Masterarbeit, 2021
47 Seiten, Note: 2
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Übersicht der Szenischen Verfahren
2.1. Szenische Interpretation
2.2. Forschungsüberblick der Theaterpädagogik
2.3. Relevanz der theaterpädagogischen Verfahren im Deutschunterricht
3. Der Roman “wie du mich siehst” von Tahereh Mafi
3.1. Inhalt und Struktur
3.2. Analyse des Romans nach Genettes Erzähltheorie
3.3. Didaktisches Potenzial des Romans
4. Teilkompetenzen der Szenischen Interpretation
4.1. Perspektivenwechsel und Empathie
4.2. Von Epik zu Drama – Transferbeispiel
5. Verlaufsmodell der Szenischen Interpretation
6. Schluss
Literaturverzeichnis
Szenische Interpretation (SI) zur Konfliktlösung, als Lebenshilfe oder zur Stärkung der Kompetenzen, die Methode wird als Ansatz für einige Problemfelder beschrieben. Im Kontext des Literaturunterrichts jedoch, sollte die Inszenierung von Literatur primär das Ziel verfolgen, Schülerinnen und Schüler (SuS) zu einem tieferen Textverständnis zu verhelfen. Damit wird eine literarische Dimension verfolgt, die eine Auseinandersetzung mit Literatur als Ausgangspunkt für das sogenannte Texttheater hat.1
Die Szenische Interpretation soll demnach im Deutschunterricht zu einer Auseinandersetzung mit der zu behandelnden Literatur führen, die einen anderen Zugang als die klassischen Analysemethoden von Texten bietet. Marcel Kunz stellt an die Szenische Interpretation in der Schule einen wissenschaftspropädeutischen Anspruch, wenn sie als Methode oder gar als eigenes Fach gerechtfertigt sein will.2 Das Ergebnis sollte zwar vom zu behandelnden Text ausgehen, der Text kann aber gegebenenfalls verändert werden. Es sei eine “gestaltende Auseinandersetzung” und erweitert experimentell und produktiv den Literaturunterricht. Eine Auseinandersetzung mit der SI geht - anders als der konservative Literaturunterricht mit gängigen theoriebezogenen Methoden - tiefer von der Betroffenheit der Lernenden aus.3 Es werden andere Fragen an den Text gestellt und die Lernenden und Lehrenden kommen zu anderen Problemstellungen, denn die Szenische Interpretation bringt direkte und sichtbare Umsetzungen von Interpretationsansätzen mit sich.4 In der vorliegenden Arbeit soll es um die Szenische Interpretation epischer Literatur gehen, wobei diese Interpretationsart für alle literarischen Gattungen umsetzbar ist. Ist der Ausgangstext der Epik zugeordnet, ist bei dem Transformationsverfahren von Text zur szenischen Umsetzung ein wichtiger Zwischenschritt von Nöten: Die ausgewählte Textsequenz wird in eine dramaturgische Form umgeschrieben, um eine bessere Grundlage für eine szenische Umsetzung zu schaffen.
Die für die Arbeit herangezogene Literaturvorlage “wie du mich siehst” von Tahereh Mafi bietet einige Analysezugänge zu der Schuldfähigkeit von Jugendlichen und Erwachsenen, die durch Diskriminierung das Leben der Protagonistin erschweren. Eine Herausarbeitung der Mitschuld der Gesellschaft und eine kritische Betrachtung von systematischer und institutioneller Diskriminierung ist anhand des Romans möglich. Die Arbeit verfolgt u.a. das Ziel, durch die SI des epischen Werks eine innere Haltung durch körperliche Handlungen sichtbar zu machen und diese zu hinterfragen. Durch die SI der Literatur mit solch einem Inhalt wird unter anderem auf den Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten der Kommunikation, Kooperation, des Problemlösens, und der Entscheidungsfindung im sozialen Umfeld abgezielt.5 Trotz der hohen Aktualität und des Lebensbezugs zu dem Thema Diskriminierung in der Schule, ist es wichtig, nicht die eigene Person in den Vordergrund zu stellen, sondern die Interpretation der eingenommenen Rolle. Die Verschmelzung von eigenen Erfahrungen mit der Gedanken- und Gefühlswelt der literarischen Figur ergibt die Interpretation.6 Eine SI von epischen Werken bringt den zusätzlichen didaktischen Gewinn des tieferen Eindringens in die Gefühlswelten der literarischen Figuren mit sich, denn SuS müssen sich während der Transferierung in die dramaturgische Form, stärker damit auseinandersetzen, was die literarische Figur in welcher Art und Weise sagen und tun könnte. Das Drama hingegen ermöglicht weniger Freiräume, da es schon in Szenen verfasst ist. Ein weiterer Aspekt, der für eine SI epischer Werke spricht, sind die Erfahrungswerte der Lehrerinnen und Lehrer, die schildern, dass sich SuS lieber mit aktuellen Jugendbüchern befassen, als mit Dramen, die von der Schülerschaft oft als “antiquiert, schwer verständlich, altmodisch und langweilig”7 wahrgenommen werden. Positive Reaktionen auf altersgemäße und neuere Lektüre bestätigen hingegen, dass diese, die Mitarbeit und das Interesse der SuS stärken, denn hier wird die Lebenswelt der SuS realer aufgegriffen.
Szenische Verfahren in Bezug auf den Deutschunterricht meinen nicht das Auswendiglernen und Vorspielen von Literatur. Viel eher umreißt es ein didaktisches Prinzip, welches neue Interpretationszugänge zur behandelnden Literatur bietet, aber auch Schlüsselkompetenzen außerhalb der schrift- und sprachbezogenen Kompetenzen schult. Wenn mit einem Text szenisch gearbeitet werden soll, dann wird dieser zunächst “sinnlich und individuell”8 erfahren, es entstehen Imaginationen und Emotionen, nicht zuletzt durch Sympathien und Abneigungen für bestimmte Figuren beim ersten Lesedurchgang - dieser erste individuelle Textzugang ist der Ausgangspunkt für eine Interpretation.9 Während der Interpretation von Textstellen entstehen Annahmen, welche in Interpretationsgesprächen korrigiert oder bestätigt werden können.10 Eine Szenische Interpretation kann im Anschluss zu neuen Entdeckungen im Text führen, die erste Annahmen ergänzen oder revidieren. Kunz schreibt in diesem Zusammenhang, dass unter dem Begriff der Szenischen Verfahren sowohl eine Szenische Interpretation als Zugang, als auch eine Szenische Umsetzung als Resultat gemeint ist.11 Dieser durch Szenische Verfahren gewährte Zugang bietet andere Einsichten und führt zu einem anderem Textverständnis als bei klassischen Unterrichtsgesprächen über Literatur. Um diese neuen Dimensionen auffangen zu können, ist es unabdingbar im Anschluss über die neuen Einsichten im Plenum zu diskutieren, da die Szenischen Verfahren keine Diskussionen über Texte ersetzen können.12 Nur durch eine kognitive Aufarbeitung des Erlebten im Anschluss sind Szenische Verfahren sinnvoll.
Musik, Bildende Kunst oder Literatur - vieles kann durch das didaktische Konzept der Szenischen Interpretation behandelt und dargestellt werden. Die Szenische Interpretation bedient sich an ästhetischen Formen und beabsichtigt ein Zurechtfinden in fremden Situationen und ein erleichtertes Verstehen von u.a. Literatur. Zur Szenischen Interpretation wurden ab den 1970er Jahren viele Konzepte entwickelt, diese verwenden Verfahren des Szenischen Spiels. Spinner betitelt die Szenische Interpretation, neben dem darstellenden Spiel, als Untergattung des szenischen Spiels.13 Der Forschungsliteratur kann entnommen werden, dass sich das Szenische Spiel mehr auf die Darstellung vor Publikum konzentriert und “Kultur als Performance”14 darstellt. Die Szenische Interpretation hingegen setzt den Fokus im Deutschunterricht auf das Verstehen von Literatur durch szenische Vorgänge und ist somit prozessorientierter. Während des Prozesses ist die Reflexion unabdingbar, Spinner listet folgende Leitfragen für eine intensive Reflexion auf:
Wie hat sich eine Schülerin, ein Schüler als Figur gefühlt? Welches Bild der Figur hat sie oder er den Zuschauenden vermittelt? Welche Textaspekte kamen in der Darstellung zum Tragen? Was haben die Zuschauenden Schülerinnen und Schüler gesehen, wie deuten sie das Gesehene, entspricht das der Intention der Darstellenden?15
Es geht also um eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text und dem Erfahrenen, während das darstellende Spiel das Endergebnis stärker im Blick hat als den Entstehungsprozess.16 Die Grenzen sind dennoch fließend, da beide Konzepte ineinandergreifen und die Szenische Interpretation oftmals eine Vorbereitung zum darstellenden Spiel ist. Ingo Scheller entwickelt aus eigenem Frust vom klassischem Literaturunterricht Konzepte zu Dramen, die mithilfe von SI behandelt werden können und prägt mit seinen Konzepten zu unterschiedlichen literarischen Werken die Szenische Interpretation. Besonders beliebte Literatur für eine Szenische Interpretation sind Dramen, auf die sich auch Scheller fokussiert. Da diese Textform in Szenen verfasst ist, ist eine Szenische Interpretation primitiver als bei epischer oder lyrischer Literatur. Diese sollte nämlich zunächst in eine dramaturgische Form transferiert werden. Als Nebenprodukt dieses Zwischenschritts gilt eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Text und der Gattung.
Epische Literatur wie Romane eignen sich deshalb so gut für das Verfahren, weil diese meist von Menschen und deren Leben in bestimmten sozialen Situationen erzählen, die aktuell sind, der Schreibstil Lernende mehr anspricht und damit Lebensnähe bietet. Es werden Handlungen skizziert, in denen die literarischen Figuren mit besonderen Ereignissen, anderen Individuen oder mit der eigenen Person konfrontiert werden.17 Brüche, Konflikte und Krisen und der Umgang mit ihnen werden thematisiert. Dabei werden Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster sichtbar und es werden Bilder von sich selbst und von Fremden erschaffen.18 Da epische Literatur nur aus der Sicht der gewählten Erzählperspektive gelesen werden kann, werden Leserinnen und Leser von dieser beeinflusst. Je nach Erzählperspektive werden der Handlung Metakommentare hinzugefügt.19 Bei einer autodiegetischen Erzählung ist das Wahrnehmungsfeld besonders begrenzt. Durch die SI kann eine differenzierte Sicht aus Perspektiven anderer Figuren auf die erzählende Figur gelingen. Die Wirkung dieser auf die anderen, in der Szene handelnden Figuren, wird durch die SI erfahrbar. Wie die dargestellte Erzählung aus anderen Figuren heraus, die einen anderen historischen oder kulturellen Kontext besitzen, betrachtet und gedeutet wird, ist durch das Lesen eines epischen Textes, mit dieser Erzählperspektive, eher schwierig. Nehmen die SuS während der SI genau eine solche Rolle ein, können sie zu dieser Einsicht gelangen.
Eine Nullfokalisierung bei epischen Texten bietet eine differenzierte Darstellung, die aus mehreren Figuren heraus geschieht. Die Wahrnehmung verschiedener Figuren kann hierbei für eine Szenische Interpretation differenzierter “erlesen” werden.
Epische Texte als Szenische Interpretation darzustellen, verfolgt das Ziel, die in der Literatur dargelegten Lebensentwürfe und /-geschichten so zu rekonstruieren, dass sie als “Deutungsangebote für erlebte oder mögliche soziale Dramen erfahren werden können”20. Hierbei werden vor allem die Protagonistinnen und Protagonisten und ihr Handeln in ihrer sozialen Umgebung unter die Lupe genommen. Schwerpunkt der Szenischen Interpretation von epischen Texten ist also meistens die Darstellung von Figuren und ihr Umgang mit Konflikten. Es kann untersucht werden, ob diese verdrängt, gelöst oder provoziert werden.21 Um darauf eine Antwort zu finden, ist es sinnvoll Szenen zu untersuchen, die das Alltagsverhalten bestimmter Figuren in Frage stellen.22 Wenn die Erzählperspektive eine homodiegetische ist, heißt es nicht, dass andere Figuren in der Szenischen Interpretation nicht beachtet werden. Die SI kann eine Szene mehrperspektivisch beleuchten, was einen enormen Vorteil des Verfahrens bei epischen Texten mit autodiegetischer Erzählung darstellt. Dadurch kann auch das, was wir aus Sicht des Erzählers nicht erfahren und damit auch die Mehrschichtigkeit und Komplexität einer sozialen Situation illustriert werden.23 Um zu diesem Ziel zu gelangen, müssen historische Hintergründe, Lebenszusammenhänge und Habitusformen untersucht werden, die das Verhalten der Figuren begründen könnten.24
Typische Verfahren der Szenischen Interpretation, die im Literaturunterricht eingesetzt werden, sind u.a. Standbilder und Statuen bauen, Haltungen und Bewegungen von Figuren erproben, Textpassagen pantomimisch spielen, Sprechweisen erproben und innere Monologe sprechen und im Anschluss einzelne Szenen nachspielen.25 Durch diese Verfahren, die den Text emotional, imaginativ, kognitiv und körperlich vergegenwärtigen, soll nicht nur das Textverständnis vertieft werden, es wird zugleich eine “Selbstthematisierung” durch eine subjektive Erfahrung ermöglicht.26 SuS können also mit der Methode der SI die eigene Identität aufspüren, erfahren und hinterfragen. Sie setzen ihre Vorstellungen, die sie beim Lesen entwickeln, in Szenen um und binden ihre eigenen Erfahrungen dabei mit ein. Scheller arbeitet heraus, dass eine SI epischer Texte erfahrbar macht, wie ein/e Autor/in die Leserschaft an das Handlungsgeschehen heranführt, welche Rolle dabei die Erzählperspektive auf die Wahrnehmung hat und welche Handlungen oder Figuren besonders hervorgehoben oder in den Hintergrund gedrängt werden.27 Außerdem wird die innere und äußere Haltung der Figuren, ihre soziale Beziehung zu anderen Figuren, und ihre Identitätsentwürfe physisch und sinnlich wahrnehmbar.28 Diese Erkenntnisse führen zu einem tieferen Textverständnis.
Spiel- und Theaterpädagogik habe laut dem angesehenen Pädagogen Hans-Wolfgang Nickel, im Jahr 2001 eine “besondere[ ] Konjunktur” erfahren.29 Diese ist sicherlich den dazugekommenen theaterpädagogischen Studiengängen, die sich rasch etablierten, den vielfältigen und verbesserten Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten zur genannten Pädagogik und den Ausarbeitungen von Spiel und Theater als Methode in unterschiedlichsten Berufsfeldern zu verdanken.30 Trotz des Booms mangelt es an einführende Publikationen. Der neuseeländische Theaterwissenschaftler Christopher Balme führt dies auf die “differierenden Auffassungen” der Fachvertreter zurück.31 Die Uneinigkeit darüber, worin die Theaterwissenschaft eigentlich besteht, machte es schwierig sich auf eine Grundlage zu einigen, auf die weitere Fachdiskussionen zu dessen Pädagogik fußen können. Balme stellt sich dem Problem und versucht mit seinem Buch “Einführung in die Theaterwissenschaft” diese Grundlagen zu definieren. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Theater ist laut Balme eine “Konfrontation mit einer auf den ersten Blick unüberschaubaren Vielfalt an Teildisziplinen, Wissensinhalten und Forschungsansätzen.”32 Nickel betont die Wichtigkeit einer Ausformulierung der theoretischen Überlegungen zur Theaterpädagogik und warnt vor zu vielfältigen Ausdifferenzierungen, die bei einer zu kurz gekommenen Verschriftung drohen. Die Spiel- und Theaterpädagogik soll davor bewahrt werden, dahingehend ausdifferenziert zu werden, dass sich immer wieder neue “Trend-Theater-Pädagogiken” entwickeln, die keinen ausreichenden Beitrag als Orientierung zur Theorie bieten. Währenddessen bemüht sich Benner, Vertreter der Spiel- und Theaterpädagogik, um eine Konstruktion der Spiel- und Theatertheorie, die zu “konstitutiven und regulativen Prinzipien”[33]kommt. Zur Weiterentwicklung der Theorie gibt es weitere, diskussionsbedürftige Vorschläge: Eine Art selbstreferentielles Wissenschaftsverständnis könnte für einige Theoretiker die Antwort sein. Die Wissenschaft würde sich nach diesem Modell auf Beobachtungen in der Praxis rückbeziehen.34 Ulrike Hentschel benennt dieses Vorgehen als “reflexive Beobachtungswissenschaft”35, welche von Krüger weitergedacht wird. In diesem Zusammenhang wären für Krüger zwei Aufgabenfelder wichtig: Zum einen die Technikfolgeabschätzung, welche die Risiken der Pädagogik abschätzen und vermeiden soll und zum anderen die historische Forschung, welche die Sozialgeschichte mitdenkt, sich vor allem aber mit den historischen Entwicklungen der Bildungstheorie befassen sollte.36
In der Theorie der Spiel- und Theaterpädagogik wird also für die zunehmende Ausdifferenzierung von Teildisziplinen eine “historische Begründung allgemeiner Grundprinzipien”37 gesucht. Verglichen mit einer Neudefinition der Forschungsaufgaben ohne unmittelbare Zwänge der Handlungsorientierung, wird der Verlust von allgemeinen Grundlagen kaum bedauert38. In der Theaterpädagogik kann beobachtet werden, wie sich gegen Erwarten der beschriebenen Zersplitterungstendenzen eine scheinbar gegenläufige Wissenschaft entwickelt.
Der umfangreich vorhandenen Literatur zur Theaterpädagogik ist somit zu entnehmen, dass sich die Pädagogik aus der Vermittlung einer Tradition und den möglichen Perspektiven gebildet werden kann. Darunter sind folgende wissenschafts-pädagogische Gesichtspunkte zu verstehen: Eine Begriffsklärung und Strukturierung der Erkenntnisfelder, die Gerechtwerdung der Historizität ihres Gegenstands, welche die historischen pädagogischen Phänomene inkludiert und empirische Aufklärung sowie pragmatische Problemlösungen mitdenkt.39 Die Perspektiven teilen sich in geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf. Im nachfolgenden Kapitel wird die Relevanz der Theaterpädagogik in der Schule ausführlicher behandelt.
Die Lehre in der Schule fragt schon seit längerer Zeit nach Kompetenzen, welche im Vordergrund stehen sollten. Die Auswahl von Unterrichtsinhalten und -gegenständen muss entsprechend mit zu lehrenden Kompetenzen legitimiert werden. Darauf wird schon bei der Ausbildung von Lehrkräften geachtet. Der Kompetenzbegriff beschreibt in diesem Zusammenhang die Bewältigung einer spezifischen Handlungsforderung in einer bestimmten Situation.40 Infolgedessen lassen sich Kompetenzen daran messen, dass kontextuell situierte Aufgaben anhand von implizitem Wissen, Sachangemessenheit, Motivation, entsprechenden Fertigkeiten und einer Selbstwirksamkeitsüberzeugungen gemeistert werden.41
Im Mittelpunkt der öffentlichen pädagogischen Debatten stehen seit PISA vor allem die Fähigkeiten in mathematischen, naturwissenschaftlichen und schriftbezogenen Fächern, wobei moralische, körperliche, ästhetische und geistige Kompetenzen vernachlässigt wurden.42 Dass diese aber unverzichtbar für ein Leben in modernen Gesellschaften sind, ist eklatant.43 Neben “Selbstständigkeit” und “Sozialität”, wird “Interaktivität” als Schlüsselkompetenz für ein erfolgreiches Miteinander in einer modernen Gesellschaft benannt.44 Die drei Schlüsselkompetenzen lassen sich mittels theaterpädagogischen Verfahren in Angriff nehmen, denn diese sind Voraussetzungen theatraler Bildungsprozesse in der Schule.45 Nicht nur die genannten Schlüsselkompetenzen werden bei theaterpädagogischen Verfahren im Deutschunterricht bedient, die Relevanz weitet sich durch weitere Kompetenzen, die gefördert werden, aus. Unter Anderem werden die Fähigkeiten der Individualität, Reflexivität und Performativität gefördert.46 Liebau, der Initiator des Studiengangs “Darstellendes Spiel in der Schule”, räumt der theatralen Bildung das Merkmal einer Eignung zur Förderung von Bildung ein, welches kaum ein anderes Feld in der Schule so gut umsetzen kann.47
Die genannten Schlüsselqualifikationen theatraler Bildung verhelfen mit großen Schritten zur Sozialintegration. Denn als Nebenprodukt der stärkeren Einbindung von künstlerischen Arbeiten in der Schule, wird auf eine “Prävention gegen Drogen und Gewalt, auf bessere Gesundheit, bessere Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten, bessere Aufmerksamkeit [und] bessere allgemeine Lernfähigkeit”48 gehofft. Diese Erwartungen an die Theaterpädagogik sind gerechtfertigt und bestehen schon seit 1990. In jenem Jahr wurde bereits die Förderung des Schultheaters seitens des Ministeriums für Wirtschaft, Forschung und Kunst BW begründet. Auch in dieser Begründung findet das Argument, dass Theater viele Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung fördert, Platz. Nicht zuletzt bringt die Verknüpfung der theatralen Bildung mit Literatur im Deutschunterricht eine kulturelle Entwicklung der SuS mit sich. Des Weiteren würde sie junge Menschen erlebnisfähiger machen, da sie die Prozesse des Theaterspielens durchleben.49
Die theatrale Bildung wird unter der geisteswissenschaftlichen Perspektive mit einer Allgemeinbildung, die eng mit Kunst und Kultur, aber auch mit Politik und Alltag verknüpft ist, begründet. Eine menschliche Entfaltung wird durch Kunst und Kultur angeregt, wobei die theatrale Bildung einen Beitrag leisten kann. Die Theaterpädagogik priorisiert hierbei ein ideales Menschenbild, das im Alltag zu Freundschaft, intellektuellem Austausch und Geselligkeit fähig ist.50 Da all die aufgeführten Argumente für Pädagogen wie u.a. Liebau noch nicht ausreichend als pädagogische Begründung für Schultheater gelten, fügt er der wissenschaftlichen Argumentation die Beschreibungen der “Gründungsväter der Pädagogik”51 für einen gelungenen Bildungsprozess hinzu: Ausgangspunkt ist Pestalozzis Aussage: “Kopf, Herz und Hand müssen gemeinsam gebildet werden, wenn der Bildungsprozess gelingen soll”52. Die theoretische und abstrakte Lehre in der Schule reicht also allein nicht aus, um dem menschlichen Wesen, der auf Bewegung und Sozialisation ausgelegt ist, Kultur nahezubringen.53 Liebau benutzt den Begriff der “Leiblichkeit”, um deutlich zu machen, dass Menschen den Körper als Werkzeug, als Instrument zur Wahrnehmung und als Erscheinungsbild gebrauchen54. Eine Szenische Interpretation im Unterricht, mit Literatur als Ausgangsprodukt und der Inszenierung als Endprodukt, fordert den Einsatz dieser “Leiblichkeit”. Die Begründung der Theaterpädagogik errichtet sich also auf eine Aneignung von Fähigkeiten, die nicht nur abstrakter Natur sind. Vielmehr sind diese Fähigkeiten “zentrale, anthropologisch eigenständige[…] Elemente humaner Existenz”55. Damit wäre die Relevanz der theaterpädagogischen Verfahren im Deutschunterricht noch nicht vollständig begründet, da die formulierten Fähigkeiten auch durch andere performative Künste erreicht werden könnten.
Die Vertreter der Theaterpädagogik nennen für eine Begründung mit spezifischen Alleinstellungsmerkmal die ästhetischen Dimensionen der Szenischen Umsetzung. Für Marcel Kunz geht es um die Frage, wie Literatur gespielt werden soll, wenn das “im Text Gemeinte” und das “im Spiel Erfahrene” mittelbar werden soll.56 Die Literatur, bestehend aus Wörtern, wird also zur sichtbaren Handlung durch einen Interpretationsgedanken, welche in einer verständlichen Geste verwirklicht wird. Die umgesetzten Gesten berücksichtigen und verkörpern durch Haltung und Motorik auch die Biografie der literarischen Figuren.57 Für Kunz liegt die ästhetisch-kreative Theaterarbeit in dieser “dechiffrierbaren Visualisierung”58, die auch Interaktionen der Figuren, sowie die Bühnengestaltung inkludiert und damit weit über einzelne Figuren hinausgeht.59 Mit dieser Argumentation betont Kunz, dass sich die Dimension der Ästhetik in keiner Weise besser behandeln lässt als im Szenischen Spiel. Denn hierbei komme man um ästhetische Prinzipien – anders als bei reiner Textbetrachtung – nicht herum.60
Einen weiteren, wichtigen Beitrag zu einer Legitimierung der Theaterpädagogik in Schulen, leistet Leopold Klepacki mit seiner Studie zur Ästhetik des Schultheaters. Mit dieser bringt er eine neue Innovation in den Diskurs, indem er der Frage nach der Eigenständigkeit des Schultheaters als Kunstform nachgeht.
[...]
1 Vgl. Kunz, Marcel: Spiel-Raum: Literaturunterricht und Theater: Überlegungen, Annäherungen und Modelle. Klett und Balmer 1994. S.13.
2 Vgl. Ebd.
3 Vgl. Ebd.
4 Vgl. Ebd. S.14.
5 Vgl. Hoppe, Hans: Theater und Pädagogik. Münster 2003, S. 119.
6 Vgl. Scheller, Ingo: Szenische Interpretation: Theorie und Praxis eines handlungs- und erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II. 1 Aufl. Seelze-Velber 2004. S. 20.
7 Fangauf, Henning: Es muss nicht immer Schiller sein. Zeitgenössische Jugenddramen im Deutschunterricht. In: Schneider (Hg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. S. 185-194. S. 185.
8 Vgl. Kunz, Marcel: Theatralisiert den Deutschunterricht. Unterrichtsmodelle für den Literaturunterricht der Sekundarstufe II. Schneider Verlag Hohengehren. Baltmannsweiler 2006. S. 2.
9 Vgl. Ebd.
10 Vgl. Ebd.
11 Vgl. Ebd.
12 Vgl. Ebd.
13 Vgl. Spinner, Kaspar H.: Methoden des Literaturunterrichts. In: Ulrich, Winfried (Hrsg.) Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2010. S. 190-242. S.230
14 Vgl. Hentschel, Ulrike: Theorie? Ja, aber welche und wozu? Bemerkungen zum Selbstverständnis der Spiel- und Theaterpädagogik. In: Entwicklungen und Perspekriven der Spiel- und Theaterpädagogik. Schibri Verlag 2009. S. 62.
15 Spinner, Kaspar H.: Methoden des Literaturunterrichts. In: Ulrich, Winfried (Hrsg.) Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2010. S. 190-242. S.235.
16 Vgl. Ebd. S.230.
17 Vgl. Scheller, Ingo: Szenische Interpretation: Theorie und Praxis eines handlungs- und erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II. 1 Aufl. Seelze-Velber 2004. S. 190.
18 Vgl. Ebd.
19 Vgl. Ebd.
20 Vgl. Ebd. S.190 f.
21 Vgl. Ebd. S. 191.
22 Vgl. Ebd. S.191.
23 Vgl. Ebd.
24 Vgl. Ebd.
25 Vgl. Spinner, Kaspar H.: Methoden des Literaturunterrichts. In: Ulrich, Winfried (Hrsg.) Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2010. S. 190-242. S. 233 ff.
26 Vgl. Ebd.
27 Vgl. Scheller, Ingo: Szenische Interpretation: Theorie und Praxis eines handlungs- und erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II. 1 Aufl. Seelze-Velber 2004. S. 191.
28 Vgl. Ebd.
29 Vgl. Hentschel, Ulrike: Theorie? Ja, aber welche und wozu? Bemerkungen zum Selbstverständnis der Spiel- und Theaterpädagogik. In: Entwicklungen und Perspektiven der Spiel- und Theaterpädagogik. Schibri Verlag 2009. S. 60.
30 Vgl. Ebd.
31 Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. S.7.
32 Vgl. Ebd.
33 Vgl. Hentschel, Ulrike: Theorie? Ja, aber welche und wozu? Bemerkungen zum Selbstverständnis der Spiel- und Theaterpädagogik. In: Entwicklungen und Perspektiven der Spiel- und Theaterpädagogik. Schibri Verlag 2009. S. 62.
34 Vgl. Ebd. S.62.
35 Ebd.
36 Vgl. Ebd.
37 Vgl. Ebd.
38 Vgl. Ebd.
39 Vgl. Ebd. S.8.
40 Vgl. Liebau, Eckart u.a.: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. u.a. München 2009. S. 7.
41 Vgl. Ebd.
42 Vgl. Liebau, Eckart u.a.: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. S. 7.
43 Vgl. Ebd.
44 Vgl. Ebd.
45 Vgl. Ebd.
46 Vgl. Ebd.
47 Vgl. Liebau, Eckart: Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven der darstellenden Künste. In: Schneider (Hg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. S. 53-64. S. 53.
48 Ebd. S. 54.
49 Vgl. Ministerium für Wirtschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg 1990: 34
50 Vgl. Liebau, Eckart u.a.: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. S. 10.
51 Vgl. Liebau, Eckart: Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven der darstellenden Künste. In: Schneider (Hg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. S. 53-64. S. 55.
52 Vgl. Ebd.
53 Vgl. Ebd.
54 Vgl. Ebd.
55 Liebau, Eckart: Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven der darstellenden Künste. In: Schneider (Hg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. S. 53-64. S. 55.
56 Vgl. Kunz, Marcel: Spielraum. Literaturunterricht und Theater: Überlegungen, Annäherungen und Modelle. Klett und Balmer 1994. S. 14.
57 Vgl. Ebd. S. 14.
58 Vgl. Ebd.
59 Vgl. Ebd. S. 15.
60 Vgl. Ebd. S. 15.
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