Bachelorarbeit, 2021
96 Seiten, Note: 1,3
1 Einleitung und Problemstellung
2 Theoretischer Hintergrund und Bezugsrahmen
2.1 Notfallsanitäter
2.1.1 Rechtlicher Hintergrund
2.1.2 Kompetenzen und Grenzen
2.2 Patientensicherheit
2.2.1 Definition von Patientensicherheit
2.2.2 Gefährdung durch Fehler
2.3 Critical Incident Reporting System
2.3.1 CIRS als Instrument des Risikomanagements
2.3.2 Chancen und Risiken
3 Ziele und Fragestellung
4 Methodisches Vorgehen
4.1 Datenbanken
4.2 Suchbegriffe und Recherche
4.3 Ein- und Ausschlusskriterien
4.4 Bewertung der Studienqualität
4.5 Vorgehen bei der Analyse
5 Ergebnisse
5.1 Eingeschlossene Studien bzw. Literatur
5.2 Ergebnisse der Analyse
5.3 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.4 Ergebnisse in zyklischem Bezug zu den Forschungsfragen
6 Diskussion
6.1 Diskussion der Ergebnisse
6.2 Diskussion des methodischen Vorgehens
7 Schlussfolgerungen
8 Literaturverzeichnis
9 Abbildungsverzeichnis
10 Tabellenverzeichnis
11 Abkürzungsverzeichnis
12 Anhänge
Zusammenfassung
Hintergrund. Der Beruf der Notfallsanitäter_Innen ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer Professionalisierung des Rettungsdienstes, welcher gleichzeitig mit einem großen Kompetenz- und Verantwortungsgewinn verbunden ist. In diesem Rahmen sind die Notfallsanitäter_Innen verpflichtet, eigenverantwortlich invasive Maßnahmen durchzuführen, wodurch auch die Gefahr aufkommen kann, die Patientensicherheit mit den neuen Möglichkeiten zu gefährden.
Ziel. Durch diese Literaturarbeit möchte der Autor den Nutzen eines Critical Incident Reporting System identifizieren und eine Verbindung zur präklinischen Patientensicherheit bei der Behandlung durch Notfallsanitäter_Innen herstellen. Dabei steht der pädagogische Lernansatz mit einer offenen Fehlerkultur im Vordergrund.
Methode. Bei dieser integrativen Literaturarbeit ist eine Recherche internationaler Literatur durchgeführt worden. Der Ausschluss von Studien wird mittels Prisma Flow Diagramm dargestellt. Mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Elo und Kyngäs (2008) wurden die Studien offen kodiert, in Kategorien eingeteilt und induktiv abstrahiert. Abschließend wurde die Studienqualität anhand von Dixon-Woods (2006) auf ihre Güte hin beurteilt.
Ergebnisse. Es konnten 15 Publikationen identifiziert werden. Hier stellten 12 einen direkten Bezug zur präklinischen Versorgung dar. Die Studien legen nahe, dass das Personal in knapp ⅔ aller Fälle für vermeidbare, fehlerhafte Handlungen verantwortlich ist. Ein anonymes Critical Incident Reporting System hilft Fehlermuster und -ursachen aufzudecken, sowie organisatorische Sicherheitsrisiken festzustellen. Der Autor regt an, dass eine offene Fehlerkultur eingeführt und gelebt werden müsste, um Lern- und Lösungsansätze zu suchen und das „Name-Blame-Shame-Paradigma“ zu beenden.
Diskussion. Ein anonymes Fehlermeldesystem kann organisatorische Schwachstellen aufzeigen, woraus sich Chancen für ein bisher ungenutztes Verbesserungspotential ergeben. Kommunikation und Umgang mit Medikamenten sind Fehlerschwerpunkte, die sich mit Aus- und Fortbildung verhindern lassen. Ein offener Umgang mit Fehlern kann die Patientensicherheit steigern.
Fazit. Mit dieser Arbeit erfolgt eine erste Ergebnisübersicht und Herstellung von Zusammenhängen, in Hinblick auf ein Critical Incident Reporting System für Notfallsanitäter_Innen in Deutschland zu internationalen Rettungsdiensten und Krankenhäusern. Auf dem Weg zur Professionalisierung der Notfallsanitäter_Innen kann die Perspektive der Patientensicherheit eine bedeutsame Rolle einnehmen. Hierzu kann ein CIRS genutzt werden, um unterschiedliche Fehlermuster zu erkennen und prospektiv verhindern zu können. Mit der Erkenntnis aus Fehlern lernen zu wollen, kann die Patientensicherheit gesteigert werden. Die derzeitige Studienlage ist sehr begrenzt und sollte aufgrund der hohen Bedeutung zukünftig intensiviert werden.
Background. The profession of emergency paramedic is a milestone on the way to a professionalization of the rescue service, which is at the same time associated with a great gain in competence and responsibility. Within this framework, emergency paramedics are obliged to perform invasive measures on their own responsibility, which can also lead to the risk of endangering patient safety with the new possibilities.
Objective. Through this literature review, the author aims to identify the benefits of a Critical Incident Reporting System and connect it to prehospital patient safety when treated by emergency paramedics. The focus is on the educational learning approach with an open error culture.
Method. In this integrative literature review, a search of international literature has been conducted. The exclusion of studies is presented using Prisma Flow Diagram. Using Elo and Kyngäs (2008) qualitative content analysis, studies were open coded, categorized, and inductively abstracted. Finally, study quality was assessed for goodness of fit using Dixon-Woods (2006).
Results. Fifteen publications were identified. Here, 12 directly related to prehospital care. The studies suggest that staff are responsible for preventable, erroneous actions in ⅔ of all cases. An anonymous Critical Incident Reporting System helps uncover error patterns and causes, as well as identify organizational safety risks. The author suggests that an open error culture would have to be introduced and lived in order to seek learning and solution approaches and to end the "name-blame-shame-paradigm".
Discussion. An anonymous error reporting system can identify organizational weaknesses, resulting in opportunities for previously untapped potential for improvement. Communication and handling of medications are areas of error that can be prevented with education and training. Dealing openly with errors can increase patient safety.
Conclusion. This work provides an initial overview of the results and establishes connections with regard to a Critical Incident Reporting System for emergency paramedics in Germany, international rescue services and hospitals. On the way to the professionalization of emergency paramedics, the perspective of patient safety can play a significant role. For this purpose, a CIRS can be used to identify different error patterns and to be able to prevent them prospectively. With the recognition of learning from mistakes, patient safety can be increased. The current study situation is very limited and should be intensified in the future due to its high importance.
„Suche nicht nach Fehlern, suche nach Lösungen.“
Henry Ford (1863 – 1947)
Die Bundesrepublik Deutschland hat den Ruf international eines der modernsten und leistungsfähigsten, aber auch komplexesten Gesundheitswesen seiner Art zu haben. Allgemein zeichnet sich die Gesundheitsversorgung dabei sowohl durch einen guten Zugang, als auch durch einen umfassenden Leistungskatalog und einem hohen Niveau an Gesund-heitsleistungen aus. Im Mittelpunkt dieses Verständnisses stehen die Gesundheitsleistungen, bei denen eine ärztliche Dienstleistung im Vordergrund steht(Busse et al., 2017, S. 2).
Der Rettungsdienst (RD) in Deutschland (DE) ist als notarztgestütztes System zwischen den Ärzten_Innen und nichtärztlichem Fachpersonal im prähospitalen Bereich bekannt. Gerade die medizinischen Entwicklungen und das zeitlich verzögerte Eintreffen vom RD bei dem Unfalltod von Björn Steiger im Jahr 1969 öffneten vielen die Augen. Der 8-jährige Björn wurde auf dem Rückweg vom Schwimmbad von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Obwohl der Notruf von Passanten direkt abgesetzt wurde, dauerte es 56 Minuten, bis der Rettungswagen (RTW) eintraf. Björn starb auf dem Weg ins Krankenhaus an einem vermeidbaren Volumenmangelschock(Steiger, 2021).
Die Zeit bis zur medizinischen Versorgung ist in der Notfallmedizin der entscheidende Faktor, der darüber entscheidet, ob die Patienten_Innen überleben oder sterben(Pfütsch, 2020, S. 9)[1]. Von 1989 an, waren die Rettungsassistent_Innen (RA) als Helfer der Notärzte_Innen (NÄ) als Transportführer_In auf dem RTW eingeteilt. Die selbstständige Anwendung erweiterter Notfalltherapien durch RA ist regional zutiefst unterschiedlich und von stark berufspolitisch geprägten Diskussionen überlagert. So hat die Bundesärztekammer (BÄK) bereits 1992 Empfehlungen im Rahmen der Notkompetenz veröffentlicht, welche den Einsatz auserwählter Medikamente vorgesehen hatten. Diese Empfehlungen sollten als Handlungsanleitung interpretiert werden, jedoch hatten sie keinen rechtsverbindlichen Charakter. Den RA wurde dennoch die endotracheale Intubation ohne Relaxantien, die Frühdefibrillation, die Venenpunktion und das Verabreichen von wenigen auserwählten Medikamenten nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zugestanden. Rechtlich ist diese Notkompetenz unter dem juristischen Hilfskonstrukt vom § 34 Strafgesetzbuch (StGB) als rechtfertigender Notstand einzuordnen und zur Begründung heranzuziehen, da die RA mit ihrem Handeln gegen das Heilpraktikergesetz verstießen(Bundesvereinigung der Arbeits-gemeinschaften der Notärzte Deutschlands – BAND e.V., 1992; Pfütsch, 2020, S. 19–20).
Während 2005 noch 8,4 Millionen Einsatzfahrten des RD und 1,6 Millionen Notarzteinsätze erfasst wurden, stiegen die Zahlen im Vergleich zu 2013 deutlich an. Im Jahr 2016/17 stiegen die Einsatzzahlen insgesamt bereits auf 13,9 Millionen. Die Einsatzfahrten des RD steigerten sich um 21,5% auf 10,7 Millionen, während die Einsatzzahlen für die NÄ um 23,8% auf 2,1 Millionen anwuchsen. Gleichzeitig lässt sich keine relevante Zunahme der kritisch kranken oder verletzten Patienten erkennen(Gries et al., 2017, S. 307–309). Dies beträgt eine Einsatzrate von 169 Einsätzen pro 1000 Einwohner und Jahr, wodurch nochmal eine Steigerung von 15% seit dem Jahr 2012/13 eingetreten ist. Insgesamt wurden davon 52,5% als Notfalleinsätze eingestuft. Des Weiteren zeigen Schmiedel und Behrendt in der Verteilung des Einsatzaufkommens in der Bundesrepublik DE auf, dass die Besatzungen von einem RTW internistische Notfälle zu 66% und chirurgische Notfälle zu 80% alleine abarbeiten(Schmiedel & Behrendt, 2019, S. 22-25). Im Durchschnitt trifft die Besatzung mit ihrem RTW nach 9 Minuten am Einsatzort ein. Zu 95% schaffen es die Teams innerhalb von 17 Minuten und 40 Sekunden. Bei 5% der Notfalleinsätze trifft der RTW später ein. Gleichzeitig wurden auch die Eintreffzeiten von den bodengebundenen NÄ ausgewertet. Dementsprechend trifft der Notarzt (NA) im Mittel nach 13 Minuten und 50 Sekunden am Einsatzort ein. Zu 95% können die NÄ den Notfallort nach 30 Minuten und 30 Sekunden erreichen, allerdings weisen 5% aller Notarzteinsätze aus dem Jahr 2016/17 eine Eintreffzeit von mehr als 30 Minuten und 50 Sekunden auf. Bei 140.000 Einsätzen trafen die NÄ somit erst nach über 30 Minuten an der Einsatzstelle ein. Das hat zur Folge, dass das medizinische Fachpersonal die Notfallbehandlung nahezu komplett eigenverantwortlich übernimmt und die Patienten behandelt(Schmiedel & Behrendt, 2019, S. 48–50). Außerdem betonen zusätzlich mehrere Berichte, dass Notarztstandorte nicht mehr zuverlässig besetzt werden können. Während in Nordsachsen im Jahre 2014 36 Dienste nicht besetzt werden konnten, waren es im Jahre 2017 bereits 286 Dienste zu jeweils 12 Stunden(Jacob, 2018, S. 1). In Bayern kam es dazu im Zeitraum vom 01.12.2019 bis zum 06.01.2020 an 195 Notarztstandorten zu 551 Ausfällen. Zusammen ergaben das 5830 Stunden, an denen ein regulär geplanter NA nicht zur Verfügung stand(Bayerisches Rotes Kreuz, 2020, S. 1). Bereits im Jahr 2010 konnte Kopetsch im Auftrag der BÄK und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) dazu darlegen, dass dem deutschen Gesundheitswesen aufgrund des demografischen Wandels die Ärzte ausgehen. So werden bis zum Jahre 2020 etwa 23.768 der knapp 51.000 Hausärzte altersbedingt ausscheiden; viele der Hausärzte werden im Zuge dessen Probleme bekommen, einen Nachfolger für ihre Praxis zu finden. Aufgrund der Eisbergform in der Altersstruktur wird sich die Problematik in den kommenden Jahren nicht entschärfen. Dazu ist festzustellen, dass die deutsche Ärzteschaft überaltert ist und gleichzeitig ein Nachwuchsproblem aufweist. Im Anhang A auf Seite 77 ist dazu die Entwicklung der Altersstruktur aller Ärzte dargestellt. In der Medizinerausbildung muss es zu großen Veränderungen kommen, da es sonst zu breiten Versorgungsengpässen in DE kommen kann und die ärztliche Versorgung der Bevölkerung gefährdet ist(Kopetsch, 2010, S. 141–144). So ist es keine Seltenheit, dass Hausärzte zusätzlich den Notarztdienst besetzen. Diese Gesamtproblematik wird die Besetzung der Notarztstandorte zukünftig noch weiter verschärfen.
Mit einer Zunahme an Behandlungsmöglichkeiten, umfangreicheren Interventions-möglichkeiten und dadurch folglich einem zunehmenden Anspruch an die Aufgaben des nichtärztlichen Personals und einer gleichzeitig immer älter und morbider werdenden Bevölkerung musste die Professionalisierung von medizinischem Fachpersonal vorangetrieben werden. Mit der Einführung des neuen Berufsbildes der Notfallsanitäter_In (NFS) zum 01.01.2014 ist es in DE zur Ablösung des RA als höchste nichtärztliche Qualifikation im RD gekommen. Damit ging ein deutlicher Kompetenz- und Machtzuwachs einher, was nicht allen Berufsgruppen gefiel(Pfütsch, 2020, S. 21–22). Die Ausbildung befähigt dazu, erweiterte medizinische Befugnisse zu erhalten, um eigenverantwortlich invasive Maßnahmen bei Patienten_Innen im Notfalleinsatz durchzuführen und anzuwenden, die in der Ausbildung so erlernt wurden. Dabei gilt es die Zeit bis zum Eintreffen der NÄ oder der weiteren ärztlichen Versorgung z.B. in einem Krankenhaus so zu überbrücken, dass einer Verschlechterung der Situation der Patienten_Innen vorgebeugt werden kann. Dabei müssen vor allem Folgeschäden in lebensbedrohlichen Situationen durch die NFS abgewehrt werden(Dielmann & Malottke, 2017, S. 24–25; Prütting & Mais, 2016, S. 78–80). Da es zu einer deut-lichen Zunahme an eigenverantwortlichen Maßnahmen kommt, ohne dass ein Arzt bzw. eine Ärztin vor Ort ist, gewinnt die Patientensicherheit einen stetig steigenden Stellenwert.
Durch den Bericht „To Err is Human“ des Institute of Medicine konnte durch Kohn, Corrigian und Donaldson bereits im Jahr 1999 aufgezeigt werden, dass das Gesundheitswesen als Hochrisikobereich einzustufen ist. Von 1970 bis 1980 musste ein dramatischer Anstieg von Prozessen in den USA registriert werden, wo fehlerhafte Behandlungen im Gesundheitssystem den Grund der Klage darstellten. Dieser Bericht wird heute noch als Leuchtturm für die Themen Patientensicherheit und Risikomanagement (RM) gesehen. Es wurde deutlich, dass fehlerbelastete Handlungen so häufig auftraten, dass andere gesellschaftliche Bereiche dies schon längst nicht mehr toleriert hätten. So gingen die Autoren von 44.000 bis 98.000 vermeidbaren Todesfällen in den USA pro Jahr aus. Mehr als ⅔ der in dieser Studie entdeckten UE wurde von Kohn, Corrigan und Donaldson als unnötig angesehen. Die häufigste Art von Fehlern waren dabei technische Fehler mit 44%, die Diagnosestellung mit 17%, Versäumnisse bei der Vermeidung von Verletzungen mit 12% und Fehler bei der Anwendung von Medikamenten mit 10%(Kohn, 2008, S. 42).
Gleichzeitig wurde in dem Bericht eine zweite Hauptbotschaft deutlich. Wenn man nicht länger den Menschen als alleinige Ursache für fehlerhafte Handlungen ansieht, sondern ebenso das System und die organisatorischen Vorgaben betrachtet, kann man einen komplett neuen analytischen Ansatz schaffen, der zu einer Verbesserung der Gesamtsituation beiträgt. Mittels Reporting-Systemen kann man blinde Flecken identifizieren, noch bevor ein UE eintritt. Besonders beeindruckend war gleichzeitig, dass man in dem Bericht „To Err is Human“ eine neue Interpretation von einem Fehlerverständnis erklären und beweisen konnte. Dies war der Durchbruch der modernen Konzepte für Patientensicherheit. Die Kultur der einfachen Schuldzuweisung wurde überholt und man fing an über sichere Systeme und Organisationen zu reflektieren(Schrappe, 2018, S. 42–47). Viele Industrieländer führten aufgrund des Berichtes von Kohn et al. vergleichbare Studien durch und gründeten Institutionen, welche die Patientensicherheit erhöhen sollten. Dies sind in Großbritannien die National Patient Safety Agency (NPSA) und in DE das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS). Das APS erstellte eine Übersichtsarbeit von 151 internationalen Studien und kam zu dem Ergebnis, dass das Auftreten eines UE zwischen 0,1% und 10% liegt. Die große Streuung lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Varianz der Studien, den unterschiedlichen Erhebungsmethoden und Studiengrößen ergründen. Aufgrund weiterer Recherche geht man davon aus, dass die Mortalitätsrate durch vermeidbare UE in DE bei 0,1% liegt. Dies entspricht 17.000 Todesfällen pro Jahr, die vermeidbar gewesen wären(Hoffmann & Rohe, 2010, S. 92–94).
An dieser Stelle der Bachelorarbeit möchte der Autor ansprechen und kritisieren, dass im Großteil des RD in DE kein aktives Qualitäts- oder RM vorgehalten bzw. tagtäglich gelebt wird. Eine Ausnahme stellen hier das Bundesland Bayern und vereinzelte Städte dar, die die Notwendigkeit bereits früh erkannt haben. Aus eigener Erfahrung kann der Autor von einem Einsatz berichten, bei dem das Rettungsteam zu einer Reanimation eines 58-jährigen Patienten gerufen wurde. Nach einer Reanimationszeit von knapp 30 Minuten und einer 7-maligen Defibrillation konnte ein ROSC hergestellt werden. Der Patient wurde intubiert und beatmet. Er war weiterhin sehr instabil und bradykard, sodass folglich ein externer Schrittmacher im „Demand-Modus“ mit einer Frequenz von 70/Min. und 95mA eingesetzt werden musste, um den Patienten weiterhin zu stabilisieren. Der Patient wurde im Schockraum eines Krankenhaues der Maximalversorgung an ein großes weiterbehandelndes Ärzte- und Pflegeteam übergeben. Während der Autor mit einer Anästhesieschwester die Beatmung des Patienten auf das klinische Gerät konnektierte, signalisierte das präklinische EKG einen Alarm. Auf dem Bildschirm stand, ob der externe Schrittmacher im „Fix-Modus“ weiterlaufen soll. Bei der Reevaluation des Patienten kam zum Vorschein, dass eine weitere Intensivschwester das präklinische 12-Kanal EKG von den Klebeelektroden entfernt hatte. Dies hatte zur Folge, dass das EKG keine Ableitung mehr auswerten und der externe Schrittmacher seine Funktion nicht fortsetzen konnte. Zu dem Zeitpunkt hatte der Patient einen Eigenrhythmus von 72/ Min., sodass hier von einem „Beinahe-Fehler“ gesprochen werden kann. Gleichzeitig ist aus der Sicht des Autors nicht zielführend zu sagen, dass die Intensivschwester einen Fehler gemacht hat. Nach einer multiprofessionalen Teambesprechung aller Beteiligten konnte ein Denk- und Lerneffekt beobachtet werden. Anhand dieser Situation wurde dem Autor deutlich, dass der Lerneffekt auf das Team begrenzt ist und es keine Möglichkeit gibt, diese Situation an eine qualifizierte Stelle in der Organisation zu melden, um zukünftig derartige Szenarien zu verhindern. Daraus leitete sich im Oktober 2019 das Thema der Arbeit ab, in wie weit ein Critical Incident Reporting System für NFS die Patientensicherheit in der präklinischen Versorgung beeinflusst.
Mit der technischen und zivilisatorischen Entwicklung in den 70er und 80er Jahren kam es zu einer steigenden Anzahl an medizinischen Notfallsituationen und einem breiten Spektrum an Unfällen im Straßenverkehr, im betrieblichen und häuslichen Umfeld. Gleichzeitig wurden wissenschaftliche Fortschritte in der Notfallmedizin vorangetrieben. Ebenso machen entscheidende Entwicklungen der Medizinprodukte möglich, das medizinische Geräte, die man sonst nur aus dem Krankenhaus kannte, kleiner und transportabler wurden.
Die Bundesregierung der 10. Legislaturperiode erachtete es daher als unumgänglich, zum 01.09.1989 eine neugeschaffene, zweijährige Ausbildung im Rettungswesen einzuführen. Als Ziel wurde hierbei formuliert, den Beruf der RA als „Helfer des Arztes“ bzw. qualifizierte Assistenz vom NA einzuführen, da insbesondere die Versorgung und Transportbegleitung von Notfallpatienten_Innen eine neuartige Herausforderung darstellt.
Gerade die eigenverantwortliche Durchführung nicht unmittelbar lebensrettender Maßnahmen war in dem Kontext lange höchst umstritten(BÄK, 2012, S. 2–3, 2020, S. 5–7). Nur unter besonderer Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Mittel konnten sich die RA auf die Notkompetenz-Regelung berufen, die rechtlich ein Hilfskonstrukt des rechtfertigenden Notstands darstellt(Pfütsch, 2020, S. 20–21). So heißt es im StGB dazu konkret:
Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, […] eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, […] das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden(§ 34).
Aufgrund der sehr strengen Abgrenzung des rechtfertigenden Notstands und dem schwierigen Abwägen einer Notsituation führte diese rechtliche Argumentationskette zunächst zu Verunsicherungen(Pfütsch, 2020, S. 20–21). Gleichzeitig stellt man dahingehend fest, dass die RA trotz der neu gegliederten Ausbildung mit der Übertragung von eigenverantwortlicher Ausübung der Heilkunde überfordert wären(Lippert, 1999, S. 55–61).
Bereits in den 80er und 90er Jahren war das Rendezvous-System in DE etabliert, sodass bei allen Einsätzen in DE das medizinische Fachpersonal zu 59% im Jahre 1982 und sogar zu 73,2% im Jahre 1995 getrennt von den NÄ am Notfallort angekommen sind. Daraus ableitend hatte dies zur Folge, dass das medizinische Fachpersonal zunächst oft für eine Übergangszeit auf sich alleine gestellt gewesen war. Dementsprechend rückte die Frage nach der Kompetenz der RA zunehmend in den Vordergrund. Während die Ärzteschafft jahrelang gefordert hatte, dass das nichtärztliche Personal gut ausgebildet sein möge, entstand nun ein Rollenkonflikt mit der Frage, was die RA ohne Anwesenheit eines NA an Patienten durchführen dürfen und was nicht(Pfütsch, 2020, S. 19–20). Im Laufe der Zeit erkannte man zunehmend, dass man keine einheitlich qualifizierte Ausbildung geschaffen hatte, da man es u.a. versäumt hatte einen einheitlichen Inhalts- und Lernzielkatalog auszuarbeiten. Daneben wurde die fehlende Theorie-/ Praxisverzahnung bemängelt. Zudem wurden andere Berufe im Gesundheitswesen bereits früh auf eine 3-jährige Ausbildungsdauer umgestellt.(Lippert, 1999, S. 17–18).
Nach einer mehr als 10-jährigen und intensiven Diskussion um die zukunftsorientierte Progression des Berufsbilds der RA, ist es den Experten in Politik und den Berufsverbänden gelungen, zum 01.01.2014 mit dem NotSanG ein neues Berufsbild in die Wege zu leiten(Gerst, 2013, A 123). Das NotSanG gliedert als Berufszulassungsgesetz einen neuen höchsten, nichtärztlichen Beruf im RD in einem rechtssystematischen Kontext von nichtakademischen Heilberufen. Der Sinn und Zweck ist hier, dass das Rettungswesen als Teil der Gesundheitsversorgung in DE unter dem Druck des demographischen Wandels und dem sich zukünftig möglicherweise abzeichnenden Ärztemangel noch leistungs- und zukunftsfähiger gemacht werden soll (Ausführungsbestimmungen zur Notfallsanitäter-ausbildung in NRW – Teil I (neu), 2015, S. 4–5).
Mit der neuen Ausbildung zum NFS ist das nichtärztliche Personal befähigt, den Gesundheitszustand der verletzten oder erkrankten Patienten_Innen abzuschätzen und eine individuelle Behandlungsnotwendigkeit zu identifizieren. Dafür erteilt der Gesetzgeber explizit die Erlaubnis zur zeitlich befristeten Durchführung invasiver Maßnahmen im Sinne der heilkundlichen Tätigkeit(Gerst, 2013, A 123). Der §4 NotSanG beschreibt das Ausbildungsziel eingehend. Durch die Ausbildung können die Schüler_Innen ihr fachliches Wissen und Können, sowie die Grundlagen des allgemein anerkannten Standes medizinischer, rettungsdienstlicher und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse im Team kultivieren. Die neuen Herausforderungen sollen sie zielorientiert, sachgerecht und methodengeleitet in eigener Verantwortung lösen und lernen deren Ergebnisse mit Hilfe der pädagogisch weitergebildeten Fachdozenten_Innen zu beurteilen. Insbesondere die Ausbildungs-struktur dient dazu, ein Bewusstsein für die Entwicklung einer Personal-, Sozial- und Selbstkompetenz zu kultivieren und zu analysieren. Dabei steht die eigenverantwortliche notfallmedizinische Versorgung und der Transport von Notfallpatienten_Innen im Vordergrund. Nach einer Beurteilung des Gesundheitszustandes der Patienten_Innen und einer Entscheidung, ob ärztliche Hilfe nachzufordern ist, sollen medizinische Maßnahmen der Erstversorgung bei den Patienten_Innen bis zum Eintreffen eines NA, oder dem Beginn einer weiteren ärztlichen Versorgung ergriffen werden. Dabei wird das Ziel verfolgt einen lebensbedrohlichen Zustand abzuwenden und/oder weitere Folgeschäden zu verhindern. Darüber hinaus assistieren NFS im Rahmen der Mitwirkung bei der ärztlichen Versorgung und führen ärztlich veranlasste Maßnahmen, auch heilkundlicher Art die vom Ärztlichen Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) freigegeben wurden, autonom aus(NotSanG, 2021, § 4). Die NFS sind auf der einen Seite eine selbstständig agierende medizinische Fachkraft in der Präklinik, haben auf der anderen Seite jedoch keine Therapiefreiheit, da dies ein wesentliches Element der ärztlichen Profession darstellt. Dennoch müssen sie am Einsatzort unter hohem zeitlichen und emotionalem Druck arbeiten, eigenständig Entscheidungen treffen und die Patientensicherheit gewährleisten. Dabei müssen sie sich auf ihr Erlerntes verlassen und sich regelmäßig fortbilden, um auf dem aktuellen Stand der evidenzbasierten Medizin zu bleiben, damit sie auch zukünftig dem Anspruch an eine handlungskompetente Fachkraft im Mittelpunkt des RD in DE gerecht werden(Holländer, 2020, S. 5).
Aufgrund des föderalen Systems entscheidet jeder ÄLRD separat und in eigener Zuständigkeit, was die NFS in ihrem Kreis bzw. der kreisfreien Stadt machen dürfen. Viele ÄLRD verweigern hingegen diese Verantwortungsübernahme und untersagen mit der Haltung die Ausübung von Maßnahmen durch die NFS in Notfällen(Pfütsch, 2020, S. 25–26). Der Fachanwalt für Straf- und Medizinrecht Prof. Dr. Dr. Fehn veröffentlichte am 05.09.2016 ein Gutachten. Dort zeigt Fehn klar auf, dass das Nichtdurchführen einer Analgesie bereits den Straftatbestand der Körperverletzung durch Unterlassen erfüllt, da die NFS eine Garantenstellung gemäß §13 StGB gegenüber den Notfallpatienten haben. Aus dieser resultierenden Garantenpflicht müssen die NFS alles ihnen tatsächlich Durchführbare und rechtlich Zumutbare versuchen, um weitere Schäden – hier wird der Schmerz explizit genannt – von den Rechtsgütern Gesundheit und Leben des Patienten abzuwehren. Bereits die unnötige Verlängerung eines Schmerzzustandes vollendet den Tatbestand der Körperverletzung(König et al., 2017, S. 439).
Außerdem möchte der derzeitige NRW Gesundheitsminister Laumann die sukzessive Implementierung des Telenotarztsystems in NRW durchführen. Spätestens Ende 2022 soll in jedem Regierungsbezirk mindestens eine Leitstelle mit diesem System ausgestattet sein und den NFS im Einsatz zur Verfügung stehen. Laumann sagt dazu, dass die eigentlichen NÄ dadurch zielgenauer eingesetzt werden können(Schlingensiepen, 2020).
Nach einer Bundesratsinitiative vom Bundesland Bayern, unter Vertretung von Frau Emmi Zeulner, kam im Jahr 2019 ein neuer Impuls in die Debatte mit dem Ziel, den NFS bei der Ausübung der Heilkunde zu einer Rechts- und Handlungssicherheit zu verhelfen(Korzilius & Maybaum, 2019, A 1995-1996). Die Einführung des neuen § 2a NotSanG wird von den Experten nun als ein Meilenstein gefeiert. Das NotSanG ist in der 1000. Auflage vom Bundesgesetzblatt am 03.03.2021 wie folgt ergänzt worden:
Bis zum Eintreffen der Notärztin oder des Notarztes oder bis zum Beginn einer weiteren ärztlichen, auch teleärztlichen, Versorgung dürfen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter heilkundliche Maßnahmen, einschließlich heilkundlicher Maßnahmen invasiver Art, dann eigenverantwortlich durchführen, wenn
1. sie diese Maßnahmen in ihrer Ausbildung erlernt haben und beherrschen und
2. die Maßnahmen jeweils erforderlich sind, um Lebensgefahr oder wesentliche Folgeschäden von der Patientin oder dem Patienten abzuwenden(§ 2a).
Tries betrachtet dies konfliktbehaftet und schränkt ein, dass der neue Paragraph nur einen Placeboeffekt hat. Die NFS haben sich seiner Meinung nach vielmehr für ihre invasiven Rettungsmaßnahmen zu rechtfertigen, da es vor allem auf den Rechtfertigungsgrund ankommt. Er sieht in Zukunft die Gefahr, dass die Patienten_Innen ihr Einverständnis zunehmend vom Beherrschen einer Maßnahme abhängig machen und im Schadensfall darauf ihre Haftungsansprüche geltend machen wollen(Tries, 2021). König begrüßt hingegen in einer Stellungnahme zu dem § 2a NotSanG die Gesetzesanpassung und sieht eine vom Gesetzgeber gewollte neu geschaffene Rechtssicherheit für NFS. Im Vorfeld lassen sich nicht immer alle Notfallsituationen ausformulieren und über die ÄLRD delegieren. In Zukunft wird es auch weiterhin zu akuten Notfallsituationen kommen, bei denen die NFS lebensrettende Maßnahmen gelernt haben, allerdings aufgrund einer fehlenden Delegation mittels Standardarbeitsanweisung (SAA) der ÄLRD, eigenverantwortlich tätig werden müssen, um Leben zu retten oder wesentliche Folgeschäden abzuwenden. Mit der Gesetzesänderung konnte nun ausgeräumt werden, dass die NFS dann gegen das Heilpraktikergesetz verstoßen. Es ist somit den NFS ab sofort erlaubt, eigenverantwortlich heilkundliche Tätigkeiten bei Patienten_Innen durchzuführen, die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen Folgeschäden zu erwarten sind. Dennoch beruht die Einschränkung auf den Maßnahmen und Medikamenten aus dem Pyramidenprozess(König, 2021).
Mit der Entwicklung und Etablierung des NotSanG wurde ein wichtiger Schritt hin zur Qualifizierung der NFS gemacht, sodass nun ein deutlich weiter gefasstes Spektrum an Medikamenten und invasiven Maßnahmen erlernt wird(Gretenkort et al., 2019, S. 70–71).
Die Frage nach den Kompetenzen für NFS ist von besonderem Interesse und Bedeutung und hat bereits eine lange Vorgeschichte. Der entscheidendste Punkt war dabei, welche invasiven Maßnahmen die NFS zukünftig komplett eigenverantwortlich oder im Rahmen der Mitwirkung eigenständig durchführen würden. Dabei ist dieser zentrale Punkt nicht ausschließlich für die NFS von Bedeutung, sondern ebenso auch für die Träger des RD, sowie die ÄLRD. Grundsätzlich ist das Aufstellen einer ärztlichen Diagnose und die Therapieentscheidungen in DE nicht pauschal delegierbar. Dennoch muss es einen Weg geben, um in einer Notsituation den Patienten_Innen rechtssicher zu helfen und das arztfreie Intervall bestmöglich zu überbrücken(Gretenkort et al., 2019, S. 71). Der Gesetzgeber, der Berufsverband der Ärztlichen Leiter Rettungsdienst e.V., sowie mit Beteiligung weiterer angesehener Fachexperten, haben schon während der Entstehung vom NotSanG im Jahr 2013 versucht diese Erkenntnisse zu berücksichtigen. Im Rahmen eines Pyramidenprozesses haben sie bundesweit einheitliche Empfehlungen veröffentlicht. Die Abbildung 1 stellt dabei den Pyramidenprozess mit den Beteiligten im Entwicklungs- und Abstimmungsprozess aus dem Jahr 2013 dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Pyramidenprozess (Bundesverband der ÄLRD, 2014)
Im Rahmen dieses umfangreichen Entstehungsprozesses sind im Jahr 2014 jeweils ein Medikamenten- und ein Maßnahmenkatalog entstanden, die für die Ausbildung von NFS in DE bindenden Charakter annehmen, sowie gleichzeitig den Mindeststandard für die Berufsausbildung darstellen. Auszugsweise sollen in den Tabellen 1 und 2 die Medikamente und invasiven Maßnahmen dargestellt werden, welche die NFS bundesweit in der Berufsausbildung erlernen sollen. Darunter fällt auch das sichere Anwenden von BTM(Bundesverband der ÄLRD, 2014, Anlage 1). Die kompletten Tabellen befinden sich im Anhang B und C auf den Seiten 78 bis 79.
Tabelle 1: Auszug vom Medikamentenkatalog (Bundesverband der ÄLRD, 2014)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Man hatte im Prinzip zwei Optionen, diese Empfehlungen umzusetzen. Eine Substitution im Sinne einer vollständigen und dauerhaften Überführung, die ohne direkte ärztliche Anordnung bzw. ohne unmittelbare ärztliche Aufsicht stattfindet, wird unisono von den Ärzteverbänden abgelehnt, da man einen Verlust des eigenen Aufgabengebietes befürchtet. Dahingehend bietet die Möglichkeit der Delegation mit der Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf die NFS durch SAA der ÄLRD die Chance, das durch eine persönliche ärztliche Anordnung Medikamente gegeben und invasive Maßnahmen durchgeführt werden können(Gretenkort et al., 2019, S. 71; Pfütsch, 2020, S. 28).
Die moderne Gesundheitsversorgung ist derzeit nicht so sicher, wie Patienten sich dies wünschen würden. In den 70er und 80er Jahren wurde ein enormer Anstieg an fehlerhafter Handlungen in den USA registriert, wodurch die Leistungserbringer im Gesundheitswesen gezwungen wurden, sich mit dem Problem zu beschäftigen und Ursachen zu suchen(Hoffmann & Rohe, 2010, S. 92). Bei der interdisziplinären Harvard Medical Practice Study überprüften Brennan et al. im Jahre 1984 mehr als 30.000 zufällig ausgewählte Aufzeichnungen aus 51 zufällig ausgewählten Notfall-Krankenhäusern im Bundesstaat New York. Die Forscher verfolgten dabei die Thesen, bei Rechtsstreitigkeiten nach medizinischen Behandlungen das Fehlverhalten und die medizinischen Verletzungen von Ärzt_Innen und Pflegekräften aufzuzeigen. Sie kamen zu dem bezeichnenden Ergebnis, dass in 3,7% aller Krankenhauseinweisungen, bei einem 95%igem Konfidenzintervall 3,2% bis 4,2%, ein UE eintrat. Daraus folgten bei 70,5 % aller Patienten_Innen Behinderungen von einer Dauer bis zu sechs Monaten und bei 2,6% blieben überdies dauerhafte Behinderungen zurück. Indes führten 13,6% der UE zum Tod der Patienten_Innen. Von allen UE waren 27,6% auf eine Fahrlässigkeit zurückzuführen. Brennan et al. rechneten ihre Ergebnisse auf alle Krankenhauseinweisungen im Jahre 1984 im Bundesstaat New York hoch und kamen nach den Werten auf 98.609 UE(Brennan et al., 1991, S. 370–376). Ähnliche Studien von Leape et al. im Jahr 1991 und von Gawande et al. im Jahr 1999 kamen zu übereinstimmenden zu dem Ergebnis, das die Patientensicherheit kein Selbstläufer ist.
Das US-amerikanische Institute of Medicine sieht die Patientensicherheit als einen wesentlichen Bestandteil einer qualitativ hochwertigen Versorgung an. Dabei kristallisiert sich als Schlüsselelement zur Steigerung der Patientensicherheit eine gemeinsame Überzeugung heraus, welche die Gesundheitsversorgung als risikoreich einstuft, um fehlerhafte Handlungen bzw. daraus entstehende UE zu vermeiden. Dazu identifizieren sie eine organisatorische Verpflichtung zur Erkennung und Analyse von Verletzungen und Beinaheunfällen an Patienten_Innen. Im Zuge dessen benötigt es ein Umfeld, das die Notwendigkeit einer Berichterstattung über Ereignisse erkennt und den Willen vorweisen kann, daraus lernen zu wollen(Institute of Medicine [US], 2004, S. 173–175). Die WHO bestätigt die Relevanz der Patientensicherheit und stellt hervor, dass die Studienlage erdrückend sei und die Patientensicherheit vorrangig aus Sicht der Patienten_Innen in allen Ländern, die Gesundheitsdienste anbieten, ein Problem darstellt. Eine signifikant hohe Anzahl an Patienten_Innen erleiden Schäden durch die Gesundheitsversorgung, die stetig an Komplexität zunimmt. Eine erfolgreiche Behandlung und die Folgen sind auch von der Kompetenz der jeweils einbezogenen Gesundheitsprofessionen abhängig(Charité - Universitätsmedizin Berlin, 2018, S. 103–104).
Schrappe transferiert dieses Wissen und die Erkenntnisse aus der „To err is Human“ Studie in das 21. Jahrhundert und stellt generalistisch fest, dass, nur weil UE nicht nachweisbar sind und niemand diese berichtet, eine Organisation dadurch nicht automatisch sicher ist. Den Begriff der Patientensicherheit definiert er dabei als multimodales Konstrukt, welches sich aus insgesamt vier Modulen zusammensetzt. Diese Module beinhalten den Gegenstand und Korrelat, Kontextbezug und Zielorientierung, Zugang und Verständnis und Verbesserungsperspektive mit der Innovationskompetenz. Während die traditionellen Definitionsansätze mit dem Begriff der Patientensicherheit aus der Sicht der Patienten die Abwesenheit von UE, die Vermeidung von Risiken und Patient Safety Practices, also der Einsatz von Instrumenten zur Verbesserung von Patientensicherheit, verstehen, erkennt Schrappe dies nur als relevante Basis durch die wichtige Paradoxa nicht aufgelöst werden können(Schrappe, 2018, S. 87–100). Besonders stellt er fest, dass Patientensicherheit einerseits als Management-Aufgabe hergestellt wird und andererseits ein essentielles Merkmal der Akteure und Organisationen darstellt, die mit einer intrinsischen Motivation ihre Innovationskompetenz unter dem Druck des Gesundheitssystems herausfordert. Konkretisiert erfolgt die Herleitung daher über drei Ebenen. 1. Patientensicherheit ist ein Zustand nach dem Verständnis der traditionellen Definitionen, 2. eine Eigenschaft, die weitgehend in den Organisationen und im Gesundheitssystem festgegründet ist und 3. eine Fähigkeit des aktiven Handelns, mit dem Ziel durch Innovationskompetenz Sicherheit zu realisieren(Schrappe, 2018, S. 225). Mittlerweile geht man davon aus, dass fehlerhafte Handlungen in der Medizin zu den zehn häufigsten Todesursachen überhaupt zählen. Während die Industrie in den letzten 50 Jahren systematisch mit großen Durchbrüchen an der Erhöhung der Handlungs-sicherheit der Teams gearbeitet hat, besteht in der Gesundheitsversorgung noch großer Nachholbedarf, um das Niveau dem der Industrie anzugleichen(Neumayr et al., 2016, S. 8).
Der Begriff „Fehler“ wird in der Literatur häufig inflationär benutzt und meist nicht eingehend unterteilt; dabei ist genau dies ein relevantes Detail bei der Fehlerursache. Dementsprechend gibt es keine komplett deckungsgleichen Definitionen und der Diskurs hängt von der Betrachtung der Fachexpertise ab(Holländer, 2020, S. 23). Eine erste treffende Definition aus der präklinischen Notfallversorgung von Badke-Schaub, Hofinger und Lauche aus dem Jahr 2012 besagt dazu: „Fehler sind eine Abweichung von einem als richtig angesehenen Verhalten oder von einem gewünschten Handlungsziel, das der Handelnde eigentlich hätte ausführen bzw. erreichen können“(S. 40). Marx spricht 2017 dabei von einem Fehler, wenn eine Tätigkeit oder eine Entscheidung, oder das Unterlassen dieser, zu einem unerwünschten Resultat führt. Dabei unterscheidet er im Weiteren zwischen latenten und aktiven Fehlern. Latente Fehler beschreibt er als latentes Versagen oder auch als Systemfehler, was als Resultat aus einer strukturellen Schwäche auf Führungs- oder Organisationsebene zu erkennen ist. Ein aktiver Fehler hingegen beschreibt die unumwundene fehlerhafte Tätigkeit oder Entscheidung von mindestens einer Person, was zu einem Versagen der eigentlichen Absicht führt(Marx, 2017, S. 77–78). Mittlerweile wurden diese zentralen Definitionsansätze noch von St. Pierre und Hofinger im Jahre 2020 konkretisiert. Ein „Fehler“ wird von ihnen unterdessen als das unerwünschte Ergebnis von Handlungen definiert. Dabei steht die Sichtweise auf das Resultat und die Konsequenzen einer Handlung im Vordergrund. Die Sichtweise wird von der Hypothese geleitet, dass es eine qualitative Korrelation zwischen einer Ursache und deren Wirkung gibt. Im Zentrum dieser Kontemplation steht der Weg, der zum Zwischenfall bzw. zum Unfall geführt hat. Um den gesamten Prozess zu verstehen und sich auf die neuen Ansätze konzentrieren zu können, muss man die Frage, wer denn schuld war, verlassen. Hierbei rücken vier Fragen in den Vordergrund gerückt, die zur Weiterentwicklung von bedeutendem Nutzen sind. 1. Was genau wurde falsch gemacht? War also der Denkprozess oder doch die Ausführung einer Handlung betroffen? 2. Warum ist etwas nicht richtig gemacht worden? Welche psychischen Mechanismen waren bei der Entstehung beteiligt? 3. Warum war es aus der Sicht der handelnden Person angemessen und ideal, so zu handeln? 4. Welche Kontextfaktoren und Voraussetzungen waren übergeordnet? Zu der letzten Rubrik zählt die Technik, die Organisation, die Arbeitsplatzgestaltung, vorgegebene Prozesse und das Team(St. Pierre & Hofinger, 2020, S. 40–42). Diese Definition von St. Pierre & Hofinger wird in dieser Arbeit verwendet. Am Anfang einer Situation befindet sich oftmals die „unsichere Handlung“, die durch Faktoren wie z.B. Müdigkeit, eine hohe Arbeitsbelastung, unphysiologische Arbeitszeiten und Grundbedürfnisse, wie Hunger, Durst, Schmerzen und der Toilettengang die individuelle Leistung stark beeinträchtigen. Dazu können auch emotionale Faktoren oder unzulängliche Auffassungen wie Resignation, Selbstüberschätzung oder Angst das Urteilsvermögen so stark beeinträchtigen, dass die Performance abnimmt. Marx stellt dabei fest, dass es bei einer Fehleranalyse nicht nur darum geht, ein menschliches Einzelversagen zu identifizieren(Marx, 2017, S. 77–78). Die Abbildung 2 stellt hier den Zusammenhang zwischen den einzelnen Sichtweisen dar und definiert die Begriffe für diese Arbeit im Detail.
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Abbildung 2: Fehlerklassifikation (Reason, 1990; St. Pierre & Hofinger, 2020, S. 43)
Eine große EU weite Umfrage aus dem Herbst 2005 konnte aufzeigen, dass 78% der EU-Bürger medizinische Fehler bzw. fehlerhafte Handlungen als eine relevante Problematik empfinden. 18% der befragten EU-Bürger teilten mit, dass sie selber oder ein Familienmitglied von einem schwerwiegenden Kunstfehler in einem örtlichen Krankenhaus betroffen waren. 11% der Befragten gaben zusätzlich an, dass sie oder ein Familienmitglied von einem schwerwiegenden Kunstfehler durch ein vom Arzt verschriebenes Medikament betroffen waren(TNS Opinion & Social, 2006, S. 4–17). Im Weiteren wird zwischen einem UE, einem Zwischenfall und einem Unfall unterschieden. Ein UE, oder auch Beinahe-Fehler, umschließt Situationen, bei denen eine fehlerhafte Handlung aufgetreten ist, diese jedoch rechtzeitig bemerkt und korrigiert wurde. Ein Zwischenfall oder auch als „Critical Incident“ beschriebene Situation ist dagegen ein Kontext, deren Auswirkungen zwangsläufig negative Konsequenzen für die Patienten_Innen haben können. Eine fehlerhafte Handlung ist in Folge von kleineren Ereignissen in der Regel unbeabsichtigt eingetreten, wurde aber zeitnah erkannt, bevor der Fehler eine ernste schadhafte Auswirkung entfalten konnte. Bei diesen „Beinahe-Fehlern“ ist es so gerade eben nochmal gut gegangen. Bei einem Unfall, oder schweren Zwischenfällen hingegen, wird die fehlerhafte Handlung nicht oder zu spät bemerkt und kann den schädlichen Effekt voll zur Geltung bringen, der zu dauerhaften Schäden oder gar zum Tod der Patienten_Innen führen können(Marx, 2017, S. 81–82). In der Abbildung 3 wird dargestellt, wie hoch das Verhältnis zwischen einen Ereignis mit schweren Folgen und den Beinahe-Fehlern ist, wodurch sich potentielle Lernsituationen raus ableiten lassen.
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Abbildung 3: Unfallpyramide (Käfer, 1999, S. 17; Marx, 2017, S. 81)
In der Medizin sind Behandlungsschäden durch fehlerhafte Handlungen nicht neu. Schon zu Zeiten von Hippokrates etwa im 5. Jahrhundert vor Chr. wurde von ihm der Wahlspruch „Primum non nocere“ veröffentlicht. Dabei wollte er ausdrücken, dass die Medizin an erster Stelle niemandem schadet. Im letzten Jahrhundert nahmen Morbiditätskonferenzen und Obduktionen zu, um unerwünschte und fehlerhafte Behandlungen zu untersuchen und daraus zu lernen(Rohe et al., 2008, S. 10). Es ist mittlerweile unumstritten, dass 70-80% aller Fehler in der Medizin auf den „Human Factor“ zu projizieren sind. Mit der Einführung von einer Fehler- und Sicherheitskultur und Crew Ressource Management (CRM) Trainings könnten sich mehr als ¾ dieser Fehler effektiv verhindern lassen. Mittlerweile zählen solche Strukturen und Prozesse in der Notfallmedizin zum absoluten Muss einer professionellen Versorgung der Notfallpatienten_Innen(Koppenberg et al., 2011, S. 249). Reason hat dazu bereits 1990 das sogenannte „Schweizer Käse Modell“ entwickelt. Letzteres stellt anschaulich dar, dass es nur zu einer fehlerhaften Handlung kommt, wenn vorher meist mehrere Sicherheitsbarrieren dynamisch durchdrungen wurden und nicht greifen. Diese Löcher in den Sicherheitsbarrieren entstehen meist durch aktives Versagen oder Unterlassen, also durch absichtliche oder unabsichtliche, fehlerhafte Handlungen, dem nicht handeln, oder durch latentes Versagen auf Ebene der Organisationen. Dabei kann man sagen: je eher eine Sicherheitsbarriere greift, desto geringer die Folgen für die Patienten nach der Unfallpyramide(Reason, 1990, S. 475–484). Die Abbildung 4 dient der Veranschaulichung der Fehlertheorie nach Reason.
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Abbildung 4: Fehlertheorie nach Reason, modifiziert von Rohe, Beyer, Hoffmann, Gerlach in (Diehl & Anders, 2016, Kapitel 4.10)
Der „Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund“ der Krankenkassen (MDS) hat in den Jahren 2009 bis 2019 jeweils 10.300 bis 15.100 Behandlungsfehlergutachten angefertigt. Im Jahr 2019 waren es 14.500 Gutachten, wovon 25,3% (3668 Fälle) zu dem Ergebnis kamen, dass der Vorwurf eines Behandlungsfehlers bestätigt wurde(MDS, 2021). Waeschle et al. führen in ihrer Publikation aus dem Jahr 2015 aus, dass die eigentliche Dunkelziffer des Sach-verständigenrats (SVR) schon im Jahr 2007 in seiner Begutachtung zur Entwicklung im Gesundheitswesen um ein bis zu 30-faches höher geschätzt wurde, da man davon ausgeht, dass nur 1% bis 5% eine rechtliche Klärung erwirken. Das wären in einem Jahr 110.000 Fälle, bei denen mit Gutachten ein nachgewiesener Behandlungsfehler vorliegt. Es wird gleichzeitig davon ausgegangen, dass bei 18,8 Millionen stationären Aufnahmen eine effektive Schädigungsrate von 3 bis 4% vorliegt, würden 564.000 bis 752.000 Behandlungsfehler pro Jahr bei stationären Behandlungen im Jahr zu erwarten sein. So ist hier eine deutliche Relevanz der Gefährdung durch einen Fehler als gegeben zuzuweisen(Waeschle et al., 2015, S. 689–690). Auch der RD neigt aufgrund von meist sehr komplexen Zusammenhängen und einer hohen Eigendynamik in einem Notfallgeschehen dazu, Fehler passieren zu lassen. In jedem Notfall muss ein umfassendes Fachwissen aus verschiedenen Fachdisziplinen abgerufen werden, hinzukommt, dass meist mit unbekannten Teams im Notfallgeschehen zusammengearbeitet wird. Außerdem wirken Stressoren wie z.B. Unter- oder Überforderung, Lärm, Dunkelheit und Angehörige auf das Team ein. Aufgrund dieser erhöhten Anforderungen wird das Arbeitsumfeld im RD als Hochrisikobereich angesehen und Arbeiten auf Ölplattformen, der Luftfahrt, der Petrochemie oder Atomkraftwerken gleichgestellt(Holländer, 2020, S. 17–20; Neumayr et al., 2019, S. 62). In diesem Kontext bauen Hoch-sicherheitsorganisationen (HRO) auf vier wesentlichen Säulen auf. Als wichtigste Grundvoraussetzung gilt eine Sicherheitskultur, in der die Werte der Führung, die Vorstellungen und Normen klar definiert werden. Wichtig ist hier, dass das System insbesondere von der Führung gelebt wird. Gleichwohl müssen als zweite Säule Strukturen und Prozesse sicher gestaltet und Komplexität herausgenommen werden. Die Entscheidungsfindung liegt bei der Person, die in der Situation über das größte Wissen bzw. die größte Erfahrung verfügt. Teamwork und eine Robustheit stehen gegenüber fehlerhaften Handlungen im Vordergrund. Als dritte Säule ist das regelmäßige Teamtraining und die realitätsnahe Simulationsausbildung inklusive Debriefing von entscheidender Bedeutung. Als letzte Säule verfügen HROs über den permanenten Willen, aus kritischen Ereignissen, aber auch aus besonders gut bewältigten Ereignissen, lernen zu wollen. Dabei ist essentiell, die Problemsituationen mit einem konstruktiven Fokus zu ergründen, um zu schauen, was in der Zukunft verbessert werden muss. Schuldzuweisungen sind hierbei fehl am Platz und wirken sich negativ auf das Berichten von „Critical Incidents“ aus(Neumayr et al., 2016, S. 8–12).
Um erst einmal die Möglichkeit zu schaffen, aus fehlerhaften Situationen lernen zu können, müssen Organisationen von diesen erfahren. Ein Critical Incident Reporting System (CIRS) ist dabei ein Instrument, welches ermöglicht, individuelles Wissen in die organisatorische Führungsebene zu transferieren. Dabei besteht in der Regel die Möglichkeit ein Ereignis, die Ursache, die Prävention und Lösungsansätze anonym und vertraulich zu melden. Das Berichten und Lernen einer Organisation setzt dabei voraus, dass eine Sicherheitskultur existiert, die es ermöglicht, ohne Angst vor Sanktionen und Konsequenzen über fehlerhafte Handlungen zu sprechen. Das CIRS ist Teil eines Risiko- und Qualitätsmanagements, das sowohl Patzer, Schnitzer, Fehler und Verstöße, als auch unsichere Prozesse und Beinahe-Fehler identifiziert, die insbesondere für die Patientensicherheit unerlässlich sind. Gleichzeitig werden die Mitarbeiter_Innen aktiv in den Optimierungsprozess miteinbezogen, da sie Risiken aus Sicht der Mitarbeitenden berichten. Hier ist ausschlaggebend, dass ein CIRS in allen Ebenen gelebt und unterstützt wird(Neumayr et al., 2019, S. 22). Mit einem CIRS kann sowohl aus eigenen, als auch aus anderen fehlerhaften Handlungen gelernt werden und eine Steigerung der Patientensicherheit erzielt werden, wenn die gemeldeten Ergebnisse genutzt und die erarbeiteten Vermeidungsstrategien in den täglichen Ablauf impliziert werden. Unterschieden wird dabei zwischen einem internen und einem externen CIRS. Bei einem internen CIRS wird es ausschließlich von den Mitarbeitern_Innen einer Klinik oder Organisation genutzt. Die Eingaben erfolgen in der Regel anonym. Wenn ein CIRS nicht anonym eingerichtet wird, muss eine zur Einhaltung des Datenschutzes verpflichtete Vertrauensperson die Berichte anonymisieren. Die Auswertung der anonymisierten Daten läuft im Anschluss über ein besonders qualifiziertes Team. Wenn sich die Organisation für ein externes, oder aus organisationsübergreifendes CIRS entscheidet, werden die Berichte aus mehreren Kliniken oder Abteilungen zentral gesammelt und bei Bedarf anonymisiert. Der Vorteil des externen CIRS besteht vor allem darin, dass eine größere Datenbasis vorliegt und zudem mit Hilfe von externen Personen die Anonymität glaubwürdiger gesichert werden kann. Unterdessen ermöglicht ein externer Blickwinkel eine neutrale Einschätzung der fehlerhaften Handlung. Bei beiden Versionen muss nach der Analyse ein Fallbericht erstellt und Empfehlungen zur Vermeidung veröffentlicht werden(Gunkel et al., 2013, S. 5–7). In einer bundesweiten Umfrage konnte schon im Jahr 2010 gezeigt werden, dass 35% der teilnehmenden Krankenhäuser ein internes CIRS bereits nutzten. Daher war es keine Überraschung, dass der G-BA am 23.01.2014 ein Fehlermeldesystem zu einem vorgeschriebenen Element in einem klinischen RM aufführte, um das gemeinsame Lernen aus fehlerhaften Handlungen zu ermöglichen. Zusätzlich führte das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patienten_Innen zu Änderungen im SGB V(Hoffmann & Heinrich, 2014, A 1946). Eine weitere Umfrage aus dem Jahr 2014 von Chirurgen_Innen an deutschen Krankenhäusern konnte zeigen, wie sie die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von verschiedenen Instrumenten zur Fehlerprävention einschätzen. Von den mehr als 3300 Antworten, die seinerzeit die umfangreichste Umfrage in der operativen Medizin darstellte, gaben 91,1% an, dass sie ein CIRS für sehr sinnvoll hielten. Parallel schätzten 64,5% ein CIRS als sehr wirksam ein. Dies lässt sich dadurch erklären, dass gleichzeitig nur 10% der befragten Chirurgen_Innen über ein sehr gut funktionierendes CIRS berichten und 35% gar über ein schlecht funktionierendes CIRS urteilten. Als wichtigste Maßnahme nannten sie, dass die Personalressourcen zum Betreiben steigen müssten(Rothmund et al., 2015, A 1032-1035).
In den vergangenen Jahren wurden weltweit unterschiedliche medizinische CIRS entwickelt. Damit werden die ärztlichen und nicht ärztlichen Mitarbeiter_Innen im Gesundheitswesen aufgefordert, fehlerhafte und sicherheitsrelevante Handlungen bzw. Ereignisse aus dem Einflussbereich zu schildern. Die systematische Aufarbeitung von Beinahe-Fehlern bis hin zu Unfällen mit Todesfolge liefern wertvolle Indizien, um organisatorische Sicherheitslücken und Ausbildungsdefizite in der Managementebene zu erkennen. In risikoreichen Industriezweigen, wie der Luftfahrt, oder der Medizin im In- und Ausland ist der Nutzen und die Chance zu einer Erhöhung der Sicherheit lange bekannt und wird genutzt(Rohe et al., 2008, S. 11).
Um sich als Organisation auch präventiv aufstellen zu können, kann man ein CIRS als Frühwarnsystem einsetzen. Ein CIRS kann dabei Schwachpunkte oder auch Hotspots aufzeigen, bevor ein Unfall passiert. Hier besteht der Ansatzpunkt proaktiv in die Sicherheitskultur einzugreifen und eigentliche Trivialitäten als Chance für die Weiterentwicklung zu nutzen. Durch die Sicht der Mitarbeiter_Innen kommen realitätsnahe Standpunkte und zugleich lösungsorientierte Vorschläge aus der täglichen Praxis. Das CIRS dient dabei als Informationsquelle und Mitgestaltung der Mitarbeiter_Innen an einem Qualitäts- und RM. Gleichzeitig wird die intrinsische Motivation unterstützt und der Idealismus gefördert, aus Fehlern lernen zu können(Gunkel et al., 2013, S. 10–12). Allerdings beinhaltet ein CIRS auch Risiken und ist bei Weitem kein Allheilmittel. Da ein CIRS nur ein Teil eines RM ist, besteht die Gefahr, dass die Organisation sich zu sehr drauf verlässt und als alleinige Lösung ansieht. Synchron kann die anfängliche Wirkung und Zuversicht der Mitarbeitenden schnell resignieren, wenn die Mitarbeiter_Innen verspüren, dass sie nicht ernst genommen werden und aus Meldungen keine Rückschlüsse gezogen werden(Jonitz, 2014, A 1950). Es ist deckungsgleich schwer zu beurteilen, wie gut ein CIRS wirklich funktioniert und ob es Kosten-Nutzen-Rechnungen standhält. Während man die tatsächlichen Kosten zusammenrechnen kann, ist es schwer, eine höhere Patientensicherheit und geringere Fehlerrate in die Bilanz miteinzubeziehen. An dieser Stelle muss auch genannt werden, dass die reine Implementierung keine positive Auswirkungen auf eine Patientensicherheit hat. Es muss eine fruchtbare Fehler- und Sicherheitskultur entstehen, die von allen Ebenen einer Organisation täglich gelebt wird(Löber, 2016, S. 4–9). Der direkte Nachweis einer Effektivität ist schwierig. Dennoch ist es sinnvoll ein CIRS als Fehlermeldesystem zur Optimierung der Patientensicherheit aktiv zu fördern(Fischer et al., 2016, S. 392).
Mit dieser Bachelorarbeit möchte der Autor primär die Chancen, den Nutzen und die Risiken eines CIRS identifizieren und eine Verbindung zur präklinischen Patientensicherheit bei der Behandlung durch NFS herstellen. In diesem Kontext steht der pädagogische Lernansatz mit einer offenen Fehlerkultur im Vordergrund.
Ein weiteres Ziel der Forschung ist es, einen Beitrag zu liefern der feststellt, wie die Akutversorgungen von Patienten_Innen durch NFS mit einem neuen Ansatz beeinflusst werden könnte. Erstmalig auftretende fehlerhafte Handlungen können so aufgearbeitet und ähnliche Handlungen mit einem Lern- bzw. Verbesserungsimpuls zukünftig verhindert werden.
Mit der Hilfe internationaler Literatur wird analysiert, ob und wo ein CIRS eine weitere Unterstützung für die ärztlichen und nichtärztlichen Beschäftigten sein kann. Durch die aufgezeigten Strategien und praxisnahen Möglichkeiten wird vom Autor dargelegt, wie sich Fehler von vornherein verhindern lassen und Fehlermuster erkannt werden können. Damit könnten Sicherheitsbarrieren gezielt gestärkt werden. Im Weiteren wird überprüft, ob mit den neu gewonnenen Erkenntnissen ein Zusammenhang zwischen einem CIRS in der Präklinik und der Patientensicherheit bei der prähospitalen Notfallversorgung durch NFS etabliert werden kann. Mit dieser Übersichtsarbeit wird eine bisher nicht näher erforschte Problematik im deutschen RD beschrieben und exemplifiziert. Die derzeitigen Forschungslücken im deutschen RD zum Thema CIRS werden hiermit aufgegriffen und dargelegt. Außerdem ist hier darzustellen, in welchen internationalen Ländern ein CIRS in der Präklinik genutzt wird.
Daran anschließend erfolgt eine ausführliche Darstellung des CIRS, um die Bedeutung und den Nutzen der Fehlerkultur in der Medizin zu verstehen. Zugrunde gelegt werden bei den Chancen durch ein CIRS die Verbesserungspotentiale, welche sich insbesondere aus den Bereichen Aus- und Fortbildung, Kommunikation und Umgang mit Medikamenten ergeben. Gleichzeitig soll dargelegt werden, welche Stärken ein CIRS hat und wie man die Absicht steigern kann, dass das Personal auch fehlerhafte Handlungen meldet.
Da nicht nur Vorteile mit der Einführung eines CIRS verbunden sind, gilt es auch die Risiken zu berücksichtigen. Hierbei werden Hindernisse und Barrieren aufgegriffen, sowie Einschränkungen erläutert, da auch die Schwächen des Systems nicht ungeachtet bleiben dürfen. Demzufolge ist das Ziel falsche Erwartungen an ein CIRS zu verhindern.
Zudem stellt sich die Frage, wer ein Fehlermeldesystem in der Präklinik nutzt. Dazu wird aufgelistet, welche Aufgaben auf die NFS im Einsatz und im Innendienst als Teil einer Führungsorganisation zukommen. Darüber hinaus soll aufgezeigt werden, welche Aufgabe die NFS in dem Kreislauf Notfalleinsatz und Risikoprozessanalyse haben.
Mit dieser Qualifizierungsarbeit wird der Grad der Verantwortung die NFS übernehmen und wie sich Fehler prospektiv vermeiden lassen schlussfolgernd aufgezeichnet. Hierbei steht die Patientensicherheit charakteristisch im Fokus. In dieser Bachelorarbeit wird die Absicht verfolgt, transparent zu untersuchen, inwieweit ein CIRS ein geeignetes Mittel ist, um als Instrument zur Erfassung von kritischen Ereignissen beizutragen.
Das übergeordnete Ziel dieser Abschlussarbeit besteht darin, den folgenden drei Forschungsfragen nachzugehen und Antworten aufzuzeigen: (i) In welchen Ländern ist CIRS in der präklinischen Versorgung international etabliert; (ii) welche Chancen und Risiken bietet das CIRS in der präklinischen Versorgung; (iii) welche Aufgaben werden für die NFS im Rahmen von CIRS beschrieben.
Die Ergebnisse werden dafür inhaltlich veranschaulicht und kritisch reflektiert. Das Ziel ist, die Forschungsfragen zu beantworten, die Ergebnisse zu analysieren und sie einzuordnen. Relevante Theorien werden mit dem aktuellen Forschungsgegenstand gegenübergestellt und diskutiert. Eine kontinuierliche Verbesserung der Patientensicherheit sollte für die NFS von besonderer Bedeutung sein und von der Berufsgruppe auch so wahrgenommen werden, um die Patienten_Innen vor Schäden durch kritische Ereignisse bewahren zu können. Die zweite Forschungsfrage wird im Anhang D auf der Seite 80 exemplarisch in der Form des PICO Schemas(Richardson; Wilson; Nishikawa; Hayward, 1995)dargestellt.
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1Alle Zitationen orientieren sich an die Richtlinien zum wissenschaftlichen Arbeiten der Fliedner Fachhochschule in der Version 1 vom 02.10.2020. Das Literaturverzeichnis wurde mittels Citavi im deutschen Zitierstil APA 7th ed. (German) erstellt, der die Nachfolge von APA 6th ed. (German) darstellt. Dies ist mit der Erstbetreuerin abgesprochen.
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