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Bachelorarbeit, 2019
37 Seiten, Note: 2,0
Geschichte Deutschlands - Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg
1. Einleitung
2. Allgemeine Vorstellungen vom Luftkrieg der Zukunft
2.1. Erfahrungen und Erwartungen nach Beendigung des Ersten Weltkrieges
2.2. Entwicklungstendenzen der Luftkriegstheorie
3. Die Genese der deutschen Luftstreitkräfte
3.1. Der Weg zur Teilstreitkraft
3.2. Die geheime materielle und personelle Rüstung am Beispiel der Flugerprobungsstätte Lipezk
3.3. Die Bedeutung der Luftwaffe zur Durchsetzung der außenpolitischen Ziele
3.4. Probleme der rapiden Aufrüstung
4. Die Vorstellung vom Luftkrieg in Deutschland
4.1. Die Genese der Luftwaffendienstvorschrift 16 (L.Dv.16)
4.2. Der erste konzeptionelle Test im Spanischen Bürgerkrieg
4.3. Das Bild vom Luftkrieg bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
5. Fazit
Literaturverzeichnis
„Wir geben die Hoffnung nicht auf, die Fliegertruppe noch einmal zu neuem Leben entstehen zu sehen. […] Die Waffe ist nicht tot, ihr Geist lebt.“, erklärte der Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, infolge der Auflösung der deutschen Luftstreitkräfte gemäß der Versailler Bestimmungen.1 Diese Worte bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, welche die Genese der deutschen Luftstreitkräfte und deren Luftkriegskonzeption von 1918 bis 1939 skizziert.2
Der Aufbau der Luftwaffe begann nicht erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und deren aggressiver Außenpolitik. Vielmehr lässt sich ein roter Faden von Versailles bis Wieluń konstruieren. Um dies zu erörtern und zu korrelieren, wird die Geschichte der deutschen Luftstreitkräfte zwischen diesen Ereignissen analysiert. Warum verfügte die Luftwaffe trotz der Vorarbeiten in der Weimarer Republik bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht über ein Luftkriegskonzept, das Theorie und Praxis besser vereinen konnte?
Dabei ist es wichtig, das Wissen vom Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg auszublenden, weil dadurch der rationale Blick auf die politischen und militärischen Entscheidungen sowie deren Folgen in der Zwischenkriegszeit gefährdet wird. Schließlich kann es zu überheblichen Schlussfolgerungen führen, wenn die Zeit bis zum 1. September 1939 vom Ausgang des Zweiten Weltkrieges her betrachtet wird.
Zunächst werden die allgemeinen militärischen Schlussfolgerungen nach Beendigung des Ersten Weltkrieges geschildert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung der Erfahrungen und Lehren des Krieges sowie den daran geknüpften Erwartungen und Visionen für zukünftige militärische Auseinandersetzungen. Anschließend wird die Genese der Luftstreitkräfte in Deutschland3 erörtert. Es soll gezeigt werden, wie durch das fortwährende Ignorieren der Bestimmungen von Versailles der Aufbau der Luftstreitkräfte vorangetrieben wurde. Das Fundament der Luftwaffe im nationalsozialistischen Deutschland wurde in den 1920er und frühen 1930er Jahren gelegt. Es umfasst die materielle Erprobung und die personelle Ausbildung sowie den Diskurs über die Notwendigkeit einer neuen Teilstreitkraft und deren taktische und strategische Bedeutung neben Heer und Marine. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Luftstreitkräfte einen tatsächlichen dritten Wehrmachtsteil darstellten. Ferner wird untersucht, welchen Einfluss der Regimewechsel 1933 auf die militärische Luftfahrt ausübte. Die Geheimhaltung der Luftstreitkräfte bis zur offiziellen Enttarnung am 1. März 1935 wurde beispielsweise immer mehr vernachlässigt. Dies ist nicht auf die Unfähigkeit der handelnden Personen zurückzuführen, sondern stellt vielmehr einen ersten Schritt zum Aufbau einer vom Ausland ehrfürchtig betrachteten Luftwaffe dar. Abschließend wird untersucht, unter welchen Umständen sich die deutsche Luftkriegskonzeption entwickelte. Das Verbot der motorisierten zivilen und militärischen Luftfahrt zwang Deutschland in eine exponierte Lage. Die Ausgangspositionen der europäischen Staaten hätten 1919 kaum unterschiedlicher sein können. Der Kontinent war in Gewinner und Verlierer geteilt. Dies führte jedoch nicht zur Entstehung eines deutschen Sonderwegs, sondern zu einem modifizierten Pfad bei der Genese der Luftstreitkräfte, der in der Luftwaffendienstvorschrift 16 (L.Dv. 16) von 1936 aufging. Diese war zwar in der Theorie durchaus modern und fortschrittlich, ließ sich in der Praxis jedoch nicht adäquat umsetzen, da es an personellen und materiellen Voraussetzungen fehlte und sie sich deshalb im luftkriegskonzeptionellen Mainstream der hier zu untersuchenden Zeit befand. Die erste Bewährungsprobe der Luftwaffe im Spanischen Bürgerkrieg konnte nur bedingt zur Erprobung der Luftstreitkräfte beitragen. Die speziellen Anforderungen des Krieges bezüglich der sich gegenüberstehenden Kriegsparteien sowie der besonderen geografischen und architektonischen Konstellation waren wenig geeignet für eine Übertragung der Erkenntnisse auf zukünftige Kriegshandlungen in Mitteleuropa. Nichtsdestotrotz hatte der Einsatz in Spanien Auswirkungen auf die deutsche Luftkriegskonzeption, die zu erörtern sind.
Die Quellenlage bezüglich der Luftstreitkräfte im Zeitalter der Weltkriege ist vielschichtig und umfangreich. Es wurde bereits jeder Teilaspekt dieser Thematik durchdacht und analysiert. Daraus folgt ein breites Spektrum an Quellen, das auch verdeutlicht, wie emotional das Thema „Bombenkrieg“ teilweise behandelt wird. Die Beurteilung der Zerstörung Guernicas oder die alliierten Bomberoffensiven gegen Deutschland beispielsweise, scheinen dabei gelegentlich die eigene politische Haltung vor die Betrachtung der Fakten zu stellen. Für die einen war der Angriff auf Guernica „ein planmäßiger Terrorangriff auf die Zivilbevölkerung“4, welcher der Ungeduld der deutschen Führung geschuldet war, die endlich Ergebnisse sehen wollte5 und „die Terrorisierung der Bevölkerung billigend in Kauf“6 nahm. Demgegenüber steht die Auffassung, dass die Legende vom Luftbombardement gegen Zivilisten wissenschaftlich längst widerlegt sei.7 Die Zerstörung Guernicas durch die Legion Condor ist unstrittig. Das Brechen des Widerstandes der Zivilbevölkerung durch Terror und die völlige Zerstörung des Nationalheiligtums waren jedoch nicht der Ausgangspunkt des Bombardements.8 Inwieweit der Grundsatz des militärischen Handelns, die feindlichen Streitkräfte und nicht die Zivilbevölkerung zu bekämpfen, in der L.Dv. 16 aufgenommen wurde und was dies für die Bombardierung von Städten bedeutete, wird ebenfalls untersucht.
Der erste Weltkrieg hatte in Ansätzen demonstriert, was die neuen Luftstreitkräfte zu leisten im Stande waren und so nimmt es nicht wunder, dass ihnen eine gewichtige Rolle für künftige militärische Auseinandersetzungen zugesprochen wurde. Seit Beginn des Flugzeugbaus war das zivile und militärische Interesse am neuen Fortbewegungsmittel groß. Dass keine zehn Jahre zwischen dem ersten motorisierten Flug von Orville Wright 1903 und dem ersten Bombenabwurf im Italienisch-Türkischen Krieg lagen, verdeutlicht, wie rasant die technische Entwicklung voranschritt. Standen sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch wenige technisch stark limitierte Flugzeuge gegenüber, waren es am Ende tausende, die über den Schlachtfeldern eingesetzt wurden. Diese Entwicklungen weiterdenkend, musste der militärischen Luftfahrt größte Bedeutung zugesprochen werden. Das Verbot derselbigen durch die Bestimmungen von Versailles zeugt davon, dass sich die Staaten dessen bewusst waren. Dies war ein herber Dämpfer für die gesteigerten Erwartungen an die neue Waffe in Deutschland. Das gesamte Flugmaterial wurde an die Alliierten ausgeliefert, verschrottet oder verkauft.
Entstehung und Folgen des Stellungskrieges wurden von der deutschen militärischen Führung falsch beurteilt, weshalb nach dessen Beendigung deutlich wurde, dass die Motorisierung den Krieg der Zukunft prägen würde. Dazu zählten neben U-Booten und Panzern auch die Luftstreitkräfte. Diese bewirkten die Expansion des Krieges in die dritte Dimension und sollten dadurch die Art und Weise der kriegerischen Auseinandersetzung unwiderruflich verändern. Obwohl die Wirkung der Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg überschaubar und schon gar nicht kriegsentscheidend war, zeigte sich die potenzielle Leistungsfähigkeit der neuen Waffe. Feindliche Nationen als Ganzes konnten schneller und effektiver als je zuvor involviert werden. Seeblockaden und Belagerungen konnten die Zivilbevölkerung bis dahin zwar ebenfalls schwer treffen, doch war der Weg durch den Einsatz der Luftstreitkräfte kürzer und direkter. Das Überfliegen klassischer Frontverläufe sorgte für das Aufweichen selbiger und stellte den Schutz des eigenen Hinterlandes vor neue Herausforderungen. Der Luftkrieg der Zukunft musste daher offensiv wie defensiv gedacht werden. Das Erreichen der Luftherrschaft war folglich kennzeichnend für zukünftige Kriege.9
Im Ersten Weltkrieg zeigte sich, wie komplex und umfangreich die kriegerischen Auseinandersetzungen inzwischen geworden waren. Die Koordination der Massenheere sowie der steigende Einfluss der Technik und die damit verbundene Explosion der Rüstungsausgaben stellten die militärische Führung vor immer größer werdende Probleme. Dies betraf auch die Koordination der Luftstreitkräfte, deren vorwiegende Aufgabe bis dato in der Aufklärungsarbeit lag. Im Zuge der Bombardierungen feindlicher Städte wurden den Luftstreitkräften jedoch die technischen und strategischen Grenzen aufgezeigt. Die Auswirkungen der Luftangriffe auf die Moral der Zivilbevölkerung in Paris und London beispielsweise blieben nicht folgenlos, aber doch hinter den Erwartungen zurück. Auch die Opferzahlen der Luftangriffe erscheinen vor dem Hintergrund eines hochgerüsteten Massenkrieges überschaubar. Deutschen Bomben fielen in Großbritannien 1.414 Zivilisten zum Opfer, während in Deutschland 729 Zivilisten getötet wurden.10 Die Alltäglichkeit der Luftangriffe stellte sich in London schneller als erwartet ein.11 Die britische Bevölkerung war von diesen zwar geschockt und formulierte Forderungen nach einer umfassenden Luftabwehr an die Politik, doch waren die Auswirkungen der Angriffe auf Moral und Wirtschaft nicht den Erwartungen entsprechend eingetreten.
Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges spielten bei den Überlegungen bezüglich des zukünftigen Luftkrieges dennoch eine untergeordnete Rolle, da der zeitliche Rahmen des Einsatzes der neuen Waffe zu kurz war und die technische Weiterentwicklung den Großteil der Erkenntnisse obsolet werden ließ. Es entstand eine lebhafte Debatte über die möglichen Auswüchse des zukünftigen Luftkrieges, in deren Verlauf Utopie und Realität sich nicht ausschließend gegenüberstanden, sondern oftmals eine Einheit bildeten und die Erwartungen an die neue Waffe in neue Höhen trieben. Als wichtigste Erkenntnisse des Luftkrieges lassen sich folgende Punkte festhalten: 1. Die feindliche Moral war durch Luftangriffe schwerer zu beschädigen als vermutet.12 2. Der technische Fortschritt erforderte die permanente Weiterentwicklung der militärischen Luftfahrt. 3. Die Koordination der verschiedenen Instrumente der Kriegsführung stellten neue Anforderungen an die militärische Führung dar. 4. Die Art und Weise des Kriegswesens hatte sich durch Motorisierung unwiederbringlich geändert. 5. Der Luftkrieg musste defensiv wie offensiv gedacht werden. Diese Erfahrungen spiegelten sich nur bedingt in den Entwicklungstendenzen der Luftkriegstheorie nach Beendigung des Krieges wider.
Der Diskurs über den Einsatz der Luftstreitkräfte emanzipierte sich seit den ersten Bombenabwürfen unaufhörlich von der Science-Fiction-Literatur, welche die Schrecken potenzieller Zerstörungen durch Bombenangriffe seit Beginn des 20. Jahrhunderts behandelte. Fantasie und Unwissenschaftlichkeit sorgten allerdings dafür, dass ein Teil der Debatte nicht zwingend entlang der technischen Möglichkeiten geführt wurde. Obwohl der Erste Weltkrieg offenbarte, dass Wirkung und Erfolg von strategischen Bombardements den Erwartungen nicht gerecht werden konnten, fand die Idee der Entwicklung eines Großbombers großen Zuspruch. Die Möglichkeit zur unmittelbaren Involvierung des feindlichen Volkes konnte offenbar nicht missachtet werden. Es entstand eine überwiegend von der Theorie geprägte Debatte, da praktische Erfahrungen kaum vorhanden waren.
Bei der Betrachtung der luftkriegskonzeptionellen Strömungen werden zwei verschiedene Herangehensweisen zum optimalen Gebrauch der neuen Waffe deutlich. Die eine Gruppe der Luftkriegstheoretiker versuchte sich der Möglichkeiten und denkbaren Aufgabengebiete aus Sicht der bereits bestehenden Teilstreitkräfte, Heer und Marine, zu nähern. Die Luftstreitkräfte wurden demnach als optimale Hilfseinheiten gesehen, die sich in den Dienst der anderen Teilstreitkräfte zu stellen hatten. Dies bedeutete die vollständige Abwendung von einer selbstständig agierenden Luftwaffe. Die Wirkungskraft der Flugzeuge war demnach im Bewusstsein verankert, die Zusammensetzung des Militärs sollte dadurch gleichwohl nicht berührt werden. Das lag zum einen am traditionellen Denken und dem Widerstreben gegenüber einer neuen unabhängigen Teilstreitkraft und zum anderen am Glauben, die potenziellen Aufgabengebiete der Luftstreitkräfte selbst organisieren zu können, um so die eigene Teilstreitkraft ideal zu unterstützen. Den eigenen Interessen folgend war dies beispielsweise die vorherrschende Meinung der deutschen Marine. Diese sah sich ohne eigene vollgültige Luftwaffe nicht zur Erfüllung ihrer Aufgaben imstande.13
Die andere Gruppe erachtete die kriegerischen Auseinandersetzungen durch die militärische Luftfahrt von Grund auf revolutioniert. Folglich sollten die Luftstreitkräfte selbstständig, also losgelöst von Heer und Marine, operieren können. Der Einsatz von massiven Bomberverbänden sollte kriegsbeeinflussende bzw. kriegsentscheidende Wirkung entfalten und die Entstehung eines erneuten Stellungskrieges verhindern. Befürworter der strategischen Nutzung der Luftstreitkräfte waren unter anderem Hugh Trenchard, Robert Knauss und Giulio Douhet.
Nach Meinung Douhets lag der optimale Einsatz der Luftstreitkräfte nicht im taktischen Einsatz, also der Aufklärungsarbeit sowie der Unterstützung der Bodentruppen, sondern durch großflächige Bombardements im strategischen. Zunächst mussten zum Erlangen der Lufthoheit feindliche Flugplätze, Flugzeuge und Fabriken bombardiert werden. Anschließend käme es zur Zerschlagung der feindlichen Führung sowie zum Zusammenbruch der feindlichen Bevölkerung durch wellenartige Bombardierung von Wirtschafts- und Bevölkerungszentren und den Heeres- und Marinestützpunkten. Letztlich sollten die eigenen heranrückenden Land- und Seestreitkräfte unterstützt und der Sieg errungen werden. Der taktische Einsatz erfolgte demnach erst am Ende des Angriffes. Zur Umsetzung der Ideen Douhets war der Gebrauch von Gasbomben kein Tabu. Die europäischen Großmächte konnten sich jedoch nicht zum erneuten Einsatz von Giftgas auf dem europäischen Kontinent durchringen. Anders verhielt es sich im europäischen Ausland. Während des Abessinienkrieges setzte die italienische Luftwaffe beispielsweise Senfgas gegen Soldaten und Zivilisten ein, was überraschenderweise keine Protestwelle oder schwerwiegende Sanktionen auslöste. Gas-Luft-Angriffe stellten sich in Europa in der Theorie problematisch dar. Die Folgen eines Erstschlages waren nicht vorherzusehen. Es bestand die Gefahr der drohenden Isolation und Ächtung, was unter Umstände noch zu kompensieren gewesen wäre. Schwerwiegender ist der Umstand, dass ein großflächiger Einsatz von Gasangriffen mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Gegenschlag zur Folge gehabt hätte, der die militärische Führung letztlich wohl handlungsunfähig gemacht hätte. Im deutschsprachigen Raum fand Douhets „Il Dominio dell’Aria“ von 1921 wenig Beachtung. Eine Übersetzung erschien erst 1935 unter dem Titel „Luftherrschaft“. Unter diesem Aspekt ist auch der eher geringe Einfluss Douhets und seiner Schrift auf die deutschen Luftstreitkräfte zu sehen14.
Die Debatte über die Beschaffenheit des zukünftigen Krieges wurde in Deutschland vornehmlich in militärischen Fachzeitschriften geführt. Der gesellschaftliche Stellenwert von Medien hatte sich nach Beendigung des Ersten Weltkrieges frappierend gewandelt, da zwei Thematiken, Kriegserinnerung und Kriegsvisionen, im großen Stil produziert wurden.15 Die Beiträge der Militärzeitschriften machten deutlich, wie abhängig die Debatte in Deutschland von den Erfahrungen der ausländischen Luftstreitkräfte war. Daraus resultierte eine Wesensgleichheit der luftkriegskonzeptionellen Ideen, da bis zur Eröffnung der Flugerprobungsstätte in Lipezk keine eigenen Erkenntnisse auf dem Gebiet der militärischen Luftfahrt gesammelt werden konnten. Die ausländischen Veröffentlichungen waren somit ein wichtiger Baustein der Debatte über den zukünftigen Einsatz der Luftwaffe. Beispiele für militärische Fachzeitschriften sind „Soldatentum. Zeitschrift für Wehrpsychologie, Wehrerziehung und Führerauslese“ von 1934 und „Militärwissenschaftliche Rundschau“ von 1936.16 Eine Besonderheit stellte die ab 1934 monatlich erscheinende Zeitschrift mit dem vorläufigen Titel „Deutsche Luftwacht“ dar, da sich diese mit einer Teilstreitkraft befasste, die Deutschland offiziell gar nicht betreiben durfte.17 Daneben gab es auch zahlreiche deutsche Publikationen in Buchform. Robert Knauss Denkschrift „Die Deutsche Luftflotte“ vom 31. Mai 1933 und sein dystopischer Roman „Luftkrieg 1936 – Die Zertrümmerung von Paris“ behandelten beispielsweise den Luftkrieg der Zukunft. Er drängte in seiner geheimen Denkschrift auf die Bildung einer sogenannten „Risikoluftflotte“. Deren Aufbau war für die außenpolitischen Ziele der nationalsozialistischen Regierung von Vorteil, brachte indes jedoch personelle und materielle Beeinträchtigungen mit sich. Knauss befürwortete zur Verwirklichung eines erfolgreichen Präventivschlages den Bau von Großbombern mit einer Eindringungstiefe von 800 Kilometern und einer Bombenlast von 2.000 Kilogramm, um die Angriffslust des Feindes zu schwächen, dessen Hinterland zu gefährden und das Kriegsrisiko für diesen dadurch schlagartig zu erhöhen.18 Er sah die europäischen Industriestaaten mit ihrem diffizilen Produktions- und Verkehrsapparat als leicht verwundbar an.19
Neben der Diskussion über den optimalen Gebrauch der Luftstreitkräfte gab es im In- und Ausland allerdings auch Sicherheitsbedenken. Die Versuche zur Eindämmung und Regulierung der sich technisch weiterentwickelnden und dadurch in ihrer Schlagkraft steigenden Armeen scheiterten jedoch. Sowohl die Washingtoner Abrüstungskonferenz 1922 als auch die Genfer Abrüstungskonferenz 1932 blieben ergebnislos.20 Die Ideen des Briand-Kellogg-Paktes vom 27. August 1928 wurden ebenfalls verworfen und konnten erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges an Relevanz gewinnen.21 Artikel 2 hielt die Völker zur Wahl von friedlichen Mitteln bei Streitigkeiten und Konflikten an.22
Die Debatte über den Luftkrieg der Zukunft wurde auf vielen Ebenen geführt. Letztlich galt es für die militärische Führung die idealen Einsatzmöglichkeiten der Luftstreitkräfte zu antizipieren. Der intensive Diskurs über die optimale Nutzung der neuen Waffe scheint vor dem Hintergrund, dass Konzeption und Produktion neuer Flugzeugmuster langwierig und Kurskorrekturen kostenintensiv und technisch anspruchsvoll waren, verständlich. Die Fokussierung auf ein fehlerhaftes Luftkriegskonzept hätte möglicherweise einen unwiederbringlichen Nachteil bedeutet.
Obwohl die Heeresleitung der neuen Waffe von Beginn an skeptisch gegenüberstand, kamen 1912 ungefähr 90 Prozent aller Aufträge für den Flugzeugbau vom Militär.23 Am 1. Oktober desselben Jahres kam es durch die Aufstellung einer Fliegertruppe des Gardekorps zum Beginn der eigentlichen Militärluftfahrt in Deutschland.24 Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges waren die Luftstreitkräfte separat in das Deutsche Heer und die kaiserliche Marine eingegliedert. Der Eingliederung lag keine, die Luftstreitkräfte betreffende, Doktrin zugrunde, sondern sie erwuchs aufgrund der Neuartigkeit und fehlenden Autarkie der neuen Waffe. Es gab jedoch von Beginn an eine Auseinandersetzung über die Organisation und Stellung der Luftstreitkräfte im militärischen Gesamtkonzept. So entwickelte beispielsweise Major Thomson im Winter 1915/16 einen Plan, der die Aufstellung unabhängiger Luftstreitkräfte vorsah und letztlich in einer Art Luftfahrtministerium für zivile und militärische Fragen des Flugwesens münden sollte.25 Die Umsetzung solch weitgreifender Änderungen mitten im Krieg gelang jedoch nicht und es dauerte noch 17 Jahre bis zur Finalisierung der Idee durch die Gründung des Reichsluftfahrtministeriums. Die bestehenden Unterschiede der Luftstreitkräfte des Heeres und der Marine standen sich angesichts ihrer unterschiedlichen Nutzung der Flugzeuge zur Unterstützung der jeweiligen Teilstreitkraft unvereinbar gegenüber, was einer Fusion zur Errichtung einer einheitlichen Luftstreitkraft im Wege stand. Nichtsdestotrotz erfolgte aufgrund der Bestrebungen Thomsons die Eingliederung des bereits bestehenden Luftwaffenkommandos26 in die oberste Heeresleitung, was den Höhepunkt der Reorganisation darstellte und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer unabhängigen Teilstreitkraft war.27
Die Bestimmungen von Versailles hatten eine enorme materielle und personelle Abrüstung zur Folge, deren Einhaltung von der Interalliierten Kontrollkommission überprüft wurde. Zur Kontrolle der Abrüstung bezüglich des Flugwesens gab es die Interalliierte Luftfahrt-Überwachungs-Kommission. Die Luftstreitkräfte gingen in der Folge durch Zerstörung, Auslieferung oder Verkauf verloren. Gemäß Artikel 199 des Vertrages von Versailles war das Personal der Luftfahrt innerhalb von zwei Monaten zu demobilisieren. Die Lufthoheit wurde Deutschland ebenfalls entzogen. Folglich befanden sich in Deutschland Weltkriegspiloten und eine teilweise flugbegeisterte Bevölkerung, die keine eigenen militärischen und zivilen Flugzeuge unterhalten durften. Dadurch erlangte der Segelflug einen enormen Aufschwung. Der Segelsport war letztlich der einzige Luftfahrtbereich, der nicht verboten oder beschränkt wurde und so konzentrierte sich die flugtechnische Forschung darauf. Das Zentrum des deutschen Segelfluges entstand auf der Wasserkuppe an der Rhön, wo sich seit 1923 ein Denkmal für die gefallenen Piloten des Ersten Weltkrieges befindet. Dieses wurde unter den Augen zahlreicher Ehrengäste wie Helmuth Wilberg, der beim geheimen Wiederaufbau der Luftstreitkräfte mitwirkte, sowie Kunigunde Freifrau von Richthofen, der Mutter von Manfred und Lothar von Richthofen, zum Hervorheben der fliegerischen Kontinuität, den Versailler Bestimmungen zum Trotz, eingeweiht. Eine am Denkmal angebrachte Bronzetafel mit der Inschrift „Wir toten Flieger bleiben Sieger durch uns allein. Volk, flieg du wieder und du wirst Sieger durch dich allein.“, steht sinnbildlich als Fanal für die Entrüstung der Flugbegeisterten. Die Berichte über die „Fliegerasse“ des Ersten Weltkrieges trübten den Blick bezüglich der Effektivität sowie des militärischen Nutzens der Luftkämpfe und erzeugten ein idealisiertes Bild. Filme waren ein beliebtes Mittel zur Glorifizierung der Fliegerei. Noch einflussreicher waren jedoch die unzähligen Zeitschriften wie beispielsweise „Der Adler“.28 Die Verehrung der Weltkriegspiloten und die Ablehnung der Versailler Bestimmungen trugen zum Aufschwung des Segelflugs bei, wodurch viele junge Piloten erste Flugerfahrungen sammeln konnten, was auch den Verantwortlichen der geheimen Luftstreitkräfte nicht verborgen blieb.29 So waren informelle Treffen zwischen Militärvertretern wie Kurt Student, Leiter des Referats Flugtechnik, und zivilen Segelflugenthusiasten charakteristisch für die Entwicklung der militärischen Luftfahrt in der Weimarer Republik.30
[...]
1 Vgl.: Rabenau, Friedrich von (1940): Seeckt: Aus seinem Leben 1918 – 1936, S. 528.
2 In der vorliegenden Arbeit wird die Entwicklung der deutschen Luftstreitkräfte beschrieben. Die etwaige Nennung anderer Nationen und deren Verständnis vom Luftkrieg dient der Anschaulichkeit und der Zustandsbeschreibung der deutschen Luftstreitkräfte und Luftkriegskonzeption.
3 Der Begriff „Deutschland“ wird vorliegend als Synonym für das „Deutsche Reich“ bzw. das „Großdeutsche Reich“ von 1871 bis 1945 angewandt.
4 Bernecker, Walther L. (1969): Der Spanische Bürgerkrieg: Materialien und Quellen, S. 192.
5 Vgl.: Schüler-Springorum, Stefanie (2010): Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg, S. 188.
6 Brieden, Hubert; Dettinger, Heidi; Hirschfeld, Marion (1997): „Ein voller Erfolg der Luftwaffe“. Die Vernichtung Guernicas und deutsche Traditionspflege: Wunstorf, Pforzheim, Bonn, S. 70.
7 Vgl.: Müller, Rolf-Dieter (2004): Der Bombenkrieg 1939 – 1945, S. 38.
8 Vgl.: Abendroth, Hans-Henning (1987): Guernica: Ein fragwürdiges Symbol, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41 (01/1987), S. 155.
9 Vgl.: Süß, Dietmar (2011): Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, S. 34.
10 Vgl.: Süß, Dietmar (2011), S. 29.
11 Vgl.: Kuropka, Joachim (1980): Die britische Luftkriegskonzeption gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 27 (1/1980), S. 19.
12 Dieser Auffassung folgten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht alle Militärs, was zu einer Debatte bezüglich der Zerschlagung der Moral der feindlichen Zivilbevölkerung führte.
13 Vgl.: Völker, Karl-Heinz (1967): Die deutsche Luftwaffe 1933 – 1939. Aufbau, Führung und Rüstung der Luftwaffe sowie die Entwicklungen der deutschen Luftkriegstheorie, S. 13.
14 Vgl.: Süß, Dietmar (2011), S. 35.
15 Vgl.: Pöhlmann, Markus (2002): Von Versailles nach Armageddon: Totalisierungserfahrung und Kriegserwartung in deutschen Militärzeitschriften: 1918-1939, in: Stig Förster (Hrsg.): An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Sieg der Zukunft, S. 327.
16 Vgl.: Förster, Jürgen (2004): Geistige Kriegsführung in Deutschland 1919 bis 1945, in: Militärhistorisches Forschungsamt (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 9: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Halbband 1, Politisierung, Vernichtung, Überleben, S. 494.
17 Vgl.: Pöhlmann, Markus (2002), S. 329.
18 Vgl.: Maier, Klaus A. (1981): Der Aufbau der Luftwaffe und ihre strategisch-operative Konzeption, insbesondere gegenüber den Westmächten, in: Klaus Hildebrand/Karl Ferdinand Werner (Hrsg.): Deutschland und Frankreich 1936 – 1939, S. 298.
19 Vgl.: Maier, Klaus A. (1981), S. 292.
20 Vgl.: Overy, Richard (2014): Der Bombenkrieg, Europa 1939 bis1945, S. 58 f.
21 Pöhlmann, Markus (2002), S. 382.
22 Vgl.: Dörr, Oliver (Hrsg.) (2016): Vertrag über die Ächtung des Krieges (Briand-Kellogg-Pakt), in: Völkerrechtliche Verträge, S. 626.
23 Vgl.: Schüler-Springorum, Stefanie (2010), S. 24.
24 Vgl.: Boog, Horst (1988): Das Problem der Selbstständigkeit der Luftstreitkräfte in Deutschland 1908 – 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 43 (1/1988), S. 32.
25 Vgl.: Boog, Horst (1988), S. 34.
26 Dieses wurde zur besseren Kommunikation eingerichtet.
27 Vgl.: Boog, Horst (1988), S. 34 ff.
28 Vgl.: Schüler-Springorum, Stefanie (2010), S. 37.
29 Vgl.: Schüler-Springorum, Stefanie (2010), S. 32.
30 Vgl.: Schüler-Springorum, Stefanie (2010), S. 33.