritisch einzuschätzen sind.
„Das Trauma ist möglicherweise die am meisten angefochtene, ignorierte, verharmloste, verleugnete, missverstandene und nicht behandelte Ursache für menschliches Leiden.“ (P. A. Levine, 2007, o. S.)
Das Wort „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und wird wörtlich mit „Wunde“ übersetzt, so Seidler (2012). Aus medizinischer Sicht wird damit eine Schädigung des Körpers durch äußere Einflüsse beschrieben, während die Psychotraumatologie den Fokus auf seelische Verletzungen richtet.
Um psychische Traumata bzw. auf ein traumatisches Ereignis zurückzuführende Störungen zu diagnostizieren, werden zurzeit zwei international gültige Manuale herangezogen: Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der amerikanischen Psychiater-Vereinigung, kurz DSM und die International Statistical Classification of Diseases (ICD). Letztere wird nach Mollica (2009) in Europa vorwiegend verwendet und definiert in der 10. Auflage ein Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz- oder lang anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde“ (Weiß, 2013, S.25). Anders ausgedrückt ist ein Trauma „ein Anschlag auf die Identität eines Menschen“ (Huber, 2012, S. 68), bei dem eine Extremsituation unter Bedingungen durchlebt wird, auf die der Mensch nicht vorbereitet ist und die seine gesamten Bewältigungsmechanismen überfordern. Kardiner und Spiegel (1947) schildern, dass in der klinischen und wissenschaftlichen Literatur die Bezeichnung „Trauma“ häufig als Synonym für traumatische Ereignisse ver-wendet wird. Van der Hart et al. (2006) weisen darauf hin, dass es keine bestimmten Ereignisse gibt, die an sich traumatisierend sind. Vielmehr ist es so, dass manche Situationen auf einige Menschen eine traumatisierende Wirkung haben. Das Wort „Trauma“ bezieht sich in dieser Arbeit somit auf eine Störung, die durch eine traumatisch erlebte Erfahrung entstanden ist, nicht auf ein spezielles Ereignis an sich.
Ausgangspunkt jeder Traumatisierung ist ein tatsächliches, extrem stressreiches äußeres Ereignis, schildert Huber (2012). Die Entwicklung von Symptomen nach einem traumatischen Ereignis hat laut Levine (2016) nichts mit dem Erlebten zu tun, sondern mit der physischen und psychischen Kapazität des Betroffenen, von der die Wahrnehmung und Verarbeitung der Extremsituation abhängig ist. Dazu zählen verschiedenen Faktoren wie beispielsweise die Resilienz (Widerstandskraft), die soziale Unterstützung und die allgemeine körperliche und psychische Verfassung einer Person. Auch Bass und Davis (2009) weisen darauf hin, dass allein das Ausmaß des erlebten Schreckens, das ein Mensch in einer bedrohlichen Lage wahrnimmt, entscheidend für die Schwere der Folgen und Symptome ist, nicht das traumatisierende Ereignis selbst. Der Mechanismus, der dafür die entscheidende Rolle spielt, wird laut Huber (2012) „Traumatische Zange“ genannt. Nach van der Kolk (2016) beschreibt dieser Vorgang, wie eine Person vollkommen mit aversiven Reizen überflutet wird, während es keine Möglichkeit gibt, zu kämpfen oder zu flüchten. Der Körper reagiert auf Krisen allgemein mit der Ausschüttung von Stresshormonen und Neurotransmittern in hoher Dosis, die den Organismus dazu befähigen, sich der Situation zu entziehen (flight/ flüchten) oder aktiv auf sie zu reagieren (fight/ kämpfen). Ist Kampf oder Flucht nicht möglich, kommt es zu einer emotionalen Erstarrung, im Englischen als „freeze and fragment“ bezeichnet, in der die Person nur noch einzelne Aspekte des Erlebnisses wahrnimmt und nicht mehr in der Lage ist, die Situation zusammenhängend zu begreifen und zu verbalisieren. „Freeze“ bedeutet wörtlich „Einfrieren“, legt Huber (2012) dar. Bei diesem Totstellreflex erlaubt das Gehirn dem Organismus als letzte Möglichkeit, die äußere Bedrohung zu überleben, sich innerlich davon zu distanzieren. Dieser Moment ist es, der die Situation für den Menschen traumatisch werden lässt. Dazu kommt das Mittel des Fragmentierens (fragment), bei dem die Erinnerungssplitter in das Unterbewusstsein verdrängt werden, sodass sie nicht mehr zusammenhängend wahrgenommen und erinnert werden können. Sautter (2015) erläutert, dass dieses Phänomen je nach Schwere des Ereignisses so stark sein kann, dass das Trauma in seiner Ganzheit über Jahrzehnte nicht mehr bewusst erinnert wird. Besser (2002, S. 178) bemerkt dazu: „Der Vergleich eines Spiegels, der im Augenblick des traumatischen Stressgipfels einspringt, macht deutlich, dass die zurück-bleibenden Spiegelsplitter nicht mehr erkennen lassen, was passiert ist, sondern nur noch, dass etwas passiert ist“.
Nach Levine (2016) treffen Informationen zunächst auf die Amygdala, einen Teil des limbischen Systems, der auch als „hot system“ oder „implizites Gedächtnis“ bezeichnet wird. Dieser Teil des Gedächtnisses wirkt sich auf das Erleben und Verhalten des Menschen aus, ohne in dessen Bewusstsein zu treten. Die Amygdala hat die regulierende Aufgabe, Emotionen und Bilder zu verbinden und die vegetativen Reaktionen dazu einzuleiten. Sie spielt daher eine bedeutsame Rolle bei der Analyse von Gefahren und konditioniert Angstreaktionen. Parallel dazu arbeitet das „cool system“, der Hippocampus, der kontrollierend den zeitlichen Ablauf und die örtlichen Gegebenheiten festhält und die Impulse auswertet. Dieser Bereich des Gehirns ist auch als „explizites Gedächtnis“ bekannt, in dem Tatsachen gespeichert werden, die bewusst in einem zeitlichen und räumlichen Ablauf erinnert und verbalisiert werden können.
Während eines traumatischen Erlebens werden solche episodischen Erinnerungen vom Hippocampus nicht oder kaum gespeichert, da dieses System zumindest vorübergehend nicht mehr funktioniert, was eine Freeze-Reaktion auslöst. Das „hot system“ hingegen befindet sich im absoluten Alarmzustand. Die als unerträglich erlebten Wahrnehmungen werden (zunächst) nicht integriert und ins explizite Gedächtnis überführt, sondern aufgesplittert, erläutert Huber (2012). Die Amygdala speichert weiter emotionale und physische Reaktionen (heftige Gefühle und Körperreaktionen), die als Erinnerungssplitter (fragment) festgehalten werden. In diesem Moment findet Dissoziation statt, die dem Selbstschutz dient. Die Autorin (2012, S. 49) fasst zusammen: „Das ausschließlich vom Amygdala-System emotional-körperlich und vom Hippocampus-System in einzelnen Bildern und kurzen Sequenzen gespeicherte fragmentarische Material ist Traumamaterial.“ Durch den überforderten Hippocampus kommt es zu Gedächtnisverlust auf begrifflicher Ebene, so-dass der Betroffene keine oder wenig bewusste Erinnerung an das traumatische Ereignis hat, während dieses in Bildern und Gefühlszuständen neuronal bewahrt wird und zu zahlreichen Symptomen und Folgestörungen führen kann, schildert Levine (2016).
Die Erstsymptome, die unmittelbar nach traumatischen Ereignissen auftreten können, sind laut van der Kolk (2016) typischerweise erhöhter Puls, Hypervigilanz (gesteigerte Erregbarkeit und Wachsamkeit), Verwirrtheit, körperliche Schmerzen, Gedächtnisstörungen, Angst, Panik, innere Unruhe, Nervosität oder Albträume, starke Wut, depressive Verstimmungen sowie Gefühle von Hoffnungslosigkeit, Selbstzweifel oder Ohnmacht. Ohne Inte-gration der traumatischen Erfahrung erleben Betroffene häufig durch Schlüsselreize im Alltag, die unbewusst an das Geschehene erinnern, Rückblenden, sogenannte Flashbacks. Dies können stressvolle Bilder, irritierende und nicht zuzuordnende Stimmungen oder körperliche Erregungszustände (Hyperarousal) sein sowie persistierende negative Überzeu-gungen oder Phasen des innerlichen Abschaltens. Dabei wird häufig erneut die (übermäßige) Ausschüttung von Stresshormonen und Neurotransmittern wie Adrenalin, Glutamat, Acetylcholin und Cortisol aktiviert, die während des traumatischen Erlebens stattgefunden hat, so van der Kolk (2016). Bei vielen Menschen bleibt der Körper nach einem Trauma in einem Zustand ständiger erhöhter Wachsamkeit (Hypervigilanz), bei dem dauerhaft überdurchschnittlich viele Stresshormone ihren Weg in die Blutbahn finden, was langfristig zu gesundheitlichen Beschwerden (u. a. geschwächtes Immunsystem, Anfälligkeit für Krankheiten) führen kann, erläutert Levine (2016).
Es gibt einige psychische Störungen, die sich vermehrt oder lediglich nach traumatischen Erfahrungen manifestieren. Sautter (2015) und van der Kolk (2016) stellen einstimmig fest, dass dissoziative Störungen, selbstschädigendes Verhalten, Somatisierungsstörungen, Angststörungen (mit Panikattacken), Persönlichkeitsstörungen insbesondere des Border-line-Syndroms, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen ausschließlich bzw. vielfach durch traumatische Erfahrungen hervorgerufen werden. Butollo (2009) bemerkt zu der Festschreibung in den Diagnosesystemen kritisch, dass die psychischen und psychosomatischen Folgen nach traumatischen Erfahrungen deutlich umfangreicher sein können, als im ICD10 oder DSM beschrieben. Demnach gibt es zahlreiche Symptome und Störungen, die nicht sofort mit einer Traumatisierung in Verbindung gebracht werden, obwohl diese die Grundlage ihrer Entstehung darstellen. Aufgrund des Umfanges dieser Arbeit gehe ich im Folgenden ausschließlich auf die am häufigsten durch Traumata hervorgerufenen Symptomkomplexe ein.
Dissoziation ist zunächst ein alltägliches Phänomen, denn Menschen dissoziieren und assoziieren nahezu ständig, so Huber (2012). Dabei werden von bestimmten Instanzen des Gehirns unwichtige und/ oder zu brisante Wahrnehmungen zusammengefügt (Assoziation) und wieder getrennt oder beiseite geschoben (Dissoziation). Die Fähigkeit zur Dissoziation ist bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Manche Personen fühlen sich von einem Musical völlig in die aufgeführte Welt hineinversetzt und nehmen ihre Umwelt kaum noch war, während anderen dies kaum gelingt, weil sie ständig von äußeren Reizen oder Gedanken abgelenkt werden, also nicht gut dissoziieren können. Dissoziation kann unter anderem unter traumatischem Stress vermehrt auftreten, zeigt van der Kolk (2016) auf. Als Überlebensstrategie spaltet der Mensch unbewusst das als unerträglich empfundene Ereignis mit allen damit verbundenen Gefühlen aus seinem Alltagsbewusstsein ab. Dieser Mechanismus der Dissoziation hilft dabei, das Trauma zu überleben, hat aber gleichzeitig einen hohen Preis, denn das Abspalten von Gefühlen wird so zur Gewohnheit. Emotionen werden weniger wahrgenommen und verbalisiert, wodurch sich die Fähigkeit, gefährliche Situationen richtig einzuschätzen zu lernen, weniger gut entwickelt. Außerdem kann ein Mensch ohne Zugang zu seinen Gefühlen kein gesundes Selbstwertgefühl und damit auch kein Selbstvertrauen und positives Selbstbild aufbauen, erklärt Sautter (2015). Folgen eines geringen Selbstwertgefühls sind beispielsweise negative Glaubenssätze und Überzeu-gungen (u. a. weniger wert zu sein als andere Menschen), wodurch sich Betroffene privat wie beruflich immer weiter zurückziehen. In der Traumaliteratur gilt übereinstimmend die Dissoziative Identitätsstörung, die früher unter der Bezeichnung der multiplen Persönlichkeitsstörung bekannt war, als extremste Form der Dissoziation, legt Ruppert (2014) dar. Betroffenen fehlt ein stabiler Identitätskern, da ihre Persönlichkeit sich in dem Versuch, die traumatischen Ereignisse zu überleben, in mehrere Teilpersönlichkeiten aufspaltete, die nebeneinander existieren.
Eine weitere Folge von traumatischen Erfahrungen können Selbstverletzungen sein. Mit heimlich selbstschädigendem Verhalten ist das Münchhausensyndrom gemeint, das durch das Zufügen von Selbstverletzungen sowie dem Vortäuschen von Krankheiten gekennzeichnet ist, durch die Betroffene in einem Krankenhaus aufgenommen und ggf. operiert werden müssen. Bei der Störung können Verletzungen auch stellvertretend an anderen Menschen vorgenommen werden, so Sautter (2015). Viel öfter kommen allerdings offene Selbstbeschädigungen vor, also „psychische Erkrankungen, bei denen es zu selbst zugefügten körperlichen Verletzungen kommt, die zunächst nicht in suizidaler Absicht geschehen“ (Eckhardt-Henn, 2000, S. 293). Dabei geht es in der Regel um selbst zugefügte Schnittverletzungen mit Rasierklingen oder anderen Gegenständen, Selbstverbrennungen und Kratz- und Schürfwunden der Haut. Der eigene, als leblos wahrgenommene Körper wird verletzt, weil der extreme Anspannungszustand der Dissoziation als unerträglich erlebt wird. Selbstverletzungen haben durch das dabei entstehende Gefühl lebendig zu sein eine erleichternde Wirkung, stellt Huber (2012) fest. Biologisch betrachtet werden durch die Verletzung Endorphine freigesetzt, was als Versuch eines Ausgleichs des dauerhaften Serotoninmangels, der durch chronische Traumatisierung zustande kommt, angesehen werden kann. Die Autorin beschreibt weiter, dass Selbstverletzungen ein Mittel zur Selbstbestrafung darstellen und von heftigen Schuld- und Schamgefühlen sowie von einer als unerträglich erlebten Spannung entlastet. Außerdem vermittelt sie Betroffenen ein Gefühl von Kontrolle, dessen Wiedererlangen nach van der Kolk (2016) für viele Traumatisierte extrem wichtig ist, da sie während der traumatischen Situation sämtliche Kontrolle verloren hatten. Reddemann (2011) macht darauf aufmerksam, dass zu selbstschädigendem Verhalten auch die Entwicklung von Süchten gehört. Als Sucht wird ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Gefühl oder Bewusstseinszustand definiert. Süchte werden unterschieden in stoffgebundene Abhängigkeiten wie beispielsweise Alkohol-, Drogen- oder Koffeinsucht und nicht stoffgebundene Abhängigkeiten, zu denen u. a. Arbeitssucht, Kaufsucht, Spielsucht oder Essstörungen gezählt werden. Levine (2016) zufolge erleichtern Süchte traumatisierten Menschen, mit ihren unerträglichen Gefühlen zurechtzukommen, indem sie diese „wegdrücken“. Dabei besteht die Gefahr, in einen Teufelskreis zu geraten, da die Erleich-terung nach Konsum nur kurzfristig Wirkung zeigt und entsprechend immer mehr gebraucht wird, um sich innerlich zu betäuben. Reddemann (2011) bemerkt, dass aus wissenschaftlicher Sicht mittlerweile außer Frage steht, dass der Missbrauch von psychotropen Substanzen zu den wichtigsten Folgestörungen nach Traumatisierungen gehört.
Psychosomatische Störungen, also Erkrankungen, die durch psychische Ursachen ent-stehen, werden unter dem Begriff „Somatisierung“ subsumiert, illustriert Sautter (2015). Der ICD 10 führt der Autorin zufolge fünf Somatisierungsstörungen auf, ohne auf den sehr wahrscheinlichen traumatischen Hintergrund aufmerksam zu machen. Diesen bewiesen Pribor, Yutzy, Dean und Wetzel (1993) in einer Studie, in der sie zeigen konnten, dass über 90 Prozent der an psychosomatischen Symptomen leidenden Frauen, die sie untersuchten, als Kind oder Jugendliche Missbrauch erlebt hatten, dabei zu 80% durch sexuelle Gewalt. Zu den im ICD 10 aufgelisteten Somatisierungsstörungen gehören Beschwerden des kardiovaskulären Systems (z. Bsp. Herzrasen), des oberen und unteren Gastrointestinal-trakts (u. A. Erbrechen ohne Infekt), des respiratorischen Systems (Hyperventilieren bei Panikattacke), anhaltende somatoforme Schmerzen (starke körperliche Schmerzen ohne medizinisch erklärbare Ursache) und die hypochondrische Störung (Überzeugung, an einer schweren Krankheit zu leiden).
Eine weitere häufige Folge von Traumata sind Angst- und Panikstörungen, die Morschitzky (2009) zufolge durch wiederkehrende, schwere Angstattacken, die mindestens eine Minute lang andauern und i. d. R. von körperlichen Symptomen wie beispielsweise Herzklopfen, Schwindel oder Brustschmerzen begleitet werden, gekennzeichnet sind. Oft meiden Betroffene anschließend Situationen, in denen die Angst aufgetreten ist und fürchten sich ständig vor erneuten Attacken. Auch Phobien zählen laut dem Autor zu den Angsterkrankungen. Sie sind im Gegensatz zur klassischen Angststörung an einen bestimmten Auslöser gebunden, wie zum Beispiel an Spinnen (Arachnophobie) oder Höhen (Akrophobie). Nach Egle, Hoffmann und Joraschky (2000) weisen verschiedene Studien den Zusammengang von traumatischen Erlebnissen in der Kindheit die Entwicklung von Angststörungen und Phobien im Erwachsenenalter nach.
Bei einer Depression leidet der Betroffene unter gedrückter Stimmung, Verminderung von Antrieb und Aktivität, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Appetit- und Gewichtsverlust und/ oder ausgeprägter Müdigkeit. Das Selbstwertgefühl ist gering, die Zukunftsaussichten pessimistisch und Aufgaben, die sonst mit Leichtigkeit verrichtet wurden, fallen sehr schwer. Die Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und treten in verschiedenen Kombinationen auf, so Sachse (2013). Nach Angst, Angst und Stassen (1999) begeht schätzungsweise die Hälfte aller depressiv Erkrankten in ihrem Leben einen Suizidversuch; bei ca. 15 Prozent der Betroffenen ist dieser erfolgreich. Ruppert (2007) weist darauf hin, dass die Ursachen für eine Depression nicht immer traumatisch sind, ein Trauma aber das Risiko, depressiv zu werden, deutlich steigert.
Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erhalten nach Sautter (2015) häufig Opfer von Beziehungstraumata, welche durch unsichere Bindungen an Bezugspersonen entstehen. Laut Huber (2012) ist dies nicht verwunderlich, da das Hauptkennzeichen einer Persönlichkeitsstörung die Störung der Beziehungsfähigkeit ist. Bindungsunsicherheit hat nicht zwangsläufig einen ungünstigen Entwicklungsverlauf zur Folge, macht die Personen aber anfälliger dafür, erläutert Ruppert (2007). Das gilt insbesondere dann, wenn kritische Lebensereignisse (beispielsweise der Tod einer nahestehenden Person oder Krankheit) hinzukommen. Huber (2012) schildert bezogen auf einige Studien, dass traumatische Situationen in der (frühen) Kindheit sehr häufig mit der Entwicklung von unsicheren Bindungsstilen korrelieren und dass beide Faktoren bei 60 bis über 90 Prozent der von einer Persönlichkeitsstörung betroffenen Menschen gegeben sind. Ein Zusammenhang von frühkindlichen Traumata, unsicherem Bindungsverhalten und der Herausbildung von Persönlichkeitsstörungen kann somit als sicher bezeichnet werden.
Der Begriff "Persönlichkeit" umfasst die einzigartigen psychischen Eigenschaften eines Individuums, in denen es sich von anderen unterscheidet, beschreibt van der Kolk (2016). Eine Persönlichkeit entsteht aus einem Zusammenspiel von Veranlagung, Erfahrungen und der psychischen Verarbeitung des Erfahrenen. Wenn eine Persönlichkeitsentwicklung starken Störungen (z. B. Traumata) unterworfen ist, kann dem Autor zufolge eine Persönlichkeitsstörung entstehen. Im ICD 10 werden acht Persönlichkeitsstörungen unterschieden, legt Sachse (2013) dar. Die emotional instabile Borderline-Persönlichkeitsstörung nimmt im Hinblick auf traumatische Erfahrungen eine besondere Rolle ein, da der Zusammenhang zwischen der Störung und vorangegangenen Traumata als eindeutig gilt. Kahn (2010) schreibt dazu, dass schwer gestörte Familienverhältnisse mit häufigem Inzest oder anderer Form sexuellen Missbrauchs bei ihrer Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen.
Sautter (2015) stellt fest, dass sich dieses Krankheitsbild ausschließlich nach schweren und langanhaltenden traumatischen Erlebnissen in der Kindheit entwickelt. Definiert wird die Störung im DSM IV als ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, dem Selbstbild und Affekten in Verbindung mit deutlicher Impulsivität, so Kernberg und Schultz (2009). Der amerikanische Begriff "Borderline" wird mit "Grenzlinie" übersetzt. Für die Diagnose müssen mindestens fünf der folgenden Kriterien zutreffen:
[...]
Der GRIN Verlag hat sich seit 1998 auf die Veröffentlichung akademischer eBooks und Bücher spezialisiert. Der GRIN Verlag steht damit als erstes Unternehmen für User Generated Quality Content. Die Verlagsseiten GRIN.com, Hausarbeiten.de und Diplomarbeiten24 bieten für Hochschullehrer, Absolventen und Studenten die ideale Plattform, wissenschaftliche Texte wie Hausarbeiten, Referate, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze einem breiten Publikum zu präsentieren.
Kostenfreie Veröffentlichung: Hausarbeit, Bachelorarbeit, Diplomarbeit, Dissertation, Masterarbeit, Interpretation oder Referat jetzt veröffentlichen!
Kommentare