Bachelorarbeit, 2021
40 Seiten, Note: 2,5
1. Einleitung
2. Bindungstheoretische Grundlagen
2.1 Bindung
2.2 Bindungs- und Explorationsverhalten
2.3 Fürsorgesystem und Bindungsentwicklung
2.4 Inneres Arbeitsmodell
2.5 Bindungsqualität
2.5.1 Differenzierung der Bindungsstile
2.5.2 Bindungsstil als Risiko- und Schutzfaktor
3. Stationäre Hilfen zur Erziehung
3.1 Zielgruppe
3.2 Rechtliche Grundlage
3.3 Betreuungsformen
4. Unsicher-gebundene Kinder in stationären Hilfen zur Erziehung
4.1 Pädagogisches Handeln im Umgang mit unsicher-gebundenen Kindern
4.2 Fachkräfte als sichere Basis
4.2.1 Zur Korrigierbarkeit innerer Arbeitsmodelle
4.2.2 Schutzfaktoren und Resilienzförderung
4.2.3 Zur Organisation und Unterbringung
5. Fazit
Literaturverzeichnis
87.036 junge Menschen wurden Ende 2019 in Heimen und sonstigen Wohnformen der stationären Erziehungshilfe betreut (vgl. Statistisches Bundesamt [Destatis], 2020a, S. 19), das sind rund 10 % der deutschen Bevölkerung.
Betrachtet man die innerhalb eines Jahres begonnen Hilfen der Heimerziehung, so lagen diese im Jahr 2008 noch bei 32.198. Seither stiegen sie kontinuierlich aufwärts. Insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 wurde ein deutliches Plus um jeweils 10 und 12 Tausend Hilfen verzeichnet, sodass sie 2016 einen Höchststand von 61.764 erreichten und sich damit im Vergleich zum Jahr 2008 beinahe verdoppelten. Dieser enorme Anstieg kann zum einen mit der hohen Zahl der unbegleiteten, geflüchteten Kinder und Jugendlichen, welche gleichermaßen einen staatlichen Anspruch auf die Betreuung in Heimen oder sonstigen Wohnformen besitzen, erklärt werden (vgl. Destatis, 2017, o. S.). Zum anderen stiegen in selbigen Jahren zeitgleich die Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls, wodurch sich die Zahlen ebenfalls durch den Schutzauftrag der Erziehungshilfe begründen lassen (vgl. Destatis, 2020b, S. 23). Auch sollte angemerkt werden, dass seit 2016 ein Abwärtstrend der begonnenen Heimerziehungen festzustellen ist (vgl. Destatis, 2020a, S. 61). Für die aktuelle Abnahme sind jedoch vor allem die Zahlen der Inobhutnahmen der unbegleiteten Flüchtlinge ausschlaggebend, welche sich seit dem Höchststand im Jahr 2016 bis 2019 um ganze 80 % reduziert haben (vgl. Destatis, 2020c, o. S.). Parallel dazu steigen aber sowohl die Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung, als auch die tatsächlichen Zahlen der Gefährdung des Kindeswohls kontinuierlich und sind insbesondere in den letzten zwei Messzeiträumen schlagartig auf einen derzeitigen Höchststand gestiegen (vgl. Destatis, 2020d, o. S.). Gerade von diesen Betroffenen werden knapp ein Drittel in ein neues Zuhause, wie zum Beispiel in eine Einrichtung der stationären Erziehungshilfe, vermittelt (vgl. Destatis, 2020c, o. S.).
Deutlich wird aus diesen Zahlen, dass Heimerziehung jetzt und in absehbarer Zukunft in unserer Gesellschaft eine unabdingbare Erziehungshilfemaßnahme ist und sein wird. Dabei soll sie ein positiver Lebensort für junge Menschen, die aufgrund ihrer individuellen Lebenslage diese Form von Hilfe benötigen, sein (vgl. Günder, 2000, S. 25). Folglich stellen sich allgemein die weitläufigen Fragen wie dieser positive Lebensort geschaffen werden kann, welche Bedürfnisse sich ergeben und vor allem welches die Faktoren sind, die die Wirksamkeit dieser Erziehungshilfe beeinflussen. In zahlreichen Untersuchungen wurden daher bereits die direkten Empfänger/innen dieser Erziehungshilfemaßnahme, also die betroffenen Kinder und Jugendlichen, unter Berücksichtigung unterschiedlichster Gesichtspunkte näher betrachtet. Auch lag es in diesem Zuge nahe, die entwicklungspsychologische Theorie der Bindung, welche sich insbesondere mit den Folgen einer Trennung der primären Bindungsperson beschäftigt, und ferner dessen unterschiedlichen Bindungsqualitäten im Kontext der Fremdunterbringung, zu untersuchen. Es bestätigte sich, dass die jungen Menschen, welche in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe leben, überwiegend unsicher bis hochunsicher gebunden sind (vgl. Schleifer & Müller, 2002, S. 756). Dabei ist empirisch belegt, dass eine unsichere Bindung die kindliche Entwicklung und somit das weitere Leben eines Menschen nachhaltig beeinflussen kann. Des Weiteren gilt sie als Risikofaktor für die psychische Gesundheit, mit der Gefahr schwerwiegende psychopathologische Störungen auszubilden (vgl. Bowlby, 2018, S. 22, 28; Lengning & Lüpschen, 2019, S. 66). Fraglich ist, wie die Erkenntnisse der Bindungstheorie mit der Praxis der Heimerziehung verbunden werden können. Was soll und kann Heimerziehung leisten? Wie kann dieser Risikofaktor vermindert werden oder sich gar auflösen lassen? Und was können die zuständigen Fachkräfte in der stationären Hilfe hierfür leisten? Aus diesen Unterfragen ergibt sich die spezifische Forschungsfrage dieser Arbeit: Wie lassen sich negative Bindungserfahrungen von Kindern in der stationären Hilfe zur Erziehung korrigieren?
Die Forschung im Bereich der stationären Erziehungshilfe hat, wie oben deutlich wurde, einen hohen Stellenwert. Sie soll den Blick für die gegenwärtige Thematik öffnen und damit einhergehend Anregungen zur Angebotsgestaltung und Anpassung bieten, mit dem Ziel die Effizienz der stationären Erziehungshilfe zu erhöhen, um somit schlussendlich den daraus hervorgehenden jungen Menschen ein nachhaltig positives Leben zu ermöglichen. Einen Anhaltspunkt hierfür soll die vorliegende Arbeit liefern, indem sie versucht zu erörtern, welchen Stellenwert Bindung im Kontext der stationären Erziehungshilfe einnimmt und inwiefern sich die negativen Bindungserfahrungen der betroffenen Kinder dort korrigieren lassen. Hierbei wird der Schwerpunkt insbesondere auf den bindungstheoretisch abgeleiteten Möglichkeiten und Herangehensweisen der pädagogischen Mitarbeitenden im pädagogischen Umgang mit den bindungsunsicheren Kindern liegen.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, sich der entwickelten Fragestellung wissenschaftlich zu nähern, indem anhand von vorhandenen theoretischen sowie empirischen Daten diese analysiert, interpretiert, zusammengeführt und diskutiert werden sollen. Auf den bindungstheoretischen Hintergrund wird im Folgenden eingegangen.
Die Bindungstheorie ist eine Theorie der Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie mit hoher praktischer Relevanz, an welcher im Verlauf der vergangenen 55 Jahre bereits intensiv geforscht wurde (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 8; Schleiffer, 2015, S. 11). Sie beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, warum „Menschen dazu tendieren, sich auf enge emotionale Beziehungen einzulassen und inwieweit die psychische Gesundheit einer Person beeinflusst wird, wenn diese Beziehungen beeinträchtigt, unterbrochen bzw. beendet werden“ (Lengning & Lüpschen, 2019, S. 9). Hauptbegründer dieser Theorie war der britische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1907-1990) (vgl. Schleiffer, 2015, S. 14).
Die zunächst vorherrschende Idee, das angeborene Bedürfnis eines Kindes eine enge emotionale Beziehung zur Mutter zu suchen, sei lediglich auf den Nahrungstrieb zurückzuführen (vgl. Bowlby, 2018, S. 19; Schleiffer, 2014, S. 27), erwies sich als schlichtweg unwahr. Nach Bowlby sei das Bedürfnis einer Bindungsbeziehung ein primäres Bedürfnis und somit unabhängig vom dem der Nahrungsaufnahme (vgl. Bowlby, 2018, S. 21; Schleiffer, 2014, S. 27). Dies konnte so bereits auch in dem bekannten Experiment von dem Verhaltensforscher H. Halow an Rhesusaffenjungen nachgewiesen werden. Der Versuch zeigte, dass die Tiere unübersehbar an der Trennung ihrer Mutter litten. Weiter noch bevorzugten sie nach der Trennung sowie in Angstsituationen die Nähe einer mit Fell bespannten Attrappe, statt der einer ohne Fell, welche hingegen die Möglichkeit der Nahrung bot. Darüber hinaus erwies sich ebenfalls, dass durch die Attrappe zwar das Sicherheitsbedürfnis befriedigt werden konnte, aber der fehlende reale soziale Kontakt in langfristige Folgen mündete. Die Affenjungen entwickelten dauerhafte Verhaltensstörungen, die auch später nicht behoben werden konnten. Bekamen sie selbst Junge, so fehlten ihnen die nötigen Kompetenzen diese aufzuziehen. (Vgl. Bowlby, 2018, S. 21; Grossmann & Grossmann, 2012, S. 46-49; Schleiffer, 2014, S. 27-28)
Vermuten lässt sich, dass die Intention Bowlbys damit einhergeht, dass dieser selbst negative Erfahrungen in seiner Kindheit sammelte. So seien die Beziehungsstrukturen in seiner Familie von einem häufig abwesenden Vater über eine eher kaltherzige Mutter bis hin zu einem eigenen Aufenthalt in einem Internat geprägt. Sein Interesse an Bindung und Verlust verfolgte ihn sein gesamtes Leben. So absolvierte er unter anderem ein Praktikum in zwei, nach A. Niell von antiautoritärer Erziehung geprägten, Heimen und vermutete durch seine Beobachtungen, dass die Verhaltensauffälligkeiten dieser Kinder mit ihren bisherigen Lebenserfahrungen in ihren Herkunftsfamilien in Bezug gesetzt werden müssten. Auch müsse somit den Eltern, insbesondere der Mutter, eine entscheidende Rolle zukommen. Diese Erkenntnis war zur Zeit der traditionellen Freud‘schen Psychoanalyse, welche das auffällige Verhalten hingegen auf triebgesteuerte Wünsche zurückführte, nahezu bahnbrechend. (Vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 9-10; Schleifer, 2014, S. 1720)
John Bowlby betonte also bereits zu seiner Zeit die Wichtigkeit von Eltern-Kind-Beziehungen und die andauernden Folgen, welche sich aus einer Trennung ergeben können (vgl. Bowlby, 2018, S. 38). So untersuchte er, gemeinsam mit der amerikanischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth, die den ersten empirischen Beweis Bowlbys Theorie lieferte, verschiedene Familienbeziehungen, die eine gesunde oder gestörte kindliche Entwicklung beeinflussen (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 10). Im weiteren Verlauf, etlichen Untersuchungen, Feldbeobachtungen und der Verbindung unterschiedlicher psychoanalytischer, ethologischer, kognitiver und systemtheoretischer vorhandener Ansätze konstruierte Bowlby die Bindungstheorie als sein Lebenswerk (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 9-10; Schleiffer, 2014, S. 17-20).
Die Bindungstheorie findet ihren Ursprung daher in englischsprachigen Publikationen. Hier ist insbesondere die Trilogie Bowlbys als erste ausführliche Fassung „Attachment and Loss“ zu nennen, welche als „Bindung“ (1969), „Trennung“ (1973) und „Verlust“ (1980) in Deutschland herausgegeben wurde. Weiter im deutschsprachigen Raum lieferten insbesondere K. Grossmann & K. Grossmann, welche lange Zeit als einzige Arbeitsgruppe der deutschen Bindungsforschung tätig waren, G. Sprangler & P. Zimmermann, L. Ahnert und K-H. Brisch entscheidende Publikationen.
Schaut man sich die Theorie genauer an, so lässt sich zunächst die Definition von Bindung betrachten. Bindung ist „[...] eine enge emotionale, länger andauernde Beziehung zu bestimmten Menschen, die nach Möglichkeit sowohl Schutz bieten als auch unterstützend wirken [...]“ (Lengning & Lüpschen, 2019, S. 11). Somit entwickelt ein Säugling durch das biologisch und evolutionär vorprogrammierte Bindungssystem (vgl. Bowlby, 2018, S. 5) in den ersten Lebensjahren eine emotionale Bindung an eine Hauptbindungsperson, welche ihm angrenzend an die Sicherheitstheorie von W. Blatz (vgl. Lengning & Lüp- schen, 2019, S. 10), vorwiegend das Überleben sichern soll (vgl. Hohmann-Jeddi, 2017, o. S.). Die Hauptbindungsperson, auch primäre Bindungsperson genannt, ist dabei jene, welche sich erstrangig um das Kind kümmert und die meistgenutzte Ansprechperson darstellt. Dies ist typischerweise die Mutter, jedoch können auch Bindungserfahrungen mit weiteren Bindungspersonen gemacht werden, wenn die Hauptbindungsperson beispielsweise nicht anwesend ist. Dabei entwickelt sich für das Kind eine Hierarchie an Bindungspersonen. (Vgl. Grossmann & Grossmann, 2012, S. 71-72; Lengning & Lüpschen, 2019, S. 11, 35) Für die Entwicklung einer Bindung ist es daher unerlässlich, dass die Bindungsperson mit dem Kind vielfach in Interaktion steht (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 10).
Eine Bindungsbeziehung ist im Gegensatz zu einer herkömmlichen Beziehung dadurch gekennzeichnet, dass das Kind in schützender Reichweite der Bindungsperson verbleibt. Fühlt sich das Kind in einer Situation bedroht, so aktiviert sich das Bindungssystem zum Schutz vor Gefahren und das Kind zeigt das sogenannte Bindungsverhalten. Unter Bindungsverhalten werden jegliche Verhaltensweisen verstanden, welche darauf abzielen, die physische oder psychische Nähe zu einer vermeintlich kompetenteren - die in Bowl- bys Worten „strong and wiser“ ist - nämlich der Bindungsperson herzustellen oder aufrecht zu erhalten. Das kann zum Beispiel das Suchen der Bindungsperson, Rufen, Hinlaufen, Weinen oder Festklammern sein. Neben Bedrohung können auch weitere Auslöser von Bindungsverhalten Angst, Müdigkeit, Krankheit, Stress, Schmerzen oder neue unbekannte Reize sein. (Vgl. Bowlby, 2018, S. 21, 47; Hohmann-Jeddi, 2017, o. S.; Lengning & Lüpschen, 2019, S. 11-12)
Eingestellt werden diese Verhaltensweisen erst, wenn das Bindungssystem durch das Erreichen von Schutz und Sicherheit wieder deaktiviert wurde (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 121). Bindungsverhalten ist dabei nicht auf das Kindesalter begrenzt, wenngleich es in diesem am sichtbarsten wird. Auch im Jugend- bis ins Erwachsenenalter wird selbiges, hier oftmals versteckt oder gegenteilig, beobachtbar (vgl. Schleiffer, 2014, S. 16-17). Somit stellt es ein regelhaft aktivierbares Verhalten dar (vgl. Bowlby, 2018, S. 4). Des Weiteren sind an das Bindungsverhalten ebenfalls altersunabhängig Gefühle gekoppelt. So äußern sich Lebensfreude und Sicherheit in positiven Gefühlen, wohingegen Gefahr, Eifersucht, Angst, Wut oder Trennung Kummer auslöst. Auch Gefühle zielen gleichermaßen darauf ab, die Bindung und Gefühlsbeziehung aufrechtzuerhalten. (Vgl. ebd., S. 5, 62) Wenn Kinder die emotionale Sicherheit ihrer Bindungsperson bekommen, so ist es ihnen möglich zu explorieren, da sie über das Wissen verfügen, im Zweifelsfall jederzeit zu ihrer „sicheren Basis“, der Bindungsperson, zurückkehren zu können. Diese sichere Basis ist daher die Voraussetzung dauerhafter psychischer Stabilität (vgl. ebd., S. 9, 35). Das Bindungsverhalten steht somit komplementär zum Explorationsverhalten. Fühlt sich ein Kind sicher und wohl, so kann das Explorationsverhalten aktiviert werden und es wird ihm möglich, seine Umwelt frei zu erkunden. Ist diese Sicherheit nicht gegeben, wird zunächst das Bindungsverhalten aktiviert und das Explorationsverhalten eingestellt. Bindungs- und Explorationssystem schließen sich demnach gegenseitig aus. Somit dient die Bezugsperson als sichere Basis, um die Umwelt spielerisch erkunden zu können und folglich für die kindliche Entwicklung notwendige Lernerfahrungen zu sammeln. (Vgl. Bowlby, 2018, S. 48; Lengning & Lüpschen, 2019, S. 12)
Da Säuglinge selbst noch nicht die Nähe einer Bezugsperson aufsuchen können, bemüht sich diese gewöhnlich von sich aus (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 13). Die Ursache hierfür bildet das Verhaltenssystem der sogenannten elterlichen Fürsorge. So steht auch hier komplementär zum Bindungssystem das Fürsorgesystem. Dieses zielt darauf ab, die Bedürfnisse nach Nähe und emotionaler Sicherheit des Kindes zu befriedigen, dessen Emotionen zu regulieren und ihm erste Lernerfahrungen zu ermöglichen. Dabei beruft sich die Bindungsperson zunächst generell auf frühere Fürsorgeerfahrungen, welche jedoch bei neuen Erfahrungen verändert werden können. (Vgl. Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 121, 123)
Um der Fürsorge und somit den Bedürfnissen der Kinder nachzugehen, sind die Bezugspersonen auf kindliche Signale wie Weinen, Lächeln oder Blickkontakt angewiesen. So beeinflussen die auf das Signalverhalten ausgerichteten Reaktionen die frühkindliche Bindungsentwicklung. Verhalten sich die Bezugspersonen feinfühlig, so entwickelt das Kind eine optimistische Annahme, dass seine Bedürfnisäußerungen sowohl wahrgenommen als auch befriedigt werden und es wird weiterhin seine Gefühle offen kundgeben. Feinfühliges Verhalten zeichnet sich dabei insbesondere durch die Schnelligkeit, die Dauerhaftigkeit und die Angemessenheit auf kindliche Signale zu reagieren aus (vgl. Bowlby, 2018, S. 64; Lengning & Lüpschen, 2019, S. 24). Wird sich dahingegen ablehnend verhalten, so wird dies zu einer negativen Einstellung führen. Das Kind erlebt seine Wirkungslosigkeit, welche zur Unterdrückung der kindlichen Gefühle führt und im späteren Verlauf Auswirkungen auf das Bewältigungsverhalten in schwierigen Situation nehmen kann. (Vgl. Bowl- by, 2018, S. 37; Hohmann-Jeddi, 2017, o. S.; Lengning & Lüpschen, 2019, S. 13-14)
Die Feinfühligkeit der Bindungsperson nimmt daher zentralen Einfluss auf die Qualität der Bindung, welche genauer in Kapitel 2.5 betrachtet werden soll.
Für die Bindungsentwicklung eines Kindes sind insbesondere die ersten Lebensjahre von großer Bedeutung. So entwickelt sich die Bindung von einfacher Nutzung angeborener Signale über aktives Suchen nach Nähe der Bezugsperson über die Planung des eigenen Verhaltens nach Erwartungen an diese bis hin zu einer reziproken Beziehung zur Bindungsperson. Schaut man sich die Bindungsentwicklung genauer an, so lässt diese sich in vier Phasen differenzieren.
Die erste Phase stellt die sogenannte „Vor-Bindungsphase“ dar. Bis zu einem Alter von etwa sechs Wochen hat ein Kind noch keine Bindung aufbauen können. Somit empfindet es in der Regel auch noch keine negativen Gefühle, wenn es in Unerreichbarkeit der Mutter oder bei Fremden ist. Die angeborenen kindlichen Signale, also das Bindungsverhalten, wie zum Beispiel Weinen, ermöglichen ihm in Interaktion mit anderen zu treten. (Vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 14-15; Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 124)
Die „beginnende Bindung“ ist die zweite Phase der Bindungsentwicklung, welche sich im Alter von etwa sechs Wochen bis zu sechs oder acht Monaten verorten lässt. In dieser Phase - wie der Name bereits vorweg nimmt - beginnt ein Kind nun eine Bindung einzugehen. Es ist inzwischen in der Lage, zwischen Fremden und verschiedenen Familienmitgliedern zu differenzieren. So kann es zum Beispiel bereits eine bestimmte Person bevorzugen, dessen Nähe jedoch noch nicht aktiv aufsuchen. (Vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 14-15; Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 124)
Die dritte Phase wird „eigentliche Bindungsphase“ benannt. In der Zeit vom sechsten oder achten Monat bis zum anderthalbten, zweiten, teilweise bis zum dritten Lebensjahr, wird es dem Kind durch die eigenständige Fortbewegung nun möglich, aktiv die Nähe der Bindungsperson zu suchen. Auch die Möglichkeit sich zielgerichtet zu verhalten, beispielsweise mittels erster Sprachversuche, verhelfen dem Kind sein Verhalten auf das zu erwartende Verhalten der nun spezifischen Bindungsperson auszurichten. Ab sofort kann die Bindungsperson als sichere Basis fungieren, sodass die Möglichkeit die Umwelt zu explo- rieren gegeben ist. (Vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 14-15; Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 124)
Die vierte und letzte Phase ist die „zielkorrigierte Partnerschaft“, in welcher sich ab dem anderthalbten bis zweiten Lebensjahr eine wechselseitige, aufeinander bezogene Beziehung zwischen dem Kind und dessen Bindungsperson entwickelt. Erstmals ist das Kind in der Lage, die Sichtweise seiner Bindungsperson einzunehmen und erlangt das empathische Verständnis, dass dessen Verhalten Gefühle oder Motive zugrunde liegen. Das Bindungsverhalten ist nun flexibel. Jegliche Verhaltensweisen der Bindungsperson werden dabei in konzeptuellen Plänen innerhalb des inneren Arbeitsmodells gespeichert sowie gefestigt. (Vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 14-15; Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 124)
Wie eben erwähnt, bildet sich simultan mit der Entwicklung der Bindung und durch das Zusammenspiel von Bindungssystem und Fürsorgesystem ebenfalls das innere Arbeitsmodell eines Kindes aus (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 28). Ein solches Arbeitsmodell stellt „eine zur Wirklichkeit in Relation stehende Abbildung der Umwelt und des Selbst auf mentaler Ebene“ (Strauß, 2014, S. 40) dar. Darüber hinaus beinhaltet dieses Vorstellungen und Erwartungen über Erlebnisse mit anderen Personen. Mit der Zeit bildet sich demnach ein Konstrukt über die eigene, individuelle Wirklichkeit, das eigene Verhalten und dabei eben auch über die Sichtweise und die Reaktionen der Bindungsperson. Mit anderen Worten: Im inneren Arbeitsmodell werden all jene Informationen der bisherigen Bindungserfahrungen zusammengefasst und gespeichert, die nun Auskunft über die eigene Person, wie zum Beispiel die Liebenswürdigkeit, sowie über Interaktionserfahrungen, wie etwa der Vertrauenswürdigkeit, geben. Die Entwicklung des inneren Arbeitsmodells beginnt somit bereits bei dem ersten Kontakt der Bezugsperson. Fortan wird jede Beziehungserfahrung mit dieser Person im kindlichen Gedächtnis gespeichert (vgl. ebd., S. 4041). Dabei beinhaltet es sowohl kognitive als auch affektive Komponenten. Das Wissen über die Bindungserfahrungen kann bewusst oder auch oftmals unbewusst sein. Hierbei ist das innere Arbeitsmodell individuell und unterscheidet sich demnach beispielsweise von Kindern, welche die gewünschte Reaktion auf ihr Bindungsverhalten erhalten zu denen, bei welchen dies nicht zutreffend ist. Darüber hinaus beeinflusst das individuelle innere Arbeitsmodell auch die kindlichen Gefühle sowohl gegenüber der Bindungsperson als auch gegenüber sich selbst. Durch die gespeicherten Erwartungen an die Verhaltensweisen der Bindungspersonen ermöglicht das innere Arbeitsmodell dem Kind, eine Situation zu bewerten und sein eigenes Verhalten dahingehend zu planen und an die Realität anzupassen. Es entsteht somit eine Voreingenommenheit, die „die Verarbeitung und den Umgang mit der Wirklichkeit und sich selbst stark beeinfluss[t]“ (ebd., S. 41). Folglich dient es als eine Art Anleitung für kommende bindungsrelevante Situationen. So wird ein Kind, das stets Ablehnung beim Weinen erfahren hat, dies in seinem Arbeitsmodell abgespeichert haben und nun das Verhalten nicht mehr zeigen, da es keine Linderung des Stresses, sondern eine schmerzhafte Erfahrung erwartet. Somit beeinflussen die gespeicherten Erfahrungen neben dem Verhalten auch das emotionale Erleben und dessen Regulation (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 58). Da das Kind bereits häufig mit einer derartigen Reaktion konfrontiert war, wird es - wenn auch unbewusst - dieselbe Erwartungshaltung gegenüber fremden Personen aufweisen. (Vgl. ebd., S. 28-30)
Da neben der Hauptbindungsperson auch Beziehungen zu anderen Personen aufgebaut werden, kann das innere Arbeitsmodell in verschiedene Teilmodelle gegliedert werden, worunter diese Erfahrungen ebenfalls gespeichert werden. Der Aufbau solcher Teilmodelle beinhaltet außerdem, dass das Verhalten je nach Person variieren kann. Vor allem zu Beginn sind die entstandenen Modelle ständiger Überprüfung unterzogen, sodass sie zumindest anfänglich teils noch eigenständig korrigiert werden. (Vgl. Strauß, 2014, S. 41) Dennoch werden die organisierten internalen Arbeitsmodelle grundsätzlich als stabil, also einmal organisiert und dann gleichbleibend, betrachtet. Es liegt nahe, dass sie dadurch nur schwer veränderbar sind. So zeigen auch einige Längsschnittstudien eine Langzeitstabilität des Bindungsstils von etlichen Jahren (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 128; Schleiffer, 2015, S. 38). Grund dafür kann zum einen das nicht zugängliche Bewusstsein dessen, zum anderen die Wechselwirkung des eigenen Verhaltens zu dem der Bindungsperson sein. Da die Bindungsperson meist ihr Verhalten grundsätzlich nicht verändert, erhält sich das Bindungsmuster somit selbst aufrecht (vgl. Bowlby, 2018, S. 50; Lengning & Lüpschen, 2019, S. 30). Wie bereits genannt, wird das innere Arbeitsmodell auch beim Aufbau neuer Bindungsbeziehungen herangezogen und beeinflusst somit die Interaktion mit der Erwartung, dass die neue Person entsprechend des eigenen Selbstbildes, welches sich aus den gespeicherten Erwartungen ergibt, die eigene Person wahrnimmt. Eben diese Vorstellungen beeinflussen dann das Verhalten des Gegenübers. So wird dieses erneut entsprechende Verhaltensweisen zeigen, die das Kind als Bestätigung seiner Erwartung vernimmt, weshalb sich auch hier erneut das Bindungsmuster bekräftigt. (Vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 30-31)
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