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Masterarbeit, 2021
142 Seiten, Note: 1,0
Zusammenfassung
Abstract
Abkürzungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hintergrund
2.1 Die Sectio caesarea 4P
2.1.1 Indikationen zur Sectio
2.1.2 Der Kaiserschnitt auf Wunsch der Mutter
2.1.3 Folgen eines Kaiserschnitts
2.2 Kaiserschnittraten
2.2.1 Kaiserschnittraten weltweit
2.2.2 Kaiserschnittraten in Europa
2.2.3 Kaiserschnittraten in Deutschland
2.2.4 Regionale Unterschiede der Kaiserschnittraten in Deutschland
2.2.5 Bisherige Evidenz zu den Ursachen regionaler Unterschiede in Deutschland
2.2.6 Senkung der Sectioraten: Was bisher bekannt ist
2.3 Entscheidungsfindung für oder gegen einen Kaiserschnitt
2.4 Theoretischer Rahmen: „The Lancet Framework for quality maternal and new-born care“
2.5 Zusammenfassung und Ableitung der Forschungsfragen
3. Methodik
3.1 Studiendesign
3.2 Experteninterviews
3.3 Sampling
3.4 Entwicklung und Aufbau des Interviewleitfadens
3.5 Interviewdurchführung
3.6 Auswertung
4. Ergebnisse
4.1 Soziodemographische Merkmale
4.2 Kategoriensystem
4.2.1 Sectioraten und deren Entwicklung in Deutschland aus Hebammensicht
4.2.2 Regionale und institutionelle Unterschiede in den Sectioraten
4.2.3 Klinikinterne Beeinflussung der Sectiorate
4.2.4 Beeinflussung der primären Kaiserschnittrate
4.2.5 Beeinflussung der sekundären Kaiserschnittrate
4.2.6 Rolle von Hebammen
5. Diskussion
5.1 Diskussion der Methodik
5.2 Diskussion der Ergebnisse
6. Empfehlungen und Ausblick
7. Literaturverzeichnis
I. Anhang
Anhangsverzeichnis
Anhang A: Aufklärungsschreiben
Anhang B: Einwilligungserklärung
Anhang C: Interviewleitfaden
Anhang D: Kurzfragebogen über die soziodemografischen Daten
Anhang E: Auswertung der soziodemografischen Date
Über die Schriftenreihe
Die Schriftenreihe der Patientenuniversität an der Medizinischen Hochschule Hannover wird herausgegeben von Prof. Dr. rer. biol. hum. Marie-Luise Dierks und Dr. rer. biol. hum. Gabriele Seidel vom Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Ziel der Schriftenreihe ist es, Forschungsergebnisse zur Patientenorientierung und Gesundheitskompetenz einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. In der Schriftenreihe werden Doktorarbeiten, Master- und Bachelorarbeiten sowie Forschungsberichte veröffentlicht.
Über die Autorin
Kerstin Pinnecke, MPH, geb. 01.08.1990 in Uelzen, absolvierte eine Ausbildung zur Hebamme sowie das Bachelorstudium Midwifery an der Hochschule Osnabrück und das Masterstudium Public Health an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Über das Buch
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Masterarbeit in Public Health von Kerstin Pinnecke, eingereicht bei Prof. Dr. rer. biol. hum. Marie-Luise Dierks (1. Gutachterin) und Dr. Ellen Kuhlmann (2. Gutachterin) am 04.05.2021im Ergänzungsstudiengang Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public Health) an der MHH.
Hintergrund: Die Rate an Kaiserschnitten steigt global stetig an. In Deutschland lag die Kaiserschnittrate 2018 bei 29,1%. Auf Bundesländerebene schwankten die Raten 2018 von 22,6% (Sachsen) bis 34,7% (Saarland) und auf Ebene der Krankenhausstandorte zwischen 10,4% und 66,7%. Das Ausmaß dieser Unterschiede ist nicht durch eine ungleiche Verteilung von Früh- oder Mehrlingsgeburten, mütterlichen Erkrankungen oder der Altersstruktur zu erklären. Es ist anzunehmen, dass Leistungserbringer*innen im Gesundheitssystem die Raten beeinflussen. Die Sicht von Hebammen auf das Versorgungsproblem, ihre Lösungsansätze und Einflussmöglichkeiten sind bislang kaum erforscht und werden in dieser Arbeit beleuchtet.
Forschungsfragen: Wie bewerten Hebammen die regionalen und institutionellen Unterschiede in den Sectioraten? Wo liegen aus ihrer Sicht Lösungsansätze, um Unterschiede zu verringern? Welche Möglichkeiten sehen Hebammen, die Rate an geplanten und an ungeplanten Kaiserschnitten niedrig zu halten bzw. zu senken? Welche Rolle nehmen Hebammen als Berufsgruppe ein bei dem Ziel, die Sectiorate niedrig zu halten bzw. zu senken?
Material und Methoden: Zwischen November 2020 und Januar 2021 wurden 13 leitfadengestützte Expertinneninterviews mit angestellten Hebammen geführt, die in einem Kreißsaal mit geburtshilflicher Maximalversorgung arbeiten. Rekrutiert wurden Hebammen aus Bundesländern mit hoher risikoadjustierten Sectiorate (Bayern, Saarland, Hessen) und aus Bundesländern mit niedriger Rate (Sachsen, Thüringen, Berlin). Die Auswertung erfolgte durch inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz et al.
Ergebnisse: In den regionalen Unterschieden der Sectioraten sehen die Interviewten eine Chancenungleichheit für Versorgte. Als Lösungsansätze werden mehr fachlicher Austausch, Hospitationen sowie interdisziplinäre Fortbildungen vorgeschlagen. Geplante Kaiserschnitte ließen sich möglicherweise durch klare Festlegung von Indikationen, individualisierte Aufklärung und Shared Decision Making und Etablierung von Hebammensprechstunden reduzieren. Die Rate an ungeplanten Kaiserschnitten könnte gesenkt werden, indem Gebärende u.a. eine 1:1-Hebammenbetreuung, Bewegungsförderung, Empowerment und Achtung individueller Gebärzeiten erfahren würden. Hebammen sehen ihren Einfluss auf das Versorgungsproblem besonders in der vertrauensvollen Beziehungsgestaltung zu den Familien, der Ausrichtung auf die physiologischen Prozesse und ihr Vertrauen in die Gebärfähigkeit von Frauen.
Schlussfolgerungen: Diese Forschungsarbeit gibt Hinweise darauf, dass Hebammen durch ihre Sichtweise und ihre Fähigkeiten Einfluss auf die Kaiserschnittpraxis in Kliniken nehmen könnten und sie konstruktive Ideen für Verbesserungen haben. Ihre Rolle sollte gestärkt und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit im Sinne der bestmöglichen Versorgung von Frauen, Kindern und Familien gefördert werden.
Background: Caesarean section rates are increasing steadily around the world. In 2018 the overall caesarean section rate in Germany was 29.1%. The rates differ between federal states from 22.6% (Saxony) to 34.7% (Saarland) and at the hospital location level between 10.4% and 66.7%. According to the current state of research, the extent of these differences may not be explained by an unequal distribution of premature or multiple births, maternal diseases or age structure. It can be assumed that service providers in the health system have an influence on the rates. The view of midwives on the overuse problem indicated by different caesarean rates, their suggested solutions and possible influences have, as of yet, rarely been the subject of research and are examined in this work.
Research questions: How do midwives interprete the regional and institutional differences in caesarean section rates in Germany? From a midwifery perspective, where are possible solutions to reduce regional and institutional differences? What possibilities do midwives see to maintain or reduce the rate of planned and unplanned caesarean sections? What role do midwives as a professional group play in the aim of maintaining / lowering the caesarean section rate?
Material and methods: Between November 2020 and January 2021 guideline-based expert interviews were conducted with employed midwives who work in maximum care (perinatal centres). Midwives were recruited from federal states with a high risk-adjusted caesarean section rate (Bavaria, Saarland, Hessen). In contrast, midwives from federal states with a low rate (Saxony, Thuringia, Berlin) were interviewed. Data was analysed via Qualitative Content Analysis according to Kuckartz et al.
Results: The interviewees interpret the regional and institutional differences in caesarean section rates as inequities for those receiving care. Suitable solutions could be found in improved communication between clinicians with work shadowing and interdisciplinary training courses. Planned caesarean sections could possibly be reduced through clear definition of indications, individualized information and shared decision making as well as Midwife consulting. Unplanned caesarean sections could be reduced by offering women empowerment, continuous midwifery care, promotion of physical activity and respect for individual delivery durations. Midwives see their influence on the health care problem particularly in the professional building of trustful relationships, their focus on physiological processes and a strong belief in women’s ability to birth.
Conclusions : This research indicates that midwives could influence caesarean section practice in clinics through their perspective and skills and have constructive ideas for improvements. Their role should be strengthened and interdisciplinary cooperation promoted in the interests of providing the best possible care for women, children and families.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Klassifikationssystem nach Robson
Tabelle 2: Kaiserschnittraten der Bundesländer im Vergleich zu den Kaiserschnittraten der Kliniken, in denen die interviewten Hebammen arbeiten.
Abbildung 1: Entwicklung der Kaiserschnittrate in Deutschland (1991 - 2018)
Abbildung 2: Sectioraten in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2018 in Prozent
Abbildung 3: Rohe und risikoadjustierte Sectioraten in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2018
Abbildung 4: Durchschnittliche risikoadjustierte Kaiserschnittraten der Perinatalzentren Level 1 in Deutschland nach Bundesländern
Abbildung 5: The framework for quality maternal and newborn care
Abbildung 6: Alter der interviewten Hebammen
Abbildung 7: Studienabschlüsse der interviewten Hebammen
Abbildung 8: Geburtenzahlen der Kliniken, in denen die interviewten Hebammen arbeiten
Abbildung 9: Eigene Geburtserfahrungen der interviewten Hebammen..
Abbildung 10: Kategoriensystem nach der Datenauswertung durch inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz et al. (2018)
Der Kaiserschnitt (lat. Sectio caesarea) ist die weltweit häufigste Operation bei Frauen, und die Häufigkeit des Eingriffs steigt global in den letzten Jahrzehnten ständig an (Boerma et al., 2018: 1341). Ging der Eingriff früher noch mit einer hohen Mortalität und Morbidität einher, ist die Sicherheit durch Verfügbarkeit wirksamer Antibiotika, Verbesserung von Operations- und Nahttechniken und Optimierung anästhesiologischer Verfahren inzwischen sicherer geworden (Kolip et al., 2012: 24f.). Kaiserschnitte können – bei auftretenden Geburtskomplikationen oder Schwangerschaftsrisiken – lebensrettend sein. Die Möglichkeit, jederzeit einen Kaiserschnitt in Notsituationen durchführen zu können, ist ein wichtiger Qualitätsindikator für geburtshilfliche Abteilungen (IQTIG, 2020: 18). Allerdings steigt der Anteil an nicht medizinisch indizierten Kaiserschnitten weltweit an (Boerma et al., 2018: 1341). Nachweisliche negative Folgen der Operation sind ein erhöhtes kindliches Risiko, im Kindes- und Jugendalter Asthma bronchiale oder Adipositas zu entwickeln, und ein erhöhtes maternales Risiko für Komplikationen bei Folgeschwangerschaften und -geburten (Sandall et al. 2018: 1352ff.). Weitere Kurz- und Langzeitmorbiditäten von Mutter und Kind sind bislang nicht ausreichend erforscht (AWMF, 2020: 16). Der Eingriff sollte daher nach Nutzen-Risiko-Abwägung vorgenommen werden. Der globale Anstieg nicht notwendiger Kaiserschnitte stellt eine Herausforderung im Bereich Public Health dar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) formuliert es wie folgt: “The sustained, unprecedented rise in caesarean section rates is a major public health concern” (WHO 2018: 8).
Während weltweit schätzungsweise 3,2 Millionen notwendige Kaiserschnitte in einkommensschwachen Ländern nicht vorgenommen werden, geschehen geschätzte 6,2 Millionen nicht notwendige Sectiones in Ländern mit mittlerem und hohem Einkommen (Vora et al., 2019: 2 ff.). Die Schere zwischen einer lebensbedrohlichen Unterversorgung einerseits und einer steigenden Überversorgung andererseits ist besorgniserregend, denn beides hat nachteilige Auswirkungen auf das maternale und neonatale Outcome (ebenda). Große Unterschiede bestehen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Länder. In Ländern mit niedrigem Einkommen koexistieren teils Unter-, teils Überversorgung: Frauen mit höherem sozioökonomischem Status (SES) bekommen eher einen nicht notwendigen Kaiserschnitt, während ein niedriger SES mit dem Risiko verbunden ist, keine Sectio zu bekommen, obwohl diese medizinisch indiziert wäre (Boerma et al. 2018: 1344).
Bei der Gesundheitsversorgung (werdender) Mütter sind global betrachtet zwei Extreme problematisch: „too little, too late“ beschreibt eine Versorgung mit inadäquaten Ressourcen und fehlenden evidenzbasierten Standards; „too much, too soon“ als gegenteiliges Extrem, meint die Über-Medikalisierung der normalen Schwangerschaft und Geburt (Miller et al. 2016: 1 f.). Letzteres geschieht sowohl durch den Einsatz von unnötigen, nicht evidenzbasierten Verfahren, als auch durch Überversorgung mit Interventionen, die bei Bedarf lebensrettend sein können, aber ohne Indikation und routinemäßig eingesetzt schädlich wirken (ebenda). Die Bewertung von maternaler und fetaler Gesundheitsversorgung darf sich nicht mehr nur auf den Indikator der Müttersterblichkeit konzentrieren, sondern muss auch die Optimierung des Gesundheitszustandes und die Qualität der gebotenen Versorgung für alle Mütter berücksichtigen (Renfrew et al. 2014a: 4). Es gilt Maßnahmen in angemessenem Ausmaß und zur richtigen Zeit einzusetzen und die Versorgung an Menschenrechten auszurichten: „The right amount of care needs to be offered at the right time, and delivered in a manner that respects, protects and promotes human rights” (Miller et al. 2016: 1).
Auch wenn Unterversorgung mit Ländern mit geringem Einkommen assoziiert wird, ist das Phänomen nicht auf diese beschränkt: es taucht überall auf und steht im Zusammenhang mit soziodemografischen Variablen wie Einkommen, Alter und Migrationshintergrund (S. 2ff.). Überversorgung wiederum kommt sowohl in einkommensstarken, als auch in einkommensschwachen Ländern vor. Es entsteht vor allem dann Überversorgung, wenn es an evidenzbasierten Leitlinien mangelt beziehungsweise zu wenig nach vorhandenen Leitlinien gehandelt wird (ebenda). Der Einsatz von Kaiserschnitten ist ein Beispiel für beide Versorgungsprobleme. In dem Artikel „Public health aspects of caesarean section including overuse and underuse of the procedure” von Vora et al. (2019) wird provokant sogar davon gesprochen, dass die Überversorgung mit nicht indizierten Kaiserschnitten eine Form von geburtshilflicher Gewalt angesehen werden kann, wenn Frauen dazu gedrängt werden einer Sectio zuzustimmen (S. 9). Das könne besonders bei Frauen mit Wunsch nach einem VBAC (vaginal birth after caesarean section) der Fall sein. Der übermäßige Einsatz von Kaiserschnitten, rückte in den letzten Jahren mehr in den öffentlichen, fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs und wird teilweise schon als „Epidemie“ bezeichnet (The Lancet 2018: 1279).
In Deutschland fällt nicht nur eine im europäischen Vergleich hohe Kaiserschnittrate auf, sondern auch erhebliche regionale Unterschiede. Das Problem im letzten Jahrzehnt zunehmend thematisiert: 2012 erschien der „Faktencheck Kaiserschnitt“ als Studie der Bertelsmannstiftung, die sich mit den regionalen Unterschieden in den Kaiserschnittraten in Deutschland beschäftigt (vgl. Kapitel 2.2.5). Zwei Jahre später initiierte der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V. (AKF) eine Tagung, um Maßnahmen zur Senkung der Kaiserschnittrate zu diskutieren. Ein Ergebnis der Tagung war, dass das Bundesministerium für Gesundheit die Entwicklung einer neuen Leitlinie durch die Fachgesellschaften finanzierte. Am 01.06.2020 wurde die S3-Leitlinie „Sectio caesarea“ veröffentlicht, die erstmalig federführend von Hebammen1 und Ärzt*innen gemeinsam entwickelt wurde. Es folgte die S3-Leitlinie „die vaginale Geburt am Termin“, die am 6. Januar 2021 erschien und ebenfalls hauptverantwortlich von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) und der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi) entwickelt wurde. Beide Leitlinien geben wichtige Empfehlungen, die Einfluss auf die Versorgungspraxis mit Kaiserschnitten in Deutschland haben könnten. 2017 hat ein Verbund von 120 Gesundheitsorganisationen das nationale Gesundheitsziel rund um Schwangerschaft und Geburt veröffentlicht. Als zweites Ziel wurde formuliert: „Eine physiologische Geburt wird ermöglicht und gefördert.“ (BMG 2017: 37)
Es ist naheliegend, dass die Leistungserbringer*innen des Gesundheitssystems entscheidend zur Höhe der Raten an spontanen und operativen Geburten beitragen: „Healthcare professionals within the health system play a key role in determining the rates of CSs [Caesarean sections]” (Vora et al. 2019: 8). Es gibt Hinweise darauf, dass es einen Einfluss auf die Sectiorate haben kann, wer auf welche Art und Weise Geburten begleitet: In skandinavischen Ländern sind Hebammen primär für die Geburtsbegleitung zuständig (Shaw et al. 2016: 8). Ein hebammengeleitetes Versorgungsmodell, das die Prämisse zugrunde legt, dass eine Geburt ein natürlicher Prozess ist, und die Frau in den Mittelpunkt stellt, versucht mit möglichst wenig medizinischen Interventionen auszukommen (Vora et al. 2019: 9). In den skandinavischen Ländern Finnland und Schweden sind die Sectioraten deutlich niedriger als in Deutschland bei gleichzeitig noch günstigerer Säuglingssterblichkeit (Kolip et al. 2012: 14).
Hebammen wird in diesen Ländern viel Verantwortung übertragen (Shaw et al. 2016: 8). Werden gut ausgebildete Hebammen wenig in ein Gesundheitssystem eingebunden, kann sich das negativ auf die Kaiserschnittrate auswirken (Wiklund et al. 2018: 1289). Das wird am Beispiel Chinas deutlich: dort sind Hebammen nicht fest in der geburtshilflichen Versorgung vorgesehen. Das Land hat mit Brasilien eine der höchsten Kaiserschnittraten weltweit (ebenda). Hodnett et al. (2012) verglichen in einem Review hebammengeleitete Einrichtungen mit herkömmlichen Krankenhausstationen. Es zeigte sich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit spontaner vaginaler Geburten und verringerte Wahrscheinlichkeit von Oxytocingaben, vaginal-operativer Entbindungen, Kaiserschnitten und Episiotomien für hebammengeführte Institutionen ohne Unterschiede im kindlichen Outcome.
Interventionen zur Optimierung von Kaiserschnittraten sollten die Sicht der Leistungserbringer*innen ebenso wie die Perspektive der Mütter berücksichtigen (Betrán et al. 2018: 1358 f.). Diese Arbeit widmet sich der Sicht der Hebammen, als eine beteiligte Berufsgruppe, da ihre Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Sectioraten bislang noch unklar sind (Van Lerberghe et al. 2014: 1215 ff.). Ihre subjektive Sicht als Expertinnen soll mithilfe dieser Forschungsarbeit beleuchtet werden.
Der Kaiserschnitt (lat. Sectio caesarea, engl. Caesarean section) ist laut Pschyremel eine „operative Beendigung der Schwangerschaft oder Geburt unter chirurgischer Eröffnung des Uterus bei hohem mütterlichem und kindlichem Risiko oder Wunsch der Mutter“ (Römer et al. 2012). Im deutschsprachigen Raum wird zwischen einer primären und einer sekundären Sectio (caesarea) unterschieden (AWMF 2020: 17f.). Von einer primären Sectio wird gesprochen, wenn die Geburt noch nicht (durch einen Blasensprung und/oder muttermundwirksame Wehentätigkeit) begonnen hat. Eine sekundäre Sectio erfolgt hingegen nach dem Geburtsbeginn. Diese Unterscheidung abhängig vom Geburtsbeginn ist außerhalb Deutschlands eher selten zu finden (ebenda). Üblicherweise wird international zwischen geplanter (planned caesarean section bzw. elective caesaerean section) sowie ungeplanter Sectio (unplanned caesarean section) unterschieden.
Mit Einführung des DRG Systems als Abrechnungsverfahren des stationären Sektors in Deutschland 2003 wurde zunächst keine Differenzierung der Vergütung primärer und sekundärer Sectio vorgenommen. Da der Aufwand für die Krankenhäuser allerdings unterschiedlich ist, wurde 2010 die Einteilung der Fallschwere für die Sectio angepasst und eine entsprechende Differenzierung eingefügt (Kolip et al. 2012: 33f.).
In der Diskussion um steigende Sectioraten wird international gefordert, die Klassifikation zur Erfassung von Patientinnengruppen zu vereinheitlichen und zu verbessern, um eine Vergleichbarkeit von Daten zu ermöglichen. Die Klassifikation sollte die geburtshilfliche Anamnese und die Indikation zur Sectio berücksichtigen und gleichzeitig einfach zu erheben sein. Das 10-Gruppen-Klassifikationssystem nach Robson (Robson 2001: 184ff.) wurde in einer 2011 publizierten Metaanalyse als am besten geeignet beurteilt (Torloni et al. 2011: 6 ff.). Diese Klassifikation ermöglicht nationale und internationale Vergleichbarkeit, indem transparent gemacht wird, welche Raten bei welchen Patientenkollektiven vorliegen, wodurch genauer zwischen verschiedenen Sectioraten differenziert werden kann (vgl. Tab. 1). Die WHO empfiehlt die Anwendung der Klassifikation in jeder geburtshilflichen Einrichtung (WHO 2015: 2 ff.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Klassifikationssystem nach Robson (Robson 2001; deutsche Übersetzung nach AWMF 2020: 18)
Die deutsche S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt spricht eine Empfehlung der Robsonklassifikation für geburtshilfliche Abteilungen in Deutschland aus. Auch im aktuellen Qualitätsreport wird dies gefordert, um „künftig für unterschiedliche Risikogruppen spezifische Auswertungen vorzunehmen“ und damit „krankenhausspezifische Möglichkeiten zur Qualitätsverbesserung zielgerichtet identifiziert und nachverfolgt werden“ (IQTIQ 2020: 153).
In der Geburtshilfe wird zwischen absoluten und relativen Indikationen zur Sectio caesarea unterschieden (AWMF 2020: 25). Absolute Indikationen für einen Kaiserschnitt liegen vor, wenn die Operation zur Rettung des kindlichen und/oder mütterlichen Lebens notwendig ist. Dies ist beispielsweise der Fall bei einer kindlichen Querlage, einer (drohenden) Uterusruptur, einer vorzeitigen Plazentalösung oder einer Placenta praevia (AWMF 2020: 25). Alle absoluten Indikationen zusammen werden in Deutschland mit weniger als 10% aller Kaiserschnittentbindungen angegeben (ebenda). Eine Zunahme der absoluten Indikationen kann schon aus diesem Aspekt heraus nicht die wesentliche Ursache des Anstiegs beziehungsweise der regionalen Unterschiede der Kaiserschnittraten sein (Kolip et al. 2012: 17).
Mit über 90% sind die meisten Kaiserschnittentbindungen durch eine sogenannte relative Indikation begründet. Hier besteht ein Entscheidungsspielraum und die Beteiligten (die Schwangere und Familie, Ärzt*innen und Hebammen) müssen abwägen, welcher Geburtsmodus für Mutter und Kind mit den geringeren Risiken verbunden ist (Kolip et al. 2012: 17f.) (vgl. Kapitel 2.3).
Die Indikationen zur Sectio wurden zuletzt 2013 im Bundesbericht des AQUA detailliert aufgeschlüsselt. 2013 waren die fünf häufigsten Diagnosen: Zustand nach Sectio (25,8%), pathologisches CTG (20,6%), Beckenendlage (12,5%), protrahierte Geburt beziehungsweise Geburtsstillstand in der Eröffnungsperiode (11%) sowie absolutes oder relatives Missverhältnis zwischen kindlichem Kopf und mütterlichem Becken (9,2%). Auf dem 6. Platz folgten Mehrlingsschwangerschaften (6,7%). Nach 2013 wurden nur noch ausgewählte Indikationen zur Sectio für Einlinge in den Bundesauswertungen berücksichtig. In der Leitlinie „Sectio caesarea“ wurde auf dieser Grundlage eine Trendanalyse für die Indikationen „Zustand nach Sectio oder anderer Uterus-OP“, „pathologisches CTG“ und „relatives Missverhältnis“ für die Jahre 2008 bis 2017 erstellt (AWMF 2020: 39ff.). Es konnte eine deutliche Abnahme der Indikationsstellung „pathologisches CTG“ von 22,4% 2008 auf 20,6% im Jahr 2017 beobachtet werden. Im gleichen Zeitraum nahm die Nennung „relatives Missverhältnis“ als Indikation von 13,2% auf 7,6% noch stärker ab. Gleichzeitig ist eine deutliche Zunahme der Indikation „Zustand nach Sectio beziehungsweise anderer Uterus-OP“ von 23,0% im Jahr 2008 auf 31,2% im Jahr 2017 festzustellen.
Nach einem vorherigen Kaiserschnitt gilt es, gemeinsam und individuell über den Modus einer weiteren Geburt zu entscheiden (AWMF 2020: 77f.). Dem erhöhten Risiko einer Uterusruptur sollte mit einem nicht-invasiven Geburtsmanagement begegnet werden. Wird dies getan und die Gebärende gut aufgeklärt, ist eine vaginale Geburt nach Sectio caesarea eine sichere Option für Mutter und Kind (Guise et al. 2010). Außerdem wird, wenn diese Option genutzt wird, das Risiko multipler Kaiserschnitte für Hysterektomie, Plazentaimplantationsstörungen und andere mütterliche Morbiditäten verringert (Marshall et al. 2011: 262f.). Der Spruch „once a caesarean, always a caesarean“ (einmal Kaiserschnitt, immer Kaiserschnitt) ist nicht evidenzbasiert, stattdessen müsste man von „once a caesarean, always a scar“ (einmal Kaiserschnitt, immer eine Narbe) sprechen (Sandall et al. 2018: 1345). Eine qualitativ hochwertige Versorgung sollte Frauen die Option einer Spontangeburt nach vorangegangenem Kaiserschnitt eröffnen und bei der Betreuung die Besonderheit beachten, dass die Narbe am Uterus existiert.
In der Cluster-randomisierten Multicenterstudie „OptiBirth“ wurden in Deutschland, Irland und Italien Interventionen zur Steigerung der VBAC-Raten (vaginal birth after caesarean section) untersucht (Clarke et al. 2020). Das Interventionsprogramm wurde von zuvor bestimmten Teammitgliedern vor Ort angeboten und umfasste evidenzbaierte Wissensvermittlung für Frauen und Leistungserbringer*innen, Zugang zu optionalen Online-Ressourcen und Diskussionen zwischen Frauen und Kliniker*innen in sogenannten „communities of practice“. Die Datenerhebung fand zwischen 2012 und 2016 statt. Nach diesem Zeitraum war kein signifikanter Unterschied zwischen der Interventions- und Kontrollgruppe nachweisbar. Die Interventionen wurden allerdings als sicher bewertet (keine Gruppenunterschiede hinsichtlich intrauteriner und neonataler Todesfälle sowie Uterusrupturen). Die Autor*innen vermuten, dass es erst nach einem noch längeren Zeitraum nachweisbare Effekte geben könnte. Auffallend war, dass die Rate an vaginalen Geburten nach vorangegangenem Kaiserschnitt in Italien in den teilnehmenden Kliniken von 8.3% in 2012 auf 19.6% anstieg, wobei der Anstieg sowohl in den Interventions- als auch in den Kontrollgruppen stattfand. Eventuell war dieses Phänomen dadurch beeinflusst, dass die Kliniken durch die Studienteilnahme ihr generelles Management anpassten. Die Autor*innen schlussfolgern, dass die Interventionen möglicherweise besonders bei zuvor sehr niedriger VBAC-Rate effektiv sein könnten.
Von medizinisch indizierten Kaiserschnitten ist die sogenannte Wunschsectio (auch: elektive Sectio, engl. „caesarean delivery on maternal request“) abzugrenzen (IQTIQ 2020: 152). Die Inzidenz ist aufgrund unterschiedlicher Datenqualität und unscharfer Definitionen zwischen den Ländern nur bedingt vergleichbar (Baumgärtner 2013: 115ff). In einem systematischen Review von Mazzoni et al. wurde 2011 das Phänomen des Wunschkaiserschnitts anhand von 38 eingeschlossenen Studien (n = 19 403) auf globaler Ebene untersucht. Mit der höchsten Rate von 24,4% präferieren Frauen in Lateinamerika den Kaiserschnitt als Geburtsmodus. Die niedrigste Rate findet sich mit 11,0% in Europa. Die USA und Kanada (16,8%), Afrika (14,2%), Australien (13,8%), und Asien (12,7%) liegen dazwischen. Untersucht wurde allerdings die Präferenz der Schwangeren, nicht die tatsächliche Entscheidung beziehungsweise der realisierte Geburtsmodus der Frauen. Der Kaiserschnitt wird in Ländern mit einem mittleren durchschnittlichen Einkommen von Frauen fast doppelt so häufig als Geburtsmodus gewünscht wie in Ländern mit hohem durchschnittlichem Einkommen (22% bzw. 12%) (Mazzoni et al. 2011: 395).
Ein aktuelles systematisches Review von Begum et al. (2021) betrachtete die weltweite Inzidenz. Aus 31 inkludierten Studien ließ sich eine mittlere Sectiorate von 31% ableiten, davon waren 11% auf mütterlichen Wunsch (S. 801f.). Dies entspricht einem Anteil von 5% bezogen auf alle in den Studien berücksichtigten Geburten (n = 5 Mio.). Es zeigte sich eine große Spannweite der Wunschsectiorate von 0,2 bis 42,0% in den Studien. Diese Spannweite wird überwiegend durch unterschiedliche ökonomische Gegebenheiten erklärt: Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen hatten gegenüber solchen mit hohem Einkommen eine 11-fach höhere Rate an Wunschkaiserschnitten.
Für Deutschland gibt die aktuelle AWMF-Kaiserschnittleitline eine Rate von 6 bis 7 Prozent Erstgebärender mit Sectiowunsch an. Diese Angabe bezieht sich allerdings auf eine über 15 Jahre alte Studie (Hellmers 2005). Aktuelle verlässliche Daten zur Inzidenz des Wunschkaiserschnitts in Deutschland existieren nicht (Mylonas und Friese 2015: 492). Dies liegt auch daran, dass sie nicht in den Qualitätsberichten der Krankenhäuser aufgeführt wird: „Die zuverlässige Einstufung als Wunschsectio wird allgemein als schwierig angesehen, weswegen sie in der Perinatalerhebung nicht gesondert abgefragt wird.“ (IQTIQ 2020: 152).
Die Gründe dafür, dass sich Schwangere einen Kaiserschnitt wünschen, sind vielfältig und auch von der individuellen geburtshilflichen Vorgeschichte abhängig: Während sich Erstgebärende eher aus Angst vor potenziellen Komplikationen unter der Geburt für eine Kaiserschnittentbindung entscheiden, präferieren Mehrgebärende diesen Entbindungsweg, wenn bei einer der vorherigen Entbindungen Komplikationen aufgetreten sind (Schild 2015: 661). Eine amerikanische Studie zeigt den Zusammenhang zwischen Ängsten in der Schwangerschaft und Wunsch nach einer elektiven Sectio und diskutiert verschiedene Interventionsmöglichkeiten (Reyes & Rosenberg 2019: 8ff.). Vorgeschlagen werden vier Ansätze zum Abbau geburtsassoziierter Ängste:
1. Die Geburtsumgebung sollte so gestaltet werden, dass Frauen sich unterstützt und respektiert fühlen. Ihre Sorgen sollten gehört werden.
2. Werdenden Mütter sollten Beratungsangebote gemacht werden. Besonders bei mangelnder Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld kann es hilfreich sein, Zugang zu Doulas2 zu vermitteln.
3. Bildung von Frauen und junge Mädchen in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt muss verbessert werden. Damit sie die bestmögliche Entscheidung für sich und ihre Kinder treffen können, sollten ihnen Vorteile und Risiken unterschiedlicher Geburtsmodi verständlich vermittelt werden.
4. Auf gesellschaftlicher Ebene sollte die Geburt entstigmatisiert und das Vertrauen in die Gebärfähigkeit gerfördert werden. Dies sollten Gesundheitssysteme unterstützen statt behindern (Reyes & Rosenberg 2019: 8).
In der sogenannten „GEK-Kaiserschnittstudie“ untersuchten Lutz und Kolip 2006 in Deutschland, wie stark der Einfluss von mütterlichen Ängsten auf die Entscheidung zur Sectio ist. Per Fragebogen wurden Daten von 1.339 bei der GEK3 versicherte Frauen erhoben, die im Jahr zuvor per Kaiserschnitt geboren hatten. 8% der Befragten gaben Angst vor Schmerzen, Angst vor stundenlangen Wehen und davor, die Geburt nicht durchzustehen, als Grund für die primäre Sectio an. Bei der Frage nach den größten Vorteilen einer Sectio nannten nur 1,3% weniger oder keine Geburtsangst (Lutz & Kolip 2006: 87ff.). Empirisch konnte die Hypothese einer zunehmenden Bedeutung der Ängste der Mütter als Grund steigender Sectioraten in dieser Studie nicht bestätigt werden (S. 32).
Eine frühzeitige Vorstellung der Schwangeren in der Geburtsklinik bei Angst vor einer vaginalen Geburt könnte möglicherweise Kaiserschnitte auf Wunsch minimieren: „In diesen Fällen sollte die natürliche Geburt, auch von einer erfahrenen Hebamme, thematisiert und die Vor- und Nachteile im Vergleich zu einer primär operativen Entbindung erörtert werden“ (Schild 2015: 661). Schon 2010 schlugen deutsche Experten vor, spezielle evidenzbasierte Konzepte für die Versorgung von Frauen mit Kaiserschnittwunsch zu entwickeln (Baumgärtner & Schach 2010: 119). Die AWMF-Leitlinie „Sectio caesarea“ geht auf die „Sectio auf Wunsch der Schwangeren“ in einem eigenen Kapitel ein – dort heißt es: „Wenn eine Frau eine Sectio wünscht, sollen Risiken und Nutzen der Sectio im Vergleich zur vaginalen Geburt mit der Frau besprochen und anschließend der Inhalt des Gespräches dokumentiert werden“ und „wenn eine Frau eine Sectio nach einem ausführlichen Gespräch und im Bedarfsfall der Unterstützung durch eine auf dem Gebiet der perinatalen psychischen Gesundheit mit Fokus Geburtsangst spezialisierte Fachperson weiterhin eine Sectio wünscht, soll dieser Wunsch gewährt werden.“ (AWMF 2021: 51)
In einer Metaanalyse wurden 2018 Ergebnisse zu langfristigen Folgen von Kaiserschnitten anhand von 79 prospektiven Kohortenstudien und einer randomisierten kontrollierten Studie zusammengetragen. Bezüglich der Beckenbodengesundheit zeigte sich ein signifikant protektiver Effekt der Sectio auf das Risiko, eine Harninkontinenz (OR4 0,56) oder einen Organprolaps (OR 0,29) zu erleiden (Keag et al. 2018: 6ff.). Negative Langzeitfolgen fanden sich hingegen bei Betrachtung der auf einen Kaiserschnitt folgenden Schwangerschaft: Die Wahrscheinlichkeit einer Placenta praevia5, einer Placenta accreta6 und einer Plazentaablösung waren signifikant höher als nach vaginaler Entbindung. Zudem fällt ein Risikoanstieg für eine Fehlgeburt (OR: 1,17) oder eine Totgeburt (OR 1,27) auf. Negative Langzeitfolgen sind auch bei den Kindern zu verzeichnen, die nach einer Kaiserschnittentbindung ein erhöhtes Risiko hatten, bis zum Alter von fünf Jahren adipös zu werden (OR 1,59) und bis zum Alter von zwölf Jahren an Asthma zu erkranken (OR 1,21). Valide Aussagen über die Effekte auf die maternale Mortalität sind zum jetzigen Stand der Forschung nicht eindeutig zu treffen (Sandall et al. 2018: 1350). In Ländern mit hohem Einkommen gilt die Sterblichkeit bei einem Kaiserschnitt als vergleichbar mit einer vaginalen Geburt. Allerdings ist die Mortalität bei einer Folgeschwangerschaft nach Kaiserschnitt erhöht. Dies liege an dem höheren Risiko für eine Uterusruptur oder Plazentaanomalien. Sekundäre Sectiones, insbesondere Notfallkaiserschnitte, gehen mit einer höheren Mortalität als primäre Sectiones einher (ebenda).
Elektive Kaiserschnitte, die vor der 39. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, können bei Neugeborenen zu Anpassungsproblemen wie Atemstörungen oder Hypoglykämien führen (Sandall et al. 2018: 1352ff.). Kurzfristige Risiken durch den Kaiserschnitt umfassen eine verzögerte Immunentwicklung, Allergie, Atopie, Asthma und eine geringere Vielfalt des Mikrobioms im kindlichen Verdauungstrakt. Auswirkungen auf das spätere Leben sind weniger gut erforscht. Einzelne Studien haben Zusammenhänge zwischen der Geburt per Sectio und einem erhöhten Risiko für Hypertonie, Typ-1-Diabetes, gestörte Leberfunktion, immunbedingte Erkrankungen, neurologische und stressbedingte Probleme und Autoimmunerkrankungen des Magen-Darm-Trakts im Kindesalter hergestellt (ebenda).
Sandall et al. gehen davon aus, dass eindeutige Nachweise für Effekte schwierig sein können, da unzählige Expositionen in der Kindheit die Assoziation verschleiern könnten (S. 1353). Es bräuchte groß angelegte longitudinale Studien, um mehr Aussagen über kausale Zusammenhänge zu erlauben.
Es gibt keinen Konsens darüber, welche Kaiserschnittrate anzustreben ist (AWMF 2020: 16). 1985 kam eine Studiengruppe der Weltgesundheitsorganisation zu dem Schluss, dass Raten über 10 bis 15% nicht mehr mit zusätzlichen Vorteilen für Mütter und Kinder einhergehen (Moore 1985: 787). Die WHO veröffentlichte 2015 ein Positionspapier, das von der vorher formulierten Festlegung einer optimalen Kaiserschnittrate abrückt und stattdessen die Durchführung eines Kaiserschnitts für Frauen fordert, die einen solchen benötigen (WHO 2015: 6). Bestätigt wurde allerdings auf Grundlage der Ergebnisse zweier Reviews, dass auf Bevölkerungsebene eine Sectiorate über 10% keinen weiteren günstigen Effekt auf die Mortalitätsraten von Müttern und Neugeborenen mit sich bringt (ebenda). In der Stellungnahme wird die globale Anwendung der Robson-Klassifikation gefordert, um zukünftig eine Vergleichbarkeit und Analysegrundlage zu schaffen.
Bei der Diskussion darüber, nicht zwingend notwendige Kaiserschnitte zu vermeiden, geht es nicht nur um die möglichen nachteiligen Folgen der Operation für Mütter und Kinder, die, wie bereits beschrieben, noch längst nicht ausreichend erforscht sind. Es geht außerdem um die gegenüber einer vaginalen Geburt entstehenden Mehrkosten für Kaiserschnitte, denen kein entsprechender gesundheitlicher Nutzen für Mutter oder Kind gegenübersteht. Dies kann als Verschwendung von knappen Ressourcen eingestuft werden (Kolip et al. 2012: 120).
Seit dem Jahr 2000 stieg die Kaiserschnittrate global durchschnittlich um 3,7% pro Jahr an – insgesamt von 12,1% auf 21,1% im Jahr 2015 (Boerma et al. 2018: 1341ff.). Der starke Anstieg ist besonders durch steigende Raten an nicht medizinisch indizierten Sectiones in Ländern mit mittlerem und hohem Einkommen zurückzuführen. Ein besonders steiler Anstieg ist in Osteuropa und Zentral- sowie Südasien zu beobachten. Nach Schätzung der WHO werden weltweit jährlich 6,2 Millionen medizinisch nicht begründete Kaiserschnitte vorgenommen – davon allein die Hälfte in Brasilien und China (ebenda).
Die Sectioraten variieren stark zwischen den Regionen: Im Jahr 2015 gab es eine Spannweite von 4,1% in West- und Zentralafrika bis 44,3% in Lateinamerika und der Karibik. In Westeuropa lag der durchschnittliche jährliche Anstieg bei 2,1%. Die Raten stiegen von 19,6% im Jahr 2000 auf 26,9% im Jahr 2015.
Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit der Sectiorate im Mittelfeld. Laut dem letzten European Perinatal Health Report aus 2015 verzeichnete Zypern die höchste Rate (56,9%), gefolgt von Rumänien (46.9%) und Bulgarien (43,0%) (Euro Peristat 2018: 74). Durchschnittlich war ein Anstieg der Rate um 4% zwischen 2010 und 2015 zu verzeichnen (S. 77). Hinter diesem Wert verbergen sich teils starke Anstiege von bis zu 27% (von 36,9 auf 46,9% in Rumänien), aber auch Abfälle von bis zu -13% (von 25.2 auf 21,9% in Litauen). Besonders niedrig waren die Raten 2015 in Island (16,1%), Finnland (16,4%) und Norwegen (16,5%). In diesen Ländern ist die Müttersterblichkeit ähnlich niedrig oder sogar niedriger (S. 162) als in Deutschland und es wird eine niedrigere Neugeborenensterblichkeit verzeichnet (S. 117).
Die persistierenden Unterschiede in den Sectioraten zeigen eindrücklich das Fehlen eines Konsenses in der geburtshilflichen Versorgung in Europa (MacFarlane et al. 2015: 5ff.). Die Unterschiede lassen sich nicht anhand von Bevölkerungsmerkmalen erklären. Teilweise weisen Länder mit geografischer oder politischer Nähe ähnliche Raten auf, was auf eine ähnliche klinische Praxis von Ländern hinweist (ebenda). Der Einfluss von klinischen Leitlinien und Standards, des Gesundheitssystems und dessen Finanzierung sowie Einstellung von Leistungserbringer*innen und Nutzer*innen sollten erforscht werden, um Ursachen der Unterschiede in Europa zu verstehen und Einfluss nehmen zu können.
Da zum Zeitpunkt der Planung des Samplings die aktuellsten Daten zu den deutschen Sectioraten des statistischen Bundesamtes und der Qualitätsberichte der Krankenhäuser aus 2018 stammten und diese Daten ausschlaggebend für die Festlegung der rekrutierten Interviewpartnerinnen war, beruhen die Abbildungen auf den Daten aus 2018. Im Text sind die bisher bekannten Daten aus 2019 ergänzt. Im Jahr 2018 gab es laut dem Statistischen Bundesamt deutschlandweit 757.878 Geburten, davon waren 220.343 Kaiserschnitte (Statistisches Bundesamt 2020). Das entspricht einer Rate von 29,1%. 1991 betrug die Rate noch 15,3%. In den darauffolgenden 20 Jahren stieg die Sectiorate über das Doppelte an und erreichte 2011 mit 32,2% ein vorläufiges Maximum (vgl. Abb. 1). Seit diesem Höhepunkt ist wieder ein schwacher jährlicher Abfall zu verzeichnen. Der leichte Rückgang der bundesweiten Kaiserschnittrate im Jahr 2014 fällt zusammen mit der Einführung eines risikoadjustierten Indikators zu Kaiserschnittentbindungen (AWMF 2021: 210). 2019 betrug die Rate laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes 29, 6%, womit es im Vergleich zum Vorjahr wieder einen leichten Anstieg gab (GBE 2021).
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Abbildung 1: Entwicklung der bundesweiten Kaiserschnittrate in Deutschland (1991 – 2018)7
Die Kaiserschnittraten unterscheiden sich teils erheblich zwischen den Bundesländern (siehe Abb. 2). Es fällt ein West-Ost-Gefälle auf: In den neuen Bundesländern werden im Vergleich zu den alten deutlich weniger Kinder per Sectio caesarea entbunden (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2020). Erstmals untersucht wurden die Unterschiede 2010 von Kolip et al. (2012). Zur Bestimmung der Sectioraten auf Kreisebene wurden Kaiserschnitte laut DRG-Statistiken der Krankenhäuser auf die Anzahl der in dem Kreis gemeldeten Lebendgeborenen bezogen. In den Jahren 2010 bis 2012 variierten die Raten demnach zwischen 17 und 52%, wobei ein deutliches Ost-West-Gefälle dahingehend auffiel, dass fast alle Kreise mit niedrigen Raten in den neuen Ländern zu finden waren. Mit 22,6% war die rohe Kaiserschnittrate 2018 in Sachsen am niedrigsten und im Saarland mit 34,7% am höchsten (GBE 2020). Im Jahr 2019 hatte weiterhin das Saarland mit 34,8% die höchste und Sachsen mit 24,5% die niedrigste Kaiserschnittrate zu verzeichnen.
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Abbildung 2: Sectioraten in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2018 in Prozent8
Eine bessere Vergleichbarkeit von Kaiserschnittraten ermöglichen risikoadjustierte Raten (siehe Abb. 3). Seit 2014 ist dieser Qualitätsindikator eingeführt, bei dem Risikofaktoren durch eine Adjustierung berücksichtigt werden und die Spannbreite der adjustierten Kaiserschnittraten anschließend überwiegend auf einrichtungsspezifische Vorgehensweisen zurückgeführt werden kann (IQTIQ 2019: 1ff.). Es handelt sich um eine indirekte Standardisierung basierend auf der beobachteten Rate (O) und der erwarteten Rate (E). Basierend auf logistischen Regressionsmodellen, die auf Daten des Vorjahres zurückgreifen, wird für jeden Fall die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass das interessierende Ereignis (ein Kaiserschnitt) eintritt. Der Wert 1 bedeutet: Die Kaiserschnittrate ist exakt so hoch wie erwartet. Ein Wert von 0,8 zeigt an, dass die Rate um 20 Prozent niedriger, ein Wert von 1,2, dass die Rate um 20 Prozent höher liegt als erwartet. Krankenhäuser, deren Rate außerhalb eines vorab definierten Referenzbereiches liegen, durchlaufen einen Prozess der Qualitätsverbesserung: Sie werden im Rahmen eines sogenannten strukturierten Dialoges zu einer Stellungnahme aufgefordert und gegebenenfalls finden weitere Besprechungen oder Begehungen statt. Falls ein Qualitätsproblem festgestellt wird, wird mit dem Krankenhaus eine Zielvereinbarung beschlossen.
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Abbildung 3: Rohe und risikoadjustierte Sectioraten in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 20189
Durch die bessere Vergleichbarkeit orientiert sich die vorliegende Forschungsarbeit an den risikoadjustierten Kaiserschnittraten, somit wurden die Bundesländer Sachsen, Berlin und Thüringen sowie Bayern, Saarland und Hessen zur Rekrutierung klinisch tätiger Hebammen ausgewählt.
Ein interessantes Bild zeigt sich bei der Betrachtung der risikoadjustierten Sectioraten von Perinatalzentren10 der Versorgungsstufe 1, also geburtshilflichen Abteilungen mit Maximalversorgung (Abb. 4). Während Hessen und das Saarland über dem erwarteten Wert liegen, hat Bayern einen Wert unter 1, was darauf schließen lässt, dass die Bundeslandrate vor allem durch Kliniken mit einer geringeren Versorgungsstufe auf ein Niveau über 1 gebracht wird. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Ergebnis des Faktenchecks von Kolip et al. 2012, in dem es heißt, dass Belegkliniken meist höhere Sectioraten aufweisen, denn Bayern hat besonders viele dieser Belegabteilungen (S. 59f.).
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Abbildung 4: Durchschnittliche risikoadjustierte Kaiserschnittraten der Perinatalzentren Level 1 in Deutschland nach Bundesländern, gerundet auf zwei Kommastellen11
Im „Faktencheck Gesundheit“ der Bertelsmannstiftung wurden 2012 Routinedaten der BARMER GEK (n=4.200) zusammen mit öffentlich zugänglichen Daten zur stationären geburtshilflichen Versorgung ausgewertet und durch Befragung von versicherten Frauen (n=1.500 Frauen) der BARMER GEK ergänzt, die in dem zurückliegenden Jahr ein Kind auf die Welt gebracht hatten. Interessanterweise konnte die Analyse gängige Erklärungsversuche für steigende Sectioraten in Deutschland entkräften, wie ein höheres Durchschnittsalter der Mütter, Zunahme an mütterlichen Erkrankungen, Anstieg bei Wunschkaiserschnitten sowie Zunahme von Mehrlingsgeburten, Frühgeburten oder überschweren Kinder.
Zunächst wurde der Einfluss des Alters untersucht. Nach Altersstandardisierung wurde deutlich, dass weder auf Bundesland- noch auf Kreisebene nennenswerte Unterschiede gegenüber den nicht standardisierten Raten zu erkennen sind (S. 45ff.).
Auch der Einfluss des Versichertenstatus wurde überprüft (S. 78ff.). Dazu wurden die Barmer-Routinedaten mit Daten der Deutsche Krankenversicherung Aktiengesellschaft (DKV) verglichen. Die rohen Kaiserschnittraten wichen deutlich voneinander ab: 35,6% (DKV) gegenüber 32,6% (BARMER GEK). Der Unterschied kommt durch die verschiedenen Altersstrukturen der Versicherten zustande. Nach Altersstandardisierung waren die Raten dann sehr ähnlich: 30,4% (DKV) gegenüber 31,9% (BARMER GEK). Die Analyseergebnisse zeigen nach Korrektur des Einflusses der Altersverteilung, dass der Status als Privatversicherte eher mit einer etwas niedrigeren Kaiserschnittrate einhergeht.
Mit multiplen linearen Regressionsmodellen wurde der Einfluss mütterlicher Erkrankungen auf die Unterschiede der Sectioraten überprüft (S.54ff.). Sowohl für die Diagnose Adipositas als auch für die Diagnose Schwangerschaftsdiabetes konnte gezeigt werden, dass die diagnosespezifische Kaiserschnittrate jeweils deutlich einflussreicher ist als die Prävalenz. Das bedeutet, dass sich nicht vor allem Unterschiede der Auftretenshäufigkeit in der Bevölkerung eines Bundeslandes auf die unterschiedlichen Sectioraten auswirken, sondern vielmehr das unterschiedliche Vorgehen bei einer Diagnose.
Im Hinblick auf den Einfluss des Faktors „Mehrlingsgeburten“ auf regionale Unterschiede stellten Kolip et al. fest, dass die Prävalenz insgesamt zu niedrig war, um einen nennenswerten Einfluss auf die Gesamtkaiserschnittrate feststellen zu können (1,6% im Jahr 2000 und 1,7% im Jahr 2010). Kritisch angemerkt wird hierbei, dass nur ein Viertel der Mehrlingsgeburten im Untersuchungszeitraum nicht per Kaiserschnitt geboren wurden, obwohl internationale Empfehlungen die Möglichkeit einer vaginalen Zwillingsgeburt, sofern der erste Zwilling in Schädellage liegt, betonen (S. 81f.).
Regionale Variationen in der Inzidenz von Frühgeburten vor der 37. Schwangerschaftswoche erklären die Unterschiede in der Kaiserschnittrate nur zu einem geringen Teil. Ein höherer Anteil an Frühgeborenen erhöht zwar die Sectiorate, zwischen 2005 und 2010 gab es mit konstant ca. 9% aller Geburten allerdings keine Veränderung des Anteils der Frühgeburten (S. 55).
Während die genannten Faktoren keine Erklärung für die unterschiedlichen Kaiserschnittraten liefern konnten, war der Einfluss der Re-Sectiones relevant. Die Analysen zeigten, dass ein vorangegangener Kaiserschnitt häufig zu einem erneuten Kaiserschnitt führt. Bei Frauen, die ihr erstes Kind per Kaiserschnitt geboren hatten, kam es in drei von vier Fällen auch bei dem jüngeren Kind zu einer Sectio (S. 82 f.). Wurde das ältere Kind hingegen ohne Kaiserschnitt geboren, wurden maximal 10% der darauffolgenden Geburten ein Kaiserschnitt.
Bei Kaiserschnitten, die aufgrund eines vorherigen Kaiserschnitts indiziert wurden (sogenannten Re-Sectiones), spielen vor allem die regionalen Prävalenzen eine entscheidende Rolle. Die diagnosespezifischen Kaiserschnittraten und damit die unterschiedlichen geburtshilflichen Vorgehensweisen haben einen geringeren, aber ebenfalls signifikanten Einfluss. Die Prävalenz der Diagnose O34.2 – „Betreuung der Mutter bei Uterusnarbe durch vorangegangenen chirurgischen Eingriff“ hatte in den Analysen der BARMER Routinedaten einen größeren Einfluss auf die regionale Gesamtkaiserschnittrate. In Regionen, in denen bereits in der Vergangenheit häufiger Kaiserschnitte durchgeführt wurden, kommt auch die Diagnose O34.2 häufiger vor. Es kommt gewissermaßen zu einem „Selbstverstärkungseffekt“, der noch mehr Kaiserschnitte nach sich zieht, weil die Prävalenz von Uterusnarben durch vorangegangene Kaiserschnitte wächst (S. 57). Obwohl die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ebenso wie das britische NICE im Normalfall bei vorangegangenem Kaiserschnitt den Versuch einer vaginalen Geburt empfehlen, zeigen die Ergebnisse der Analysen des Faktenchecks, dass dies nicht in allen Regionen in gleichem Maße und insgesamt noch zu selten umgesetzt wird (S. 81). Bei Vorliegen dieser Diagnose steigt das Risiko eines Kaiserschnitts um das 8,6-fache. Die diagnosespezifische Kaiserschnittrate beträgt 78%.
Im Rahmen der Befragung der BARMER-GEK-Versicherten gab es bei 1,9% der Geburten Hinweise auf einen Wunschkaiserschnitt (S. 76ff.). Auf diesem niedrigen Niveau kann, nach Meinung der Autor*innen, weder davon ausgegangen werden, dass Wunschkaiserschnitte den deutlichen Anstieg der Kaiserschnittrate in den vergangenen Jahren maßgeblich mitbewirkt haben, noch, dass die regionalen Unterschiede der Kaiserschnittrate stark durch sie beeinflusst sind.
Die Analysen haben gezeigt, dass Geburten in Belegfachabteilungen deutlich häufiger durch Kaiserschnitt (insbesondere durch primären Kaiserschnitt) geschehen als in Hauptfachabteilungen. Möglicherweise könnte eine bessere Planbarkeit von (primären) Kaiserschnitten im Vergleich zu weniger gut planbaren vaginalen Geburten auch aufgrund organisatorischer Gründe in den Belegabteilungen eine wichtige Rolle spielen (S. 83f.). Im Hinblick auf die Größe der Abteilung wurde die Tendenz einer Erhöhung der Kaiserschnittrate mit zunehmender Fachabteilungsgröße festgestellt. Diese ist vor dem Hintergrund eines in Deutschland ausgebauten gestuften geburtshilflich-klinischen Versorgungssystems plausibel, da Perinatalzentren Risikogeburten betreuen, die von Geburtsklinken nicht begleitet werden können.
Kolip et al. analysieren auch den Einfluss der Schwangerschaftsvorsorge und -beratung auf die Kaiserschnittrate (S. 68ff.). Es gibt verschiedene Betreuungsmodelle: eine rein ärztliche Vorsorge, reine Hebammenvorsorge oder geteilte Vorsorge. Bei keinem Betreuungsmodell unterscheiden sich Frauen mit Spontangeburt signifikant von Frauen mit Kaiserschnitt.
Es konnte allerdings ein Unterschied festgestellt werden zwischen Frauen, die wenigstens eine Hebammenleistung erhielten, die innerhalb der letzten Woche vor dem Geburtstermin erfolgte, und Frauen, die keine Hebammenleistung zeitnah vor der Geburt bekamen: Die Kaiserschnittrate bei den Frauen mit mindestens einer vorgeburtlichen Betreuung durch eine Hebamme liegt unter der Rate der Frauen, die keine vorgeburtliche Hebammenbetreuung in Anspruch nahmen (32,2% vs. 34,0%). Dieser Unterschied fällt bei den Frauen mit einem primären Kaiserschnitt noch stärker aus (14,0% vs. 17,6%). Zudem ist die Kaiserschnittrate in der Tendenz desto höher, je später die Hebammenbetreuung der Schwangeren beginnt. Die Kaiserschnittrate steigt mit zunehmender Intensität der Hebammen-Betreuung (Anzahl erbrachter Leistungen), was in dem Vorliegen von besonderen mütterlichen Risiken bei den betreuten Schwangeren begründetet sein könnte (S. 85f.). Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigten leichte die Kaiserschnittrate reduzierende Effekte spezifischer und/oder intensiverer und/oder früher einsetzender Hebammenbetreuung. Dass diese Effekte relativ klein waren, wurde von den Autor*innen als „überraschend“ bewertet, da Hebammen „eine wichtige ‚Beratungs- und Korrektivfunktion‘ gegen den Trend hin zu höheren Kaiserschnittraten“ wahrnehmen (S. 86).
Allein die quantitativen Auswertungen von Kolip et al. können nicht hinreichend aufklären, wie die regionalen Unterschiede zustandekommen. Als Erklärungsansatz formulieren die Forschenden, dass nicht ausreichend Orientierung durch Leitlinien vorliegt, da diese fehlen, veraltet oder nicht konkret genug sind (S. 82). Des Weiteren könnten laut Kolip et al. „Aufklärungsdefizite auf Seiten der werdenden Eltern, aber auch bei Ärztinnen und Ärzten sowie Hebammen bezüglich der prinzipiell geeigneten Geburtsmodi mit ausschlaggebend für die hohen und regional abweichenden Kaiserschnittraten sein“ (S. 82). Solche Aufklärungsdefizite könnten aus einer regional nicht ausreichend oder nicht ausreichend spezialisiert ausgebauten Beratungsstruktur entstehen. Eine weitere Erklärung bieten die sich verändernden Fähigkeiten der Geburtshelfer*innen zum Beispiel bei Zwillings- und Beckenendlagengeburten. Der Bericht betont, dass Möglichkeiten für die Lehre und Übung vaginaler Entbindungsverfahren umso mehr abnehmen, je öfter diese Geburten mittels Kaiserschnitts erfolgen. Es wird außerdem darauf verwiesen, dass für diese „besonderen Geburten“ kaum Ansätze für eine Steuerung und Zentralisierung in Kliniken erkennbar sind, die alternative Verfahren überhaupt noch anwenden. Werdende Eltern finden teilweise regional keine Klinik, die ihnen Alternativen zu einem Kaiserschnitt anbieten.
Kolip et al. leiteten in Absprache mit Reviewer*innen folgende Handlungsempfehlungen aus den Ergebnissen ab (S. 87ff.):
- Orientierung durch evidenzbasierte Leitlinien schaffen
Die Erarbeitung einer S3-Leitlinie für besondere Konstellationen wie beispielsweise Beckenendlagen- und Zwillingsschwangerschaften sowie vorherige Kaiserschnittgeburten könnte zu einer Verminderung von unerwünschter Variation der ärztlichen Vorgehensweisen führen. Eine verbindliche Leitlinie erhöhe auch die Rechtssicherheit für Geburtshelfer*innen.
- Weiterentwicklung der Beratungsangebote und -strukturen für Schwangere
Im nächsten Schritt seien verständliche Patienteninformationen zur Leitlinie notwendig. Die Inhalte sollten auch im Rahmen einer evidenzbasierten Beratung von Schwangeren vermittelt werden. Kolip et al. empfehlen außerdem, mehr spezifische Beratungsangebote für Schwangere bei bestimmten Risikokonstellationen zu etablieren: Sprechstunden zu Beckenendlagen, Zwillingsschwangerschaften, aber auch vaginalen Geburten nach vorherigem Kaiserschnitt sollten an Kliniken eingerichtet werden, die sich auf diese geburtshilflichen Konstellationen spezialisieren.
- Weitergehende Spezialisierung von Kliniken
In vielen (auch größeren) Geburtskliniken sei die Zahl der jährlichen Beckenendlagen- und auch Zwillingsgeburten für die Geburtshelfer*innen zu gering, um eine Routine für die vaginale Geburt entwickeln zu können. Wenn zu geringe praktische Erfahrungen zur Durchführung nicht unbedingt erforderlicher Kaiserschnitte führen, solle über eine Überweisung dieser Schwangeren in andere Kliniken, die sich auf die vaginale Geburt von Zwillingen und/oder Beckenendlagen spezialisieren, nachgedacht werden. Darüber hinaus sollten in Aus- und Fortbildung vaginale Geburten bei selteneren Konstellationen in Simulationszentren trainiert werden.
- Aus- und Weiterbildung
Dass in der geburtshilflichen Versorgung immer mehr Kaiserschnitte erfolgen, präge auch die Anschauung der zukünftigen Generation von Gynäkolog*innen. Die Ausbildung solle daher Vor- und Nachteile von vaginaler Geburt und Kaiserschnitt in den unterschiedlichen geburtshilflichen Konstellationen beinhalten. Bei den praktizierenden (Fach-)Ärzt*innen und Hebammen solle durch regelmäßige Fort- und Weiterbildungen der aktuelle Wissensstand verpflichtend vermittelt und geübte Praxis hinterfragt werden.
- Stabilisierung der Rolle der Hebammen
In den Empfehlungen wird betont, dass Hebammen eine wichtige Beratungsfunktion wahrnehmen, insbesondere im Hinblick auf mütterliche Ängste oder auch medial vermittelte Missverständnisse bezüglich der Vor- und Nachteile einer natürlichen Geburt. Nach Meinung der Expert*innen sind vielen werdenden Eltern die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Hebammenbetreuung nicht ausreichend bekannt. Andere Akteure, wie Ärzt*innen, Beratungsstellen oder Krankenkassen sollten hierüber konsequenter informieren.
- Angebot der Hebammenkreißsäle ausbauen
Um eine weitere Steigerung der Kaiserschnittrate zu vermeiden, solle die hebammengeleitete Geburtshilfe gestärkt werden. Zum einen könne dies durch kosten- oder vergütungsseitige Interventionen erreicht werden, zum anderen seien auch strukturelle Innovationen sinnvoll. Hier wird das Beispiel der Hebammenkreißsäle genannt. Das Modell ist in Deutschland noch nicht weit verbreitet, aber nach ersten positiven Evaluationsergebnissen sollte das Modell weiter ausgebaut werden.
- Kooperation zwischen Frauenärztinnen bzw. -ärzten und Hebammen fördern
Eine weitere Handlungsempfehlung besteht in der besseren Abstimmung und Kooperation zwischen Frauenärzt*innen und Hebammen bei der Betreuung von Schwangeren. Hier sehen die Expert*innen noch deutlichen Verbesserungsbedarf, vor allem hinsichtlich der Entwicklung einer gegenseitigen „Informationskultur“.
- Kleinräumiges Monitoring der Kaiserschnittentwicklung
In Landkreisen, deren geburtshilfliche Abteilungen deutlich überdurchschnittliche Kaiserschnittniveaus aufweisen, sollte die aktuelle Praxis der Geburtshilfe detaillierter betrachtet werden. Bei gravierenden Auffälligkeiten könnten die zuständigen Stellen für die externe Qualitätssicherung der Krankenhäuser auf Landesebene eine qualifizierte Diskussion mit den Krankenhäusern führen und die Entwicklung der einrichtungsspezifischen Kaiserschnittrate im Weiteren beobachten.
- Erhöhung der Anbieter*innentransparenz
Seit Einführung der verpflichtenden strukturierten Qualitätsberichte ist die Transparenz der Krankenhäuser weiter fortgeschritten (S. 95). Differenzierte Angaben zu den Kaiserschnittraten in Abhängigkeit von Alter der Gebärenden oder vorliegenden Risikofaktoren enthalten die Qualitätsberichte allerdings bislang nicht. Transparenz solcher Informationen würde eine bessere Grundlage zur Diskussion bieten und werdenden Eltern eine Entscheidungsgrundlage für die geeignete Geburtsklinik ermöglichen.
Der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e. V. führte 2018 fünf Interviews mit Chefärzt*innen, die in Abteilungen arbeiten, in denen die Sectiorate deutlich gesenkt werden konnte (Bamberg, Köln, Coesfeld, Delmenhorst und Kassel). Auch wenn die Arbeit keine wissenschaftlich methodischen Ansprüche erfüllt, sind die Inhalte sehr interessant und können in Bezug auf diese Masterarbeit als Denkanstöße genutzt werden. Die Autor*innen betonen, dass es offensichtlich Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum geben muss, wenn Kliniken trotz ähnlichen Risikoprofilen bei den behandelten Schwangeren sehr unterschiedliche Sectioraten aufweisen. Es scheint viel vom „human factor“ abhängig zu sein (S. 3). Zusammenfassend treten vor allem folgende Aspekte in den Interviews hervor:
- Die Verantwortlichen sollten sich auf die Geburtshilfe konzentrieren (können).
- Eine kritische und konstruktive gemeinsame Reflexion der Arbeit im Team sei wichtig.
- Vertrauen und Beziehung zwischen Frauen bzw. Eltern und Geburtshelfer*innen müssten als wichtige Aspekte von Geburt verstanden werden.
- Die „sprechende Medizin“ müsse ernst genommen werden. Es sollte ausreichend Zeit für Gespräche mit den Schwangeren vorhanden sein, um Ängste abzubauen und Vertrauen zu stärken.
- Chefärzt*innen sollten ihren Assistenzärzt*innen eine gute Ausbildung im handwerklichen Sinne ermöglichen, und Vertrauen in die natürliche Geburt vermitteln und dem Team „Rückendeckung“ geben.
- Mehrere Interviewpartner*innen sprachen sich für eine Zentralisierung in der Geburtshilfe aus. In größeren Abteilungen würden sich Chefärzt*innen leichter ausschließlich auf die Geburtshilfe konzentrieren und andere Fachdisziplinen abgeben sowie eine ständige Oberarztpräsenz ermöglichen können.
Auf die Frage, welchen Rat er seinen Fachkolleg*innen geben würde, sagt Chefarzt Dr. med. Andreas Worms aus Kassel: „Vielleicht mehr auf die Hebammen zu hören und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie haben eine etwas andere Denkweise, die manchen Ärztinnen und Ärzten verquer vorkommt, liegen aber oft richtig.“ (S. 25)
2018 veröffentlichte die WHO Empfehlungen nicht‐medizinischer Interventionen zur Reduzierung nicht notwendiger Kaiserschnitte („WHO recommendations non-clinical interventions to reduce unnecessary caesarean sections“ 2018). Sie basieren auf einem Review von Chen et al., das 2011 zum ersten Mal veröffentlicht und im März 2018 zuletzt aktualisiert wurde. Das Team wertete 29 Studien aus, in denen Interventionen untersucht wurden, die sich an werdende Eltern oder die betreuenden Professionen richteten und zum Ziel hatten, die Sectioraten zu senken. Interventionen für die Frauen (S. 66) sind beispielsweise Bildungs- und Unterstützungsprogramme in der Schwangerschaft: Geburtsvorbereitungskurse, professionelle Entspannungstrainings, Psychosoziale Präventionsprogramme für Paare sowie psychologische Schulungen durch Therapeut*in oder eine Hebamme für Frauen mit Ängsten zum Beispiel vor Schmerzen und vor dem Erleben einer vaginalen Geburt. Die Qualität der Evidenz aus den Studien zu diesen Interventionen für Frauen und Paare wurde als niedrig bewertet.
Bei Interventionen, die die Gesundheitsfachberufe betreffen (S. 67), wird die Etablierung evidenzbasierter Leitlinien für die klinische Praxis in Kombination mit einer verpflichtenden Einholung einer Zweitmeinung zum geplanten Kaiserschnitt genannt. Außerdem werden Audits und Feedback zu Kaiserschnitt‐Praktiken sowie von „Meinungsführern“ durchgeführte Schulungen für Gesundheitsfachpersonen vorgeschlagen. Für alle Interventionen, die für die Leistungserbringer*innen genannt werden, besteht ein hoher Grad an Evidenz. Zu guter Letzt werden Interventionen empfohlen, die auf die Gesundheitsorganisationen, -einrichtungen oder -systeme abzielen (S. 67f.). Ärztliche Geburtshelfer*innen und Hebammen sollten in einem interdisziplinären Team zusammenarbeiten. Dabei ist eine primäre Geburtsbetreuung durch Hebammen mit ständiger Bereitschaft eines Arztes im Haus, der nur für die Geburtshilfe zuständig ist, erstrebenswert. Darüber hinaus sind Finanzstrategien als Lösungsansatz denkbar. Konkret sind Versicherungsreformen zum Ausgleich der Honorierung spontaner Geburten und Kaiserschnitte vorgeschlagen. Die Interventionen auf Organisations- beziehungsweise Systemebene haben nur einen geringen Grad an Evidenz und benötigen weiterer Forschung.
Insgesamt sieht das Autor*innenteam weiteren Forschungsbedarf, um Interventionen auf ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Senkung von Sectioraten und andere maternale und fetale Outcomeparameter zu evaluieren (S. 68). Als Ausblick wird betont, dass Frauen, Gesundheitsprofessionen, Gesundheitssysteme und Gesellschaften zusammen daran arbeiten müssten, die Anzahl an nicht notwendigen Kaiserschnitten regional, national und international zu reduzieren.
Genuttis et al. analysierten retrospektiv die Entwicklung der Sectiorate 2008 bis 2014 an der Universitätsfrauenklinik Rostock, einer der größten Geburtskliniken und Perinatalzentren Level 1 Deutschlands (Genuttis et al. 2017). In dem Geburtenkollektiv (n = 20. 091) wurden verschiedene Parameter erfasst und parameterspezifische Sectioraten berechnet. Mittels Regressionsanalyse wurden dann mögliche Risikofaktoren für einen Kaiserschnitt identifiziert. Im untersuchten Zeitraum nahm die Sectiorate von 26,24% auf 23,57% ab. Im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern war im selben Zeitraum ein Anstieg der Sectiorate von 27,6% auf 29,4% zu beobachten (S. 775). Der Rückgang ist auf eine Senkung der Rate an primären Sectiones 69.60% (2008) auf 40.05% (2014) zurückzuführen, wohingegen die Rate an sekundären Sectiones im gleichen Zeitraum anstieg. Auch die Rate der Re-Sectiones ging zurück. Obwohl das Durchschnittsalter der Schwangeren gestiegen ist, war die Sectiofrequenz bei Schwangeren älter als 35 Jahre rückläufig. Das Risiko für eine Sectio wurde erhöht durch eine vorausgegangene Sectio, zunehmendes Alter, präkonzeptionelles Übergewicht und Adipositas, Beckenendlage und Mehrlingsschwangerschaft. Bei Zwillingen und Kindern in Beckenendlagen war ein Trend zur vaginalen Geburtsleitung zu erkennen. In der Studie wurde gezeigt, dass auch ein großes Perinatalzentrum, in dem viele Risikoschwangerschaften betreut werden, eine Senkung der Sectiorate ohne Verschlechterung des neonatalen Outcomes erzielen kann (S. 77). Wie wurde diese Kehrtwende erreicht? 2008 wurde ein Training für Hebammen und ärztliche Geburtshelfer*innen an der Klinik durchgeführt, das helfen sollte zu entschieden, wann eine Sectio indiziert ist (S. 775f.). Außerdem wurden interdisziplinäre pränatale Meetings zwischen der gynäkologischen und neonatologischen Abteilung eingeführt, um über den geplanten Geburtsmodus bei Risikoschwangeren zu beraten. Individuelle Beratungsgespräche durch Ärzt*innen und Hebammen sowie eine interdisziplinäre Konferenz für Fallbesprechungen von Geburtshelfern, Neonatologen und Hebammen bei fetalen Azidosen wurden etabliert. Diese Initiativen haben sich Genuttis et al. zufolge positiv auf die Sectioraten ausgewirkt.
In ihrer Dissertation untersuchte Peißker (2018) retrospektiv Faktoren, die einen Einfluss auf die Sectiorate in Thüringen hatten. 128.366 Geburten der Thüringer Perinatalerhebung von 2004 bis 2012 wurden dafür statistisch ausgewertet. Die Unterschiede in den Kliniken Thüringens waren der Analyse zufolge nicht auf unterschiedliche Risikokonstellationen der Fälle zurückzuführen, sondern vielmehr auf die unterschiedlichen geburtshilflichen Vorgehensweisen der Kliniken sowie auf organisatorische, strukturelle und ökonomische Faktoren (S. 7f.). Die Promovendin leitete aus ihren Analysen ab, dass eine wichtige Maßnahme zur Senkung oder Stabilisierung der Sectiorate sei, den ersten Kaiserschnitt einer Frau möglichst zu verhindern, um damit den Kreislauf von folgenden Re-Sectiones zu durchbrechen (S. 95). Ausführliche und verständliche Aufklärungsgespräche zu Vorteilen und Komplikationen der Spontangeburt und Sectio caesarea sollten erfolgen. Bei Schwangeren mit Vorerkrankungen sei das Angebot einer frühzeitigen, gegebenenfalls auch psychiatrischen, Betreuung zur Vorbereitung auf die Geburt ratsam und bei Schwangeren mit entsprechendem Risikoprofil solle eine Überweisung in ein Perinatalzentrum erfolgen (vgl. auch Schild 2015: 661).
In einer 2020 publizierten Diplomarbeit im Bereich Pflegemanagement wurden relevante Faktoren zur Vermeidung eines Kaiserschnitts in sieben geburtshilflichen Abteilungen in Deutschland mit unterdurchschnittlicher Kaiserschnittrate (unter 20%) untersucht (Bosch 2020). Die Autorin führte Expert*inneninterviews mit Hebammen und Ärzt*innen und fand vier gemeinsame Hauptfaktoren heraus: „Hinwendung zur natürlichen Geburt“, „Frau-zentrierte Betreuung“, „Wir sind ein Team“ und „hohe Fachkompetenz“ (S. 53ff.). Die untersuchten Kreißsäle bieten keine Wunschkaiserschnitte an und verfolgen das Ziel, eine Sectiorate unter 20% aufrechtzuerhalten. Die Forscherin schlussfolgert: „Die Beispiele der untersuchten Kreißsäle stimmen hoffnungsvoll. Sie zeigen, dass es unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Geburtsklinik oder Perinatalzentrum, in altem oder neuem Bundesland, städtischem oder ländlichem Umfeld, einem guten Team gelingt, einer beträchtlichen Anzahl von Frauen und Kindern einen Kaiserschnitt zu ersparen.“ (Bosch 2020: 92)
Gemäß dem in Deutschland geltenden Patientenrechtegesetz sollten Frauen evidenzbasierte Informationen erhalten, um in alle Entscheidungsprozesse, die sich im Verlauf der Schwangerschaft und der Geburt ergeben, einbezogen werden zu können. Der Grad der Partizipation ist von der Situation und der in diesem Zusammenhang zur Verfügung stehenden Zeit abhängig, aber auch von dem Wunsch der Frau, an Entscheidungen beteiligt zu werden (AWMF 2020: 21f.). Im geburtshilflichen Kontext haben partizipative Entscheidungsfindungsprozesse Auswirkungen auf Ängste während der Schwangerschaft, auf die Zufriedenheit mit dem Geburtserleben sowie auf die Sicherheit bei der Wahl des Geburtsmodus (Horey et al. 2013). Inwiefern eine Implementierung von partizipativen Entscheidungsprozessen Auswirkungen auf geburtshilfliche Interventionen und gesundheitliche Folgen für Mutter und Kind hat, muss noch weiter erforscht werden (AWMF 2020: 21f.).
In der Kaiserschnittleitlinie wird empfohlen, dass die Entscheidung über den Geburtsmodus nach Informationen über Vor- und Nachteile von vaginaler Geburt und Sectio caesarea sowie Auswirkungen auf nachfolgende Schwangerschaften und Geburten erfolgen und „nach dem Shared-decision-making-Prinzip in einem zeitlich und räumlich angemessenen Rahmen stattfinden“ sollte (AWMF 2020: 25). Es gibt bislang keine belastbare Evidenz zu der Frage, in welcher Schwangerschaftswoche mit der Beratung zum Geburtsmodus begonnen werden sollte und ob der Zeitpunkt Einfluss auf die Entscheidung hat (AWMF 2021: 21).
Neben der professionellen Beratung im Rahmen der Schwangerenvorsorge oder Geburtsmodusplanung in den Kliniken gibt es weitere Informationsmöglichkeiten für Schwangere zur Wahl des Geburtsmodus. Tegethoff untersuchte 2020 Informationsmaterial zu geburtshilflichen Themen, unter anderen auch zu dem Thema Kaiserschnitt, auf ihre Lesbarkeit für Laien hin. Medizinische Aufklärungsbögen wurden mit leicht auffindbaren Internetquellen verglichen und mithilfe von vorhandenen Messinstrumenten analysiert. Dabei fiel auf, dass ein großer Teil der untersuchten Texte schwierig oder sehr schwierig lesbar ist und vor allem die Aufklärungsbögen diesbezüglich verbessert werden müssten (Tegethoff 2020, S.215). Als Zielgruppe der S3-Leitlinie Sectio caesarea werden an erster Stelle die Frauen selbst genannt. Ihnen solle damit eine Entscheidungsfindung erleichtert werden. Bislang gibt es allerdings noch keine laienverständliche Version und keine Übersetzungen der Leitlinie, weshalb diese Informationsquelle noch nicht für alle Schwangere brauchbar ist.
Die 2015 gegründete gemeinnützige Bundeselterninitiative Mother Hood e.V. stellt seit 2019 eine digitale Deutschlandkarte mit allen geburtshilflichen Abteilungen zur Verfügung, in der die jeweilige Geburtenzahl und Kaiserschnittrate für die Jahre 2015 bis 2018 einer Klinik abgelesen werden kann. Für das Jahr 2018 wurde auch die Rate an Dammschnitten, Zangen- und Saugglockengeburten aufgeführt. Auch bei diesen Parametern fallen Unterschiede auf: Die Rate an vaginal-operativen Entbindungen schwankte 2018 zwischen 0 und 19 Prozent und die Rate an Dammschnitten wurde mit 0 bis 29 Prozent angegeben, wobei nicht alle Kliniken die entsprechenden Daten veröffentlichten. Das Angebot dieser sogenannten „Kaiserschnittkarte“ vereinfacht es Nutzer*innen, übersichtliche und valide Informationen zu erhalten, ohne selbst die Qualitätsberichte der Kliniken lesen zu müssen, die dem Verein als Datenquelle dienten.
Folgend wird ein theoretischer Rahmen erörtert, in dem es besonders um Hebammenarbeit und ihren Einfluss auf public health, insbesondere maternal health, gehen soll. Dieser bietet die Grundlage, die gewonnenen Ergebnisse des Forschungsprojektes zu diskutieren (vgl. Kap. 5.2). Im Rahmen der vierteiligen Lancet-Serie über Midwifery 2014 wurde das empirisch erarbeitete „Framework for quality maternal and new-born care“ von Renfrew et al. vorgestellt (2014a: 4, vgl. Abb. 5). Es beschreibt die gesundheitliche Versorgung durch Hebammen auf fünf Ebenen (deutsche Übersetzung angelehnt an Loytved und Berger 2017: 6):
1. Versorgungskategorien («practice categories»)
2. Organisation der Versorgung («organisation of care»)
3. Werte («values»)
4. Philosophie/Leitbild («philosophy»)
5. Betreuende («care providers»)
Die Analyse geht von den Bedürfnissen der Frauen, Kinder und Familien aus und nicht primär von denen der Leistungserbringer*innen oder des Systems. Es wird unterschieden, was getan wird, wie es getan wird und wer es tut (S. 12f.). Das Rahmenkonzept konzentriert sich auf die Bedürfnisse aller Frauen und Neugeborenen und spezifiziert Aspekte der Versorgung für diejenigen mit Komplikationen.
Bei der Versorgungspraxis wird unterteilt in die Versorgung aller werdenden Mütter und Kinder und solcher mit Komplikationen. So sind beispielsweise Wissensvermittlung, Informationen, Gesundheitsberatung sowie Anamnese, Screening, Betreuungsplan und Förderung der physiologischen Vorgänge allen Frauen und Kindern zu gewährleisten. Direkte Hilfe („first line management“) und spezielle geburtshilfliche und kinderärztliche Hilfe sind bei auftretenden Komplikationen zusätzliche Aspekte der Versorgung.
Unter dem Punkt der Organisation der Versorgung wird aufgeführt, dass Angebote vorhanden, erreichbar, anerkannt und von guter Qualität sein sollten. Adäquate Ressourcen, kompetente Fachpersonen, eine kontinuierliche Betreuung und miteinander vernetzte Versorgungseinrichtungen sind weitere Unteraspekte. Ein Beispiel ist die Einführung hebammengeleiteter Modelle bei der Versorgung Schwangerer und Gebärender (Sandall et al. 2016: 3ff.).
Die Hauptkomponente Werte umfasst Respekt, Kommunikation, Kenntnisse des sozialen Umfeldes sowie Verständnis der Betreuenden. Die Versorgung sollte immer auf die individuellen Bedürfnisse der Familie zugeschnitten sein.
In der Kategorie Philosophie/Leitbild wird dargelegt, dass biologische, psychologische, soziale und kulturelle Prozesse von den Leistungserbringer*innen optimal zu gestalten sind. Ressourcen und Fähigkeiten der Beteiligten sollen gestärkt werden und eine vorausschauende Versorgung angestrebt werden, in der Interventionen nur bei Indikation eingesetzt werden (Renfrew et al. 2014a: 7f.).
Die Spalte der Betreuenden schließlich beinhaltet, dass Fachpersonen klinisches Wissen und Können und zwischenmenschliche Kompetenzen vereinen. Rollen- und Verantwortungsaufteilung sollten nach Kompetenzen, Ressourcen und Bedarf gestaltet werden.
Das Modell beschreibt evidenzbasiert die Bedürfnisse der Nutzer*innen, definiert die Bandbreite von „Midwifery care“ und identifiziert Komponenten qualitativ hochwertiger Versorgung, die gestärkt werden müssen. Es kann genutzt werden, um Versorgungsqualität zu bewerten, Personalplanung zu gestalten, Forschungslücken aufzuzeigen sowie um Curricula zu entwerfen und Ressourcenallokation zu betreiben (Renfrew et al. 2014b: 4).
Die Autor*innen fordern einen Wechsel auf Systemebene – weg von einer Fokussierung auf Identifikation und Behandlung von Pathologien hin zur professionellen Behandlung für alle: „skilled care for all“ (S. 13). Mit diesem Blickwinkel soll die Dichotomie ‘low-risk’ und ‘high-risk’ durchbrochen werden. Midwifery spielt die zentrale Rolle bei diesem Ansatz. Es wird kritisch angemerkt, dass sich maternale und neonatale Gesundheitsversorgung häufig noch stark auf die Bereitstellung von medizinischen Interventionen bei lebensbedrohlichen Komplikationen konzentriert. Dies deckt allerdings nur einen Bruchteil der Bedürfnisse der zu versorgenden Gruppe ab und verpasst zudem die Chance, solche Komplikationen erfolgreich zu verhindern. Es gilt daher, die Prävention und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Versorgung zu stärken.
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1 Die Verwendung des Begriffs Hebamme auch für männliche Vertreter des Berufsstandes entspricht dem Gesetz über das Studium und den Beruf von Hebammen (Hebammengesetz - HebG)
2 Doula: nicht-medizinische Hilfsperson/Geburtsbegleiterin
3 GEK= Gmünder Ersatzkasse
4 OR: Odds Ratio: Statistisches Maß, um ein Chancenverhältnis bzw. relatives Risiko zu beschreiben.
5 Placenta accreta: vor dem inneren Muttermund lokalisierte Plazenta
6 Verwachsung der Plazenta mit der Gebärmuttermuskulatur
7 Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Statistischen Bundesamtes (2020)
8 Eigene Darstellung auf Basis der Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2020)
9 Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Science Media Center Germany gGmbH (2020)
10 Geburtshilfliche Abteilungen sind in Deutschland in 4 Versorgungskategorien eingeteilt, je nachdem, welche maternalen und neonatalen Komplikationen dort behandelt werden können: Es gibt Perinatalzentren der Level 1 und 2, Perinatale Schwerpunkte und Geburtskliniken
11 Eigene Darstellung basierend auf selbst ermittelten arithmetischen Mittelwerten anhand der Daten von Science Media Center Germany gGmbH (2020)