Bachelorarbeit, 2021
48 Seiten, Note: 1,3
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Einleitung
Das skandinavische Modell und die soziale Demokratie
Das skandinavische Modell als Projektionsfläche sozialdemokratische Utopie
Die (begrenzte) Repräsentativität Norwegens für das skandinavische Modell
Grundsätze der sozialen Demokratie
Gerechtigkeit
Die unterschiedlichen Aspekte sozialer Gerechtigkeit
Freiheit
Solidarität
Die Bildungssysteme im Vergleich
Das deutsche Bildungssystem
Das norwegische Bildungssystem
Erwartete Folgen
Bildungsgerechtigkeit im Vergleich
Pisa-Ergebnisse
Soziale Herkunft
Migrationshintergrund
Geschlecht
Zwischenfazit
Index der sozialen Demokratie
Methodik
Größe Nr. 1 - Gini-Koeffizient
Größe Nr. 2 - Gender-Pay-Gap
Größe Nr. 3 - World-Happiness-Report
Größe Nr. 4 - Demokratie-Index
Größe Nr. 5 - Korruption
Größe Nr. 6 - Armutsrisiko für Kinder
Größe Nr. 7 - Bildungsgerechtigkeit
Ergebnisse
Cronbachs-Alpha
Deutschland
Norwegen
Zusammenhang mit Bildung
Zusammenhang mit BIP-pro-Kopf
Grenzen der Untersuchung
Fazit
Literaturverzeichnis
Anlage
Tabelle 1: Sozioökonomischer Status und PISA (Quelle: PISA Report 2018)
Tabelle 2: Migrationshintergrund und PISA (Quelle: PISA-Report 2018)
Tabelle 3: Geschlecht und PISA (Quelle: PISA-Report 2018) 1/2
Tabelle 4: Geschlecht und PISA (Quelle: PISA-Report 2018) 2/2
Tabelle 5: Länder-Ranking nach IsD-Score
Tabelle 6:Abschneiden in den IsD-Kategorien
Abbildung 1: Korrelation zwischen IsD-Score (Y-Achse) und dem durchschnittlichen PISA Wert (X-Achse)
Abbildung 2: Korrelation zwischen IsD-Score (Y-Achse) und Realem BIP pro Kopf in € (X- Achse)
Den Zustand der Sozialdemokratie kann man momentan wohl als mindestens krisenhaft bezeichnen. Während sich die Wahlergebnisse der SPD in Deutschland seit 2002 mehr als halbiert haben,1 sehen sich sozialdemokratische Parteien auch europaweit einem großen Druck ausgesetzt.2 Nun ist der vermeintliche ,Niedergang‘ der Sozialdemokratie allerdings kein neues Phänomen. Bereits 1983 rief der Soziologe Ralf Dahrendorf das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts aus.3 In der über 150-jährigen Historie der Sozialdemokratie kam es vermehrt zu solchen Prognosen. Sei es durch linke Kräfte wie Rosa Luxemburg4 oder durch den Erfolg der Faschisten im Nationalsozialismus. Bislang hatte es die Sozialdemokratie immer wieder geschafft, sich zu rehabilitieren. 15 Jahre nach Dahrendorfs Abgesang auf die Sozialdemokratie blühte sie wieder auf. Seien es die Erfolge Gerhard Schröders in Deutschland oder Tony Blairs im Vereinigten Königreich. Dennoch ist festzustellen, dass die Ideen der sozialen Demokratie - der politiktheoretischen Grundlage der sozialdemokratischen Parteien - durch den Erfolgszug des Neoliberalismus in Bedrängnis geraten sind. Die Bundestagswahl 2021 wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein erneutes Allzeittief für die SPD bereithalten. Die Ideen der sozialen Demokratie benötigen also einer Regeneration. Ein Ausweg könnte in der Besinnung auf den Erfolg sozialdemokratischer Politik liegen. Das typische Beispiel, dass hierfür oft stellvertretend genannt wird, sind die skandinavischen Staaten. Als glücklichste Region der Welt, sofern man dem World-Happiness-Report folgt,5 werden die nordischen Staaten oftmals als Vorbild wahrgenommen.
Für viele Sozialdemokrat*innen spiegeln sich in diesem Erfolg die jahrzehntelange Regierungsverantwortung sozialdemokratischer Parteien wider.6 Dadurch bleibt Skandinavien ein Zufluchtsort sozialdemokratischer Sehnsüchte, insbesondere während - in jeglicher Hinsicht - krisenhaften Zeiten wie diesen. Doch auch dieser Zufluchtsort, dieses ursprüngliche Bollwerk der sozialen Demokratie, beginnt zu bröckeln. Die Reformen in den skandinavischen Ländern stehen in jüngerer Vergangenheit im Zeichen neoliberaler Entwicklungen. Die Arbeitsmarktreformen in Dänemark waren beispielsweise eines der Vorbilder für Schröders Agenda-Reformen.7 Man kann sich also die Frage stellen, ob es sich bei dem skandinavischen Modell nur noch um einen ,Mythos' der sozialen Demokratie handelt. Genau auf diese Frage soll im Rahmen dieser Arbeit eingegangen werden.
Eines der Kernversprechen der sozialen Demokratie ist die soziale Gerechtigkeit. Da im Rahmen dieser Arbeit nicht alle Aspekte sozialer Gerechtigkeit in vollem Ausmaß abgedeckt werden können, soll im ersten Schritt eine Spezifizierung erfolgen. Diese soll darin liegen, sich auf die Aspekte der Bildungsgerechtigkeit zu konzentrieren. Als Stellvertreter des skandinavischen Modells wird hierbei Norwegen und das norwegische Bildungssystem untersucht. Für eine Einordnung soll dabei die Bildungsgerechtigkeit in Norwegen mit jener in Deutschland verglichen werden. Um den Fokus anschließend zu erweitern, werden aber auch andere Aspekte einer erfolgreichen sozialen Demokratie in einem Index sozialer Demokratie empirisch analysiert werden. Durch diese beiden Untersuchungen soll sich zeigen, inwiefern die Verwendung des skandinavischen Modells als Vorbild für die deutsche Sozialdemokratie gerechtfertigt ist. Die Fragestellungen dieser Arbeit lauten dementsprechend: Worin unterscheiden sich die Bildungssysteme Norwegens und Deutschlands, führt das norwegische Bildungssystem zu einer höheren Bildungsgerechtigkeit im Sinne der sozialen Demokratie und wie lassen sich die Ergebnisse aus dieser Analyse in das Narrativ einer sozialdemokratischen Utopie integrieren?
Um sich dieser Frage anzunähern, werden anfangs Begriffsklärungen vorangestellt, in denen der Zusammenhang zwischen skandinavischem Modell, norwegischem Bildungssystem, sozialer Demokratie und sozialer Gerechtigkeit im Bildungssystem hergestellt wird. Anschließend sollen die Bildungssysteme der beiden zu untersuchenden Nationen miteinander verglichen, Unterschiede herausgearbeitet und erwartete Folgen für die Bildungsgerechtigkeit skizziert werden. Daraufhin soll die soziale Gerechtigkeit in den Bildungssystemen, mithilfe der PISA-Studie analysiert und zudem ein Zwischenfazit gezogen werden. Anschließend wird ein Index sozialer Demokratie gebildet, um die Ergebnisse der PISA-Untersuchung um weitere Aspekte einer sozialen Demokratie zu erweitern. Bevor es zu einem abschließenden Fazit kommt, sollen darüber hinaus die Grenzen der vergleichenden Untersuchung aufgezeigt werden.
Der Forschungstand zu der Thematik ist dabei recht ausgeprägt. Das Thema Bildungsgerechtigkeit ist sowohl in der politischen als auch in der soziologischen Fachwelt hinreichend untersucht worden. Zu allen Aspekten bietet die Fachliteratur ausreichend Material an. Einen expliziten Vergleich der Aspekte der Bildungsgerechtigkeit zwischen Deutschland und Norwegen lässt sich jedoch nicht finden.
Für die Untersuchung der Bildungsgerechtigkeit wird in dieser Arbeit auf PISA-Daten zurückgegriffen. Diese bieten zum einen ausreichend Datenmaterial, um auch tiefergehend in die Analyse einsteigen zu können, zum anderen ermöglichen sie eine gute Vergleichbarkeit, da sie für die beiden zu untersuchenden Nationen angewandt werden. Für den Index der sozialen Demokratie wird vorrangig auf Eurostat-Daten zurückgegriffen.
Um sich der Fragestellung dieser Arbeit zu nähern, widmet sich die vorliegende Arbeit zunächst der Begriffsklärung relevanter Kontexte. Dazu gehören folgende Fragen: Warum gilt das skandinavische Modell als Projektionsfläche für die soziale Demokratie? Inwiefern kann ein Staat - in diesem Fall Norwegen - als Repräsentant für das gesamte Modell herangezogen werden? Worum genau handelt es sich bei der,sozialen Demokratie', welche Rolle spielt Bildungsgerechtigkeit in dieser und welche unterschiedlichen Aspekte sozialer Gerechtigkeit in der Bildung gilt es dabei zu berücksichtigen?
In der Sozialdemokratie wird bereits seit einiger Zeit auf die Vorbildlichkeit des Nordischen Modells verwiesen.8 Immer wieder bietet dieses Modell ein willkommenes Beispiel für die Erfolge sozialdemokratischer Politik. Aus der Sicht der Verfechter*innen dieser Argumentation sind besonders zwei Aspekte bedeutsam.
Der Erste ist die lange Tradition von sozialdemokratischer Politik in den skandinavischen Ländern. Das spiegelt sich dabei auch in der langen Vorherrschaft der sozialdemokratischen Parteien wider. In Norwegen stellte die Arbeiderpartiet - die norwegischen Sozialdemokraten - seit 1945 in 48 Jahren den norwegischen Premierminister.9 Auch in Schweden und Dänemark blicken die sozialdemokratischen Parteien auf eine lange Historie zurück.10
Zweitens gilt das skandinavische Modell als Beispiel einer Konsensdemokratie. Ein Faktor, der eine wichtige Rolle darin spielt, dass die Idee des nordischen Wohlfahrtsstaates keineswegs ausschließlich von den Sozialdemokrat*innen getragen wurde, sondern darüber hinaus in ständigem Austausch auch von den anderen Parteien unterstützt wurde.11 Daher sind die politischen Auseinandersetzungen in den skandinavischen Ländern in der Regel auch deutlich milder als dies in Konkurrenzdemokratien, wie England oder den USA der Fall ist.12 Dadurch erklärt sich auch die vergleichsweise hohe Anzahl von Minderheitsregierungen in den nordischen Staaten.13
Die sozialdemokratische Politik hat in Skandinavien also eine lange Tradition. In Verbindung mit Erfolgen der skandinavischen Staaten in Aspekten von Gleichheit, Zufriedenheit und auch ökonomischer Potenz, bieten sich die nordischen Staaten als Narrativ des Erfolgs sozialdemokratischer Politik an. Doch auch in den skandinavischen Ländern zeichnet sich in einigen Bereichen eine Abkehr von klassischen Ideen der sozialen Demokratie hin zu neoliberaler Politik ab.14 Nichtsdestotrotz bleibt das skandinavische Modell ein beliebtes Motiv für die Hoffnungen von Sozialdemokrat*innen, auch wenn diese in den skandinavischen Ländern mittlerweile selbst einen schwierigen Stand haben.
Für den Zweck dieser Arbeit soll sich das Beispiel Norwegens angesehen werden. Daher stellt sich die Frage, wie repräsentativ das Land für das skandinavische Modell stehen kann und inwiefern diese Staaten überhaupt als ausreichend deckungsgleich gesehen werden können. Die erste kritische Frage, die sich hier stellt, ist, worum genau es sich bei den skandinavischen bzw. nordischen Staaten überhaupt handelt.
Nach enger Definition handelt es sich dabei um die Nationen Norwegen, Schweden und Dänemark. In anderen Definitionen zählen aber auch Island, Finnland und die Färöer hinzu. Da in der politikwissenschaftlichen Forschung in der Regel die engere Definition herangezogen wird, soll auch hier vom skandinavischen Modell ausgegangen werden, welches Norwegen, Schweden und Dänemark umfasst.15
Doch auch hier fallen einem einige politische Unterschiede auf. Der wohl markanteste ist die außenpolitische Ausrichtung der Staaten. Während Dänemark und Norwegen, auch geprägt durch die nationalsozialistische Besetzung im zweiten Weltkrieg, Gründungsmitglieder der NATO sind, ist Schweden bis heute nicht beigetreten. Wohingegen Schweden und Dänemark seit mehr als zwei Jahrzehnten der EU angehören, Norwegen wiederum nicht. Neben diesen außenpolitischen Unterschieden sind es gerade die innenpolitischen Gemeinsamkeiten, die die Vorstellung eines ,skandinavischen Modells‘ nähren. Dazu gehören in erster Linie zwei Aspekte, die aus Sicht vieler Politikwissenschaftler*innen für ein gemeinsames Modell sprechen. Das Charakteristikum einer Konsensdemokratie ist in allen drei Staaten gegeben. Dazu gehören vergleichsweise geringe Konflikte um die politische Deutungshoheit und eine Konzentration auf öffentliche Politikgestaltung16. Auch die gemeinsame Tradition sozialdemokratischer Regierungen und starker Gewerkschaften hat innenpolitisch Wirkung hinterlassen. Zwar unterscheiden sich die Ausprägungen, dennoch zeichnen sich alle drei skandinavischen Länder durch einen starken Wohlfahrtsstaat' aus.17
Mit der Einschränkung, dass Norwegen keineswegs als 100 % deckungsgleich mit den anderen skandinavischen Staaten angesehen werden kann, soll dennoch der Versuch unternommen werden, sich anhand einer Untersuchung der norwegischen Ausprägung des skandinavischen Modells der Forschungsfrage anzunähern. Damit sind die Ergebnisse vordergründig auch nur für Norwegen anzusehen, dennoch wird im Index sozialer Demokratie auch auf die anderen nordischen Staaten kurz eingegangen.
Bevor die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit für die soziale Demokratie herausgearbeitet wird, ist zunächst zu klären, worum es sich bei dem Begriff soziale Demokratie überhaupt handelt. Dafür ist erst einmal von Bedeutung, dass dieser Terminus keinen eindeutigen Begriff darstellt. Vielmehr verbinden Menschen mit diesem Ausdruck viele unterschiedliche Vorstellungen. Daher lässt sich auch eine verbindliche Definition nur schwierig erfassen.18
Dieser Vorbemerkung zum Trotz, wird, um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik zu ermöglichen, eine gängige Begriffsbestimmung verwendet. Im Rahmen dieser Arbeit soll soziale Demokratie als politiktheoretisches Konstrukt verstanden werden, das zwar einerseits unabhängig von realpolitischen Akteuren existiert, deren Grundwerte jedoch Basis für politische Akteure sein können.19 Dadurch besteht also keine zwingende Verknüpfung der Theorie der sozialen Demokratie und dem politischen Akteur, der Sozialdemokratie, dennoch ist in der Praxis davon auszugehen, dass die Sozialdemokratie auf den Grundwerten der sozialen Demokratie aufbaut. Die normativen Grundwerte, auf die sich die soziale Demokratie bezieht, sind dabei dreierlei: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.20
Besonders entscheidend für diese Arbeit ist dabei der Grundwert der Gerechtigkeit. Allerdings ist auch der Begriff der Gerechtigkeit sehr dehnbar. Zwischen politischen Gruppen herrschen sehr unterschiedliche Ansichten, was Gerechtigkeit genau ausmacht. Nimmt man das von Wolfgang Merkel erarbeitete Koordinatensystem von Gerechtigkeitskonzepten21 zu AHilfe, so erkennt man vier unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Gerechtigkeitsinterpretation der sozialen Demokratie stützt sich dabei insbesondere auf die Vorstellungen von sozialliberaler Gerechtigkeit, wie sie etwa John Rawls22 vorsieht und gleichheitsorientierter Gerechtigkeit, nach Wilkinson/Pickett23. Dadurch ergibt sich für die soziale Demokratie, dass „Gerechtigkeit der grundlegende Wert [ist], wenn es um die Verteilung materieller und immaterieller Güter geht.“24 Darüber hinaus sei nach der Theorie der sozialen Demokratie „Politik, Gesellschaft und Wirtschaft so inklusiv wie möglich zu gestalten, also so offen und für so viele wie machbar.“25
Diese zwei Punkte bilden auch den normativen Anspruch, den die soziale Demokratie an Bildung stellt. Denn für eine gerechte Verteilung materieller und immaterieller Güter, stellt in der Lebensrealität die Bildungsgerechtigkeit eine notwendige Bedingung dar. Auch der Anspruch, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft so inklusiv wie möglich zu gestalten, baut auf diese Grundbedingung auf. Dementsprechend erklärt sich auch der hohe Stellenwert, den Bildung im sozialdemokratischen Diskurs einnimmt.26 Wenn im Rahmen dieser Arbeit also geklärt wird, inwiefern es sich beim nordischen Modell um eine ,sozialdemokratische Utopie' handelt, so wäre es zwar verkürzt anzunehmen, dass sich dies allein an der Bildungsgerechtigkeit ablesen lasse, dennoch ist in ihr ein wichtiger Indikator für diese zu sehen.
Festhalten lässt sich, dass soziale Gerechtigkeit in der Bildung für die soziale Demokratie von hoher Bedeutung ist. Im folgenden Schritt sollen für diese Arbeit relevante Gesichtspunkte der sozialen Gerechtigkeit aufgezeigt werden, um auch eine spätere Operationalisierung der Forschungsfrage zu ermöglichen. Dabei muss man sich jedoch zunächst die Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens zu Gesicht führen. Denn empirisch sind Vergleiche verschiedener gesellschaftlicher Gruppen durchaus möglich. Die Auswahl der Gruppen ist dabei jedoch in einem bestimmten Maße konstruiert und niemals vollständig. Auf diese Problematiken wird später im Kapitel ,Grenzen der Vergleichbarkeit der Untersuchung' kurz eingegangen. Für den Zweck dieser Arbeit sollen drei unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und deren Erfolg in den Bildungssystemen analysiert werden, um die soziale Gerechtigkeit in der Bildung zu untersuchen. Die drei Aspekte, die dabei beleuchtet werden, sind soziale Herkunft, Geschlecht und Migrationshintergrund. Zum einen fällt die Wahl auf diese drei Parameter aufgrund der guten Datenlage, so veröffentlicht die OECD in der PISA-Studie explizit diese drei Kategorien.27 Zum anderen lassen sich die Überschneidungspunkte der drei Kategorien leicht herausrechnen und ermöglichen damit auch ein differenziertes Bild zur sozialen Gerechtigkeit in den zu untersuchenden Bildungssystemen. Darüber hinaus sind die gesellschaftlichen Gruppen, die hier ins Blickfeld genommen werden, oftmals Adressat*innen der politischen Forderungen der sozialen Demokratie und daher auch aus dieser Hinsicht zu untersuchen.28
Neben der Gerechtigkeit bildet die Freiheit einen wichtigen Eckpfeiler der sozialen Demokratie. Dies scheint auch nicht sonderlich zu überraschen, schließlich postuliert in der Regel jeder politische Akteur den Grundwert der Freiheit. Interessant für diesen Kontext ist also vielmehr, wie Freiheit aus Sicht der sozialen Demokratie definiert wird. Insbesondere die Wertung positiver und negativer Freiheitsrechte ist dabei relevant. Bei negativen Freiheitsrechten handelt es sich um diejenigen, die das Individuum vor dem Eingreifen der Gesellschaft schützen soll. Freiheit liegt demnach vor, wenn keine wesentlichen Einschränkungen für das Individuum gelten. Dem gegenübergestellt sind die positiven Freiheitsrechte. Hierbei geht es weniger um die Grundfrage, welche Regelungen der Freiheit Einzelner entgegenstehen, sondern vielmehr um die Frage, welche Verhältnisse vorliegen müssen, damit jeder Mensch die Möglichkeit besitzt, frei zu handeln. Hierin liegt auch der Unterschied zwischen der sozialen Demokratie und anderen politiktheoretischen Grundüberzeugungen, wie die der libertären Demokratie. Während bei einer libertären Demokratie die negativen Freiheitsrechte Vorrang vor den positiven Freiheitsrechten haben, gilt es in der sozialen Demokratie sowohl positive wie negative Freiheitsrechte zu berücksichtigen und abzuwägen. Das heißt, dass in einer sozialen Demokratie der Staat auch die Verantwortung hat, dafür zu sorgen, dass jede*r Einzelne die Möglichkeit hat, seine Freiheitsrechte aktiv nutzen zu können.29
Beim dritten Aspekt, der für die soziale Demokratie entscheidend ist, handelt es sich um die Solidarität. Dieser wird zwar von der Wissenschaft deutlich weniger beachtet, ist dafür aber in politischen Reden umso prominenter vertreten. Solidarität wird als ein gegenseitiges Verantwortlichkeitsgefühl definiert, das sich in einem gemeinschaftsdienlichen Verhalten widerspiegelt.30 Es geht dabei auch um Kooperation, die im Sinne der sozialen Demokratie langfristig zum Erfolg führe. Sie ist also nicht nur ein Akt von Selbstlosigkeit, sondern nach der Theorie der sozialen Demokratie rational und nützlich.31
Diese drei Werte bedingen und stützen sich gegenseitig. In der sozialen Demokratie kann weder die Freiheit ohne Gerechtigkeit und Solidarität auskommen noch die Gerechtigkeit und Solidarität ohne die Freiheit. Sie bilden zusammen einen „wesentlichen Begründungszusammenhang für eine soziale und demokratische Gesellschaft“32. Für die Analyse der sozialen Gerechtigkeit in den Bildungssystemen wird zwar hauptsächlich auf den Wert der Gerechtigkeit eingegangen, diese ergibt sich jedoch aus dem hier dargelegten Zusammenhang aller drei Grundwerte. Im Kapitel des Index der sozialen Demokratie werden darüber hinaus alle drei Aspekte aufgegriffen.
[...]
1 Deutscher Bundestag: Bundestagswahlergebnisse seit 1949 - Zweitstimmen. https://www.bundestag.de/parlament/wahlen/ergebnisse_seit1949-244692. Stand: 10.04.21.
2 Vgl. Bernd Rother: Erneuerung oder Niedergang? Die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Europa 1970-2020. 2021. https://www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie/artikelseite- adsd/erneuerung-oder-niedergang. Stand: 10.04.21.
3 Vgl. Ebd.
4 Vgl. Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie. 1916.
5 World Happiness Report 2021. Hrsg. v. John F. Helliwell, Richard Layard, Jeffrey Sachs, Jan-Emmanuel de Neve. New York 2021.
6 Vgl. Francis Sejersted: Das Zeitalter der Sozialdemokratie. Schweden und Norwegen im 20. Jahrhundert (2005). S. 47-61.
7 Vgl. Thorsten Braun: Ein neues Modell für Flexicurity -der dänische Arbeitsmarkt. In: WSI Mitteilungen (2003). S. 92-99.
8 Vgl. Sven Jochem: Skandinavische Arbeits- und Sozialpolitik. Vorbilder für den vorsorgenden Sozialstaat. Berlin 2011. S. 1.
9 Norwegian Government Security and Service Organisation: Norway's Prime Minister. 2013. https://www.regjeringen.no/en/the-government/previous-governments/historiske-artikler/offices/prime- minister-since-1814/id426147/. Stand: 20.05.2021.
10 Vgl. Mary Hilson: The Nordic model : Scandinavia since 1945. London 2008 (= Contemporary worlds) S. 41.
11 Vgl. Nikolai Brandal: The Nordic model of social democracy. Basingstoke 2013 (= Sosialdemokratiet fortid, nortid, framtid). S. 97.
12 Vgl. Hilson, The Nordic model : Scandinavia since 1945 S. 27.
13 Vgl. Christian Krell: Was wir von den Minderheitsregierungen Skandinaviens lernen können. In: Vorwärts (05.12.2017).
14 Vgl. Ulf Blossing, Gunn Imsen und Lejf Moos: The Nordic Education Model : 'A School for All' Encounters Neo-Liberal Policy. Dordrecht 2014 (= Policy Implications of Research in Education, Bd. 1) S. VII.
15 Vgl. Hilson, The Nordic model : Scandinavia since 1945. S. 13-26.
16 Vgl. Ebd. S. 52.
17 Vgl. Ebd. S.114
18 Vgl. Tobias Gombert und u. A.: Grundlagen der Sozialen Demokratie. Bonn 2014. S. 7.
19 Vgl. Thomas Meyer: Theorie der Sozialen Demokratie. Wiesbaden 2005. S. 12.
20 Vgl. Gombert, u. A., Grundlagen der Sozialen Demokratie. S. 15.
21 Vgl. Ebd. S. 52.
22 John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1988 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 271).
23 Richard G. Wilkinson, Kate Pickett, Edgar Peinelt und Klaus Binder: Gleichheit ist Glück: warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. 2009.
24 Gombert, u. A., Grundlagen der Sozialen Demokratie. S. 53.
25 Manfred G. Schmidt: Theorie der Sozialen Demokratie. In: Demokratietheorien: Eine Einführung. Wiesbaden 2019. S. 217-226 S. 217.
26 Vgl. Burkhard Jungkamp und Marei John-Ohnesorg (Hrsg.): Gerechtigkeit fängt bei der Bildung an. Eine sozialdemokratische Erzählung. 2016 (= Schriftenreihe des Netzwerk Bildung, Bd. 37).
27 OECD: PISA-Report 2018. 2018.
28 SPD: Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit. Regierungsprogramm der SPD 2017. Berlin 2017. S. 81+87+113.
29 Vgl. Gombert, u. A., Grundlagen der Sozialen Demokratie. S. 27.
30 Gombert, u. A., Grundlagen der Sozialen Demokratie S. 54.
31 Vgl. Ebd. S. 60.
32 Ebd. S. 67.
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