Bachelorarbeit, 2021
33 Seiten, Note: 1
1. Einleitung
2. Die Nation und der Modernismus
2.1 Der Anti-Realismus
2.2 Der Realismus/Historizismus
2.2.1 Nationen als freiwillige Vereinigungen
2.2.2 „Imagined Communities“
3. Der Primordialismus / der Perennialismus
4. Ethnosymbolistische Kritik am Modernismus
4.1 Grundlagen des Ethnosymbolismus
4.2 Kritik am Ethnosymbolismus
5. Politische Konsequenzen
6. Die aktuelle Lage der Nation
7. Schluss
8. Quellen
Am 5. Juni 1998 hielt Jürgen Habermas eine Rede, in der er vom politischen System Europas als eine postnationale Konstellation redet.1 Er philosophiert über einen „europäischen Bundesstaat“ mit gemeinsamer Identität und wie dieses Projekt in einer sich stetig vollziehenden Globalisierung aussehen könnte. Habermas Ideen wurden seitdem des öfteren rezipiert, die EU hat an Kompetenzen dazu gewonnen und in Anbetracht globaler Herausforderungen wie der des Klimawandels fordern einige Politiker, Journalisten und Aktivisten sogar jene postnationale Konstellation, die andere schon verwirklicht sehen.2
Und doch freuen sich viele Deutsche, wenn die Nationalelf Weltmeister wird, man freut sich als Österreicher, wenn Österreich den Eurovision Song Contest gewinnt, man schämt sich, wenn der peinliche Urlauber auf Mallorca deutsch spricht oder ist stolz darauf, dass die Hymne Europas von Beethoven komponiert wurde.
Nationalismus hat im deutschsprachigen Raum heutzutage einen schweren Stand. So schreibt der Duden, der Begriff Nationalismus werde „meist abwertend“ verwendet und bezeichne ein übersteigertes Nationalbewusstsein (als Beispiel wird „ein engstirniger Nationalismus“ verwendet).3 Erst die zweite Bedeutung des Wortes wird als „erwachendes Selbstbewusstsein einer Nation mit dem Bestreben, einen eigenen Staat zu bilden“ beschrieben. Aufgrund dieses Umstandes, der wohl auf die Geschichte Deutschlands zurückzuführen ist, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Nationalismusforschung weitestgehend im englischen Sprachraum verorten lässt.
Politisch gewinnt der Nationalstaat mit den rechtspopulistischen Parteien in Europa, dem Brexit und der Wahl Trumps zum US-Präsidenten mit seinem Wahlspruch „America first“ weltweit jedoch wieder an Bedeutung - trotz der Globalisierung, die inzwischen nicht mehr nur von „Ewig-gestrigen“ kritisiert wird, sondern auch von Kulturrelativisten, Klimaaktivisten, und Partikularisten aus dem ganzen politischen Spektrum.
So ist es nicht lange her, dass die mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Aleida Assmann das Buch „Die Wiedererfindung der Nation: Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“ schrieb, in dem sie den Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts kritisiert und für eine demokratische, zivile und diverse 4 Nation einsteht, die abseits einer Volksgemeinschaft funktionieren soll. Von linker Seite wird die Staatengründung Kurdistans oder der durchaus nationalistische Befreiungskampf Kataloniens ganz im Sinne von Marx' und Engels unterstützt, der im kommunistischen Manifest schrieb: „Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“5 Selbst die Möglichkeit eines feministischen Nationalismus wird diskutiert.6
Nation und Nationalismus sind also durchaus immer noch von großer gesellschaftlicher Relevanz. Doch weshalb lebt der bereits vielmals totgesagte Nationalismus immer noch in diesem Ausmaß? Gibt es ontologische Gründe für die Existenz von Nationen? Und was ist überhaupt eine Nation? Beschäftigt man sich mit dieser Thematik muss man alsbald feststellen, dass „no "scientific definition" of the nation can be devised; yet the phenomenon has existed and exists.“7 Dabei folgen auf die Antworten dieser Fragen implizite politische Schlüsse, die den Nationalismus und die Nation als solche entweder befürworten, sie gänzlich ablehnen oder in einem Habermasschen Sinne als überwunden betrachten.
Benedict Anderson und einige andere renommierte Nationalismusforscher sind der Ansicht, der Nationalismus sei ein Produkt der Moderne und auf die sozioökonomischen Umstände der Moderne angewiesen. Sein Buch „Imagined Communities“ wird bis heute viel diskutiert - die konstruktivistischen Ansätze der Nationalismusforschung sind heutzutage die dominanten - trotz einiger elementarer so wie berechtigter Kritik. Sie entwickelten sich nachdem primordialsitische Ansätze im 18. und 19. Jahrhundert eine Kontinuität der Nation bis zum Anfang der Menschheitsgeschichte annahmen. Aus politischer Sicht können die verschiedenen Theorien und Ansätze benutzt werden, um nationalistische oder antinationale Politik zu rechtfertigen. Die Frage nach der Ontologie des Nationalismus ist damit eine politische. Die Forschungsfrage lautet also:
Inwiefern ist Nation und Nationalismus konstruiert - und was ist die daraus folgende politische Konsequenz?
Die hier vorliegende Arbeit untersucht den ontologischen Charakter des Nationalismus. Dieser lässt sich erörtern, wenn der Grund für die Entstehung von Nationen gefunden werden kann. Eine inhaltliche Analyse aktueller Debatten rund um den Nationalismus und ein Vergleich der Theorien werden dazu als Methoden dienen. Das Ergebnis dieses Verfahrens wird sein, dass die Nation zwar als Konstrukt gesehen werden kann, jedoch bestimmter Voraussetzungen bedarf, um existieren zu können. Sie ist damit weder eine bloße „imaginierte Gemeinschaft“, noch eine metaphysische Entität.
Dafür ist es zu Beginn dieser Arbeit wichtig, die Theorien der in der Nationalismusforschung quantitativ dominierenden Modernisten zu analysieren und die Schwachstellen in ihren Argumentationen aufzuzeigen. Der Modernismus selbst entwickelte sich als Antwort auf den Primordialismus, dessen Positionen im Anschluss dargestellt werden. Der Primordialismus hat seine Wurzeln in der Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts und geht von der Nation als essenzialistische ontologische Einheit aus. Er wird heutzutage wissenschaftlich kaum noch rezipiert, da er für nationalchauvinistische Entgleisungen verantwortlich gemacht wird.8 Der Primordialismus ist dem Modernismus diametral entgegengesetzt und kann trotz einiger valider Argumente die Ontologie der Nation nicht zufriedenstellend bestimmen.
Anschließend wird der Ethnosymbolismus als ein Werkzeug präsentiert, welches überzeugende primordialistische und modernistische Argumente vereinen kann, und damit das wohl geeignetste Mittel ist, das Phänomen des Nationalismus zu ergründen. Es wird dabei grundsätzlich auf das Buch „ethno-symbolism and nationalism: a cultural approach“ von Anthony D. Smith eingegangen. Mit dieser Vorgehensweise können am Ende die politischen Folgen der verschiedenen Betrachtungsweisen diskutiert werden, um einen Blick auf die Zukunft des Nationalstaats und den Nationalismus zu werfen.
Die Frage nach der Ontologie der Nation lässt sich kaum beantworten, ohne den Begriff „Nationalismus“ genau zu definieren. Gleichzeitig muss mit einer möglichst weiten Definition fortgefahren werden, da eine Definition des Begriffs eine Interpretation der Sachlage und eine ideologische Stellungnahme impliziert. Da es keine letztendliche Beantwortung der Forschungsfrage gibt, muss die Definition Platz für jede mögliche Antwort bieten. Nationalismus soll daher, um dieser weiten Definition gerecht zu werden, als Verbundenheit zu einer als kollektive Identität (ethnokulturell) wahrgenommenen Einheit (dem Volk/einer Ethnie/der Nation) verstanden werden, welches sich durch das Streben nach staatlicher Souveränität auszeichnet. Die Nation ist demnach das Erfüllt-sein dieses Strebens.
„Kollektive Identität“ ist absichtlich weit gefasst, da eine unparteiische Auffassung über die Ursprünge von Nationen nicht ohne ein Urteil über die Kontinuität eines jeweiligen Identitätsstiftenden Aspekts gefällt werden kann.9
Um eine Antwort darauf zu erhalten, warum diese Verbundenheit und das Streben nach Souveränität existiert, werden zunächst die sogenannten modernistischen Auffassungen präsentiert und kritisiert. Dabei wird mit der radikalsten „anti-realistischen“ These begonnen, welche behauptet, nationale Identität sei ein leeres Konstrukt, das in der Moderne zwar viele Menschen anspreche, letztendlich aber leer sei: „none of these [Hingabe an die nationale Sache] are reliable indicators of the existence of a durable, continuous, stable and monolithic entity called ‘national identity'.“10
Der modernistische Ansatz soll anschließend durch den realistischen Ansatz ergänzt werden, der Nationalität als allumfassendes Prinzip begreift, welches als Ideologie jedoch weder die Ursache noch die Wirkung nationalistischer Gefühle erklärt. Die Schlussfolgerung des wichtigsten Vertreters dieser Theorie, John Breuilly, wird sein: „Its greatest success in modern times is that it is no longer considered a principle but a matter of fact.“11 Dem folgt eine kritische Analyse der Wichtigkeit von Sprache und Religion für die Nation, um anschließend Benedict Andersons „Imagined Communities“ als wohl meist rezensiertes Werk der Nationalismusforschung vorzustellen und um die argumentatorischen Schwachstellen aufzeigen zu können.
In seinem Text „Die Chimäre der nationalen Identität“ will der Soziologe Sinisa Malesevic zeigen, dass nationale Identität eine Chimäre, also ein Trugbild oder eine imaginäre Täuschung ist. Zwar ist er sich durchaus bewusst, dass nationale Figuren (wörtl. „Images“) wie die eines für die Nation sterbenden Soldaten, durchaus Gefühle erzeugt und 80% der Europäer ihre nationale Identität durchaus wichtig ist12, merkt aber an, dass dieser Anspruch der Nationalität noch kein Beweis für die Existenz von Nationalität sei. Laut Malesevic ist das theoretische Konzept der Nationalität weder theoretisch fundiert, noch empirisch nachweisbar. Politiker, die sich des Nationalismus bedienen oder ihn fördern wollen, seien demnach bloße Vertreter einer populistischen Ideologie. Um diese These zu untermauern, will der Autor weg vom schwammigen Begriff der Identität, hin zu den „etablierten“ Begriffen der Solidarität und der Ideologie.13 Bereits hier stellt sich die Frage, warum Identität weitgehend metaphorisch und verschwommen („largely metaphoric and hazy“) sein soll. Dass der Begriff in den letzten Jahren an Wichtigkeit im politischen Diskurs dazu gewonnen hat (Identitätspolitik), steht außer Frage. Und Identität ist nicht nur politisch gesehen von Bedeutung, er ist auf einer philosophischen Ebene der wesentlichste des menschlichen in-der-Welt-sein (frei nach Heidegger) überhaupt.
Unter der Überschrift „What is wrong with ‘national identity'?“ erläutert Malesevic, dass das Konzept der Nationalität allumfassend sei - jeder Mensch besitzt eine - und schlussfolgert, dass dieses Konzept deshalb selten in Frage gestellt wird. Er unterscheidet zwischen Forschung auf der Makro- und der Mikroebene, die sich in ersterem Fall auf die Herkunft der Nationen und im zweiten Fall auf das individuelle Gefühl der Verbundenheit stützt. Hinsichtlich der Forschung auf der Makroebe kritisiert er die voreingenommene ontologische Akzeptanz der Existenz von Nationen überhaupt. Die Mikroebe möchte er dadurch ad absurdum führen, dass er „Nation“ als ein zeitlich begrenztes Phänomen der Moderne entlarven will. So argumentiert Malesevic, dass „die bloße Tatsache der Geburt an einem bestimmten Ort niemals ein verlässlicher Indikator für die inneren Gefühle, Werte oder Interessen eines Menschen“14 sei. Dieser Ausschnitt verrät einiges über das Menschenbild Malesevics. Seiner materialistischen Auffassung nach ist das Bewusstsein bei Geburt tabula rasa, und Nationalität demnach kein Ausdruck von Kultur oder biologischer Entitäten, sondern eines des rein transzendentalen Zugehörigkeitgefühls. Nun muss man nicht dafür argumentieren, dass Ethnie der ausschlaggebende Faktor von Nationalität ist, ihn aber komplett zu leugnen, bedarf bestenfalls eine gute Erklärung, deren Malesevics dem Leser schuldig bleibt. Man kann sich als Österreicher (biologisch gesehen, was immer auch einen Österreicher ausmacht) dem japanischen Volk zugehörig fühlen, die optische Divergenz wird eine von aussen wahrnehmbare Assimilation jedoch unmöglich machen. Wäre der selbe Österreicher in Japan sozialisiert worden, würde er durch die kulturellen und sprachlichen Eigenheiten auch in Österreich auffallen. Man muss kein Fan von Spengler sein, um einsehen zu können, dass kulturell spezifische Handlungsweisen nicht überall auf der Welt gleiche Reaktionen hervorrufen. Sowie in westlichen Kulturen das Streben nach Reichtum eine legitime Tätigkeit darstellt, stößt es im fernöstlichen Buddhismus auf Ablehnung. Hinsichtlich dieses Umstandes ist die Geburt an einem bestimmten Orte zwar kein verlässlicher Indikator für innere Gefühle, Werte und Interessen, dennoch aber ein wesentlicher und nicht zu ignorierender Faktor.
Weiter kritisiert Malesevics, dass Nationen keine politischen Akteure seien, sondern lediglich der imaginierte Zusammenschluss von Individuen, die im angeblichen Interesse eines Konstrukts handeln.15 Dieses atomistische Verständnis von Nation setzt jedoch bereits einen Begriff von Nation voraus. Der Begriff allein beweist vielleicht noch keine Emergenz, untermauert aber die Möglichkeit eines holistisch verstandenen Konzepts der Nation, sei es im sprachlichen oder metaphysischen Sinne.
Malesevics Hauptproblem mit dem Nationalismus ist wahrscheinlich der metaphysische Anspruch, den dieser - als Ideologie verstanden - besitzt. Es ist plausibel dafür zu argumentieren, dass der Ontologie des Nationalismus kein letzter Wahrheitsanspruch nachgewiesen werden kann, aber er hat in der Welt nun einmal einen reellen Bezug. Der materialistischen Auffassung von Malesevic kann man letztendlich entgegensetzen, dass sie zwar auf die Dekonstruktion von Nationalität aus ist, jedoch kein besseres Konzept zur Verfügung stellt, welches dem reellen Bezug gerecht werden kann. So kann er die Definitionen von nationaler Identität zwar aufgrund von Vagheit, ihrer Statik16, oder das Konzept der Nation anhand seiner nicht empirisch messbaren Existenz kritisieren - was davon übrig bleibt ist jedoch ein unerklärbares Phänomen, das in der Realität durchaus Wirkungen und Emotionen erzeugt.
Malesevic kritisiert die kollektive Identität der Nation weiter dahingehend, als dass Solidarität in einer derart großen Gruppe biologisch keinen Sinn ergeben würde und lediglich in kleinen Stammesgruppen und Familien möglich wäre.17 Es ist interessant, dass Familie einen offenbar biologischen und damit emergent-metaphysischen Platz im Denken von Malesevic einnimmt. Es wäre wahrscheinlich bloßstellend, zumindest aber interessant gewesen, was Malesevic unter dem Begriff der „Arterhaltung“ verstehen würde. Seine Ansicht, dass „echte Solidarität eine regelmäßige persönliche Interaktion beinhalte“18, ist bestenfalls eine Behauptung, politisch gesehen eher eine Farce (man denke an die Solidarität mit Israel, der Arbeiterklasse oder Flüchtlingen).
Dabei darf selbstverständlich nicht vergessen werden, dass Nationalität nicht der einzige ausschlaggebende Faktor für Solidarität ist, sondern jegliche Form der kollektiven Identität Solidarität erzeugen kann. Dass kollektive Identität in einer Familie selbstverständlich sei, aber auf ideologischer Ebene nicht, wird bis auf das zitierte biologistische Argument, welches man auch auf die Ethnie anwenden könnte, nicht weiter begründet. Dennoch geht er davon aus, dass zwar nicht der Ort (und damit das Umfeld des Menschen) ein verlässlicher Indikator für die inneren Gefühle, Werte oder Interessen eines Menschen sind, die Familie (und damit die biologische Abstammung) aber schon.
Die anti-Realistische Haltung von Malesevic setzt damit einen Naturalismus voraus, den er dem Nationalismus letztendlich vorwirft. Die Ausführungen können demnach nicht das Phänomen des Nationalismus erklären, sondern sind auf dessen Entzauberung als Ideologie, ganz im Sinne von Marx, als „falsches Bewusstsein“ aus. Es wird deshalb im Folgenden die realistische Auffassung von Nationalismus auf ihre Funktion hinsichtlich der Erklärbarkeit untersucht werden.
John Breuilly geht ebenfalls davon aus, dass der Nationalismus ein Konstrukt sei, welches jedoch als faktische Tatsache wahrgenommen werden müsse. Laut ihm kann Nationalismus nicht nur als politisches Konstrukt, sondern auch als Wert existieren. Das erste und wichtigste Prinzip von Nationalismus sieht er darin, dass die Menschheit in Nationen unterteilt sei.19 Den Beginn des Nationalismus sieht Breuilly im Europa des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung zur heutigen Nation habe vier Phasen durchlebt, die der Professor für „Nationalismus und Ethnizität“ als „nation as civilisation, as historic, as ethnic and as racial.“ beschreibt.
In seinem Beitrag des Sammelbandes „The Cambridge History of Nineteenth-Century Political Thought“ - der Titel lässt es bereits erahnen - bedient er sich vor allem historischer Argumente, um die verschiedenen nationalen Bestrebungen in Europa auf unterschiedliche politische und gesellschaftliche Strukturen zurückzuführen. So könne man die deutsche Nation nicht ohne Napoleon, Fichte und Herder erklären, während der weitaus abgeschwächte Nationalismus in England nur durch „elite leadership and Christianity“ zu verstehen sei.20 Breuilly beschreibt den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts ganz im Sinne Hegels, wenn er das Verständnis von Nation als ein zu erreichendes Stadium der Weltgeschichte betitelt, welche ohne eine vorangehende Hochkultur nicht bestehen könne. Überhaupt ist es für Breuilly etliche Erwähnungen wert, die Wichtigkeit der spezifischen Vergangenheit für nationalistische Tendenzen zu betonen, bevor er sich wieder den geschichtlichen Entwicklungen in Europa widmet, die zum Status quo der Welt führen.
So seien Frankreich und England zivilisatorische Nationen, da diese aus ihrer Hochkultur, der parlamentarischen Regierung und der starken Wirtschaft hervorgingen. Italien und Deutschland stützten sich in ihrer Nationenbildung auf ihre ruhmreiche Vergangenheit. Benachbarte Staaten und heutige Nationen sahen sich durch das Aufblühen dieser Nationen als unterlegen an und begründeten ihren Nationalismus mit einer gemeinsamen Ethnizität, wobei die Romantisierung der Lebensumstände und die gemeinsame Sprache wohl die wichtigsten Rollen spielen würden.21 Der rassische Ansatz diente letztendlich dazu, die eigene Nation von den Kolonien abzugrenzen und den Kolonialismus zu rechtfertigen. Breuilly merkt an, dass durch den Siegeszug der Nation ab 1848 der Nationalismus auch empirisch zum Faktum wurde. Dies führte dazu, dass auch die Wirtschaft und die Bildung dem Nationalismus untergeordnet wurden, was das Vermengen von existenziellen und normativen nationalistischen Denkmustern bezweckte. So schreibt er am Ende seines Beitrags:
„It is an ideological discourse which thoroughly mixes empirical and normative claims in a way that makes it incapable of disproof. It invokes different elements to identify and venerate the nation - civilisation, history, institutions, language, religion, culture, race - and can always adapt to changing circumstances by shifting emphasis from one to another feature. Its greatest success in modern times is that it is no longer considered a principle but a matter of fact.“22
Indem Breuilly historisch argumentiert, lässt sich sein Paradigma kaum widerlegen. Mit der Berücksichtigung des Verlangens nach Selbstbestimmung von Nationalisten und der empirische Faktenlage der Aufteilung der Welt in Nationen kann zunächst einmal der antiRealismus von Denkern wie Malesevic grundsätzlich zurückgewiesen werden. Wenn Breuilly allerdings schreibt, Nationalismus würde „nicht länger als ein Prinzip verstanden werden“, müsste er präzisieren, ob er damit ein axiomatisches Prinzip oder ein systematisches Prinzip meint. Nationalismus als axiomatisches Prinzip meint, dass die Veranlagung zu nationalistischen Gefühlen und zu Nationen seit jeher vorhanden war und sich zufällig oder notwendig in der Geschichte entwickelt hat. Nationalismus als systematisches Prinzip bedeutet, dass sich der Nationalismus nur aufgrund der spezifisch historischen Gegebenheiten entwickeln konnte, welche Breuilly beschrieben hat und die sich auch in einem Paralleluniversum nur durch diese entwickeln würden.
Die Frage nach dem Prinzip ist deshalb entscheidend, da der ontologische Charakter von Nationalismus dadurch Gestalt annehmen würde und die Forschungsfrage damit beantwortet wäre. Nationalismus als axiomatisches Prinzip würde eine metaphysische Existenz von Nationen bedeuten, für welche der Primordialismus argumentiert. Das systematische Prinzip impliziert den konstruierten Charakter von Nationalismus. Eine bloße historische Analyse der einzelnen Nationen ist nicht in der Lage diese Frage in seiner Gänze zu beantworten, da sie Nationalismus lediglich als systematisches Prinzip untersucht, ohne sich weiter mit der Möglichkeit eines metaphysischen Nationalismus zu beschäftigen.
[...]
1 library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50332.pdf Aufgerufen am 6.4.2021.
2 zeit.de/politik/ausland/2011-12/klimawandel-postnational/komplettansicht Aufgerufen am 6.4.2021.
3 duden.de/rechtschreibung/Nationalismus Aufgerufen am 6.4.2021.
4 Was genau unter divers verstanden wird, bleibt dabei unklar. Es stellt sich die Frage, ob damit eine Nation mit einer multinationalen Bevölkerung gemeint sein kann, beziehungsweise was überhaupt unter Nationalität verstanden wird. Die Theorien dahinter werden in den folgenden Kapiteln besprochen werden.
5 Marx, Karl; Engels, Friedrich: MEW 4. Berlin (1990). Seite 473.
6 Herr, Ranjoo Seodu: The Possibility of Nationalist Feminism. In: Hypatia 18, no. 3. San Francisco (2003). Seite 135-60.
7 Seton-Watson, Hugh: Nations And States: An Enquiry Into The Origins Of Nations And The Politics Of Nationalism. Colorado (1977). Seite 5.
8 Schuberth, Richard: Pluralität der Völker als rechtes Ordnungsmodell? In: Institut für Wissenschaft und Kunst: Rechtes Denken als Normalität für die Zukunft Österreichs? Wie ausgrenzend wirken Formen des Alltagsbewusstseins? Wien (1997). Seite 25.
9 Um die kollektive Identität auf wenige Aspekte festzunageln, bedürfte es einer Defi nition der Begriffe „Ethnie“, „ethnokulturell“ und „Identität“. Auf diese Definition wird bewusst verzichtet, da der Fokus dieser Arbeit auf dem Nationalgefühl liegen soll und ein oberflächliches Verständnis der Begriffe reicht, um diesen Fokus aufrecht zu erhalten.
10 Malesevic, Sinisa: The chimera of national identity. In: Nations and Nationalism 17. London (2011). Seite 272.
11 Breuilly, John: On the principle of nationality. In: G. Stedman Jones & G. Claeys (Eds.): The Cambridge History of Nineteenth-Century Political Thought. Cambridge (2011). Seite 109.
12 Antonsich, Marco: National identities in the age of globalisation: the case of Western Europe. In: National Identities 11 (3). Westminster (2009). Seite 281 99.
13 Malesevic, Sinisa: The chimera of national identity. In: Nations and Nationalism 17. London (2011). Seite 273.
14 Malesevic, Sinisa: The chimera of national identity. In: Nations and Nationalism 17. London (2011). Seite 275.
15 Ebenda. Seite 276.
16 Malesevic, Sinisa: The chimera of national identity. In: Nations and Nationalism 17. London (2011). Seite 276.
17 Ebenda. Seite 282.
18 Ebenda. Seite 283.
19 Breuilly, John: On the principle of nationality. In: G. Stedman Jones & G. Claeys (Eds.): The Cambridge History of Nineteenth-Century Political Thought (2011). Seite 77.
20 Ebenda. Seite 83.
21 Breuilly, John: On the principle of nationality. In: G. Stedman Jones & G. Claeys (Eds.): The Cambridge History of Nineteenth-Century Political Thought. Cambridge (2011). Seite 89.
22 Ebenda. Seite 109.
Der GRIN Verlag hat sich seit 1998 auf die Veröffentlichung akademischer eBooks und Bücher spezialisiert. Der GRIN Verlag steht damit als erstes Unternehmen für User Generated Quality Content. Die Verlagsseiten GRIN.com, Hausarbeiten.de und Diplomarbeiten24 bieten für Hochschullehrer, Absolventen und Studenten die ideale Plattform, wissenschaftliche Texte wie Hausarbeiten, Referate, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze einem breiten Publikum zu präsentieren.
Kostenfreie Veröffentlichung: Hausarbeit, Bachelorarbeit, Diplomarbeit, Dissertation, Masterarbeit, Interpretation oder Referat jetzt veröffentlichen!
Kommentare