Bachelorarbeit, 2020
50 Seiten, Note: 3,0
1. Einleitung
2. Relevanz literarischen Lernens im Deutschunterricht der Grundschule
2.1 Literarisches Lernen und gesellschaftliche Teilhabe
2.2 Literarisches Lernen und Sprachbildung in der Grundschule
3. Bedeutsamkeit von Bilderbüchern für das literarische Lernen in der Grundschule
3.1 Geschichtlicher Hintergrund der Literatur- und Bildwissenschaft
4. Ausgewählte Bilderbücher
4.1 Swimmy
4.2 Die blaue Bank
4.3 Aus dem Schatten trat ein Fuchs
5. Bilderbuchillustrationen, Vorstellungsbildung und Ästhetik
6. Kaspar Spinners elf Aspekte literarischen Lernens
6.1. Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen
6.1.1 Sprachliche Gestaltung in Swimmy
6.1.2 Sprachliche Gestaltung in Die blaue Bank
6.1.3 Sprachliche Gestaltung in Aus dem Schatten trat ein Fuchs
6.2 Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden
7. Das Vorlesegespräch als didaktische Einsatzmöglichkeit der Bilderbücher.
8. Potentiale der vorgestellten Bilderbücher im Hinblick auf den Hamburger Bildungsplan für das Fach Deutsch in der Grundschule sowie die KMK Bildungsstandards
9. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang
Die Behandlung von Bilderbüchern im schulischen Rahmen ist seit der Jahrtausendwende merkbar in den Fokus gerückt (vgl. Scherer et al. 2014, S. 1). „Bilderbücher als literarisch-ästhetische Werke“ (ebd.) generieren ihre Inhalte sowohl durch ihre Illustrationen als auch durch ihren Text sowie deren Korrelation (vgl. ebd.). Sie bieten Kindern vielschichtige Identifikationsmöglichkeiten und wecken das kindliche Interesse an der Eruierung ihrer Entität (vgl. Oetken 2007, S. 19). So schaffen sie in singulärer Weise einen Zugang zur Welt (vgl. Uhlig 2014, S. 9).
In dieser Arbeit soll anhand von drei ausgewählten Bilderbüchern exemplarisch dargestellt werden, welche Potentiale diese für den Deutschunterricht der Grundschule bergen und wie Bild und Text dabei zusammenarbeiten und wirken. Hierbei wird der Fragestellung nachgegangen, welche Potentiale die drei Bilderbücher für literarisches Lernen in Bezug auf Kaspar H. Spinners dritten und neunten Aspekt der „elf Aspekte literarischen Lernens“ (Spinner 2015, S. 188) („Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen“ (ebd. S. 190), „Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden“ (ebd. S. 192)) bergen. Ziel dieser Bachelorarbeit ist es, die Relevanz literarischen Lernens in der Grundschule zu akzentuieren.
Im ersten Teil der Arbeit wird die Relevanz literarischen Lernens im Deutschunterricht der Primarstufe näher erläutert. Hierbei wird auf die von Kaspar Spinner formulierten Potentiale und Zielsetzungen von Literaturunterricht eingegangen. Weiterführend werden Forschungsergebnisse zum Umgang mit anspruchsvoller Literatur in der Grundschule vorgestellt. In Kapitel 2.1 geht es um den Zusammenhang von gesellschaftlicher Teilhabe und literarischem Lernen. Im darauffolgenden Unterkapitel wird auf die Bedeutung von literarischem Lernen für die kindliche Sprachentwicklung und -bildung eingegangen. Hierbei geht es um die Signifikanz des Wortschatzausbaus und der Erweiterung sprachlicher Handlungsmöglichkeiten. Anschließend wird in Kapitel 3 die Bedeutsamkeit von Bilderbüchern für das literarische Lernen dargelegt. Hierbei geht es insbesondre um das Zusammenwirken von Bild und Text. Eingegangen wird auch auf den geschichtlichen Hintergrund von Literatur- und Bildwissenschaft. In Kapitel 4 werden drei ausgewählte Bilderbücher vorgestellt, die meines Erachtens nach ein hohes Potential für literarisches Lernen bergen. Vorgestellt werden Swimmy von Leo Lionni, Aus dem Schatten trat ein Fuchs von Einar Turkowski und Die blaue Bank von Albert Asensio. Die beiden letztgenannten Bilderbücher sind Ende der 2010er Jahre erschienen und gehören zu den neuesten Bilderbüchern auf dem Buchmarkt für Kinder- und Jugendliteratur und weisen besondere literar-ästhetische Elemente auf. Swimmy ist erstmals in den 1960er Jahren erschienen und kann als Kinderbuchklassiker bezeichnet werden. In Kapitel 5 wird die Bedeutung abstrakter Bilder in Bilderbüchern für die Entwicklung von Imagination und Bildreflexion erörtert. Hierbei wird auf die besondere Bildwahrnehmung und -rezeption deutungsoffener Bilder eingegangen. In Kapitel 6 werden zwei Aspekte von Kaspar Spinners „elf Aspekten literarischen Lernens“ (Spinner 2015, S. 188) in Bezug auf die vorgestellten Bilderbücher behandelt. Hierauf aufbauend wird das Vorlesegespräch als didaktische Einsatzmöglichkeit der Bilderbücher vorgestellt. Im letzten Kapitel der Arbeit werden die Potentiale der vorgestellten Bilderbücher im Hinblick auf den Hamburger Bildungsplan sowie die KMK Bildungsstandards für das Fach Deutsch in der Grundschule hervorgehoben.
Der Grundschule wird häufig fast ausschließlich der Aufbau der Lese- und Schreibkompetenz zugestanden, welcher literarische Texte, da diese sprachlich besonders anspruchsvoll sind, eher ausklammert (vgl. Richter 2014, S. 194f.). Die angewandten Unterrichtsgegenstände und Materialien vernachlässigen hierbei häufig die ästhetischen und künstlerischen Aspekte von Literatur. Dies liegt zu einem großen Teil daran, dass die Interpretations- und Verstehenskompetenzen von Kindern im schulischen Kontext von der Lehrperson häufig unterschätzt werden (vgl. Heinke 2013, S. 13). Diese Differenzierung des Aufgabenbereichs, welche hauptsächlich der Sekundarstufe die Explikation literarischer Bildung zuweist, wird vom Schweizer Germanisten und Professor „für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg“1 Kaspar H. Spinner hinterfragt und gebrochen (vgl. Maiwald 2015, S. 86).
Kaspar Spinner nennt in seinem Deutschdidaktik Handbuch Kreativer Deutschunterricht: Identität - Imagination - Kognition folgende Potentiale und Zielsetzungen von Literaturunterricht (vgl. Spinner 2008/ 1999, S. 168): „Förderung der Freude am Lesen“ (ebd.), „Texterschließungskompetenz“ (ebd. S. 169), „Literarische Bildung“ (ebd. S. 170), „Förderung von Imagination und Kreativität“ (ebd.), „Identitätsfindung und Fremdverstehen“ (ebd. S. 171) sowie „Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen“ (Spinner 2008/ 1999, S. 172). Aus meiner Sicht sind hierbei die Potentiale „Förderung der Freude am Lesen“ (ebd. S. 168) und „Förderung von Imagination und Kreativität“ (ebd. S. 170) besonders wichtig für literarisches Lernen in der Grundschule. Die Freude am Lesen ist grundlegend für die Entwicklung der Lesekompetenz und - motivation. Die Potentiale Vorstellungsbildung und Kreativität sind meiner Meinung nach besonders für Kinder produktiv, da gerade Kinder im Grundschulalter an kreativen und Imagination fordernden Unterrichtsmitteln und Aufgabenstellungen Freude haben. Vorstellungsbildung und Kreativität sind in Bezug auf die Fragestellung von Relevanz, da die Beobachtung sprachlicher Besonderheiten ebenfalls ein kreativer und konstruktiver Prozess ist. Das literarische Gespräch, welches im späteren Verlauf der Arbeit als Unterrichtsmethode für die Behandlung der ausgewählten Bilderbücher erläutert wird, fordert und fördert vor allem Vorstellungsbildung und Imagination, da es im Kontext der Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses insbesondere auf Reflexion und Imagination ausgerichtet ist (vgl. Spinner 2015, S. 192).
Um 2006 wurde ein Projekt entwickelt, das Forschungsergebnisse aus Lehre und Forschung auswertete und zusammen mit konkreten Unterrichtsvorschlägen und Inspirationen für die Unterrichtsgestaltung des Literaturunterrichts der Grundschule aufbereitete. Diese wurden in der Buchserie Bilder erzählen Geschichten - Geschichten erzählen zu Bildern herausgebracht. Hierbei wurden wissenschaftliche Untersuchungen fundierter literarischer Stoffe und Illustrationen mit methodischen Zugängen und Anregungen für die Lehrkraft sowie Studiendaten aus den empirischen Forschungsprojekten mit Kindern dargelegt. Der Literaturkanon umfasst Werke von Schriftstellern und Herausgebern wie Grimm, Andersen, Hauff, E.T.A. Hoffmann, Schiller und Goethe sowie Geschichten aus der griechischen Mythologie und Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. In Schulprojekten zu diesem Literaturstoff konnte beobachtet werden, dass Grundschulkinder Freude und großes Interesse an den Geschichten und Themen hatten. Behandelt wurden Klassiker der Weltliteratur, die bisher kaum in der Primarstufe behandelt werden, wie etwa Goethes Faust oder Schillers Die Räuber (vgl. Heinke 2013, S. 14). Der Literaturunterricht thematisierte konkret die Illustrationen und Bilder und war handlungs- und produktionsorientiert ausgelegt (vgl. Richter 2012, zitiert nach ebd.). So konnten bereits Kinder im Grundschulalter das Sujet und den Sinngehalt literarischer Stoffe ohne Schwierigkeiten eruieren (vgl. Heinke 2013, S. 14). Weiterführend wurde anhand von Literaturprojekten an Schulen um 2010 von Studierenden der Universität Erfurt belegt, dass Grundschulkinder Freude an anspruchsvollen Texten haben, die fesselnd sind und Gefahren, Fantasie und Risiken thematisieren (vgl. Heinke 2013, S. 13).
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass bereits Kinder im Grundschulalter an literarisch anspruchsvoller Literatur interessiert sind und ausreichende Kompetenzen aufweisen, um an diese Literatur bereits in der Primarstufe herangeführt werden zu können. Ich denke die Gewichtung von Literaturunterricht in der Grundschule kann die Begegnung mit dem Literaturstoff der Sekundarstufe grundlegend verändern (vgl. Richter 2014, S. 194). Den Schülerinnen und Schülern der weiterführenden Schule ist die Behandlung von Literatur häufig suspekt. Sowohl Mädchen als auch Jungen finden Gedichte eher langweilig und peinlich. Ich denke die Präadoleszenz ist daher eine ungünstige Altersspanne für den Beginn des Literaturunterrichts. Wenn Lyrik, Drama und anspruchsvollere Prosa selbstverständliche Unterrichtsgegenstände für Grundschulkinder darstellen, stoßen sie in der Präadoleszenz und Adoleszenz möglicherweise nicht auf jene Ablehnung.
Zur Veranschaulichung der Potentiale anspruchsvoller Literatur werden in dieser Arbeit drei ausgewählte Bilderbücher vorgestellt. Diese sind sowohl thematisch als auch sprachlich anspruchsvoll, weisen vielseitige künstlerische und literar-ästhetische Elemente auf und sind in diesen Aspekten vergleichbar mit den Literaturstoffen der dargelegten Forschungsprojekte.
Ein weiterer Aspekt, der für die frühzeitige Förderung literarischer Kompetenzen spricht, ist der der gesellschaftlichen Teilhabe. Insbesondere die Grundschule wird als Ort des Ausgleichs von Bildungsungleichheit definiert. Literaturunterricht in der Grundschule bietet die Chance gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, da auch Kindern aus bildungsfernen Familien der Zugang zu Büchern ermöglicht wird. Literarische Bildung wird besonders bei Kindern aus bildungsnahen Haushalten durch Vorlesen oder eigenes Lesen in Begleitung der Eltern gefördert. Kinder aus bildungsfernen Familien werden von dieser Form von Bildung häufig weitgehend ausgeschlossen. Durch eine Akzentuierung literarischen Lernens in der Grundschule kann diese Chancenungleichheit zumindest teilweise ausgeglichen werden (vgl. Heinke 2013, S. 13f.).
Immanuel Kant schreibt 1781 in seinem erkenntnistheoretischen Werk Kritik der reinen Vernunft : „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (1966/ 1781, S. 120). Worte sind aufgrund ihrer mentalen Bilder bedeutungstragend (vgl. Pape 2016, zitiert nach Abraham / Sowa 2016, S. 18). Eine „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ (1966/ 1781, S. 217) schreibt Kant. Wir Menschen können bestimmte Gefühle gar nicht empfinden, wenn uns die Versprachlichung hierzu fehlt. Wir können nur denken, was wir versprachlichen können. Durch Sprache wird die Welt erfahrbar (vgl. Gadamer 1971, zitiert nach Ballnat 2012, S. 13; vgl. Uhlig 2014, S. 10). Die länderübergreifenden Bildungsstandards betonen die Bedeutung von Sprache und Sprachentwicklung und formulieren diese wie folgt:
Sprache ist Träger von Sinn und Überlieferung, Schlüssel zum Welt- und Selbstverständnis und Mittel zwischenmenschlicher Verständigung. Sie hat grundlegende Bedeutung für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder. (KMK 2004, S. 6)
Die sprachliche Entwicklung von Kindern trägt nach dieser Aussage unmittelbar dazu bei, wie diese die Welt erfahren.
Die geistige Entwicklung und der Ausbau des Wortschatzes stehen deshalb in einem unmittelbaren Bezug zueinander (vgl. Krüss 1969, S. 123). Der deutsche Dichter und Schriftsteller James Krüss schreibt 1969 in seiner literaturkritischen Aufsatzsammlung Naivität und Kunstverstand. Gedanken zur Kinderliteratur : „Wer für achtjährige Kinder ausschließlich mit dem Wortschatz der Achtjährigen schreibt, hemmt ihre Entwicklung, statt sie zu fördern. Sprache erweitern ist Welt erobern“ (ebd.). Aufgrund der starken Abweichung literarischer Sprache von der alltäglich gesprochenen Sprache der Kinder können ihr Wortschatz sowie sprachliche Handlungsmöglichkeiten erweitert werden. So birgt Literatur eine Chance für das entwicklungspsychologische Prinzip der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotskij 2003, zitiert nach Giest 2007, S. 6). Es besagt, entwicklungsförderlicher Unterricht orientiert sich nicht an den bereits vollständig entwickelten psychischen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder, sondern an den sich gerade in Entwicklung befindenden (vgl. ebd.). Der Hamburger Bildungsplan formuliert im Abschnitt „Arbeitsbereich Sprache untersuchen“ (Rahmenplan 2003, S. 24) die Bedeutung des Wortschatzausbaus im Deutschunterricht der Grundschule (vgl. ebd. S. 25). Im Abschnitt „Arbeitsbereich Sprechen und Zuhören, Erzählen und Gespräche führen“ (Rahmenplan 2003, S. 15) wird erläutert, wie Sprechsituationen im Unterricht sprachliche Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten ausbauen können (vgl. ebd.).
Magda Motté, Professorin für Germanistik und studierte Pädagogin, erklärt Anfang der 1980er Jahre in ihrem Buch Moderne Kinderlyrik. Begriff, Geschichte, literarische Kommunikation, Bestandsaufnahme, wie vor allem Sprachspiele bei Kindern Neugier erwecken und ihnen Freude bereiten. Kreative, sprachspielerische Texte, so Motté, legen in diesem Zusammenhang auch die konstitutive Veränderbarkeit von Sprache dar (vgl. Motté 1983, S. 179). Hierbei sind insbesondere lyrische Texte besonders sprachförderlich und -bildend (vgl. ebd. S. 133). Kindern im Grundschulalter helfen „Klang, Reim und Rhythmus, Wiederholung gleicher Wörter und Satzmuster“ (ebd. S. 80), um den Bedeutungsgehalt unbekannter Texte zu erschließen (vgl. ebd.). Die Erziehungswissenschaftlerinnen Sabine Martschinke, Eva-Maria Kirschhock und Angela Frank sprechen in ihrem Buch Diagnose und Förderung im Schriftspracherwerb. Der Rundgang durch Hörhausen von der Enwicklung einer phonologischen Bewusstheit. Insbesondere Reime, so Martschinke et al., fördern die phonologische Bewusstheit von Kindern, welche für den Schriftspracherwerb und das Lesenlernen von substanzieller Bedeutung ist. Auf ihr basiert die Fähigkeit Phoneme, Silben und Wörter zu erkennen und differenzieren zu können. Längsschnittstudien im englischsprachigen und deutschsprachigen Raum der 1980er und 90er Jahre konnten die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit sowohl für die Lese- bzw. Rechtschreibleistung als auch für das Leseverständnis bestätigen (vgl. Martschinke et al. 2005, S.10).
Die drei Bilderbücher, die im späteren Verlauf der Arbeit vorgestellt werden, sind besonders potent in Bezug auf die Sprachentwicklung in der Grundschule, da sie aufgrund der Abweichung von der alltäglich gesprochenen Sprache der Kinder, den Wortschatz und damit sprachliche Handlungsmöglichkeiten erweitern. Eines der Bücher, Aus dem Schatten trat ein Fuchs, ist ein mehrstrophiges Erzählgedicht (vgl. Piontek 1982, zitiert nach Laufhütte 2000 S. 605) und beinhaltet so besonders vielfältige lautliche Besonderheiten wie Wiederholung, Reime und onomatopoetische Ausdrücke.
Bilderbücher bergen verschiedene Potentiale für das literarische Lernen in der Grundschule, die ich im Folgenden näher erläutern möchte. „Die Lust des Kindes an seinem Bilderbuch ist die Lust an der Welt“ (1969, S. 16), schreibt James Krüss. Die im Laufe der letzten Jahre zunehmend etablierte Bildwissenschaft beschäftigt sich mit der Frage nach dem Potential von Bildern für die Wissensgenerierung (vgl. Bachmann- Medick 2010, zitiert nach Uhlig 2014, S. 11). Im Umgang mit Literatur kommt Bildern und Illustrationen eine bedeutende Funktion zu. Sie evozieren Neugier und Spannung und erzeugen so anhand von Emotionalität Interesse an Büchern und Geschichten sowie Motivation beim Lesenlernen (vgl. Heinke 2013, zitiert nach Plath 2013, S. 75). Zudem ermöglichen Bilder ein Nachdenken, Reflektieren und Philosophieren über das Sinnpotential literarischer Themen sowie ein greifbar-kreatives Erleben literarischer Welten (vgl. Heinke 2013, S. 15). Bilderbücher folgen dem Bildprinzip, der Bildfolge oder -sequenz. Die Bilder sind ausgewählte Momentaufnahmen, die stillgelegt und akzentuiert werden. Sie akzentuieren eine bestimmte narrative Situation, bringen die Narration zu einem kurzen Stillstand und fordern zum verweilenden Rezipieren und Beobachten auf (vgl. Uhlig 2014, S. 12). „Bilder lassen sich in erster Linie sehen und darüber hinaus: imaginieren, darstellen, sichtbar machen.“ (ebd. S. 11).
Dass Bilder auch narrative Beiträge adaptieren, legt Prof. Dr. Jens Thiele, „Professor für visuelle Medien an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg“2, in seinem Buch Das Bilderbuch: Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption dar. Bildern, so Thiele, ist ein akzentuierendes, erzählerisches Ingenium inhärent, sie sind so Teil der dramaturgischen Handlung (vgl. 2003, S. 46). Thieles Argumentation fußt hierbei auf dem Begriff der „visuellen Narrativität“ (Varga 1990, zitiert nach ebd.), welcher vom deutsch-ungarischen Literaturwissenschaftler Aron Kibédi Varga im Kontext einer Studie zu narrativen Dispositionen in antiken Malereien generiert wurde (vgl. Thiele 2003, S. 46). Insbesondere Illustrationen eines Bilderbuchs, so die Kunstpädagogin und Professorin am Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft an der Universität Hildesheim, Bettina Uhlig, können über „eine bildimmanente Narration“ (2014, S. 11) verfügen.
Illustrationen fungierten ursprünglich als dem Text untergeordnete Komponenten, welche dem Text als Beigabe, Veranschaulichung und Erläuterung dienten. Eine solche Hierarchisierung findet im Bilderbuch nicht statt. Beide Komponenten werden als äquivalent und miteinander in Relation stehend angesehen (vgl. Thiele 2011, S. 223). Hans ten Doornkaat, „Dozent für Illustrationstheorie an der [...] Schule für Kunst und Design Zürich“3, beschreibt das Bilderbuch als „parallelsprachiges Medium“ (1991, zitiert nach Jantzen / Klenz 2013, S. 7). Weitere Kunstwissenschaftler und Autoren erläutern die Qualitäten der Bild-Text-Korrespondenz im Bilderbuch mit Formulierungen wie „Doppelnatur“ (Halbey 1997, zitiert nach ebd.), „kontrapunktische Beziehung“ (Thiele 2003, zitiert nach ebd.), und „Text-Bild-Interdependenz“ (Thiele 2005, Wildeisen 2013, zitiert nach ebd.; vgl. Jantzen / Klenz 2013, S. 7). In Bilderbüchern bilden Text und Bild eine Gesamtheit, sie sind aufeinander angewiesen und stehen stets in enger Korrespondenz (vgl. Uhlig 2014, S. 9). Bild und Text sind hierbei weitgehend kongruent und doch nie deckungsgleich. Die Korrespondenz generiert Interdependenz, Kongruenz aber auch Ambivalenz (vgl. ebd. S. 13). Jedes Bilderbuch ist in dieser Hinsicht sehr individuell komponiert und stellt singuläre Rezeptionsanforderungen (vgl. ebd. S. 24). Der Hamburger Rahmenplan für das Fach Deutsch in der Grundschule formuliert in Bezug auf Verständnis und Zugang zum Medieninhalt die Anforderung „das Verhältnis von Bild und Text“ (Rahmenplan 2003, S. 6) als Einheit erfahrbar zu machen (vgl. ebd.). Die modernen und postmodernen Bilderbücher spielen hierbei häufig mit Offenheit, Irritation und Befremdung (vgl. Weinkauff/ von Glasenapp 2010, zitiert nach Jantzen / Klenz 2013, S. 8). Offene (vgl. Uhlig 2014, S. 20) und ambivalente Stellen (vgl. Volz 2014, S. 34) in einem Bilderbuch sind dabei für literarische Lernprozesse besonders produktiv. Häufig ist die Bild-Text-Korrespondenz sehr komplex strukturiert (vgl. Painter et al. 2013, zitiert nach Volz 2014, S. 24). Sie sind literarisch und bildnerisch besonders ingeniös und qualitätvoll (vgl. Arzipe 2003, zitiert nach Volz 2014, S. 27f.). So hegen sie ein vielschichtiges literar-ästhetisches Erfahrungs- und Bildungspotential (vgl. Scherer 2014, S. 75). Insbesondere moderne und postmoderne Bilderbücher verfolgen ein aisthetisch-bildhaftes Bildungsziel. Dieser Bildungsbegriff beschreibt Wahrnehmung und Erkenntnisbildung, die aus sinnlichen Erfahrungen resultieren (vgl. Maar/ Burda 2004, Bruhn 2009, zitiert nach Abraham / Sowa 2016, S. 16).
Die vorzustellenden Bilderbücher Die blaue Bank von Albert Asensio und Aus dem Schatten trat ein Fuchs von Einar Turkowski sind Ende der 2010er Jahre erschienen und somit Werke der Gegenwartsliteratur, die die genannten Merkmale aufweisen. Die Bilderbücher weisen Leerstellen, Mehrdeutigkeit und Deutungsoffenheit sowie Ambivalenz auf (vgl. Plath 2013, S. 77). Enigmatische Text- und Bildkomponenten und philosophische Fragestellungen sind kennzeichnend für die beiden Bilderbücher.
Kompetenzen in Bezug auf Bild- und Textrezeption müssen entwickelt und gefördert werden. Insbesondere die Bildbetrachtung beim Lesen eines Bilderbuchs wird im Deutschunterricht nachweislich ausgeklammert und vernachlässigt (vgl. Kruse 2012, zitiert nach Volz 2014, S. 23). Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Iris Kruse argumentiert in ihrem Beitrag zur Konferenzschrift Bilderbuch und literar-ästhetische Bildung. Aktuelle Forschungsperspektiven, der Literaturunterricht erfordere einen produktiven Umgang mit ästhetisch-komplexen Illustrationen, welcher eine sukzessive Annäherung über profane Bilderbuchillustrationen sowie vielfältige Erfahrungen in Bezug auf Bildrezeption bietet (vgl. Kruse 2014, zitiert nach Scherer et al. 2014, S. 3). Zusammenfassend bergen insbesondere verschiedene Aspekte des Zusammenspiels von Bild und Text eine Zugänglichkeit zum literarischen Sinnpotential sowie vielfältige Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten. Im Folgenden wird der geschichtliche Hintergrund der Literatur- und Bildwissenschaft näher erörtert.
Bild und Schrift sind beide Mittel zur Expression und Kommunikation, die im Laufe des menschlichen Evolutionsprozesses entstanden sind und bereits in der jüngeren Epoche der eurasischen Altsteinzeit in Höhlengemälden gemeinsam Verwendung gefunden haben. Es geht in beiden Medien darum, einer Aussage Bestand anzueignen. Die Literatur- und die Bildwissenschaft begründen sich so beide aus der evolutionären Anthropologie (vgl. Abraham / Sowa 2016, S. 14). Sprache und Text sind nicht klar von anderen Repräsentationsformen trennbar. Sie enthalten stets Zeichen anderer Kommunikationssysteme (vgl. Fix 2008, zitiert nach ebd.). Der sprachlichen Kommunikation sind beispielsweise „Gestik, Mimik, Stimmführung, [...] Bilder, Typographie [und] Papiersorte“ (ebd.) inhärent. Sabine Gross schreibt 1994 in ihrem sprachwissenschaftlichen Werk Lesezeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozess Texte würden in der einen Hinsicht nicht bloß gelesen (vgl. 1994, zitiert nach Abraham / Sowa 2016, S. 14) , „sondern auch gesehen“ (ebd.) und ebenso würden „Bilder nicht nur gesehen, sondern auch gelesen“ (ebd.). Die kulturellen Bestimmungen der beiden Repräsentationsformen ergeben sich aus der abbildenden Funktion der Bilder und der dem Text zugeschriebenen Funktion des Artikulierens und Räsonierens. Texte können aber auch darstellende Funktionen und Formen haben sowie Bilder auch erklärende (vgl. Sachs-Hombach 2013, zitiert nach Abraham / Sowa 2016, S. 15). So könnte man argumentieren, dass Bilder, so wie Texte, eine Syntax, eine Semantik und eine Pragmatik besitzen (vgl. Sachs-Hombach 2013, zitiert nach ebd. S. 14f). „Bild und Text [sind] unterschiedliche Repräsentationsformen von Wirklichkeit [.], deren Differenz man produktiv nutzen kann.“ (Uhlig 2014, zitiert nach Scherer et al. 2014, S. 2). Beide Repräsentationsformen kommunizieren Bedeutung und bieten aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven einen Zugang zur Welt (vgl. Uhlig 2014, S. 9). Die antiken Philosophen haben Bild und Schrift als Analogien interpretiert, die stets parallel betrachtet und untersucht wurden. Bild und Text seien beide nur Annäherungsversuche an die Wirklichkeit. Diese Abbildungen der Wirklichkeit seien diffus, enigmatisch, perspektivisch (vgl. Asmuth 2011, zitiert nach Abraham / Sowa 2016, S. 17) - „Schatten- und Spiegelbilder“ (ebd.).
Aufgrund dieser Berührungs- und Verbindungsstellen der Kunst- und der Literaturwissenschaft kommt dem Deutschunterricht auch eine kunstdidaktische Aufgabe zu, wie auch dem Kunstunterricht eine sprachdidaktische Aufgabe zukommt (vgl. Volz 2014, S. 40). Für die Bildwahrnehmung und -deskription ist ein vielfältiger Wortschatz von eminenter Bedeutung (Lieber 2014, S. 117). Insbesondere bei der Behandlung von Bilderbüchern müssen beide Didaktiken miteinander verknüpft werden. Hierbei verschwimmen die Grenzen von Literatur- und Kunstdidaktik (vgl. Volz 2014, S. 40).
Im Folgenden möchte ich drei Bilderbücher vorstellen, die meines Erachtens nach sowohl im Hinblick auf den Text, die Bilder als auch die Thematik vielfältige Potentiale für das aufmerksame Beobachten sprachlicher Besonderheiten sowie für literarische Gespräche in der Grundschule bergen. Hierbei gehe ich auf Bild und Text sowie auf spezifische Merkmale und Motive der Bücher ein.
Leo Lionnis Swimmy erzählt von Natur, Glück, Freundschaft, Solidarität, Gemeinschaft und Mut sowie von der Schönheit der Natur, welche wichtige Themen für die psychosoziale Entwicklung von Kindern sind. Die abstrakte Bildgestaltung lässt Raum für Imagination und fördert so die Entwicklung des Vorstellungsvermögens. Das Buch kann ab Klasse 1 behandelt werden.
Albert Asensios Die blaue Bank bietet einen literar-ästhetischen Text in Prosaform. Die gewählte Sprache ist besonders metaphorisch und sinnbildlich gestaltet. Ein großes Potential für literarisches Lernen bietet auch die Thematisierung von Liebe, Vergänglichkeit, Tod und Einsamkeit.
[...]
1 https://www.friedrich-verlag.de/klett-kallmeyer-fachbuecher/autoren/spinner-kasparh/.
2 http://www.jensthiele.de/vita/vita.php.
3 https://www.skdz.ch/ueber-uns/team/hans_ten_doornkaat/.
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