Bachelorarbeit, 2021
51 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
2. Interconnected Reality (IR)
2.1. Interaktion und Bildlichkeit
2.1.1. Rezeptive Interaktion
2.1.2. IR und partizipative Interaktion
2.2. IR und Lichtkunst
2.2.1. Licht als Künstlerisches Medium
2.2.2. IR und Computertechnologie
3. Topographie
3.1. „Ultrasubjective Space“
3.2. Einordnung in die ostasiatische Kunstgeschichte
3.3. Einordnung in die europäische Kunstgeschichte
4. IR und Rezeptionsansätze
4.1. Rezeptionsansätze
4.2. IR und Kunstverständnis
4.2.1. IR und Erkenntnisinteresse
4.2.2. IR und Weltverständnis
4.3. IR und Metaversum
5. Fazit und Ausblick
Anhang I: teamLab Werksverzeichnis
Anhang II: teamLab Konzepte
Anhang III: Abbildungsverzeichnis
Anhang IV: Abbildungen
Literaturverzeichnis
Aus urheberrechtlichen Gründen wurden einzelne Abbildungen entfernt. (Anm. d. Red.)
Toshiyuki Inoko (*1977, Japan) gründete 2001 nach seinem Ingenieurstudium an der Universität Tokio das Kunstkollektiv teamLab, das in den letzten Jahren mit mittlerweile 500 Mitgliedern weltweit zahlreiche Projekte und Ausstellungen realisiert hat, die sich um eine Verschmelzung von Technologie, Kunst und Menschen bemühen.1,2
Damit könnte sich eine umfassende Werksanalyse für die Arbeiten teamLabs schnell zu einer Überforderung entwickeln. Der Grund dafür ist die beachtlich hohe Anzahl an Installationen, welche teamLab nicht nur konzipiert und realisiert, sondern auch umfänglich in einem Archiv von Videoaufnahmen auf der eigenen Website (https://www.teamlab.art/w/) dokumentiert hat. Hingegen scheint eine spezifische Untersuchung wie etwa zum abwechslungsreichen Lichteinsatz als künstlerisches Medium oder zur visuellen Transformationsstrategie „Ultrasubjective Space“ die Simultanität der einbezogenen Dimensionen zu verfehlen. In diesem Zusammenhang dürfte eine eigens entwickelte Technologie - der sogenannten Interconnected Reality (nachstehend: IR) - die Singularität eines Künstlerkollektivs wie teamLab definieren und sichtbar machen. Diese Einschätzung lässt sich durch die konzeptionelle Tragweite der IR bestätigen, die im folgenden ausgeführt wird.
In der Reihenfolge der Entstehung, Gestaltung und Rezeption von Bildern geht die Untersuchung der Fragestellung nach, inwiefern IR eine digitale, interaktive Kunstform ist.
Beginnend mit einer Unterscheidung zwischen uneigentlicher und eigentlicher Interaktion wird IR phänomenologisch untersucht. IR zielt auf die eigentliche, partizipative Interaktion ab, wo performative Bilder als ein Bildervlies durch die gleichzeitigen Präsentation sowie Performation entstehen.
Darauf folgt eine Analyse über die formale ästhetische Komposition. Im Fokus steht die visuelle Transformationsstrategie, mit deren Umsetzung die Betrachter ein „Hier-und- Jetzt“ als Raum-Zeit-Bezug herstellen, sich in eine simulierte Situation hineinversetzen können. Aufgrund der geographischen Besonderheit wird das ästhetische Gestaltungsprinzip getrennt in die ostasiatische bzw. in die europäische Kunstgeschichte eingeordnet.
Gestützt von dem erkenntnisorientierten Kunstverständnis geht es bei IR darum, die Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt zu erkunden. Zwecks Ausbau des Denkvermögens soll IR den Menschen zum eigenen Körperempfinden führen, das als persönliche Referenz Aufnahme von Informationen aus der Außenwelt ermöglicht. Ein Vergleich zu dem aktuell diskutierten Thema von Metaversum bietet sich als Abschluss über die Beschaffenheit der IR an.
Über den Text hinaus wird mit zwei Verzeichnissen versucht, einen besseren Überblick zu geben: eins für die in dieser Untersuchung erwähnten Installationen, das andere als eine Auflistung der angeführten Konzepte. Diese Angaben sind insofern notwendig, weil die von teamLab auf der Website bereitgestellte Erörterung der vorliegenden Abhandlung als Primärquelle dient.
Darüber hinaus werden eine Online Reportage von Allie Biswas und ein niedergeschriebenes Interview von Giorgia Lombardo aufgrund deren Sachkompetenz einbezogen. Neben dem oben angeführten englischsprachigen Material werden einige Kapitel aus dem digitalen chinesischen Vordruck eines Buches bei der Erläuterung zu teamLabs Kunstverständnis berücksichtigt. Bei der 2019 erschienen Publikation Jinrui Wo Mae Ni Susumetai: teamLab To Kyokai No Nai Sekai handelt sich es um die japanische Abschrift für die Gespräche, die Inoko Toshiyuki und der Kunstkritiker Uno Tsunehiro in mehr als vier Jahren geführt haben.
Mit einer Unterscheidung zwischen uneigentlicher und eigentlicher Interaktion wird IR phänomenologisch eingeführt. IR zielt auf die eigentliche, partizipative Interaktion ab, wo performative Bilder als Bildervlies durch die gleichzeitigen Präsentativität sowie Perfor- mativität entstehen. Das Bildervlies erscheint, wo Licht als künstlerisches Medium, vorzugsweise mit Computertechnologie, zusammenwirkt.
IR, auf Deutsch vernetzte Realität, ist ein von teamLab entwickeltes künstlerisches Konzept und zugleich technisches Umsetzungsverfahren. Anhand der Installation Catching and Collecting Forest (2020) wird IR wie folgt demonstriert: teamLab introduces Interconnected Reality (IR) technology, in which the real, physical space that surrounds people interacts with their individual digital devices.
IR uses an individual's digital device, such as their smartphone, to make changes in the real space that can be seen with the naked eye, and these changes in the real space affect that person's digital device in turn. teamLab has developed and patented a technology in which the changes you see in your smartphone's camera also occur in the real world.
In existing Augmented Reality (AR), the only thing that changes is the world as people see it on the screens of their digital devices. In IR, the world as people see it with the naked eye continues to be influenced and changed by the actions of people using their devices.
(https://www.teamlab.art/concept/interconnected-reality/)
Es ist durchaus irritierend, dass teamLab Augmented Reality (nachstehend: AR) in einem Vergleich zu IR heranzieht, ohne eine Definition von AR zu präponieren. In der Medienwissenschaft wird der Begriff „Mixed Reality“ (nachstehend: MR) zur Beschreibung von Mischformen eingeführt, die zwischen den beiden Extremen (physischer Präsenz bzw. vollständiger Virtualität) liegen. Im Realität-Virtualität-Kontinuum kann eine MR entweder von einer Realität (Reality) oder von einer Virtualität (Virtuality) ausgehen. Wie der Name Augmented Reality bereits andeutet, wird bei AR die Realität der physischen Präsenz von Menschen und Gegenständen maßgeblich durch eine Anreicherung von Phantasien „augmented“ erweitert. Umgekehrt bezeichnet Augmented Virtuality (gekürzt auf AV) eine Anreicherung, die die Fiktion (Virtualität) mit der realen Präsenz ausdehnt.3
Bei einem der beiden Extremfälle können die Virtual Reality (nachstehend: VR) Medien eine vollständig künstliche Phantasiewelt visuell abbilden. Charakteristisch ist hier ein geschlossenes Sichtfeld, sodass der Blick mithin auf keine real existierenden Gegenstände fallen kann. Dabei wird VR, welche komplett von der physisch existierenden Welt isoliert ist, durch Medien wie beispielsweise VR Brille, VR Helm bzw. Flugsimulator - technisch mit Polygonen, Pixeln und Algorithmen - generiert4.
Im Fall teamLabs AR sollte die Bildschirmwelt, die den Museumsbesuchern auf dem Bildschirm ihrer digitalen Geräte erscheint („the world as people see it on the screens of their digital devices“) das Einzige, das sich verändere („the only thing that changes“). Hingegen werde in der IR die Welt, die die Menschen mit bloßem Auge sehen („the world as people see it with the naked eye“), ausgerechnet durch die Handlungen der Menschen, wie diese ihre technischen Geräte verwenden („the actions of people using their devices“), beeinflusst und verändert. Insofern dürfte IR einen größeren Anteil an Präsenz als AR aufweisen und somit näher am Pol der vollständigen Realität sein.
So ermöglicht die im Juli 2020 in Fukuoka ausgestellte Installation Catching and Collecting Forest den Besuchern die Teilnahme am Kunstwerk mit der IR Catching and Collecting Forest smartphone App 5.
Wenn ein Besucher mit der Kamera über die App ein Tier an der Leinwand im Museumsraum betrachtet und streichelt, wendet sich das Tier dem Betrachter zu oder läuft weg. Falls der Betrachter mit der App einen Untersuchungspfeil schießt, fliegt der Pfeil auf dem Bildschirm im Ausstellungsraum zu der Stelle, die der Besucher durch die Kamera betrachtet. Wenn der Studienpfeil ein Tier trifft und einfängt, verschwindet es aus der Leinwand und dringt in das Smartphone ein. Wenn das gefangene Tier, von der in der App integrierten Kamera aus gesehen, zurück an die Wand geworfen wird, wird es vom Smartphone „befreit“ und an seinen Aufenthaltsort in der realen Welt (an der Wand) zurückgebracht. Das Tier beginnt erneut, durch den „physischen“ Raum auf dem großen Bildschirm zu gehen. Hier scheint teamLab einen essentiellen Unterscheid zwischen dem großen Bildschirm im Ausstellungsraum und den individuellen Devices zu machen. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit wird ausgeführt, dass der große Bildschirm als Bildoberfläche so gestaltet ist, damit die Besucher mit ihrer physischen Präsenz ins „Bild“ hineintreten sollten. Insofern wird der Raum, in dem die digitale Wandtafel sich befindet, als Maßstab für den „physischen" Raum genommen.
Zurückgeführt auf das von teamLab als AR festgesetzte Szenario wird die Vegetation mit zahlreichen Tieren durch bewegliche Bilder dargestellt. Dabei werden die Bewegungen und Veränderungen, die auf einer Leinwand abbildet werden, vom Museumsbesucher rezipiert. Die sinnliche Erfassung fremder Gedanken beruht auf einer Interaktion zwischen dem Rezipienten und dem Medium, begründet somit medienwissenschaftlich eine sogenannte „uneigentliche Interaktivität“6.
Wie wird ein Bild mittels einer uneigentlichen Interaktion rezipiert?
Ausgehend davon, dass Aufzeigen und Darstellen die Visibilität erhöht, somit einen Verständigungsprozess in Gang setzt, erschließt Bildlichkeit die kulturell geprägte Möglichkeit eines Sehens und Gesehen-Werdens7. Kommunikationswissenschaftlich wird der Bildträger vom Bildinhalt und das Medium von der Abbildung im europäischen Kulturraum durch den Wortgebrauch unterschieden, der auf die griechische Antike zurückzuführen ist. Dabei ist ,eikon’ (elkwv) der vielseitigste und am weitesten verbreitete Bildausdruck des Griechischen, welcher eine sprachliche Wurzel hat, die >zutreffen<, >gleichkommen< und >sich gehören< bedeutet. Aufgrund dieser Herkunft zeichnen sich die Verwendungskontexte von eikon bei allem Facettenreichtum durch einen Hinweis auf „Abbildlichkeit“ aus. Diese hat zu bedeuten, dass eikon als Abgeleitetes oder Zweites stets auf ein Erstes bzw. ein Ausgehendes verweist. Das trifft sowohl auf eikon physei (elkwv ^uoei) zu, das natürliche Bild wie der Schatten und das Spiegelbild, als auch auf eikon techné (elkwv TÉxvn), das künstliche Bild, welches von Bildhauer, Maler oder Handwerker hergestellt wird. Zudem versteht man unter pinax’ (nivac), dem griechischen Ausdruck für >Brett<, eine bemalte Tafel aus Holz, Ton oder Metall. Parallel zu dem Wort ,phantasia’ (^avTao^a) als Einbildungskraft leitet sich phantasma’ (^avTaopa) vom griechischen Verb für >sich zeigen<, >erscheinen< ab. Aus diesem Grund kann phantasma’ auf Deutsch >Erscheinung<, >Ge- spenst<, >Trugbild< und >Vorstellungsbild< heißen.8
Neuzeitlich mündet die sprachliche Unterscheidung zwischen der physischen und der mentalen Bildlichkeit bei Edmund Husserl (1859-1938) in drei Ausdrücke, die als Grundbegriffe in die Bildwissenschaft eingegangen sind:
- Das physische Bild als Bildträger, das durch das Auftragen der Farbpigmente auf die Leinwand oder durch das Behauen eines Marmorstücks materialisiert ist;
- Das repräsentierende oder abbildende Bild als Bilderscheinung, das aufgrund Farben- und Gestaltempfindungen durch Imagination zur Erscheinung kommt;
- Das repräsentierte oder abgebildete Objekt als Bildsujet, das als physisch existierender Gegenstand durch die bestimmte Farb- und Formgebung wahrgenommen wird.9
Dabei begründet Husserl die sprachlichen „Differenzen zwischen repräsentierendem Bild und Bildsujet, zwischen dem erscheinenden und dem dadurch dargestellten und gemeinten Objekt“ zuerst mit eigens konstituiertem Begriff „Bildlichkeitsbewusstsein“10. Jenes Bildlichkeitsbewusstsein, so Husserl, gebraucht man, um „sich einen Gegenstand zu vergegenwärtigen, sich ihn im inneren Bild vorführen“ zu können11. Das Bewusstsein, das die bildliche Auffassung mit den inneren Bildvorstellungen ihren Gegenstand bildlich vergegenwärtigt, beruht auf einer doppelten Realität. Diese äußert sich darin, dass das physische Bild (als Bildträger) den physisch existierenden Gegenstand (als Bildsujet) vorstellig macht. Erst dann bestimmt und befähigt solches Bewusstsein, wie ein Gegenstand (Bilderscheinung) aus der wahrgenommen Farb- und Formgebung des Bildträgers zusammengefügt wird.12
Auch wenn die husserlianische Phänomenologie die Internalisierung von äußerer Realität (Bildträger und Bildsujet) mit dem immateriellen Bildlichkeitsbewusstsein erklärt, wird der Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein und dem Bildträger sowie zwischen dem Bildträger und dem Bildsujet gleichwohl nicht explizit ausgeführt. Diese hat zur Folge, dass die für das Bewusstsein notwendige Intentionalität eines Subjekts offenbleibt13. Die Referenzlosigkeit erlaubt infolgedessen, dass das Bewusstsein als mentale Entität ohne jegliche Anbindung zu seinem Träger (einem konkreten Rezipienten) frei schwingen könnte. Eine Möglichkeit für die subjektive Relation zwischen dem Bildträger und Bildsujet ist, dass das Bildsujet vorher von diesem konkreten Menschen gesehen wurde. Durch das Sehen gelangt der Rezipient zu den Vorkenntnissen über die Außengestalt des Bildsujets.
Bereits vor Edmund Husserl klärte der Physiologe Hermann Helmholtz (1821-1894) auf, dass sich das Sehen eines Gegenstands, hier eines Bildsujets, der Funktionsweise eines Fotoapparats ähnelt. „Das Auge ist ein von der Natur gebildetes optisches Instrument, einer natürlichen Camera obscura“14. Dabei befindet sich im Hintergrund des Auges die empfindliche Nervenhaut oder Netzhaut, in welcher „das Licht Empfindungen hervorruft, die durch die in Sehnerven zusammengefassten Nervenfasern der Netzhaut dem Gehirn, als dem körperlichen Organe des Bewusstseins“, zugekommen sind.15
Der „physikalische Teil der Vorgänge des Sehens“ lässt sich durch eine Zusammenwirkung von Licht, Gegenstand und menschlichen Sinnesorganen wie folgt darstellen:
Lichtstrahlen, welche aus einem durchsichtigen Mittel in ein anderes übergeht, werden von ihren früheren Richtung abgelenkt, sie werden „g e brochen“, wenn sie nicht etwa gerade senkrecht gegen die Trennungsfläche auffallen. Die Glaslinse der Camera obscura und die durchsichtigen Mittel des Auges verändern nun den Weg der Lichtstrahlen, welche vor einem lichten Puncte eines abgebildeten Gegenstandes ausgegangen sind, so, dass sie alle in einem Puncte, dementsprechende Punkte des Bildes, sich wieder vereinigen. Liegt diese Vereini- gungspunct der Lichtstrahlen in der Fläche der Netzhaut, so wird diese Punct der Netzhaut von allem Lichte getroffen, welches von dem entsprechende Puncte des Gegenstandes her in das Auge fällt, und nichts von diesem Lichte fehlt auf andere Theile der Netzhaut.16
Über physikalische Vorgänge hinaus ist eine Lichtempfindung „immer noch kein Sehen“, weil das Sehen zur Kenntnis der eigentlichen Gegenstände in der Außenwelt führen müsste. „Das Sehen besteht also im Verständnis der Lichtempfindung“: Jede Lichtempfindung soll die Vorstellung von etwas Realem und gleichzeitig Hellem, das sich im Augenblick vor dem Menschen in seinem Sichtfeld befindet, bewirken.17 Die sinnliche Vorstellung konstruiert „die den Spiegelbildern entsprechenden wirklichen Körper, und legt ihnen denselben Grad von Bestimmtheit und Evidenz bei, wie den direkt gesehenen Körpern, und auch hier erhält sich die scheinbare Lebhaftigkeit und die scheinbar räumliche Lage des Bildes“18. Ein klar vorgestelltes, perspektivisches Bild von Gegenständen, die eine konventionelle Außengestalt haben, kann gutes Urteil über die Tiefendimensionen von deren gegenständlicher Außengestalt ermöglichen, wenn die Schattengebung durch dafür günstigere Rahmenbedingungen wie beispielsweise Beleuchtung dargestellt wird19. Die paarweise Zusammensetzung von Augen liefert zudem verschiedene perspektivische Ansichten und vermittelt fortdauernd die Anordnung der dem Menschen umgebenden Gegenstände20.
Die Vorstellung, welche der sinnliche Eindruck hervorruft, kann als „[Akt] des freien und selbstbewussten Denkens“ betrachtet werden. Mit aller Lebhaftigkeit prägt sich der Gedanke ins Gedächtnis ein. Die gespeicherte Information erweckt wiederum Erwartungen von zukünftigen Ereignissen, die aus den vergangenen erfahrenen Erlebnissen abgeleitet werden. Diese „natürliche Verbindung zwischen dem Gefühl und der Erfahrung“ manifestiert sich durch „millionenfache Wiederholung“, sodass die Vorstellung von einem Gegen- stand entsteht und sich erhält.21 Mit der Einführung von Gedächtnis und Erwartung hat Helmholtz eine vage Verbindung zwischen dem gesehenen Bildsujet und dem gegenwärtig vorliegenden Bildträger hergestellt.
Das Sehen, das aus dem Vorgang von physiologischer und interpretatorischer Aufbereitung der Lichtflecken zustande kommt, beruht dementsprechend auf dem Zusammenwirken von der seitens Gegenstand ausgehenden Reizzufuhr und der seitens Rezipienten aufnehmenden Reizaufbereitung. Insofern begründet sich das Zusammenspiel von der Reizquelle und dem Rezipienten in zwei materiellen Ursachen. Einerseits kann jeder ausgesendete Reiz auf seinen physikalischen Ursprung zurückgeführt werden. Andererseits bedarf die physiologische Reizaufbereitung in gleicher Weise einer Körperlichkeit, in der die dazu nötigen Funktionen angesiedelt sind. Dementsprechend wird die Realität (der Reizquelle in der Außenwelt und der Ansiedlung von Funktionen) durch diese Interaktivität internalisiert.
Auf diese Weise setzt das Zusammentreffen von einer existierenden Außenwelt mit dem Aufbau der menschlichen Sinnesorgane eine Reihe von physikalischen und physiologischen Prozessen in Gang. Basierend auf visueller Wahrnehmung umfasst die Rezeption sowohl sensorische Lichtempfindung als auch assoziative Vorstellung von optischen Bildern. Aufgrund der Trennung zwischen dem physischen Bildträger und dem Bildsujet dürfte das erscheinende Bild nicht phänomenal identisch mit dem erscheinenden Objekt sein, wobei eine auf gespeicherten Erlebnissen beruhende Verbindung zwischen der gegenwärtigen Bilderscheinung während der Rezeption und der vorab ereigneten Wahrnehmungserscheinung des Bildsujets notwendigerweise bestehen müsste. Deshalb internalisieren Rezeption und Wahrnehmung zwei Zustände von Realität: anwesend und nicht anwesend22. Während die Wahrnehmung sich stets auf die unmittelbare Gegenwart bezieht, sollte eine Rezeption über die Bilderscheinung den Bezug auf das Bildsujet herstellen, das durch das Bild medial repräsentiert wird.
Die rezeptive Interaktion, dass die Betrachter von Kunstwerken in einen Wahrnehmungsprozess eintreten, bei dem der formale Bildaufbau (kunstwissenschaftlich auch als „Rezeptionsästhetik“ bekannt) den Rezipienten in dessen Wahrnehmung hinführt, zeichnet sich durch eine Einbahn-Kommunikation aus23. Im Gegensatz dazu sieht eine eigentliche Inter- aktivität vor, dass derselbe Kommunikationsteilnehmer sowohl als Sender und als Empfänger im Informationsaustausch auftreten muss. Der obligatorische Rollenwechsel zwischen Sender und Empfänger findet also intrapersonal statt. Deshalb ist in einer eigentlichen Interaktivität die Rede von Egalität der Kommunikationsteilnehmer, die neben Zwei-Wege-Kommunikation „Mehrkanaligkeit, Spontaneität und Reziprozität“ durch mediale Schnittstellen ermöglicht wird24.
Aufgrund des Rollentausches zwischen Sender und Empfänger wird eine solche Zwei- Wege-Kommunikation als partizipative Interaktion aufgefasst, denn ein Betrachter kann von nun an auch Einflüsse auf sein Gegenüber ausüben. Dadurch weicht der Gedankenaustausch von der ursprünglichen einseitigen Informationsübermittlung ab, die in einer rezeptiven Interaktion vollzogen wird. Abseits des sozialen Aspekts führen die bilateralen Informationsflüsse dazu, dass Kommunikationssituationen „prinzipiell mehrdeutig" sind.25 Diese „prinzipielle Mehrdeutigkeit“ wird dennoch die Rahmenbedingungen, „in denen Interaktionen stehen und die zugleich durch Interaktion hervorgebracht und aufrechterhalten werden“, wieder mehr oder weniger eingegrenzt. Kunstwerke können bewusst solche Rahmenbedingungen der Interaktionen gestalten.
Diese Rahmenbedingungen, die von Kunstwerken festgelegt werden, verstehen sich als Simulationen von Situationen. Simulationen kreieren „nach gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse“ Stimulationen zur Erfahrbarkeit von Organisationsformen in den Kommunikationsprozessen26. Freilich ist weder Simulation noch Stimulation die Interaktion selbst. Die erste bildet dessen Rahmen und die letztere liefert den Impuls zur Interaktion.
Ein Beispiel dafür, wie Simulationen und Stimulationen über IR erfolgen können, liefert The light orchestra with Pepper (2014), die von teamLab eigens als „Lichtskulptur“ betrachtet wird27. Ausgestattet mit einem im Brustbereich fixierten iPad benutzt ein Roboter namens Pepper einen Leuchtstab, um am 20.09.2014 in Bellesalle Shibuya Gartens ein Lichtkonzert zu dirigieren28. Die Besucher des Konzerts werden von Pepper mit einer verlockend charmanten Stimme aufgefordert, Smartphones in die Hand zu nehmen und in eine von teamLab entwickelte App einzuloggen. Diese lässt dann über die Standard App „Taschenlampe“ die
Displays der Telefongeräte - mit der Melodie korrespondierend - in verschiedenen Zonen des Bellevilles aufleuchten.
Auf der Bühne sind Bildschirme wie ein dreiteiliger scheinbar aufklappbarer Bilderrahmen aufgebaut, der größere davon in der Mitte direkt hinter Pepper, während die beiden anderen leicht nach vorne in Richtung der Zuschauer versetzt angebracht sind. Das Geschehnis im Saal wird spiegelbildlich auf den mittleren Bildschirm übertragen, welcher mit einem Hell/ Dunkel-Kontrast die Raumtiefe optisch verändert. Zu sehen ist die Perspektive aus der Position von Pepper mit dem Blick, der leicht nach unten auf die Zuschauer gerichtet ist. Gleichzeitig geben die beiden seitlichen Bildschirme die Frontalansicht der Zuschauer wieder, die aus der mittleren Sichtachse auf die Bühne blicken.
Während ein Scheinwerfer Pepper mit einer vertikalen Lichtsäule von oben herab beleuchtet, bewegen sich die abwechselnd leuchtenden Handy-Displays in einer welligen Formation wie ein rauschendes Meer. Die verschiedenartigen Einzelheiten: das Lichtermeer, das Triptychon von Bildschirmen auf der Bühne, der schwingende Leuchtstab und nicht zuletzt Peppers funkelnde Augen, bilden eine eindrucksvolle Symphonie, die durch den musikalischen Klang akustisch abgerundet ist.
Der Bühnenaufbau, die technische Ausstattung des Konzertsaals und vor allem der Roboter Pepper bilden zusammen einen Anfangspunkt der Kommunikationskontexte, die sich im weiteren Verlauf dynamisch durch Handlungen von Zuschauern - im Einzelnen - ergeben. Mit dem sprechenden Roboter und der bereitgestellten App enthält die Simulation wichtige Stimuli, die die Zuschauer zur Teilnahme anregen. Solche Stimuli tragen maßgeblich zur Entstehung von Interaktionen bei, denn sie übermitteln den Mitwirkenden Informationen, wie Interaktionen abzulaufen sind. Dennoch stützt sich eine Stimulation im Kern immer noch auf eine unilaterale Informationsübermittlung, die seinen Empfänger bereits vorab festgelegt hat. Aus diesem Grund gilt der Gegenstand einer Simulation vorrangig der Bereitstellung eines Grundgerüsts, das visuell wahrzunehmen und als ein situativer Kontext zu begreifen ist. Die visuelle „Karosserie“ wird in der Regel als eine unauffällige Kulisse angeboten, die einen Ausstellungsraum in eine Bühne verwandelt. Unbemerkt treten die Zuschauer dort als Akteure auf und vollziehen die Handlungen. Damit verändern die Interaktionen die Kontexte und Simulationen für die darauf folgenden Interaktionen, welche das “Bildervlies” hervorbringen[29]. Das Bildervlies, auch performatives Bild genannt, wird organisch zusammengefügt, wie ein Garn aus Fasern verschiedener Art und unterschiedlichen Ursprungs, die jedoch im Einzelnen auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind.
Folglich zeichnet sich eine partizipative Interaktion nicht durch Informationsübermittlung, sondern durch Auslösung von unmittelbaren Handlungen aus. Es mag paradox klingen: Im Augenblick einer eigentlichen Interaktion entstehen die Bilder erst durch die Handlungen der Mitwirkenden.
[...]
1 Biswas, Allie: Toshiyuki Inoko: „We are exploring the ways in which the relationships between people can be changed through art“. In: Studio International, 26.02.2017. [eJournal]; URL: https://www.studiointernational.com/index.- php/toshiyuki-inoko-teamlab-interview-transcending-boundaries (abgerufen am 15.06.2021).
2 Der Name sollte in der japanischen Konvention in der Abfolge von Inoko Toshiyuki gerufen werden. Dabei ist Inoko der Familienamen ^-?, Toshiyuki der Vorname ^^. Aus diesen Grund wird Inoko Toshiyuki in dieser Abhandlung zum Teil als Inoko gerufen.
3 Fell, Torsten: NewWork und Immersives Lernen. In: Horst Orsolits/Maximilian Lackner (Hrsg.): Virtual Reality und Augmented Reality in der Digitalen Produktion. Wiesbaden: Springer Gabler, 2020, hier: S. 332.
4 Frank, Tim Bastian: Erstellung und Anwendung von 360°-Videos. In: Horst Orsolits/Maximilian Lackner (Hrsg.): Virtual Reality und Augmented Reality in der Digitalen Produktion. Wiesbaden: Springer Gabler, 2020, hier: S. 265.
5 Auch die Beschreibung unter https://www.teamlab.art/w/collecting_forest/ gilt der Funktionsweise der App.
6 Müller, Eggo: Interaktivität. Polemische Ontologie und gesellschaftliche Form. In: Britta Neitzel/Rolf F. Rohr (Hrsg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation - Immersion - Interaktion, Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) 14. Marburg: Schüren, 2006, hier: S. 77.
7 Mersch, Dieter/Ruf, Oliver: Bildbegriffswissenschaft(en). In: Stephan Günzel/Dieter Mersch (Hrsg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar: Metzler, 2014, hier: S. 2.
8Schirra, Joerg R. J.: Griechisch:,agalma', ,phantasma', ,eidolon', /typos', ,eikon‘, in: GIB - Glossar der Bildphilosophie, 15.12.2019. [Online-Lexikon]; URL: http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php? title=Griechisch:_%27agalma%27,_%27phantasma%27,_%27eidolon%27,_%27typos%27,_%27eikon%27 (abgerufen am 19.08.2021).
9Husserl, Edmund: Phantasie und Bildbewusstsein. Herausgegeben und eingeleitet von Edmund Marbach. Text nach Husserliana, Band XXIII. Hamburg: Meiner, 2006, S. 20-22.
10Husserl, E.: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 22.
11Husserl, E.: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 19.
12Husserl, E.: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 22.
13 Wiesing, Lambert: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 32.
14 Helmholtz, Hermann: Das Sehen des Menschen. Ein populär wissenschaftlicher Vortrag, gehalten zu Königsberg in Preussen zum Besten von Kant's Denkmal am 27.02.1855. Leipzig: Leopold Voss, 1855, S. 7.
15 Helmholtz, H.: Das Sehen des Menschen, S. 7-8.
16 Helmholtz, H.: Das Sehen des Menschen, S. 10-11.
17 Helmholtz, H.: Das Sehen des Menschen, S. 20.
18 Helmholtz, H.: Das Sehen des Menschen, S. 23.
19 Helmholtz, H.: Das Sehen des Menschen, S. 23-24.
20 Helmholtz, H.: Das Sehen des Menschen, S. 26.
21 Helmholtz, H.: Das Sehen des Menschen, S. 33.
22 Es ist mit Nachdruck anzumerken, dass Husserl in seiner Forschung die moderne Kunst nicht berücksichtigt hat. Daher schließt die hier präsentierte husserlianische Theorie beispielsweise die abstrakte Malerei nicht ein.
23 Pietraß, Manuela: Von der Vorführung zur Aufführung. Bildungstheoretische Implikationen der Interaktivität mit digitalen Bildern. In: Theo Hug, Tanja Kohn, Petra Missomelius (Hrsg.): Medien - Wissen - Bildung. Medienbildung wozu? Innsbruck: Innsbruck University, 2016. [Online-Version]; URL: https://doi.org/10.25969/mediarep/1441 (abgerufen am 27.08.2021), hier: S. 173.
24 Müller, E.: Interaktivität, S. 79.
25 Pietraß, M.: Von der Vorführung zur Aufführung, S. 176.
26 Pietraß, M.: Von der Vorführung zur Aufführung, S. 174.
27 Eine Dokumentation und eine kurze Erörterung zu dieser Lichtskulptur sind unter https://www.teamlab.art/wZthe - light orchestra with pepper/ zu finden.
28 Es sollte ein soziales Ereignis sein. Denn teamLab hat das eintrittsfreie Konzert unter httpsi//www.tea^ila^.a^/e^2ep2 pertecfes/ angekündigt.
Der GRIN Verlag hat sich seit 1998 auf die Veröffentlichung akademischer eBooks und Bücher spezialisiert. Der GRIN Verlag steht damit als erstes Unternehmen für User Generated Quality Content. Die Verlagsseiten GRIN.com, Hausarbeiten.de und Diplomarbeiten24 bieten für Hochschullehrer, Absolventen und Studenten die ideale Plattform, wissenschaftliche Texte wie Hausarbeiten, Referate, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze einem breiten Publikum zu präsentieren.
Kostenfreie Veröffentlichung: Hausarbeit, Bachelorarbeit, Diplomarbeit, Dissertation, Masterarbeit, Interpretation oder Referat jetzt veröffentlichen!
Kommentare