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Masterarbeit, 2018
95 Seiten, Note: 2,4
1 Einleitung und Problemstellung
1.1 Die Flexibilisierung der Arbeitswelt
1.2 Pendeln als notwendiges oder gewolltes Übel?
2 Zielsetzung
3 Gegenwärtiger Kenntnisstand
3.1 Pendeln
3.1.1 Pendeln in der Bundesrepublik Deutschland
3.1.2 Gründe zum Pendeln
3.2 Stressmodelle
3.2.1 Selye und Canon
3.2.2 Lazarus
3.2.3 Salutogenesekonzept nach Antonovsky
3.2.3.1 Sense of coherence SOC
3.2.3.2 Generalisierte Widerstandressourcen
3.2.4 Model of psychosocial work characteristics and consequences of strain
3.2.5 Stress bei Pendlern
3.2.6 Die Doppelbelastung der Frau und deren Auswirkung auf das Stresserleben beim Pendeln
3.2.7 Die gesundheitlichen Folgen des Pendelns
3.3 Grundlagen der Stressbewältigung
3.3.1 Coping
3.3.2 Coping beim Pendeln
3.3.3 Resilienz
4 Methodik
4.1 Definition der Fragestellung
4.2 Definition der Ein- und Ausschlusskriterien
4.3 Literatursuche
4.4 Informationen aus den eingeschlossenen Manuskripten
5 Diskussion
5.1 Ergebnisinterpretation
5.2 Ergebnisdiskussion
5.3 Methodenkritik
5.4 Ausblick
6 Ergebnisse
7 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Anhang
Die Bedingungen in der Arbeitswelt haben sich in den letzten Jahren immer mehr verändert. Neue Informationswege und Möglichkeiten zur Kommunikation, eine gesteigerte Flexibilität, die Individualisierung und die vermehrt kognitive Arbeit sind Trends einer fortwährenden Globalisierung (Cox, Griffiths, Rial-Gonzalez, 2000). Vor dieser Erneuerung der Arbeitswelt gab es für Arbeiter unbefristete Arbeitsverträge, standardisierte Arbeitsabläufe und stabile soziale Beziehungen. In der heutigen Zeit gibt es verschiedene Anstellungsformen (Teil-, Vollzeit, Minijobs), aufgrund neuer Kommunikationstechnologien neue Arbeitsorganisationen (Projektteams, Home-Office), sowie durch den demographischen Wandel ganz neue Herausforderungen (ältere Arbeitskräfte) (Glaser et al 2015).
Kauffeld (2011) beschreibt diese Veränderungen als chronologischen Wandel des Economic Man zum Social Man zum Selfactualizing Man zum Complex Man hin zum Virtual Man und konstatiert, dass der Wandel der Gesellschaft zu elementaren Veränderungen für den arbeitenden Menschen führt. „Die starke Flexibilisierung der Arbeit, Zeitarbeit und befristete Verträge, der permanente Druck der Optionsvielfalt und das konstante Unsicherheitsgefühl in der modernen Arbeitswelt haben das Stresspotenzial der Arbeit drastisch erhöht.“
Die Aussage Kauffelds kann durch den jährlich erscheinende DAK Gesundheitsreport belegt werden. Laut DAK Gesundheitsreport 2017 liegen an erster Stelle zwar immer noch Erkrankungen des Muskel-Skelett-System mit 54% als Gründe für Arbeitsunfähigkeit im Jahr 2016. Doch der Anteil der psychischen Erkrankungen liegt mit 17,1% mittlerweile auf Platz zwei und hat dort die Erkrankungen der Atemwege mit 14,7% abgelöst. Im Jahr 2003 lag dieser Wert noch bei 8,5%, so dass es innerhalb von 13 Jahren zu einer Verdopplung der AU-Tage wegen psychischer Erkrankungen kam.
Laut Weltgesundheitsorganisation WHO wird Stress auch in Zukunft eine bestimmende Determinante in unserem beruflichen und privaten Kontext sein. Daher nimmt auch im „Gesundheit 2020 - Rahmenkonzept und Strategie der Europäischen Region für das 21. Jahrhundert“ die Herausforderung und Bewältigung von Stress einen hohen Stellenwert ein.
Die Wissenschaft hat sich bereits diesem Thema angenommen und seit 2006 werden vermehrt Studien zu diesem Thema veröffentlicht. In zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten wurde bereits bescheinigt, dass Programme mit kombinierten Maßnahmen, also auf individueller und organisationaler Ebene, zur Stressbewältigung eine bessere Wirksamkeit haben. Zu dieser Empfehlung kommen auch Awa et al. (2010) in ihrer Review zur Burn-Out-Prävention. Bekannte und wissenschaftlich überprüfte Modelle sind das Zürcher Ressourcenmodell, Stressimpfungstraining nach Meichenbaum, Gelassen und sicher im Stress nach G. Kalutza, Person-Umwelt-Modell, Modell der beruflichen Gratifikationskrise oder das Anforderungs-Kontroll-Modell. Bei genauerer Betrachtung dieser Modelle fällt auf, dass sie zumeist direkt in der Organisation oder am Individuum ansetzen - also Verhaltens- oder Verhältnisprävention betreiben - und sich vermehrt mit den Themen Über- bzw. Unterforderung, soziale Unterstützung, Merkmale in der Führung und Sicherheit des Arbeitsplatzes beschäftigen. Ein Aspekt, der bislang in keinem multimodalen Programm auftaucht, dennoch eine hohe Relevanz aufzeigt ist die Frage, wie der Arbeitnehmer seine Arbeit beginnt. Hierzu bedarf es vor allem der Klärung der Frage, wie der Arbeitnehmer zum Unternehmen gelangt. Allein in Deutschland lag 2016 der Anteil der Arbeitnehmer, die nicht an ihrem Wohnort arbeiten, bei 59,4 %. Mit 18,4 Millionen Menschen ist diese Zahl so hoch wie nie zuvor. Aufgrund der nach wie vor geforderten Mobilität von Arbeitgebern wird der Anteil an Pendlern tendenziell weiter steigen. Da die Mieten in Ballungsräumen stetig steigen und bezahlbare Wohnräume knapp werden, müssen Arbeitnehmer oft lange und zeitintensive Wegstrecken in Kauf nehmen. Zumal viele Arbeitnehmer nur mit befristeten Arbeitsverträgen ausgestattet sind und ein Umzug von daher zu riskant ist. Doch es gibt auch Gründe, warum sich Arbeitnehmer bewusst für das Pendeln entscheiden. Ott und Gerlinger (1992) nennen hierfür nicht nur berufliche Gründe wie bessere Aufstiegschancen und mehr Gehalten, sondern auch soziale Einflussfaktoren. Diese sind Familienbindung, Freunde und Bekannte oder Vereinsaktivitäten. Rüger (2010) hat in seiner Studie ermittelt, dass die Freiwilligkeit der Mobilitätsentscheidungen eine starke Auswirkung auf die Gesundheit und der Stresserleben von Pendlern hat. Dabei verglich er Nichtmobile mit Mobilen, die Mobilität als Zwang, als Chance oder als Notwendigkeit wahrnehmen Er kommt zu dem Ergebnis, dass Pendler, die aus Zwang pendeln die schlechtesten gesundheitlichen Werte aufweisen und bei ihnen das Stresserleben am deutlichsten ausgeprägt ist.
Obwohl Novaco, Stokols, Campbell und Stokols schon 1979 Pendeln als Stressor beschrieben haben, findet er in heutigen Stressmanagementmodellen nur wenig bis keine Beachtung. Die vorliegende Überblickarbeit soll sich daher explizit mit Stress beim Pendeln beschäftigen. Zum Abschluss wird betrachtet, ob bisherige Stressmanagementmodelle entsprechend der Thematik des Pendelns ergänzt werden müssen.
Ziel dieses Reviews ist es, einen Überblick über bisherige Forschungen im Bereich des berufsbedingten Pendelns zu verschaffen. Hierfür kommt es zunächst einmal zu einer Klärung des Begriffes Pendeln und ab wann Pendler überhaupt einen Anstieg des subjektiven Stressempfindens erleben. Dabei werden die Determinanten, die zu Stress führen und die damit verbundenen Folgen für die Pendler herausgearbeitet. Es wird zudem untersucht, warum die Zahl der Pendler in den letzten Jahren weiter gestiegen ist und ob es Gründe für das Pendeln gibt und diese zwanghaft oder auf freiwilliger Basis seitens der Pendler sind.
Im weiteren Verlauf konzentriert sich die Arbeit auf die Theorien und Modelle zur Entstehung von Stress und wie dieser Begriff im großen und komplexen Konstrukt Gesundheit einzugliedern ist. Dabei wird auch Stress beim Pendeln detailliert dargestellt und explizit in diesem Konstrukt eingeordnet. Anschließend werden Bewältigungsstrategien im Allgemeinen und speziell auf Stress bei Pendlern dargestellt. Diese werden auf ihre Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit hin kritisch betrachtet. Das Job Characteristics Model von Glaser et al. (2012) soll als aktuelles Beispiel eines multimodalen Ansatzes zur Stressbewältigung im Berufsleben herangezogen und beschrieben werden. Das Modell zur Entstehung von Stress bei Pendlern von Koslowsky (1997) zeigt, dass es sich beim Pendeln um eine zusätzliche Belastung für Arbeitnehmer handelt, so dass beide Modelle gut miteinander verknüpft werden können.
In der Literaturrecherche sollen wissenschaftliche Arbeiten gesucht und gefiltert werden und nach Entnahme der Informationen Antworten auf folgende Forschungsfragen geben: Welche Stressoren wirken auf Pendler ein?
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Pendeln und gesundheitlichen Faktoren? Welche Parameter sind auffällig?
Welche Bewältigungsstrategien gibt es hinsichtlich des Pendelns?
Wie kann die Zeit des Pendelns sinnvoll genutzt werden?
Die einzelnen Studien werden hinsichtlich folgender Merkmale untersucht:
- Fragestellung/Zielsetzung
- Untersuchungsgegenstand/Datengrundlage
- Theoretischer Ansatz/ zentrale Konzepte oder Modelle
- Methodisches Vorgehen
- Wichtige Ergebnisse/ Beantwortung der Forschungsfrage
- Sonstiges
Im Anschluss der Untersuchungen wird versucht, die Ergebnisse in den Gesamtkontext des Stressmanagements einzugliedern.
Die erzielten Erkenntnisse sollen zu einem besseren Verständnis für die Belastungen von Pendler führen und einen theoretischen Input und Verbesserungsvorschläge für bestehende Stressmangementmodelle, der Möglichkeiten für Arbeitgeber im Umgang mit Pendlern und dem Bedarf der weiteren Forschung auf diesem Gebiet darstellen.
Laut dem Rechtschreibwörterbuch Duden hat der Begriff Pendeln mehrere Bedeutungen. Eine Perfektbildung mit „hat“ beschreibt hierbei ein „gleichmäßiges hin- und herschwingen, sich wie ein Pendel hin- und herbewegen“. Im Kontext dieser wissenschaftlichen Arbeit trifft die Perfektbildung mit „ist“ jedoch eher zu. Hierzu steht im Duden: „Sich zwischen zwei Orten hin- und herbewegen, besonders zwischen dem Wohnort und dem Ort des Arbeitsplatzes, [...] innerhalb eines Tages hin- und herfahren“. Bei der Definition durch den Duden fällt auf, dass der Ort des Wohnorts und der Ort des Arbeitsplatzes unterschiedlich sind. Zudem wird Pendeln als eine Tätigkeit innerhalb eines Tages beschrieben. Auf die Dauer des Pendelns und die Wegstrecke wird keinen Bezug genommen.
Den zeitlichen Bezug stellen Nisic und Abraham (2015) sowie Rüger, Feldhaus, Becker und Schlegel (2012) her, in dem sie das Pendeln wie folgt unterteilen:
- Nahpendler: Die einfache Pendeldauer beträgt mindestens eine und höchstens 29 Minuten
- Mitteldistanzpendler: Die einfache Pendeldauer beträgt mindestens 30 und höchstens 59 Minuten.
- Fernpendler: Die einfache Pendeldauer beträgt mindestens 60 Minuten; das Pendeln erfolgt täglich.
- Overnighter: Verbringen innerhalb eines Jahres mindestens 60 Nächte aus beruflichen Gründen außerhalb des eigenen Hauptwohnsitzes.
Die deutsche Krankenkasse IKK bezieht sich bei ihrer Definition gänzlich auf die räumliche Komponente und bezeichnet Pendler ab einer einfachen Strecke von 25km bereits als Fernpendler (IKK Gesund plus, 2017).
Wolf-Eberl (2006) bezeichnet Pendler, als Beschäftigte, die auf dem Weg zur Arbeit eine Gemeindegrenze überqueren. Diese Definition ist jedoch durchaus kritisch zu betrachten, da hierbei die Länge und Zeit der Fahrt deutlich variieren können. Zudem weisen Gemeindegrößen deutliche Unterschiede untereinander auf, so dass es bei dieser Definition zu starken Verzerrungen kommen kann.
Laut einer Auswertung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung pendeln in Deutschland 18,4 Millionen Menschen täglich zur Arbeit (Pütz, 2017). Die Forscher werteten Daten zum Pendlerverhalten der sozialversicherten Beschäftigten für den Zeitraum 2000 bis 2015 auf Gemeindeebene aus. Während im Jahr 2000 noch 53 % zur Arbeit pendelten stieg die Zahl mittlerweile auf 59,4 % und markiert damit einen neuen Rekordwert. Besonders viele Menschen pendeln in die großen Metropolen wie Düsseldorf, Frankfurt am Main und Stuttgart. Die meisten Pendler hat München. 355.000 Menschen pendeln täglich in die bayerische Landeshauptstadt und damit 21 % mehr als noch im Jahr 2000. Die dynamischste Entwicklung findet jedoch in der Hauptstadt der Bundesrepublik statt. 274.000 Menschen pendelten zuletzt nach Berlin, womit sich der Wert um 53 % gar mehr als verdoppelte.
Bei insgesamt 32,8 Millionen sozialversicherungsbeschäftigten Personen in Deutschland (Stand September 2018) pendeln also mehr als die Hälfte aller Personen täglich zwischen Arbeits- und Wohnort (Arbeitsagentur, 2018).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Durchschnittliche Pendelentfernung bei Arbeitspendlern in Deutschland in den Jahren 1.99. bis 2016 (in Kilometern) (Die Zeit, n.d.)
Die durchschnittliche Strecke zur Arbeit beträgt dabei 16,91 Kilometer und ist im Vergleich zum Jahr 1999 um 2,32 Kilometer angestiegen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Wie lange brauchen Sie für ihren täglichen Weg zur Arbeits- bzw. Ausbildungsstätte? (Einfache Strecke in Minuten) (Statista, 2017a)
In einer Statista-Umfrage aus dem Frühjahr 2017 wurden, 1.802 Personen, die im Abdeckungsgebiet der Verkehrsverbünde der zehn größten deutschen Städte leben, über die Dauer des täglichen Arbeitsweges befragt. 61 Prozent der 18 bis 29-Jährigen gaben an, für den täglichen Weg zur Arbeitsstätte bis zu 30 Minuten zu benötigen. Ein Drittel aller Befragten gaben an 30 bis 60 Minuten zu benötigen.
Die Relevanz dieser Ergebnisse zeigt sich beim Zusammenhang zwischen der Länge des Arbeitsweges und der Stresshäufigkeit wie die folgende Grafik zeigt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Wie lang ist ihr täglicher Arbeitsweg normalerweise, und wie häufig fühlen Sie sich gestresst? (Statista, 2017b)
Die Ergebnisse stammen aus einer Statista-Umfrage zu Arbeitsweg und Stresshäufigkeit in Deutschland vom Januar 2017. 27 % der Pendler mit einer Fahrdauer von 21 bis 30 Minuten fühlen sich manchmal gestresst. 23 % geben sogar an, sich häufig gestresst zu fühlen. Somit fühlt sich die Hälfte aller Pendler mit einer Fahrdauer von 21 bis 30 Minuten gestresst. Betrachtet man die Ergebnisse, dass zwei Drittel aller Pendler bis zu 30 Minuten für ihren Weg zur Arbeit benötigen, zeigt sich die Relevanz des in dieser Übersichtsarbeit behandelten Themas noch deutlicher. Mit welchem Transportmittel Pendler zur Arbeit kommen, darüber informiert die nächste Grafik.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Die meisten Berufspendler fahren mit dem Auto (Suhr, 2017)
Mit fast 70 % ist das Auto immer noch das häufigste Verkehrsmittel, auf das Pendler zurückgreifen. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts hat sich das Pendlerverhalten damit seit dem Jahr 2000 wenig geändert (Suhr, 2017).
Einen interessanten Einblick gibt zudem das Pendlerverflechtungsnetz:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Abbildung entstammt aus einem Beitrag des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Die erhobenen Daten und die sich daraus bildende Grafik werden von Pütz (2017) wie folgt beschrieben:
Datenquelle sind die Pendlerverflechtungsmatrizen der Bundesagentur für Arbeit. Dabei handelt es sich um eine im Rahmen des Meldeverfahrens zur Sozialversicherung erstellte Bestandsaufnahme der rund 30 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die anhand der Betriebsnummer des Arbeitgebers und der Anschrift des Versicherten einem Arbeitsort und einem Wohnort zugeordnet werden können. Bei einer räumlichen Trennung von Arbeitsort und Wohnort wird indirekt auf eine Pendelbeziehung geschlossen, ohne dass diese Information direkt abgefragt bzw. erhoben wurde. Es geht daher nicht aus den Daten hervor, ob es sich um Tagespendler, Wochenendpendler oder nur um gelegentliches Pendeln handelt. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass bei relativ geringen Pendeldistanzen (bis zu 150 km) das Tagespendeln dominiert.
In der Abbildung zeigt sich, dass besonders im Nord-Osten der Bundesrepublik Pendeldistanzen von 30 Kilometer oder mehr keine Seltenheit sind.
Zudem ist zu erkennen, dass es besonders in den großen Metropolen wie Hamburg, München, Berlin und Frankfurt große Einzugsgebiete gibt. Dies könnte aus zwei Gründen der Fall sein. Die Mietpreise sind in diesen Ballungsgebieten sehr hoch, so dass Arbeitnehmer auf die ländliche Region ausweichen. Zum anderen ist besonders an solchen Orten die Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs recht gut ausgebaut, so dass möglichst viele Arbeitnehmer in die Innenstädte zu ihren Arbeitsplätzen pendeln können.
Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2017 in Deutschland, warum ein Erwachsener im Leben bereits umgezogen ist, geben 49 % der Befragten an, schon einmal aus beruflichen Gründen umgezogen zu sein (umzugsauktion.de, 2017). Ein Umzug aus beruflichen Gründen würde ein Pendeln per se noch nicht kategorisch ausschließen. Hierfür muss noch geklärt werden, inwiefern sich die Strecke und die Dauer zur Arbeitsstätte verringern. Dennoch muss angenommen werden, dass ein Umzug die Dauer des Arbeitsweges und dementsprechend die Stresshäufigkeit reduziert. Doch nach wie vor entscheiden sich über 18 Millionen in Menschen täglich zur ihrer Arbeit zu pendeln und entsprechenden Stress auf sich zu nehmen. Die Gründe hierfür sind dabei komplex zu betrachten.
Ott und Gerlinger (1992) untersuchten die Gründe für die Arbeit außerhalb der Wohnregion bei einer Regionaluntersuchung in Osthessen/Fulda und dem Rhein-Main-Gebiet und kamen zu folgender Auflistung:
Tabelle 1: Gründe für Arbeit außerhalb der Wohnregion (Ott und Gerlinger, 1992, S. 158)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die damals genannten Punkte lassen sich zweifelsohne auf die heutige Situation der Pendler übertragen. Eine heutzutage sehr wahrscheinlich häufig genannte Ursache wäre zudem der Mangel an bezahlbaren Wohnraum in den Ballungsgebieten, was folgende Tabelle unterstreichen soll.
Tabelle 2: 10-Jahresvergleich der Mietpreise für Wohnungen in deutschen Großstädten bis 2018 (eigene Darstellung nach Immowelt, 2018)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die obige Tabelle bildet die Entwicklung der Mietpreise für Wohnungen in den vierzehn größten Städten in Deutschland im Zeitraum vom 1. Halbjahr 2008 bis zum 1. Halbjahr 2018 ab. Datenbasis für die Berechnung der Mietpreise in den vierzehn deutschen Städten über 500.000 Einwohnern waren 250.000 auf immowelt.de inserierte Angebote. Dabei wurden ausschließlich die Angebote berücksichtigt, die vermehrt nachgefragt wurden. Die Preise geben den Median der jeweils im 1. Halbjahr 2008 und 2018 angebotenen Mietwohnungen und -häuser wieder. Die Mietpreise spiegeln den Median der Nettokaltmieten bei Neuvermietung wider. Der Median ist der mittlere Wert der Angebotspreise (vgl. Immowelt, 2018).
Ein weiterer Aspekt sind die 4,9 Millionen befristeten Arbeitsverträge in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2018), weshalb ein Umzug als zu riskant eingestuft wird.
Ott und Gerlinger (1992) haben jedoch auch herausgefunden, dass 90 % der Pendler gar nicht an den Arbeitsort umziehen wollen. Diese Bindung zum Wohnort ergibt sich aus folgenden Gründen:
Tabelle 3: Gründe für die Bindung an die Wohnregion (Ott und Gerlinger, 1992, S. 159)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ein weiterer Aspekt für die Bereitschaft zum Pendeln ist das sich veränderte Familienbild. Beide Geschlechter sind in Bezug auf die Erwerbstätigkeit gleichberechtigt und haben Karriereambitionen. Diese müssen untereinander ausgehandelt und koordiniert werden. Damit kein Partner benachteiligt wird, pendeln häufig beide zur Arbeit (Gerstenberg, 2013; Nisic, 2010).
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, welcher Personenkreis als Pendler definiert werden kann und welche Gründe es zum Pendeln gibt. Dabei spielen mehrere unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Meistens ist die Arbeitsstelle nicht am Wohnort verfügbar und ein Umzug kommt aus sozialen oder finanziellen Gründen nicht in Frage. Zwar können gerade in Ballungsgebieten viele Pendler auf eine gut ausgebaute Infrastruktur zurückgreifen. Dennoch benutzen die meisten Pendler nach wie vor das Auto, um zum Arbeitsort zu gelangen. Ab welcher Pendeldauer der Pendler vermehrt Stress wahrnimmt, konnte ebenso bereits aufgezeigt werden. Wie Stress entsteht und warum nicht alle Menschen die gleiche Situation zwangsläufig als stressig empfinden, soll im nachfolgenden Kapitel erklärt werden.
Die ersten Arbeiten in der Stressforschung gehen auf den ungarischkanadischen Mediziner Hans Selye zurück. In seinem biologisch orientierten Modell, das häufig auch als reaktionsorientierter Erklärungsansatz bezeichnet wird, bediente er sich u.a. der Kenntnisse des amerikanischen Physiologen Walter Cannon. Cannon beschrieb 1932 die so genannte Notfallreaktion. Bei diesem körperlichen Vorgang reagiert das Stammhirn auf alle unerwartet eintreffenden Reize. Durch die Ausschüttung der Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin und der Steigerung der Sympathikusaktivität, die u.a. eine Erhöhung der Durchblutung, einen Pulsanstieg und eine Blockierung des Magen-DarmTrakts hervorruft, wird der menschliche Organismus in eine Kampf- oder Fluchthaltung versetzt (Cannon, 1932).
„Selye definiert Stress als eine unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Art von Anforderung, also eine allgemeine Anpassungsreaktion. Er setzt Stress im Wesentlichen mit Erregung gleich“ (Kauffeld, 2011). Demzufolge können unterschiedlichste Faktoren zu Stressoren werden und das physiologische „allgemeine Adaptionssystem“ (AAS) auslösen. Dieses besteht aus drei Phasen:
1. Der Organismus reagiert zunächst mit einer Alarmreaktion. Der Stressor wird erkannt, und die Person reagiert mit Anspannung. Der Körper schüttet vermehrt Hormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol aus und ist in erhöhte Aktiviertheit versetzt.
2. In der Widerstandsphase leistet die Person den Einwirkungen des Stressors Widerstand. Bei dieser Gegenreaktion werden die ausgeschütteten Stresshormone wieder abgebaut und der Körper erholt sich.
3. Gelingt es der Person nicht, sich diesen Einwirkungen zu widersetzen, z.B. aufgrund mangelnder Ressourcen, folgt die Erschöpfungsphase. Sie beginnt, wenn die Person demselben Stressor über längere Zeit ausgesetzt ist und nicht mehr dagegen ankämpfen kann. Infolgedessen kommt es u.a. zu Infektanfälligkeit, Herz- und Nierenerkrankungen und depressiven Verstimmungen (Selye, 1981).
Da das AAS weitgehend biologisch bestimmt war, Stressoren und Stressreaktionen ungenau beschrieben wurden, es keine Abgrenzung zwischen akutem und chronischem Stress gab, die Wechselwirkung zwischen Umwelt und Persönlichkeit sowie dem Einfluss sozialer Bedingungen keine Beachtung fand, und der konstruktive Umgang mit Stress von einzelnen Personen nicht thematisiert wurde, wurde die biologische Sichtweise durch Lazarus erweitert.
Der Psychologe Richard Lazarus veröffentlichte 1984 sein „Transaktionales Stressmodell“. Er erweiterte die biologische Sichtweise von Selye um die psychologischen und psychosozialen Ansätze. In diesem kognitiven Erklärungsansatz stehen individuelle, kognitive Bewertungsprozesse im Vordergrund, die darüber entscheiden, ob bei der betreffenden Person Stresserleben entsteht oder nicht. Die Einschätzung bzw. Bewertung des Reizes durch die Person ist demnach entscheidend für die Entstehung von Stress.
Im transaktionalen Stressmodell werden drei Bewertungsprozesse unterschieden. Bei der primären Bewertung wird beurteilt, ob der Reiz irrelevant, günstig/positiv oder stressend ist. Bei einem irrelevanten oder günstigen/positiven Reiz ist für die Person kein Schaden zu erwarten. Handelt es sich um einen Reiz, der als stressend empfunden wird, ist ggf. eine Anpassung des individuellen Verhaltens erforderlich.
In dem Modell von Lazarus kann Stress demnach drei Formen annehmen. Schädigung, Bedrohung oder Herausforderung. Unter Schädigung wird ein bereits eingetretener Schaden verstanden. Bei der Bedrohung liegt noch kein Schaden vor, es ist allerdings davon auszugehen, dass einer eintritt. Die Herausforderung beschreibt das erfolgreiche Bewältigen der Situation.
Kommt es zu einer Situation, die als bedrohlich eingeschätzt wird, erfolgt mit der sekundären Bewertung eine zweite Einschätzung. Hierbei werden die Ressourcen der Person überprüft. Besitzt die Person entsprechende Bewältigungsfähigkeiten (z.B. nötige Kompetenz) und Bewältigungsmöglichkeiten (z.B. realistischer Zeitrahmen) im Umgang mit den Stressoren? In Folge der Bewertungsprozesse kommt es zum Bewältigungsverhalten der Person. Im Anschluss daran kann eine Neubewertung des ursprünglichen Reizes erfolgen. Wurde die Situation erfolgreich bewältigt, wird die Situation künftig wahrscheinlich als weniger stressend empfunden.
Nach dem „Transaktionalen Stressmodell“ von Lazarus entsteht Stress, wenn eine Situation als bedrohlich bewertet wird und die Person zusätzlich keine ausreichenden Bewältigungsmöglichkeiten und -fähigkeiten besitzt.
Mit diesem Ansatz können Interventionen im Umgang mit Stress implementiert werden. Ebenso ist eine Erklärung von chronischem Stress aufgrund von wiederholten negativen Bewertungs- und Bewältigungsprozessen möglich.
Einen Einschnitt in der Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit beim Menschen brachte das Salutogenesekonzept von Antonovsky.
In diesem Modell geht es um die Bedingungen von Gesundheit und deren Förderung. Durch den Fokus auf die Gesundheitsentstehung entsteht ein Perspektivenwechsel im Vergleich zur Pathogenese, in der die Vermeidung von Krankheiten im Vordergrund steht.
Der israelischamerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky prägte in den 1970er Jahren den Begriff der Salutogenese. Das Modell entstand als Antonovsky sich in einem Forschungsprojekt mit der Verarbeitung der Menopause bei in Israel lebenden Frauen beschäftigte. Unter den befragten Frauen befanden sich auch Frauen, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Im Ergebnis verfügten 51 % der Frauen über eine gute emotionale Gesundheit. Mit 29 % war der Anteil der Frauen, die das Konzentrationslager überlebten, in dieser Gruppe sehr hoch.
Konzentrieren Sie sich nicht auf die Tatsache, daß 51 eine weitaus größere Zahl ist als 29, sondern bedenken Sie, was es bedeutet, daß 29 Prozent einer Gruppe von Überlebenden des Konzentrationslagers eine gute psychische Gesundheit zuerkannt wurde. [...] Den absolut unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu haben, anschließend jahrelang eine deplazierte Person gewesen zu sein und sich dann ein neues Leben in einem Land neu aufgebaut zu haben, das drei Kriege erlebte ... und dennoch in einem angemessenen Gesundheitszustand zu sein! (Antonovsky, 1979)
Weiter stellte sich Antonovsky die Frage „Warum bewegen sich Menschen auf den positiven Pol des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums zu, unabhängig von ihrer aktuellen Position?“. Antonovsky befragte die Frauen intensiv, was sie zu dieser Stressbewältigung befähigt hat und kam zu folgenden Ergebnissen.
Der „sense of coherence SOC“ wird von Antonovsky als zentraler Faktor definiert. Der mit Kohärenzgefühl übersetzte Begriff entspricht einem überpersönlichen Urvertrauen und setzt sich aus drei Komponenten zusammen:
- Verstehbarkeit (comprehensibility)
- Gefühl von Bedeutsamkeit oder Sinnhaftigkeit (meaningfulness)
- Handhabbarkeit (manageability)
Verstehbarkeit: Für Menschen mit ausgeprägtem Kohärenzgefühl stellt sich die Welt als strukturiert, vorhersehbar und erklärbar dar. Die gleichen Attribute gelten auch für ihre inneren Erfahrungswerte. Sie können also sich selbst verstehen und haben das Gefühl, dass auch andere Menschen sie verstehen. Diese Prozesse ordnet Antonovsky der kognitiven Seite des Erlebens zu.
Handhabbarkeit: Ebenfalls zur kognitiven Seite zählt die Handhabbarkeit. Hier steht die Überzeugung über geeignete Ressourcen zu verfügen im Mittelpunkt. Diese Ressourcen sollen genutzt werden, um Probleme und Herausforderungen zu bewältigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Individuum auf eigene Ressourcen zurückgreift, um das Problem zu lösen oder sich von Ressourcen von außerhalb bedient.
Bedeutsamkeit: Einen Sinn im Leben zu haben und ihr eigenes Tun als sinnvoll zu betrachten, ist für Antonovsky das zentrale Element im Kohärenzgefühl. Aufgaben anzunehmen und versuchen, sie mit aller zur Verfügung stehenden Energie zu lösen, stellt ihm zufolge ein Hauptattribut von Menschen mit hochgradigem Kohärenzgefühl dar. Dabei ist es gleichgültig, zu welchem Ergebnis das Handeln führt. Diese Menschen betrachten ihr Leben als interessant, schön und lebenswert. Antonovsky bezeichnet die Bedeutsamkeit als affektivmotivationale Komponente.
Antonovsky stellte für sein Salutogenese-Modell die sog. Fluss-Metapher auf. Sein Gedanke: Die Menschen schwimmen in einem Fluss voller Gefahren, Strudeln, Biegungen und Stromschnellen. Der Arzt, so erklärt Antonovsky, könne mit seiner pathogenetisch orientierten Medizin versuchen, den Ertrinkenden aus dem Strom zu reißen. In der Salutogenese geht es aber um mehr: Es gilt, den Menschen zu einem guten Schwimmer zu machen. Nach Bengel et al. (2001) will Antonovsky das Kohärenzgefühl jedoch nicht als Kriterium für eine Typologie von Menschen verstanden wissen. Vielmehr soll der Begriff eine dispositionale, überdauernde Orientierung, ein beständiges Muster der Wahrnehmung bezeichnen. Dieses Wahrnehmungsmuster entwickelt sich von Geburt an und ist im jungen Erwachsenenalter gereift und gefestigt.
Demnach ist es entscheidend für die Ausprägung des SOC, unter welchen Umweltbedingungen das Individuum aufwächst. Erfahrungen, Prägungen und Erziehung spielen eine wesentliche Rolle. Erleben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die Welt als gleichmäßig und berechenbar entwickeln sie ein hohes Maß an Kohärenzgefühl. Des Weiteren müssen Probleme und Aufgaben als herausfordernd aber auch lösbar kennen gelernt werden. Im Kontakt mit anderen müssen sie sich selbst als bedeutsam und liebenswert begreifen.
Laut Antonovsky bleibt der SOC ab dem dreißigstem Lebensjahr relativ konstant und lässt sich kaum mehr beeinflussen. Selbst bei einer schweren Erkrankung würde sich der SOC nicht mehr verringern. Studien deuten jedoch darauf hin, dass auch ab dem dreißigstem Lebensjahr der SOC beeinflusst werden kann und diese Aussage Antonovskys zumindest angezweifelt werden kann.
Antonovsky kommt in seinem Salutogenese Modell zu einer zweiten Feststellung. Diese besagt, dass gesunde Menschen über eine Vielzahl an Widerstandskräften verfügen, mit denen sie Probleme, Spannungen und Stresssituationen begegnen. Er bezeichnet diese Kräfte als „generalisierte Widerstandsressourcen“ und stellt wesentliche Protektivfaktoren für die Gesundheit dar. Diese Ressourcen wirken zwar nicht direkt auf Gesundheit ein, haben für Antonovsky dennoch eine entscheidende Bedeutung. Stressoren und daraus resultierende Stressbelastungen können nämlich Krankheiten auslösen. Treffen diese Belastungen auf ein Individuum, das ohnehin schon von Krankheitserregern belastet ist oder andere körperliche Schwächen aufzeigt, verschlechtert sich der Zustand noch mehr und es kommt zu einer Abwärtsspirale. Verfügt das Individuum über ausreichend Widerstandskräfte können körperlich schädliche Spannungen bewältigt und der Spirale entgegengewirkt werden.
Die generalisierten Widerstandsressourcen beziehen sich nicht allein auf die körpereigenen Abwehrkräfte. Diese Ressourcen, die in Situationen aller Art wirksam werden können, beinhalten individuelle, kulturelle und soziale Fähigkeiten und Möglichkeiten, mit denen Probleme gelöst und Schwierigkeiten gemeistert werden. Beispiele hierfür sind laut Antonovsky finanzielle Sicherheit, Ich-Stärke, praktische Bewältigungsstrategien, Intelligenz und genetisch geprägte oder organische Faktoren. Diese Ressourcen entwickeln sich insbesondere in der Kindheit und Jugend. Wenn Kinder an Entscheidungen nicht teilhaben können, die Umgebung die Kinder unter- oder überfordert, kann es zu Defiziten in der Entwicklung der Ressourcen kommen. Daher sind konsistente Lebenserfahrungen im Kindes- und Jugendalter die Basis für die Ausprägung generalisierter Widerstandsressourcen.
Antonovsky hat die zu seiner Zeit bestehenden und heute noch gültigen Stressmodelle aufgegriffen und für sich folgendermaßen interpretiert. Ein potentiell Stress auslösender Faktor ist zunächst als neutraler Reiz anzusehen. Erst wenn dieser Reiz eine Stressreaktion auslöst, wird dieser Reiz zu einem Stressor. Schon hier kann es zu einer spezifischen Unterscheidung zwischen Individuen kommen, wie dieser Stressor wahrgenommen wird. Der ein und derselbe Reiz kann bei einem schwere Stressreaktionen auslösen, während ein anderer den Reiz überhaupt nicht als Stressor wahrnimmt.
Auch den Begriff der Stressreaktion interpretiert Antonovsky als zunächst neutralen Zustand. Für das Individuum liegt nun eine Situation vor, bei der es nicht weiß, wie es darauf reagieren soll. Diese Ratlosigkeit führt zu einem physiologischen Spannungszustand. Ziel ist es nun, den Organismus zurück in sein Gleichgewicht zu bringen, ohne dass dieser Schaden nimmt. Dies gelingt durch eine positive und adäquate Verarbeitung des Reizes.
Ob ein Stressor eine Stressreaktion auslöst hängt demnach vom individuellen Bewertungsraster der Person ab. Liegt eine Stressreaktion vor, kommt es nur zu einer Schädigung, wenn die persönlichen Widerstandsressourcen nicht ausreichen.
In einer ersten Bewertung (primäre Bewertung) wird geprüft, ob ein Reiz überhaupt als Stressor wahrgenommen wird. Menschen mit hohem SOC bewerten potentielle Stressreize dabei häufiger als neutral als Menschen mit niedrigerem SOC. Der potentielle Stressor bleibt also unterhalb der Wahrnehmungsschwelle und wird durch diese erste Bewertung schon gar nicht als Stressreiz wahrgenommen. Doch auch die als Stressoren wahrgenommenen Reize müssen nicht zwangsläufig eine Stressreaktion hervorrufen.
In einer zweiten Prüfung (sekundäre Bewertung) wird der Stressor genauer betrachtet. Das Individuum prüft dabei, ob es Strategien und Ressourcen hat, um dem Problem angemessen entgegenzutreten. Das Individuum mit hohem SOC nimmt hierbei zwar die Anspannung wahr, versichert sich jedoch zeitgleich, dass keine Gefahr droht. Bei niedrigem SOC sieht sich das Individuum durch das Problem gefährdet und es kommt zu einer Stressreaktion.
In der zweiten Bewertung kommt es auch auf die Sichtweise des Individuums auf den Stressoren an. Menschen mit stark ausgeprägtem Kohärenzgefühl betrachten Stressoren als bewältigbare Herausforderungen und nicht als unlösbares Problem. Dadurch kommt es zur Aufwärtsspirale. Es werden ausreichend generalisierte Widerstandsressourcen mobilisiert, mit denen das Problem bewältigt wird. Die erfolgreiche Bewältigung wiederum führt zu einer Förderung des Kohärenzgefühls und damit wird die Komponente der Handhabbarkeit gefestigt, mit Aufgaben und Herausforderungen aus der Umwelt erfolgreich umgehen zu können.
Stressoren sind demnach nicht als objektive Größe zu bezeichnen. Sinnvoller ist es, hierbei einen direkten Zusammenhang zwischen dem Individuum und den individuellen Faktoren herzustellen. Diese Betrachtung als subjektive Größe erklärt, warum Menschen mit hohem SOC potentiell beunruhigende Reize als solchen nicht wahrnehmen. Die folgende Darstellung soll die o.g. Zusammenhänge verdeutlichen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Vereinfachte Darstellung des Modells der Salutogenese (nach Antonovsky, 1979)
Übertragen auf die Situation der Pendler muss zunächst festgehalten werden, dass nicht jeder Pendler den gleichen Stress erlebt. Nach Antonovsky stellt sich die Frage, ob Pendeln als Bedrohung angesehen wird. Bei einer Bedrohung kommt es folglich zu einer Überprüfung der Ressourcen, wobei auch die Erfahrung eine Rolle spielt. Wird der Arbeitnehmer durch Pendeln vermehrt unter Stress gesetzt, was laut Antonovsky zu Krankheiten führen kann. Diese Annahme müsste in der späteren Literaturauswertung widergespiegelt werden.
Da Menschen nicht nur beim Pendeln potentiellen Stressoren ausgesetzt sind, sondern auch im beruflichen Kontext, wird im Folgenden ein arbeitspsychologisches Erklärungsmodell betrachtet. Hierbei stellt sich die Frage, ob das Modell das Thema pendeln aufgreift.
In der Handlungsregulationstheorie von Hacker (1973) und Volpert (1987) werden Arbeitsaufgaben als Handlungsforderungen bezeichnet. Zugleich sollen diese Angebote das Subjekt anregen, durch eigenes Tätig werden Lern- und Bewältigungsprozesse anzustoßen. Nach Frese und Zapf (1994) lassen sich drei Klassen von Tätigkeitsmerkmalen unterscheiden. Anforderungen, die an die psychische Regulation des Handelns gestellt werden. Stressoren, die eine Zielerreichung erschweren oder behindern. Unterstützende Bedingungen, die zur Bewältigung von Anforderungen und Stressoren zur Verfügung stehen. Im integrativen Modell von Glaser et al. werden die Tätigkeitsmerkmale in Beziehung zueinander gesetzt. Diese können im positiven und negativen Sinn gerichtet sein. Positive Aspekte sind Motivation, Leistung und Engagement. Negative sind Krankheit, Erholungsmangel und psychosomatische Beschwerden. Das Modell soll als Synthese aus bekannten arbeitspsychologischen Erklärungsmodellen betrachtet werden (vgl. Glaser u. Herbig 2012).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: Model of psychosocial work characteristics and consequences of strain (Glaser et al., 2012)
In der Handlungstheorie werden Anforderungen als Regulationschancen gesehen und damit als potentiell entwicklungsförderlich. Dies stellt einen Gegensatz zu den Stressoren dar, die sowohl bedrohend als auch herausfordernd sein können. Zwar können auch Anforderungen kurzfristig einen negativen Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben, jedoch zeichnen sich diese Anforderungen durch ein Lernpotenzial aus. Die Ressourcen an sich können zwar negative Auswirkungen von Anforderungen und Stressoren lindern, jedoch kein Lernen fördern. Das Erlernen neuer Fähigkeiten setzt vielmehr das Bewältigen von Arbeitsaufgaben mit angemessenen Anforderungen voraus.
Hierbei ist es wichtig, die Anforderungen angemessen zu gestalten. Sie müssen also auf die individuellen Leistungsvoraussetzungen und Ressourcen einer Person angepasst werden, um eine unter- oder überfordernde Beanspruchung zu vermeiden (Schönpflug 1987). Beim Person-Environment-Fit wird der Grad der Passung zwischen Person- und Umweltmerkmalen und dessen Auswirkung auf die Person erforscht. Dabei werden zwei Ansätze unterschieden. Im ersten Ansatz soll die Passung zwischen personalen Werten (z.B. Ansprüche, Motive, Einstellungen) und den Angeboten aus der Umwelt, die diese Werte erfüllen, im Fokus stehen. Im zweiten Ansatz steht die Passung zwischen Anforderungen der Umwelt und den Voraussetzungen der Person zu deren Be- wältigung (z.B. Fähigkeiten, Fertigkeiten) im Vordergrund. Es kommt beim PersonEnvironment-Fit also darauf an, ob die Person oder die Umwelt als zentral betrachtet wird (Edwards, 1996).
Bei der Analyse von Lernanforderungen wird das Ausmaß der Fragmentierung einer Tätigkeit betrachtet. Im Fokus steht somit der Grad der Beschränkung von Tätigkeiten auf eine bzw. wenige Regulationsebenen bzw. Handlungsphasen. Gerade bei Büroarbeit geht es vorrangig um kognitive Leistungsvoraussetzungen, die in der Arbeit gefordert und gefördert werden und sich positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken sollen. Wie lernförderlich die Aufgaben sind, muss anhand der individuellen Leistungsvoraussetzungen des Arbeitenden abgeleitet werden. Gerade bei der Unterforderungen sind einst notwendige intellektuelle Regulationen von Planungsprozessen nicht mehr vorhanden. Sie wurden durch Routinisierung zur weitgehend automatisierten wissensbasierten Regulation umgewandelt. Somit fehlt nunmehr das lernförderliche Potential der Arbeit. Daher muss die Arbeitsgestaltung nicht nur differenziell, also angepasst an die Leistungsvoraussetzungen einer Person sein. Sie muss ebenso dynamisch, also angepasst an die sich über die Zeit wandelnden Leistungsanforderungen der Arbeitsaufgaben und individuellen Qualifikationsvoraussetzungen der Arbeitenden erfolgen.
Neben den grundlegenden Ressourcen in der Büroarbeit wie die Ausstattung mit Personal, Räumen und Arbeitsmitteln zählen auch zeitliche und finanzielle Mittel dazu, die zur Arbeitsausführung zur Verfügung stehen. Unter dem psychologischen Aspekt gibt es hier noch zwei weitere Gruppen, die als Ressource von Bedeutung sind. Dies betrifft zum einem die Autonomie, das das Ausmaß von Einflussmöglichkeiten in der eigenen Arbeit beschreibt und auch als Tätigkeitsspielraum bezeichnet werden kann. Zu diesem Spielraum zählt auch die Arbeitszeitautonomie. In vielen psychologischen Theorien nehmen solche Aspekte eine Schlüsselrolle ein. Zudem belegen empirische Studien den positiven Zusammenhang dieser Kernmerkmale mit Arbeitsmotivation, Arbeitszufriedenheit und Arbeitsleistung auf individueller Ebene (siehe z.B. Metaanalyse von Fried und Ferris, 1987) und bei der Arbeit in Gruppen (Campion et al. 1993; Campion et al. 1996).
Zusätzlich können soziale Ressourcen als wichtige Form der Unterstützung gelten. Diese Ressourcen können sich durch instrumentelle (z.B. Rat des Vorgesetzten, Unterstützung durch Kollegen) oder emotionale Unterstützung (z.B. Teamleiter ermuntern, Kollegen hören verständnisvoll zu) widerspiegeln. Diese Formen der sozialen Unterstützung können dem Individuum helfen die Arbeitsanforderungen zu bewältigen, Überforderung zu verringern und Stresserleben zu mindern (House u. Wells 1978; Frese 1999).
Zuletzt gilt es die persönlichen Ressourcen zu berücksichtigen. Welche Qualifikationsund Leistungsvoraussetzungen (z.B. Fähigkeiten, Fertigkeiten, Motivation) beeinflussen das Arbeitshandeln und die Arbeitsergebnisse. Diese Aspekte wirken sich wiederum direkt auf die Persönlichkeits- und Gesundheitsentwicklung des Arbeitenden aus. Arbeitsstressoren sind Ursachen von Arbeitsstress. Diese Stressoren behindern die Arbeit und können durch Überforderung (ungünstige Umgebungsbedingungen, zu enge Zeitbindung) und Hindernisse (informatorische Erschwerungen, Arbeitsunterbrechungen) entstehen. Da es bei Regulationshindernissen zu Anpassungen kommen muss, führt dies zu Zusatzaufwand oder riskantem Handeln.
Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit stellen positive Wirkungen von Arbeit dar, müssen in sich aber nochmal expliziter dargestellt werden. Arbeitsmotivation bezeichnet dabei die Aktivierung von Bedürfnissen (Motiven) eine Person durch Anreize. Arbeitszufriedenheit hingegen ist das Ergebnis aus individuellen Bedürfnissen und deren Befriedigung in der Arbeitssituation (Ulich, 2011). Als Prädiktoren der Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation gelten die Autonomie, Anforderungsvielfalt und erlebte Bedeutsamkeit (Fried u. Ferris 1987). In Bezug auf Arbeitszufriedenheit gelten auch Partizipation, Führungsverhalten und Arbeitsstressoren als Prädiktor (Dormann u. Zapf 2001).
Das Commitment gilt als klassische positive Belastungsfolge und beschreibt die Art und Stärke der Bindung des arbeitenden Individuums an die Organisation. Hierbei werden affektive (emotionale Verbundenheit), kalkulatorische (Vorteile der Organisationsmitgliedschaft) und normative (moralische Verpflichtung) Komponenten unterschieden, wobei die affektive Dimension die höchste Relevanz besitzt (Mathieu u. Zajac 1990). Als Prädikatoren zählen in diesem Bereich Autonomie, Gruppenkohäsion, organisationale Gerechtigkeit und positives Führungsverhalten. In einer Metaanalyse von Meyer et al. (2002) konnten Zusammenhänge zwischen affektivem Commitment und Arbeitszufriedenheit, -motivation und -leistung, sowie negative Zusammenhänge mit psychischem Stress, Absentismus und Fluktuation nachgewiesen werden.
Negative Wirkungen von psychischen Belastungen in der Arbeit können kurzfristige physiologische Reaktionen sein, wie erhöhte Herzfrequenz, Blutdrucksteigerung, Anspannung oder Adrenalinausschüttung. Sie können sich aber auch in Form von Frustration, Ärger, Ermüdungs-, Monotonie-, oder Sättigungsgefühlen ausdrücken (Hacker & Sachse 2014). Begleiterscheinungen dieser Auswirkungen sind häufig Leistungsschwankungen, nachlassende Konzentration und Fehler im Arbeitsvollzug. Mittelfristig folgen psychosomatische Beschwerden, Resignation und Depressionen. Diese Wirkungen führen wiederum zu negativen Folgehandlungen in Form von erhöhtem Nikotin-, Alkohol- oder Medikamentenkonsum, die wiederum mit Fehlzeiten verbunden sein können. Neben den individuellen Folgen kann es auch zu sozialen Effekten wie zwischenmenschlichen Konflikten oder gar Rückzug kommen. Dies wiederum führt zu weiteren Problemen für das Individuum und die Organisation.
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