Bachelorarbeit, 2021
46 Seiten, Note: 3,0
1 Einleitung
2 Dyskalkulie und Rechenschwäche
2.1 Definition Dyskalkulie
2.2 Definition Rechenschwäche
3 Erwerb mathematischer Kenntnisse im Vor- und Grundschulalter
3.1 Entwicklung des Zahlbegriffs
3.1.1 Zählen
3.1.2 Zählprinzipien
3.1.3 Zahlwortreihe
3.1.4 Zahlaspekte
3.2 Förderungsmöglichkeiten für rechenschwache Kinder
3.3 Addition und Subtraktion
3.3.1 Zahlbeziehungen
3.3.2 Teil-Ganzes-Beziehungen
3.3.3 Stellenwertsystem
3.3.4 Zählendes Rechnen
3.4 Fördermaßnahmen für rechenschwache Kinder
4 Analyse des Themenblocks „Entwicklung des Zahlbegriffs“ im Zahlenbuch 1 und im Dortmunder Zahlbegriffstraining
4.1 Makrostruktur
4.1.1 Zahlenbuch 1
4.1.2 Dortmunder Zahlbegriffstraining
4.2 Mesostruktur
4.2.1 Zahlenbuch 1
4.2.2 Dortmunder Zahlbegriffstraining
4.3 Mikrostruktur Zahlenbuch 1
4.3.1 Spiralprinzip
4.3.2 Materialeinsatz
4.3.3 Prozessbezogene Kompetenzen
4.4 Mikrostruktur Dortmunder Zahlbegriffstraining
4.4.1 Spiralprinzip
4.4.2 Materialeinsatz
4.4.3 Prozessbezogene Kompetenzen
5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lehr- und Fördermaterialien
5.1 Förderstrategien zur Unterstützung rechenschwacher Kinder im Zahlenbuch 1
5.2 Fördermaßnahmen im Dortmunder Zahlbegriffstraining
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
Laut der aktuellen Studie der TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) besitzen deutsche Grundschüler/innen1 Schwierigkeiten und Defizite im Fach Mathematik. An der TIMSS Studie, die im Jahre 2019 von der Universität Hamburg geleitet wurde, haben 58 Staaten mit mehr als 300.000 Schüler der vierten Klassenstufe teilgenommen (Gießelmann, 2020). In Deutschland wurden die Studienergebnisse von 4.900 Viertklässlern untersucht. Die mathematischen Leistungen liegen, wie auch in den Vorgängerstudien der Jahre 2007, 2011, 2015 im Mittelfeld des internationalen Vergleichs. Jedoch erreichen 20 % der Schüler nicht die dritte Kompetenzstufe, was laut dem Dortmunder Bildungsforscher Wilfried Bos sehr besorgniserregend ist (Kaufmann, 2016). Demnach können Schüler einer vierten Klasse nur zum Teil sicher mit Zahleigenschaften umgehen, mathematische Zusammenhänge erkennen und nutzen sowie diese unterschiedlich darstellen. Die vierte Kompetenzstufe, welche das sichere und flexible Anwenden von Rechenstrategien und Rechenverfahren beinhaltet, wird nur von wenigen Schülern am Ende der vierten Klasse beherrscht (Kultusministerkonferenz, 2008).
Auch sind die Leistungen der Viertklässler in dem mathematischen Teilgebiet der Arithmetik besonders schwach. Daher appelliert der Bildungsforscher an die Lehrkräfte schon früh leistungsschwache Schüler im Fach Mathematik stärker in den Fokus der Bildungsarbeit zu rücken und diese in einem besonderen Maße individuell zu unterstützen (Kaufmann, 2016). Die Förderung und die Arbeit mit leistungsschwachen Schülern sind daher von großer Bedeutung. Zu dieser Gruppe gehören auch rechenschwache Kinder, welche ebenso einen großen Bedarf an Förderung aufweisen. Da es in der Fachliteratur unterschiedliche Bezeichnungen für Kinder mit Rechenschwierigkeiten gibt, kann der ungefähre Prozentsatz der Kinder mit einer Rechenschwäche nur vage bestimmt werden. In Deutschland wird dementsprechend bei 3 bis 7 % der Grundschulkinder eine Rechenschwäche diagnostiziert (Born & Oehler, 2013). Demnach befindet sich in einer Durchschnittsklasse von 25 Kindern mindestens ein Kind mit einer Rechenschwäche (Toepfer, 2021).
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich eingehend mit dieser Problematik und stellt geeignete Fördermaßnahmen für rechenschwache Schüler vor.
Um zunächst einen inhaltlichen Überblick zu gewinnen, behandelt das erste Kapitel die unterschiedlichen Definitionsversuche, welche für die Dyskalkulie und für die Rechenschwäche in der Fachliteratur verwendet werden.
Das zweite Kapitel befasst sich ausführlich mit dem Aufbau mathematischer Vorläufer- und Grundfertigkeiten im Vor- und Grundschulalter sowie mit dem Erwerb erster Rechenstrategien. Im Mittelpunkt dieser Bachelorarbeit steht die intensive Ausarbeitung und Vorstellung der Förderstrategien für rechnen- und leistungsschwache Kinder in dem Bereich der Zahlbegriffsentwicklung. Im Verlauf des darauffolgenden Kapitels werden ein bekanntes Mathematikbuch, das Zahlenbuch und ein speziell entwickeltes Förderprogramm, das Dortmunder Zahlbegriffstraining für rechenschwache Kinder, miteinander verglichen. Das Ziel dieses Vergleiches ist es, die einzelnen Lern-und Förderwerke in ihrem Aufbau zu untersuchen und die Qualität der Fördermaßnahmen herauszustellen.
In der Fachliteratur und in wissenschaftlichen Publikationen werden verschiedene Bezeichnungen gebraucht, um eine Leistungsschwäche im Fach Mathematik zu beschreiben. So werden auffällig schwache Schülerleistungen in Mathematik, je nach Quelle und Auffassung einzelner Autoren, als Dyskalkulie, mathematische Lernstörung, Rechenstörung, mathematische Lernschwäche, mathematische
Schulleistungsschwäche oder als Rechenschwäche definiert (Moser Opitz, 2007). Diese Vielzahl an Begrifflichkeiten wird in der Literatur zur Vereinfachung des Verständnisses synonym zueinander gebraucht. Im Folgenden werden die Dyskalkulie und die Rechenschwäche in ihren möglichen Ursachen, Symptomen und Merkmalen vorgestellt und ein Versuch unternommen, diese voneinander zu differenzieren.
Um das Krankheitsbild der Dyskalkulie zu beschreiben, wird die Definition der Weltgesundheitsorganisation angeführt. In dem internationalen Klassifikationsschema psychischer Störungen (ICD-10) der WHO wird die Dyskalkulie den schulischen Entwicklungsstörungen zugeordnet und dann diagnostiziert, wenn die schwachen Rechenleistungen der Grundschulkinder
„nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine[r] unangemessenen Beschulung erklärbar [sind]. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden“ (Keßler, 2015).
Ebenso muss sichergestellt sein, dass eine erworbene Akalkulie ausgeschlossen werden kann, da diese durch eine Schädigung am Hirn zurückzuführen ist und sich von dem Krankheitsbild einer Dyskalkulie unterscheidet (Nonnenmacher, 2020).
Um eine Rechenstörung zu diagnostizieren, müssen verschiedene Kriterien erfüllt werden. Demnach zeigen betroffene Schüler im Fach Mathematik eine mangelhafte bis ungenügende Leistung auf. Außerdem muss zwischen einem standardisierten Rechentest und dem Intelligenzquotienten eine Diskrepanz von mindestens 1,5 Standardabweichungen bestehen und der Intelligenzquotient darf nicht kleiner als 70 ausfallen (Moser Opitz, 2007, zitiert nach Jakobs & Petermann, 2003, S. 197-211). Das bedeutet, dass eine Beeinträchtigung der Rechenfertigkeiten unabhängig von der Intelligenz, der Begabung und der Beschulung des Kindes vorliegt, da es sich bei der Dyskalkulie um eine Teilleistungsstörung handelt (Born & Oehler, 2013).
Zwei komorbide Störungen, die meist zusammen mit einer Dyskalkulie diagnostiziert werden, sind zu 40 % die Lese- und Rechtschreibschwäche und die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) ohne oder mit Hyperaktivitätsstörung (Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V., 2020). Dadurch fällt es betroffenen Kinder sehr schwer neue mathematischer Inhalte zu erlernen und zu verinnerlichen, da ihr Arbeitsspeicher schnell überlastet und die Automatisierung ihres Vorwissens in unzureichender Form vorhanden ist, sodass nicht genügende Informationen und wesentliche Lerninhalte abgesichert werden können (Born & Oehler, 2013).
Nicht nur in der Schule, sondern auch im Alltag erfahren betroffene Kinder erhebliche Einschränkungen. Sie haben nicht nur Schwierigkeiten mit dem Zählen, dem Zahlenverständnis, der Einschätzung von Mengenverhältnissen, dem Lesen von Uhrzeiten oder von Telefonnummern, sondern auch in dem Umgang mit Geld oder in einfachen Alltagssituationen, in denen sie mit mathematischen Inhalten konfrontiert werden.
Die Dyskalkulie bedarf daher einer außerschulischen Förderung, da sie nicht heilbar ist. Demzufolge sind die Schwierigkeiten im Fach Mathematik über einen längeren Zeitraum sichtbar und werden in der Regel in der zweiten oder in der dritten Klasse festgestellt, wobei sich schon erste Symptome im Kindergartenalter zeigen (Keßler, 2015).
Im Laufe dieser Erkrankung können auch psychosomatische Symptome, Depressionen oder eine Schul- und Prüfungsangst entstehen, welche sich im weiteren Verlauf äußerst negativ auf die weitere Kindesentwicklung auswirken (Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V., 2020). Aus diesem Grund müssen eine fortlaufende und beständige Förderung in der Schule sowie eine intensive Dyskalkulie- und Psychotherapie stattfinden, um die Rechenschwierigkeiten in ihrer Ausprägung zu vermindern, die psychische Stabilität aufrechtzuerhalten und das Selbstwertgefühl des Kindes langfristig zu stärken.
Im Gegensatz zu einer Rechenstörung kann eine Rechenschwäche in ihrem Schweregrad und in ihrem Ausmaß durch eine intensive schulische Förderung ausgeglichen werden. Eine Rechenschwäche liegt dann vor, wenn die festgelegten Kriterien einer Rechenstörung nicht zutreffen und das Kind trotzdem unterdurchschnittliche Rechenleistungen im Vergleich zu seinen Mitschülern zeigt. Im Unterscheid zu einer diagnostizierten Rechenstörung, bei welcher der PR- Wert meist <16 beträgt, wird eine Rechenschwäche bei einem PR- Wert von <25 aber >16 festgestellt (Neumann, 2016).
Der Durchschnittsbereich wird bei den Prozenträngen 25 bis 50 verortet. Somit wird eine Rechenschwäche auch als eine weniger stark ausgeprägte Form der Rechenstörung verstanden (Neumann, 2016). Der Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie (2020) ist ebenfalls der Auffassung, dass Kinder mit einer Rechenschwäche weitaus geringere Defizite in den Rechenfertigkeiten aufweisen, als Kinder mit einer anerkannten Rechenstörung. Auch kann eine Rechenschwäche durch gezielte Fördermaßnahmen und durch den Aufbau mathematischer Vorläuferfähigkeiten erfolgreich behandelt bzw. überwunden werden, sodass die Rechenschwäche für das Kind, für die Lehrkräfte und für die Eltern eine vorübergehende Problematik darstellt (Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e.V., 2020).
Schon in einem frühen Entwicklungsstadium erwerben Kinder wichtige Vorläuferfähigkeiten, welche ihr mathematisches Denken noch vor dem ersten Kontakt mit konkreten Additions-und Subtraktionsaufgaben schulen. Während sie krabbeln, laufen oder klettern lernen, passen sie unbewusst ihr Tempo oder ihr Spiel an die Beschaffenheit des Raumes oder ihrer Umgebung an (Jaszus, Büchin-Wilhelm, Mäder- Berg, & Gutmann, 2014). Auch lernen die Kinder wesentliche Merkmale über Formen kennen, wenn sie beispielsweise mit unterschiedlichen Förmchen im Sandkasten Burgen bauen oder mit verschiedenartig großen, kleinen, eckigen oder runden Bausteinen spielen. Sie entwickeln ihr mathematisches Denken, ihren Umgang mit Zahlen und Mengen spielerisch, indem sie verschiedene Gegenstände, wie Perlen, Murmeln oder Steine sortieren und aufgrund ihrer äußerlich erkennbaren Merkmale in Kategorien einordnen (Jaszus et al., 2014). Daher entdecken die Kinder schon früh, dass die Mathematik überall im Alltag zu finden ist. So kommen sie immer wieder bei alltäglich wiederkehrenden Situationen in Kontakt mit Zahlen oder Maßeinheiten, wie beispielswiese bei dem Lesen der Uhr, dem Tippen einer Telefonnummer in das Handy, bei dem Abzählen des Geldes in einer Bäckerei oder bei dem Abmessen einer Backzutat für einen Kuchen.
In der Vor- und in der Grundschule lernen die Kinder ihr bereits erworbenes Wissen über die mathematischen Grundzusammenhänge zu nutzen. Sie erfahren, dass Mathematik nicht nur ein Schulfach ist, sondern auch einen essenziellen Baustein darstellt, der das gesellschaftliche Leben und Miteinander bestimmt. Aufgrund dessen sind die Entwicklung eines Zahlenverständnisses und der Erwerb von mathematischen Grundlagefertigkeiten von großer Bedeutung.
Die Zahlbegriffsentwicklung eines Kindes beginnt bereits im Vorschulalter und erreicht ihren Höhepunkt mit dem Eintritt in die Grundschule. Neben dem Erwerb eines räumlichen Vorstellungsvermögens, der räumlichen Orientierung, des visuellen Gedächtnisses und der visuellen Unterscheidung von Objekten spielt auch die kognitive Entwicklung bei dem Erwerb des Zahlbegriffs eine zentrale Rolle (Maier-Schöler, 2008). Jean Piaget, ein Schweizer Entwicklungspsychologe, welcher neben Sigmund Freud zu einer der anerkanntesten Psychologen des 20. Jahrhunderts zählt, hat eingängige Studien und Untersuchungen zu der Entwicklung des Denkens getätigt (Jaszus et al., 2014). Der Psychologe hat in seinem Experiment, welches sich mit dem kindlichen Erfassen der Mengeninvarianz beschäftigt, herausgefunden, dass zwei bis siebenjährige Kinder den Mengenzustand eines Objektes fokussieren können. Sie erkennen, dass zwei Gefäße mit einer gleichen Menge an Flüssigkeit befüllt sind.
Jedoch weist die kognitive Entwicklung der Kinder in dem Stadium des voroperationalen Denkens Grenzen auf. In der praktischen Umsetzung des Experiments hat Jean Piaget festgestellt, dass die Form- und Größenveränderung einer Menge, welche durch das Umschütten einer Flüssigkeit von einem breiten Behältnis in ein schmaleres Behältnis geschieht, das Urteilsvermögen der Kinder trügt (Jaszus et al., 2014, S. 325). Demnach stellt das Experiment die noch nicht vorhandene Dynamik des kindlichen Denkens heraus und zeigt, dass Kinder die Veränderung oder die Darstellungsweise einer Menge nicht abstrahieren können.
Mit Beginn der Einschulung und ab einem Alter von sieben bis zwölf Jahren setzt laut Jean Piaget das Stadium des konkret-operationalen Denkens ein (Jaszus et al., 2014). In dieser Phase lassen sich elementare mathematische Fortschritte in der kognitiven Entwicklung der Kinder feststellen. Sie erwerben wichtige und grundlegende Fähigkeiten, um kognitiv mathematische Zusammenhänge zu erfassen und zu nutzen. In diesem Stadium stehen das Erlernen der Klassifikation, der Reihenbildung und das Ausbilden eines räumlichen Urteilsvermögens im Fokus der geistigen Entwicklung (Jaszus et al., 2014). Die Kinder erhalten nun einen Einblick in die Invarianz von Mengen. Ebenso sind die Kinder dazu fähig, Elemente einer Menge im Hinblick auf ihre Form und ihre Größe, zu sortieren.
Demnach sind für den Psychologen der Erwerb der Klassifikation, der Invarianz und der Seriation bedeutende Entwicklungsschritte, um ein Zahlenverständnis rund um die Kardinal- und Ordinalzahl zu entwickeln.
Neue Studien äußern jedoch Kritik an den Untersuchungen des Schweizer Entwicklungsforschers. Für Piaget ist der Erwerb eines Zahlenbegriffs von der Entwicklung primärer Vorläuferfähigkeiten, wie der Klassifikation, der Mengeninvarianz und der Seritation abhängig. Die amerikanische Entwicklungspsychologin Lauren B. Resnick widerlegt hingegen seine These, da sie die wissenschaftliche Auffassung vertritt, dass Kinder mit Beginn der frühen Sprachentwicklung mengenbeschreibende Begrifflichkeiten wie „mehr“, „weniger“ oder „gleich viel“ (Royar, 2015, S. 5) nutzen können.
Unumstritten ist die Tatsache, dass nicht jedes Kind durch den bloßen Gebrauch mengenspezifischer Ausdrücke auch eine konkrete Mengenvorstellung besitzt. Jedoch ordnet die Entwicklungspsychologin die fortwährende Ausbildung des Zahlbegriffs im Vergleich zu Piaget in die Zeit der frühen Kindheit ein.
Im Zuge ihrer Forschungen hat Resnick eine detaillierte schemahafte Darstellung, welche neben der Beschreibung der Zahlbegriffsentwicklung auch konkrete Fördermaßnahmen für Kindergartenkinder konkretisiert, entwickelt. Die erste Schemastufe wird von der Entwicklungspsychologin als „protoquantitatives Vergleichsschema“ (Royar, 2015, S. 5) bezeichnet.
Dieser Entwicklungsabschnitt beschreibt die kognitive Fähigkeit der Kinder mengenbezogene Gegenstände oder Objekte mit sprachlich beschreibenden Ausdrücken zu präzisieren. So hat Resnick herausgefunden, dass Kinder die Fähigkeit besitzen ein bis vier Mengenelemente sprachlich zu beschreiben und simultan zu erfassen. Ebenso besitzen sie die Fähigkeit Mengenobjekte untereinander kategorisch zu vergleichen und einzuordnen ohne diese jedoch konkret zählen zu können.
Die zweite Schemaphase, welche die Entwicklungspsychologin als ein „protoquantitatives Zunahme-Abnahme-Schema“ (Royar, 2015, S. 5) definiert, zeigt gewisse Parallelen zu dem ersten Entwicklungsabschnitt auf und beschäftigt sich ebenfalls mit mengenbeschreibenden Ausdrücken, wie „mehr“ oder „weniger“. Dennoch gibt es in dieser Entwicklungsstufe einen elementaren Unterschied. Die Kinder können schon in einer frühen Phase ihrer kognitiven und körperlichen Entwicklung eine gewisse Mengenveränderung feststellen und diese mit zunehmender Sprachfähigkeit ausdrücklich beschreiben. Demnach sind die Kinder dazu fähig, im Laufe ihrer geistigen Entwicklung, zwischen der räumlich- simultanen und der zeitlich-sukzessiven Mengenveränderung zu differenzieren.
Die dritte und letzte Schemastufe, welche von Resnick als „protoquantitatives Teile- Ganzes-Schema“ (Royar, 2015, S. 5) tituliert wird, zeigt noch einmal sehr eindrücklich, in welcher Weise die kognitiven Leistungen der Kinder die Entwicklung des Zahlbegriffs verstärken. Bereits ab einem Alter von vier Jahren können Kinder mathematische Grundregeln erfassen und verstehen, dass sich Mengen unabhängig von ihrer Gesamtmenge auch immer in Teilmengen unterteilen lassen. Das sich stetige entwickelnde Mengenverständnis und die Einsicht in Mengenbeziehungen sind für den grundlegenden Zählerwerb elementar und beeinflussen das spätere Erlernen mathematischer Zusammenhänge sowie die Ausbildung von Zahl-und Rechenfertigkeiten.
Die Zählentwicklung der Kinder markiert einen wichtigen Grundstein in ihrer mathematischen Bildung. Schon in einem Alter von zwei Jahren untersuchen Kindergartenkinder ihre nähere Umgebung spielerisch und versuchen diese auch auf einer zählenden Weise zu erfassen (Mack, 2005). Das Imitationslernen spielt beim Erlernen des Zählens eine wichtige Rolle, da die Kinder durch das Nachahmungslernen die Verhaltensweisen, Handlungen und Sprachäußerungen der Eltern, der älteren Geschwister oder der Erzieher/innen speichern und in einer späteren Situation imitieren. So versuchen sie das Gesagte und das Gehörte, wie beispielsweise das Aufzählen einer Zahlwortreihe, sprachlich und zählend wiederzugeben.
Während des Zählprozesses unterlaufen den Kindern natürlich noch Fehler, da diese in ihrer kognitiven Entwicklung noch nicht dazu fähig sind, die Zahlwörter voneinander zu differenzieren (Moser Opitz, 2007). Die Bereitschaft sich im Kleinkindalter mit dem Zählen von Objekten konkret auseinanderzusetzen soll daher bewusst durch initiierte Lernsituationen zu Hause oder im Kindergarten gefördert werden.
Die mathematische Bildung der Kinder kann im Kindergarten durch das Singen und das Hören von bekannten Zählliedern oder von lernreichen Fingerspielen geschult sowie durch gezielte Übungen in der mathematischen Frühförderung innerhalb der Vorschularbeit erworben werden. Nicht nur im Kindergarten, sondern auch in bestimmten Alltagssituationen können sich mathematische Lernmöglichkeiten für Kinder ergeben. Um ein erfolgreiches und nachhaltiges Lernarrangement zu schaffen, ist es wichtig, einen regelmäßigen Austausch mit den Kindern anzuregen, um an ihre Lebensund Erfahrungswelt anzuknüpfen sowie deren Interessen und Vorlieben zu berücksichtigen. Ebenso ermöglichen die Natur, der Spaziergang durch die Stadt oder das Einkaufen im Supermarkt viele Lerngelegenheiten, um den Kindern die Welt der Zahlen und das explizite Zählen näher zu bringen.
Da es sich bei der Zählentwicklung um einen komplexen Erwerb einer mathematischen Fähigkeit handelt, ist dieser selbst zu Beginn der Schulzeit und nach dem Ende des 1. Schuljahres nicht vollständig abgeschlossen.
Die Vorschulkinder besitzen zum Eintritt in die Grundschule schon ein erstes Zahlenverständnis, welches ihnen ermöglicht, die Zahlen bis 20 vorwärts aufzuzählen und konkrete Objektanzahlen zu bestimmen (Moser Opitz, 2007).
Dennoch entwickelt sich im Laufe der Grundschulzeit das mathematische Verständnis der Kinder rund um die Zählprinzipien und die Zahlaspekte weiter, sodass diese eine Vorstellung über eine „vollständig reversible“ (Moser Opitz, 2007, S.83) Zahlwortreihe erhalten.
Während des Lernprozesses ist es daher von elementarer Bedeutung, dass die Kinder die Zählprinzipien nicht nur sprachlich zum Ausdruck bringen, sondern auch konkret zu Zählaktivitäten mithilfe von didaktisch sinnvollen Übungen angeregt werden.
Der Pädagoge Schäfer stellt sprachlich festgelegte Kriterien auf, welche die Kinder zum vollständigen Erwerb der Zählkompetenz benötigen. Einige der notwendigen Lernschritte beinhalten das Erlernen der Zahlwortreihe von eins bis zwölf und das Erfassen der Zahlwortbildung für die Zehner-, Zwanziger-, und zuletzt der Hunderterzahlen (Moser Opitz, 2007, zitiert nach Schäfer, 2005).
Ein weiterer mathematischer nicht zu unterschätzender kognitiver Lernprozess stellt für die Kinder das Zählen in Einer- bzw. Zweischritten dar (Moser Opitz, 2007). Das Zählen in Schritten ermöglicht den Kindern neben dem Erwerb einer wesentlichen Kompetenz für die weitere Zählentwicklung auch die Einsicht, dass jedes Zahlwort eine festgelegte Einheit darstellt. Demzufolge kann eine sichere Zählentwicklung durch regelmäßig stattfindende Übungen und Lerneinheiten entstehen, in welche die Entwicklung von Zählprinzipien, der Zahlwortreihe und den verschiedenen Zahlaspekten miteingeschlossen werden. Mathematisches Lernen ist daher immer abgängig von der Lernumgebung.
Die Zählprinzipien sind einer der ersten Lernbausteine, welche die Kinder zum Aufbau einer gefestigten Zählkompetenz erlernen. Demnach sind die fünf Zählprinzipien wichtig, um gelingende Zählprozesse sicherzustellen und die weitere Zählentwicklung der Kinder zu gewährleisten. In einem Alter von zweieinhalb bis drei Jahren benutzen die Kinder die ersten Zählprinzipien unbewusst. Dieser Prozess entwickelt sich aber stetig weiter, sodass die Kinder zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr ein Bewusstsein für die Charakteristika der Zählprinzipien erlangen (Müller, n.d.).
Das Prinzip der stabilen Reihenfolge sagt aus, dass die Reihenfolge der Zahlwörter immer in einer wiederholbaren Ordnung vorzufinden ist und diese in einer gleichbleibenden Abfolge aufgezählt werden (Moser Opitz, 2002). Im Laufe ihrer Zählentwicklung lernen die Kinder größere Mengen oder Objekte zählend zu bestimmen. Um den Erwerb zu sichern, ist es als Lehrkraft ratsam die Kinder während des Zählens zu beobachten und auftretende Schwierigkeiten festzustellen.
Wenn jedoch das Kind nur eine begrenzte Anzahl an Zahlwörtern beherrscht, kann diese Tatsache im weiteren Verlauf der Zählentwicklung ein schwerwiegendes Problem darstellen.
Das E indeutigkeitsprinzip besagt, dass jedem der zu zählenden Objekte genau ein Zahlwort zugeordnet wird (Moser Opitz, 2002). Um dieses Prinzip umzusetzen, müssen die Kinder die Menge in gezählte und noch nicht gezählte Objekte einteilen. Sobald ein Objekt mehrfach gezählt oder beim Zählvorgang übersehen wird, ist das Eindeutigkeitsprinzip ungültig.
Das Kardinalzahlprinzip legt fest, dass das zuletzt genannte Zahlwort die Anzahl der Objekte in einer Menge bestimmt. Dabei steht das Betonen des zuletzt gezählten Zahlwortes im Fokus des Prinzips (Moser Opitz, 2002). Auch setzt es die Fähigkeit der Kinder voraus, beispielsweise auf die Frage: „Wie viele Blumen seht ihr auf dem Bild?“, mit dem zum Schluss genannten Zahlwort zu antworten. Die Entwicklung des kardinalen und ordinalen Zahlenverständnisses stellt einen bedeutsamen Lernprozess dar.
Kinder, welche Schwierigkeiten haben dieses Prinzip zu verinnerlichen, beginnen wiederholt den Zählprozess zu starten. Durch den Einblick in das Abstraktionsprinzip erhalten die Kinder die Möglichkeit jede noch so große oder kleine Menge abzuzählen (Benz & Padberg, 2011). Dabei kommt es nicht auf die Beschaffenheit, die Art oder das Aussehen der vorhandenen Objekte an. Es zählt hierbei lediglich die Anzahlbestimmung.
Das letzte Zählprinzip bildet das Prinzip der Irrelevanz der Anordnung ab. Dieses geltende Prinzip gibt an, dass die Anordnung der zu bestimmenden Objekte für das Endergebnis unwesentlich ist (Benz & Padberg, 2011). Die Kinder müssen bei der Anwendung des Prinzips verstehen, dass der Zählprozess bei keinem zuvor festgelegten Objekt beginnen muss, sondern dieser in seiner Zählabfolge frei bestimmbar ist.
Die aufgeführten Zählprinzipien beherrschen die Kinder meist unbeabsichtigt und lernen diese im Laufe der voranschreitenden Zählentwicklung zu verstehen und bewusst zu nutzen. Daneben ist der Erwerb einer „verbalen Zählkompetenz“ (Moser Opitz & Scherer, 2010, S. 105) von großer Bedeutung, um vorgegebene Mengen und Zahlwörter in Relation zueinander zu setzen.
[...]
1 In dieser Bachelorarbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.
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