Bachelorarbeit, 2021
48 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Konzepte kultureller Identität und Postkoloniale Theorie
2.1 Traditionelles Kulturverständnis – Kugelmodell versus Netzmodell
2.2 Multikulturalität und Interkulturalität
2.3 Transkulturalität
2.4 Die postkoloniale Theorie Homi K. Bhabhas - Hybridität im Third Space
2.4.1 Cultural Difference und Third Space
2.4.2 Cultural Hybridity und Ambivalence
2.4.3 Cultural Translation und Mimicry
2.5 Zwischenergebnis und kritische Betrachtung
3. Soziokultureller Hintergrund – die génération beur
3.1 Die Soziogenese der Beurs - Immigration und Integration in Frankreich
3.2 Orte der Selbstbehauptung und kulturelle Ausdrucksformen der Beurs
3.3 Le ‚ roman beur ‘ – Zwischen Fiktion und Autobiographie
3.4 Der Autor Azouz Begag
4. Le Gone du Chaâba - kulturelle Identifikation in der Kindheit
4.1 Der Titel - Zugehörigkeit zu beiden Kulturen
4.2 Le Chaâba als Verortung der arabischen Kultur
4.3 Kulturelle Konflikterfahrungen in der Schule
4.4 Kulturelle Identität durch Sprache
4.5 Français et Arabe oder auch ni Français ni Arabe
5. Béni ou le paradis privé - kulturelle Identifikation in der Adoleszenz
5.1 Die doppelsinnige Bedeutung von Titel und Namen
5.2 Die Frage nach der Herkunft
5.3 Konflikterfahrungen mit dem Vater - ‚Heimat‘ und kulturelles Erbe
5.4 Erfahrung von Diskriminierung und Selbstbehauptung auf der Straße
5.5 La comédie – ein neuer Identitäts-Raum für Hybridität
6. Die Darstellung kultureller Identität und Hybridität bei Begag
7. Schlussbetrachtung
8. Literaturverzeichnis
Kulturelle Identität ist im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung, durch Migration und Mobilität und den daraus resultierenden Verlust an familiären und sozialen Bindungen als komplexes Phänomen zu verstehen. Hinzu kommt, dass in modernen Gesellschaften mehrere kulturelle Identitäten auf ganz unterschiedliche Weisen miteinander sowohl komplementär, aber auch widersprüchlich verflochten sind. Besonders Einwanderungsländer, wie auch Frankreich mit seiner kolonialen Vergangenheit und mehreren Migrationsperioden, sind von dieser Problematik betroffen, die insbesondere von der in den 1980er Jahren sich in Frankreich als neue Literaturform entwickelten littérature beur thematisiert wird.
Ein grundlegendes Thema der littérature beur ist der Gegensatz zwischen der französischen und der ‚arabischen‘ Kultur, wie auch von Azouz Begag in seinen Romanen dargestellt: Während die Republik Frankreich annimmt, die Einwanderer politisch und kulturell integrieren zu können, finden sich die maghrebinischen Einwanderer in einer intoleranten Gesellschaft wieder. Dies konnte ich in meinem Erasmusjahr in Aix/Marseille, sowie bei einem Praktikum in Montpellier erleben. Das Leben der Einwanderer in den banlieues, die zu einem Synonym für Drogen und Kriminalität geworden sind, ihr Gefühl von Ausgrenzung, ist ein ungelöstes soziales Problem Frankreichs mit ganz aktuellen politischen Bezügen. Die sich dagegen wendende littérature beur, rückt den „divided sense of identity“1 ins Zentrum und möchte einen inklusiven kulturellen und sprachlichen Raum schaffen, um die „écarts d’identité“2 zu überwinden. Diese Überwindung ist möglich mit den anti-essentialistischen Denkansätzen Homi Bhabhas, einem Hauptvertreter der postcolonial studies. Sein nicht einfach zu verstehendes Konzept der (kulturellen) Hybridität, abgeleitet aus literaturwissenschaftlichen Analysen im englischsprachigen Raum, und begründet auf dem Kolonialismus Großbritanniens und dem Verhältnis zu Indien, kann durchaus auf frankophone Literatur übertragen werden.
In dieser Arbeit soll nun der Versuch unternommen werden, die kulturelle Identitätsproblematik in den Romanen Begags aus postkolonialer Perspektive darzustellen.
Kulturelle Identität ist eng verbunden mit dem Begriff der kollektiven Identität, dem Zusammengehörigkeitsgefühl zu einer sozialen Gruppe oder einem kulturellen Kollektiv. Sie hat auch mit dem Begriff Heimat zu tun, nämlich der „Möglichkeit des Rückgriffs auf […] vertraute Strukturen. Das ist es, was Identität ermöglicht, und zwar sowohl personale wie kollektive Identität.“3 Im Folgenden soll zunächst kurz auf das traditionelle Kulturverständnis und auf das Konzept der Multi- und Interkulturalität eingegangen werden, um dann im Besonderen die Konzeption kultureller Identität im postkolonialen Diskurs darzustellen.
Nach Herder wird „Kultur […] als geschlossene Einheit verstanden, wobei der Einzelne in einen sozialen Verband eingebunden ist und sich mit diesem Kollektiv die Sinngrenzen teilt“4. Sein Kugelmodell ("jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“5 ) weist eine interne Homogenität und obligat eine äußere Abgrenzung auf. Innerhalb einer solchen Einheit wird „jede Handlung und jedes Objekt zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur“6. Im Umkehrschluss wird alles andere zu einem Teil einer fremden Kultur. Diese Dichotomie zwischen Eigenem und Fremdem erschwert die Kommunikation. Wolfgang Welsch folgert daraus: „Kulturen, die im Stil von Kugeln verfasst oder verstanden sind, müssen einander abstoßen und bekämpfen.“7
Der bereits sehr moderne Kulturbegriff des Philosophen Ludwig Wittgenstein wendet sich von diesem eher „separatistischen“8 Verständnis bereits ab. Ihm zufolge stellt Kultur „eine Sphäre der Gemeinsamkeiten dar, [deren] Ränder […] unscharf und veränderlich“9 sind. Wittgenstein verwendet die Metapher eines Netzes, das an den Rändern Anknüpfungspunkte bietet und Überlappungen zulässt. Dieser Vernetzungsprozess wird durch Kommunikation zwischen Menschen ermöglicht und führt zu einer Vielfalt kultureller Formen. Entgegen dem Herderschen Kulturbegriff führt die Begegnung mit anderen Kulturen nicht zur Abstoßung, sondern trägt zu einem „offenen Entwicklungsprozess von Kulturen“10 bei. Bei diesem Kulturbegriff rücken differenzierende Merkmale verschiedener Kulturen in den Hintergrund, während der Fokus auf Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten liegt.
Das Konzept der Multikulturalität wendet sozusagen das separatistische Kulturverständnis auf die „Partialkulturen“11 innerhalb einer Gesellschaft an. Unterschiedliche Kulturen existieren demnach homogen und wohlabgegrenzt nebeneinander, ohne sich zu durchmischen. Obwohl Multikulturalität grundsätzlich zwischen den einzelnen Kulturen vermitteln und ein harmonisches, funktionierendes Miteinander herstellen möchte, kann es durch die Existenz „separate[r] Entitäten“12 zu Ghettoisierung benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen kommen. Insbesondere dann, wenn die gesellschaftliche Macht ungleich verteilt und ein Gleichgewicht der Kulturen seitens der dominanten kulturellen Gruppen unerwünscht ist. Multikulturalität basiert somit noch auf dem Herderschen Kulturbegriff. Individuen werden als Vertreter eines ethnisch bestimmten und in sich homogenen Kollektivs verstanden. Somit werden Differenzen zwischen kulturellen Gruppen nach wie vor betont und die Unterscheidung in Eigenes und Fremdes gefördert.
Das Konzept der Interkulturalität geht über die Vorstellung eines bloßen Nebeneinander-Existierens hinaus und strebt einen Dialog zwischen den Kulturen an. Diese sollen sich „über die ihnen jeweils zuzurechnenden Individuen miteinander verständigen“13. Innere Differenzierungen werden dabei aber weitgehend ignoriert. Nach Welsch ist dieser interkulturelle Dialog zum Scheitern verurteilt, da der „heutigen Hermeneutik […] zufolge […] Verstehensmöglichkeiten prinzipiell auf die eigene Herkunft beschränkt“14 sind. Der Anglist Heinz Antor widerspricht Welschs These. Die Interkulturalitätsforschung gehe nicht von einer grundlegenden „Oppositionalität von Kulturen“15 aus, sondern versuche „bei allem Differenzbewusstsein deren friedliches, kommunikativ dialogisches Miteinander [zu] fördern“16. Dennoch bleibt festzuhalten, dass auch das Konzept der Interkulturalität die heutige Komplexität und Wechselwirkung zwischen den Kulturen nicht erfasst und daher neue Konzepte erforderlich sind.
„[D]ie Beschreibung heutiger Kulturen als Inseln bzw. Kugeln ist deskriptiv falsch und normativ irreführend. Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr die Form der Homogenität und Separiertheit, sondern sie durchdringen einander, sie sind weithin durch Mischungen gekennzeichnet.“17
Das vom Anthropologen Fernando Ortiz bereits in den 1940er Jahren eingeführte und von Welsch weiterentwickelte Konzept der Transkulturalität löst die inselartige Trennung zwischen Einzelkulturen auf, und statt der Unterschiede werden Gemeinsamkeiten in den Vordergrund gerückt. Das Transkulturalitätskonzept vereint als Übergangsprozess zwei Momente: „die fortdauernde Existenz von Einzelkulturen und den Übergang zu einer neuen, transkulturellen Form der Kulturen.“18 Dieses permeative Konzept beschreibt eine immer stärkere Durchdringung - eine Hybridisierung - der Kulturen auf allen Ebenen: der der Bevölkerung, der der Waren und auch der digitalen Informationen.19
Transkulturalität lässt sich sowohl auf einer gesellschaftlichen als auch auf einer individuellen Ebene beobachten. Gesellschaftlich zeigt sich zum einen, dass zeitgenössische kulturelle Lebensformen nicht mehr an Ländergrenzen („Nationalkulturen“20 ) enden. Welsch spricht von einer „externe[n] Vernetzung der Kulturen“21, bei der sich über die Grenzen hinaus, Kulturen durchdringen und durch Mischungen gekennzeichnet sind. Als Folge der Globalisierung und Digitalisierung, durch Migration und Mobilität treten Veränderungen auf, die laut Welsch zu einer „Auflösung der Eigen-Fremd-Differenz“ innerhalb von Kulturen führen, in denen „Fremdes und Eigenes ununterscheidbar geworden“22 ist:
„Die Trennschärfe zwischen Eigenkultur und Fremdkultur ist dahin. In den Innenverhältnissen einer Kultur existieren heute ähnlich viele Fremdheiten wie in ihrem Außenverhältnis zu anderen Kulturen. Das heißt nicht, dass es Eigenes und Fremdes gar nicht mehr gäbe. Aber deren Auffassung ist radikal zu verändern: weg von den nationalen Stereotypen hin zu individueller Eigenheit und Fremdheit.“23
Über die gesellschaftliche Ebene hinaus zeigt sich auch eine transkulturelle Prägung auf der individuellen Ebene. Die meisten Mitglieder einer Gesellschaft sind laut Welsch „kulturelle Mischlinge“, die nicht mehr nur „durch eine Heimat, sondern durch Einflüsse verschiedener Herkünfte geprägt sind“24. Dies beeinflusst nicht nur die „Hochkultur“ (z.B. Literatur, Musik, Essen), sondern wirkt sich auf das alltägliche Leben der Menschen und ihre üblichen Praktiken aus. Transkulturalität bestimmt somit heute die „kulturelle Identitätsbildung der Individuen […] ohne sie vorab national oder geographisch zu klassifizieren.“25 Welsch betont: „intrakulturell bestehen sehr ähnlich geartete und ähnlich viele Unterschiede wie interkulturell.“26 Daraus schlussfolgernd sei es obsolet geworden, dass die kulturelle Prägung bzw. „die kulturelle Formation eines Individuums schlicht durch dessen Heimat oder Nationalität bzw. Staatsangehörigkeit bestimmt sein müsse.“27 Es müsse vielmehr zwischen einer persönlich-kulturellen Identität und einer regionalen bzw. nationalen Identität unterschieden werden, also eine „Entkoppelung von kultureller und nationaler Identität“28 stattfinden. Dabei werde insbesondere die ‚Nationalkultur‘ immer im Sinne einer Staatsgeografie, also einem politischen Gebilde gedacht und das, obwohl sich politische und kulturelle Geographien nicht mehr decken.29
Transkulturalität kann aber ökonomisch-politische Machtprozesse nicht aufheben. Demgegenüber versuchen postkolonialistische Ansätze dieses Machtgefüge zu überwinden und streben nach dem Ideal einer transnationalen sozialen Gerechtigkeit.
Die postkoloniale Theorie untersucht kulturelle Identität im sozio-historischen Kontext und dem darauf basierenden Verständnis der Interdependenzen und Verflechtungen beim Zusammentreffen von Kulturen. Insbesondere das differenzbetonte Kulturverständnis, das sich im postcolonial turn herausgebildet hat, soll in den Blick genommen werden.
Wegweisend für diesen Denkansatz des postcolonial turn wurde Edward W. Saids Orientalism (1978). Er analysiert darin, wie das Europa des 19. Jahrhunderts den ‚Orient‘ als Negativfolie zur Definition des ‚Eigenen‘ nutzt, zum Zweck „eigener Identitätsbildung des ‚Westens‘.“30 Entscheidender für die aktuelle Analyse und die Problematik des Kulturkontaktes ist jedoch Homi K. Bhabha in der Tradition des postkolonialen Vordenkers Frantz Fanon. Beeinflusst von poststrukturalistischen und psychoanalytischen Ansätzen wie beispielsweise von Foucault, Derrida, Freud und Lacan, gehört Bhabha neben Said und Spivak „zur ‚Holy Trinity of colonial-discourse analysis‘, die maßgeblich postkoloniales Denken in den Literatur- und Kulturtheorien geprägt hat.“31
Der in Indien geborene Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha stellt in The Location of Culture (1994) dem traditionellen Kulturverständnis sein Konzept der kulturellen Hybridität bzw. der kulturellen Differenz entgegen. Bhabhas Ansatz ist als Gegendiskurs zum imperialistisch-hegemonialen Machtdiskurs der Kolonialisierung zu sehen. Aus der Perspektive literaturwissenschaftlicher Textanalyse werden postkoloniale Denkfiguren beschrieben, die dem Diskurs um Identität und nationalem Selbstverständnis eine neue Orientierung geben.
Die sperrigen Schlüsselkonzepte und Begrifflichkeiten sind jedoch nicht selbsterklärend und nur unter Zuhilfenahme der Sekundärliteratur lässt sich das theoretische Gedankengebäude durchdringen. Wegen ihrer sehr eigens von Bhabha ausgewählten Bedeutung, wird im Folgenden auf eine Übersetzung der Bhabha‘schen Terminologie verzichtet und seine Begriffe werden im Original verwendet. Das Konzept wendet sich besonders gegen die Vorstellung naturgegebener, monolithischer Kulturen als homogene Entitäten und löst sich damit von den Konzepten der Multi- und Interkulturalität.
Analog zu Welsch versteht Bhabha „Kulturen nicht als stabile, historisch invariante Entitäten“32, sondern vielmehr als dynamische, gleitende, vielfältige und vor allem hybride Gebilde, die einem kontinuierlichen Prozess der (Wieder-)Herstellung unterliegen.33 Durch diesen dynamischen Prozess („signifying process“34 ) erzeugen Kulturen laut Bhabha ständig neue Bedeutungen und Inhalte und stellen keine „natürliche Gegebenheit“ dar, weil „cultural difference do[es] not derive […] discursive authority from anterior causes - be it human nature or historical necessity“35. Sie erscheinen durch permanente Diskurse verhandelt und konstruiert. Cultural Difference meint dabei nicht kulturelle Diversität, sondern stellt vielmehr ein neues Konzept für die kulturelle Identität dar, dessen „konfliktärer Charakter“36 zu betonen ist.
„Cultural diversity is an epistemological object - culture as an object of empirical knowledge - whereas cultural difference is the process of the enunciation of culture as 'knowledgeable', authoritative, adequate to the construction of systems of cultural identification“37.
Cultural Difference ist somit nicht das ethnographische Beschreiben der unterschiedlichen Kulturen mit empirischen Methoden, als Objekte empirischen Wissens, sondern ein performativer Prozess der Kulturäußerung zur Herstellung kultureller Identität.
„What is at issue is the performative nature of differential identities: the regulation and negotiation of those spaces that are continually, contingently, 'opening out', remaking the boundaries, exposing the limits of any claim to a singular or autonomous sign of difference - be it class, gender or race. Such assignations of social differences – where difference is neither One nor the Other but something else besides, in-between.“38
Dieses in-between ist der sogenannte Third Space, der Ort des Entstehens von Hybridität. In dieser durchaus instabilen, nur gedachten Grenzzone zwischen den Kulturen, dem liminal space, treffen Menschen mit unterschiedlichem Wissen und mit unterschiedlichen Erfahrungen aufeinander und ermöglicht so diskursiv die Entstehung neuer Bedeutungen:
„It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew.“39
Bhabha vergleicht den Third Space auch mit einem ‚Treppenhaus‘, in dem das Hin und Her, die Verbindung zwischen Oben und Unten, die Bewegung und der Übergang, einen Raum eröffnen, der soziale Begegnungen ermöglicht, in dem binäre Gegensätze umgangen werden und Difference ohne Hierarchie bestehen kann:
„The stairwell as liminal space, in-between the designations of identity, becomes the process of symbolic interaction, the connective tissue that constructs the Difference between upper and lower, black and white. The hither and thither of the stairwell, the temporal movement and passage that it allows, prevents identities at either end of it from settling into primordial polarities. This interstitial passage between fixed identifications opens up the possibility of a cultural Hybridity that entertains Difference without an assumed or imposed hierarchy.“40
Cultural Hybridity ist mit dem Konzept des Third Space im Sinne einer „metaphorischen Konkretion“41 eng verknüpft. Sie ist, wie bereits ausgeführt, als eine Art produktiver Kulturkontakt zu denken, bei dem es zu permanenten Vermischungen und Sinnverschiebungen kommt. Sie erzeugt keinen harmonischen Ausgleich zwischen Kulturen, sondern ist angelegt als etwas Drittes, Neues, Ambivalentes. Abzugrenzen ist Cultural Hybridity von einer dialektischen Synthese der Kulturen, die inhärente Spannungen friedlich auflöst und natürlich auch, wie bereits gezeigt, vom Konzept der Multikulturalität.
Nach Struve kann Hybridity sowohl als Diskurs-Raum als auch als Raum der Handlung und des Widerstands gedacht werden:42 „it is the space of intervention emerging in the cultural interstices that introduces creative invention into existence.“43
Im kolonialen Kontext bedeutet dieser Widerstand „jene ambivalente ‚Verwandlung‘ des Untertanen/Subjektes in das schreckenerregende, entstellte Objekt paranoider Klassifikation – eine beunruhigende Infragestellung der Bilder und Präsenzformen der Autorität. („Hybridity represents that ambivalent turn of the discriminated subject into the terrifying, exorbitant object of paranoid classification - a disturbing questioning of the images and presences of authority“44 ). Hybridisierungen führen also durchaus zu Verunsicherungen bei allen Beteiligten des kulturellen Kontaktes und zu einer Krise der Autorität.45
Hybride Grenzerfahrungen können jedoch auch mit existenziellen und aggressiven Emotionen aufgeladen sein, die Anlass für die Argumentationsfigur des The Clash of Civilizations von Samuel P. Huntington gegeben haben.46
Auf der subjektiven Ebene funktioniert Cultural Hybridity wie in Absatz 2.4.1 bereits für den Third Space ausgeführt als der „zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen“47. Das Subjekt ist dabei durch eine immanente Ambivalence gekennzeichnet, die es durch die Identifikation mit dem Anderen konstitutiv in sich trägt.48
Mit Cultural Translation ist bei Bhabha nicht nur der übliche Vorgang einer Übersetzung von einer Sprache in eine andere gemeint, der dann auch Missverständnisse, sprachliche Verwechslungen und Neuschöpfungen beinhaltet, sondern vielmehr jede Übertragung und Verhandlung kultureller Äußerungen und Lebensumstände innerhalb und zwischen Kulturen durch den Prozess der Hybridisierung. In diese „translationalen Prozesse“49 werden scheinbar stabile kulturelle Normen mit einbezogen und führen zu Veränderungen auf beiden Seiten: „[…] the transformational value of change lies in the rearticulation, or translation, of elements that are neither the One […] nor the Other […] but something else besides, which contests the terms and territories of both.“50
Das Konzept der Cultural Translation ist auch für die Subjekte insofern relevant, als es ihre Selbstfindung, ihr Selbstbewusstsein, aber auch die Solidarität fördert, und hilft, Minoritäten-Diskurse zu führen: „For it is by living on the borderline of history and language, on the limits of race and gender, that we are in a position to translate the Differences between them into a kind of solidarity.“51
Vor diesem Hintergrund ist auch die Strategie der Mimicry zu bewerten, die ebenso ein Prozess der Transformation darstellt. Das kulturell Andere wird vom ‚kolonisierten‘ Subjekt täuschend ähnlich nachgeahmt, aber – ähnlich wie bei der Cultural Translation – bleibt immer ein unerreichbarer Rest übrig52: „ almost the same but not quite […] almost the same but not white “.53 Die (post-)koloniale Identität kann nicht abgelegt werden und bleibt damit als „recognizable Other, […] a subject of a difference “.54
Mimicry als eine Form der partiellen Repräsentation ist Tarnung („camouflage“55 ), keine Assimilation, es geht um Ähnlichkeit mit gleichzeitiger Abweichung. Hierdurch deutet Bhabha an, dass der „gesamte […] Begriff der Identität neu artikuliert und Essenz entfremdet“56 werden muss.
The Location of Culture und der darin entwickelte spezifische Ansatz im postkolonialen Denken bietet spannende Einsichten zu Fragen der kulturellen Identität, zu Nationen, Kolonialismus, Globalisierung, Rassismus und Migration. Bhabhas sperrige, hypertheoretischen dekonstruktivistischen Konzeptionen wurden interdisziplinär intensiv diskutiert und kritisiert. Für seine literaturwissenschaftlich hergeleitete Theoriebildung nutzt er im Wesentlichen Beispiele aus der britischen Kolonialherrschaft in Indien, wobei er betont, dass die koloniale Gegenwart („the on-going colonial present“57 ) fortbesteht. Interessanterweise beruft sich Bhabha immer wieder in seinen Arbeiten auf den postkolonialen Vordenker Frantz Fanon. Dieser hat als gebürtiger Franzose aus Martinique, mit Studium in Lyon, aktiv im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite Algeriens gekämpft. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte Fanon seine antikolonialen bzw. postkolonialen Konzepte, deren zentrales Thema die Überwindung von Rassismus und Kolonialismus waren. Auch heute noch sind diese Themen im Einwanderungsland Frankreich, besonders in Bezug auf die algerischen Einwanderer der ersten und zweiten Generation von großer Bedeutung. Im nächsten Kapitel soll nun die Situation dieser Bevölkerungsgruppe dargestellt und der Autor Azouz Begag vorgestellt werden.
Seit den 1970er Jahren hat sich, „von der Pariser Banlieue ausgehend, zwischen der hexagonalen und der maghrebinischen Kultur eine transkulturelle ‚Beur‘-kultur entwickelt.“58 Unter der Bezeichnung beur59 versteht man die Kinder der maghrebinischen Immigranten in Frankreich. Sie sind nordafrikanischer Herkunft, die meisten sind in Frankreich geboren und geprägt von der französischen Kultur. Diese sogenannten „second-generation immigrants“60 - eine eigentlich unzutreffende Bezeichnung, da sie ja nie eingewandert sind - müssen sich mit ihrem doppelten Anderssein auseinandersetzen und eine eigene persönliche Identität finden.
[...]
1 Hargreaves, Alec G.: Voices from the North African Community in France: Immigration and Identity in Beur Fiction, Oxford/New York: Berg 1991, S. 2.
2 Begag, Azouz; Chaouite, Adellatif: Écarts d'identité, Paris: Seuil (Point Virgule) 1990, S. 25.
3 Bronfen, Elisabeth; Marius, Benjamin: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Bronfen, Elisabeth; Marius, Benjamin & Steffen, Therese (Hrsg.): Hybride Kulturen : Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg Verlag 1997, S. 1.
4 Krüger, Susanne: Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität. Mestiçagem als transkultureller Sonderweg, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2020, S. 146.
5 Herder, zitiert nach Welsch; in Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität? in: Darowska, Lucyna; Machold, Lüttenberg, Thomas & Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Differenz, Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 40.
6 Welsch, W.: Ebd., 2010, S. 40.
7 Welsch, W.: Ebd., 2010, S. 41.
8 Welsch, Wolfgang: Transkulturelle Gesellschaften, in: Merz-Benz, Peter-Ulrich; Wagner, Gerhard (Hrsg.): Kultur in Zeiten der Globalisierung. Neue Aspekte einer soziologischen Kategorie, Frankfurt a.M.: Humanities Online 2005, S. 42.
9 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen, in: VIA REGIA – Blätter für internationale kulturelle Kommunikation (20), 1994, S. 16.
10 Krüger, S.: Ebd ., S. 218.
11 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 44.
12 Antor, Heinz: Multikulturalismus, Interkulturalität und Transkulturalität: Perspektiven für interdisziplinäre Forschung und Lehre, in: Antor, Heinz (Hrsg.): Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S. 29.
13 Antor, Heinz: Inter- und Transkulturelle Studien in Theorie und Praxis: Eine Einführung, in: Antor, Heinz (Hrsg.): Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S. 45.
14 Welsch, W.: Ebd., 2010, S. 7.
15 Antor, H.: Ebd., 2006, S. 29.
16 Antor, H.: Ebd., 2006.
17 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 47.
18 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 54.
19 Vgl. Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 49.
20 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 48.
21 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 48.
22 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 49f.
23 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 50f.
24 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 52.
25 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 52f.
26 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 53.
27 Welsch, W.: Ebd., 2005.
28 Welsch, W.: Ebd., 2005.
29 Welsch, W.: Ebd., 2005, S. 54.
30 Vgl. Bronfen, E.; Marius, B.: Ebd., S. 6.
31 Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2013, S. 9.
32 Struve, K.: Ebd., S. 41.
33 Vgl. Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript Verlag 2020, S. 258f.
34 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London: Routledge 1994, S. 12.
35 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 219.
36 Castro Varela, M.d.M.; Dhawan, N.: Ebd., S. 258.
37 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 34.
38 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 219.
39 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 37.
40 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 4.
41 Struve, K.: Ebd., S. 121.
42 Vgl. Struve, K.: Ebd., S. 109.
43 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 9.
44 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 113.
45 Vgl. Struve, K.: Ebd., S. 112.
46 Vgl. Struve, K.: Ebd., S. 113.
47 Bhabha zit. in Struve, K.: Ebd., S. 117.
48 Vgl. Struve, K.: Ebd.
49 Struve, K.: Ebd., S. 132.
50 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 28.
51 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 170.
52 Vgl. Struve, K.: Ebd., S. 144.
53 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 89.
54 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 86.
55 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 90.
56 Bhabha zit. in Struve, K.: Ebd., S. 147; Bhabha, H. K.: Ebd.: „‘partial’ representation rearticulates the whole notion of identity and alienates it from essence“, S. 89.
57 Bhabha, H. K.: Ebd., S. 128.
58 Grimm, Jürgen: Französische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2006, S. 470.
59 Vgl. Grimm, J.: Ebd.: „Die Bezeichnung ‚beur‘ geht auf eine Inversion des Wortes ‚arabe‘ in der Jugendsprache des verlan zurück und wird im Zuge der Politisierung der beurs in den 80er Jahren vom Schimpfwort zur programmatischen Autoproklamation erhoben“, S. 471.
60 Hargreaves, Alec G.: Ebd., S. 1.
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