Bachelorarbeit, 2018
51 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Leben und Motive Jürgen Habermas'
3. Nachmetaphysisches Denken nach Habermas
3.1 Selbstverständnis der Philosophie
3.2 Detranszendentalisierung/ Situierung der Vernunft
3.3 Sprache als Weltzugang
4. Die geistige Situation unserer Zeit
4.1 Wiedererstarken der Religionen
4.2 Naturalismus
4.3 Reflexion mit Blick auf die aktuelle Situation
4.3.1 Zur Religion
4.3.2 Zum Naturalismus
5. Bedingungen eines gelingenden Zusammenlebens
5.1. Selbstverständnis des demokratischen Verfassungsstaates
5.2 Das demokratische Verfahren
5.2.1 Voraussetzungen in der postsäkularen Gesellschaft
5.2.2 Normative Voraussetzungen
5.2.3 Kognitive Voraussetzungen
5.3 Verkümmerndes Normbewusstsein
5.4 Religion als Quelle
5.5 Zwischenfazit
6. Konsequenzen für die Theologie
6.1 Aufgeklärte Religion
6.2 Übersetzungsvorbehalte
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Die vorliegende Arbeit stellt sich zur Aufgabe, Jürgen Habermas ' Analyse der geistigen Situation unserer Zeit in theologischer Perspektive zu bearbeiten. Die geistige Situation verläuft zwischen zwei Polen, die das Gleichgewicht der modernen Gesellschaft destabilisieren - dem szientistischen Naturalismus und dem religiösen Fundamentalismus.
Bevor sich mit der eigentlichen Analyse befasst wird, sollen in einem ersten Schritt Habermas ' Leben und Denkmotive herausgearbeitet werden, um dann einige seiner philosophischen Grund annahmen aus seinem Werk Nachmetaphysisches Denken aufzuzeigen. Diese beiden ersten Schritte sind für das bessere Verständnis der späteren Auseinandersetzung Habermas ' mit der Religion und dem Naturalismus förderlich. An geeigneten Stellen in der eigentlichen Auseinandersetzung wird dann auf die Grundannahmen verwiesen.
Im zweiten Schritt sollen Habermas ' Ausführungen zu der geistigen Situation und den damit verbundenen Gefahren unserer Zeit nachgezeichnet werden. Dafür werden zum einen Phänomene der Revitalisierung religiöser Glaubensgemeinschaften dargestellt. Zum anderen wird die philosophische Auseinandersetzung Habermas ' mit der Strömung des „szientistischen Naturalismus“ erläutert. Diesen Darstellungen werden kurze Reflexionen folgen, die einen Aktualitätsbezug herstellen und zu einigen Punkten Stellung nehmen.
In einem dritten Schritt sollen die Anforderungen unserer modernen westlichen Gesellschaft, die aus den zuvor dargestellten Problematiken entstehen, analysiert werden. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern ein gelingendes Zusammenleben in einer „postsäkularen Gesellschaft“ möglich ist. Dabei fällt das Hauptaugenmerk auf die Religion und welche Rolle sie nach Habermas spielen kann. Die wesentliche Quelle für die Bearbeitung der Analyse Habermas ' stellt sein Werk Zwischen Naturalismus und Religion dar.
In einem vierten Schritt werden die Konsequenzen für die Theologie, die sich aus der Auseinandersetzung mit Habermas ' Ausführungen ergeben haben, bearbeitet. Hierfür wird sich vornehmlich mit Aufsätzen beschäftigt, die Habermas aus theologischer Perspektive behandeln. Die Konsequenzen sollen dann abschließend im Fazit auf eine persönliche Einschätzung reflektiert werden.
Um die Ansätze, die Denkweise und vor allem die Wahrnehmung der Gesellschaft Habermas' besser nachvollziehen zu können, soll zunächst ein Blick in die Biographie des Philosophen geworfen werden. Hierfür wird sich hauptsächlich auf Schilderungen in seinem Aufsatz Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit aus dem Werk Zwischen Naturalismus und Religion und auf Informationen zweier Einführungsbände bezogen. Dabei werden wichtige Stationen seines Lebens hervorgehoben, aber auch die Entwicklung seiner Denkansätze grob nachgezeichnet.
Jürgen Habermas gilt als einer der größten deutschen noch lebenden Philosophen und Gesellschaftstheoretiker der Gegenwart. Geboren wurde er am 18. Juni 1929 in Düsseldorf.1 In seiner Kindheit und Jugend prägten Habermas unter anderem eine Gaumenspalte, die ihm starke Kommunikationsprobleme bereitete, welche auch durch mehrere Gaumenoperationen nicht behoben werden konnten . 2 Habermas erklärt in seinem Aufsatz Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit, dass in seiner Schulzeit Kränkungen und Diskriminierungen auf seine verzerrte Artikulation folgten. Diese zum Teil traumatischen Erfahrungen hätten ein Bewusstsein für die Relevanz der Sprache und der Abhängigkeit des Menschen von seinem sozialen Umfeld bei ihm erzeugt. Ein Mensch entwickle sich erst durch soziale Interaktion, also durch die Teilhabe am intersubjektiven Austausch einer Gemeinschaft zu einer Person, einem Subjekt und befinde sich von Beginn an im „Element der Sprache“.3 Habermas beschreibt dies sehr eindrücklich:
„Mir hat es nie eingeleuchtet, dass das Phänomen des Selbstbewusstseins etwas Ursprüngliches sein soll. Werden wir uns nicht erst in den Blicken, die ein Anderer auf uns wirft, unserer selbst bewusst?“4
Er erklärt weiter, dass die Exklusionserfahrungen seiner Schulzeit den Ansatz einer Moral, die sich für die „Abschaffung von Diskriminierung“ und die „Einbeziehung der Marginalisierten“ einsetzt, die ihre Ressourcen aus der Kraft der Sprache bezieht, indem sie sich im Diskurs definiert, geprägt haben. Auch die Zäsur Ende des zweiten Weltkrieges 1945 zählt Habermas zu den bedeutsamen Stationen seines Lebens. Dieser Umbruch habe die alten Strukturen als „pathologisch und verbrecherisch” enttarnt und ihn zur philosophischen und gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus geführt.5
Habermas begann nach seinem Abitur 1949 Philosophie zu studieren.6 Außerdem studierte er Geschichte, Ökonomie, deutsche Literatur und Psychologie.7 Das tat er zeitweise in Göttingen und Zürich, dann in Bonn, wo er 1954 promovierte. Durch die Lektüre von Dialektik der Aufklärung 1953 und seine darauffolgende Beschäftigung mit der „kritischen Theorie” näherte sich Habermas der Frankfurter Schule.8 Als Frankfurter Schule werden Begründer und Vertreter der Denktradition der „kritischen Theorie” bezeichnet, die an den Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung mitwirkten. Habermas wird zu der zweiten Generation der Frankfurter Schule gezählt.9 Zwei ihrer Hauptvertreter waren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. 1956 wurde Habermas, der nach seinem Studium als freier Journalist mit einigen Artikeln auf sich aufmerksam gemacht hatte, Assistent von Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Im Sommer 1959 kam es zu einem Bruch mit dem Institut .
Horkheimer kritisierte Habermas für einige seiner Ansätze und betrachtete diese als schädlich für das Institut.10
Daraufhin verließ Habermas das Institut und habilitierte bis 1961 in Marburg. Anschließend wurde Habermas Professor der Philosophie in Heidelberg. 1964 verließ er Heidelberg, um in Frankfurt als Nachfolger Horkheimers den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie zu übernehmen.11 Während dieser Zeit formulierte Habermas in seinem Werk Erkenntnis und Interesse die These, dass Menschen bestimmte Erkenntnisinteressen besitzen. Zu diesen gehören beispielsweise das wissenschaftliche oder das emanzipatorische Erkenntnisinteresse.12 Die Erkenntnisinteressen der Menschen sollten nach Habermas als Gesellschaftstheorie entfaltet werden.13 Anfang der Siebzigerjahre änderte sich Habermas' Auffassung der Grundlage der Gesellschaftstheorie. Die epistemologische Grundlage sah er fortan nicht mehr in der Bewusstseinsphilosophie, sondern in der auflebenden Sprachphilosophie. Ein solcher Wandel hat sich allgemein in der Philosophie vollzogen und wird als „linguistic turn” bezeichnet. In der neuen Ausrichtung auf die Sprache statt allein auf das erkennende Subjekt wurde für Habermas unter anderem die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Intersubjektivität deutlich.14 Iser und Strecker resümieren Habermas' Umdenken wie folgt:
„Die normativen Grundlagen des Projekts der Moderne sollen also nicht mehr in unhintergehbaren Interessen gesucht werden, welche die Struktur der menschlichen Erkenntnis prägen, sondern in gattungsspezifischen Regeln der menschlichen Interaktion.“15
Im selben Jahr wurde Habermas zusammen mit Carl-Friedrich von Weizsäcker Leiter des neu gegründeten Max-Planck-Institut zur Erforschung der wissenschaftlichtechnischen Welt. 1981 löste sich dieses Institut mit Habermas' Rücktritt wieder auf. Eine Professur, die mit Habermas' Posten im Institut normalerweise verknüpft gewesen wäre, wurde ihm während und nach seiner Zeit am Max-Planck-Institut verwehrt. Diese Verwehrung resultierte mitunter aus den Ressentiments einiger Kollegen, die die neomarxistischen Tendenzen seiner Philosophie kritisierten.16
1981 erscheint auch Habermas' Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns, in dem er seinen sprachtheoretischen Ansatz entfaltet. Dort zeigt sich eine „ [...] vernunftoptimistische Deutung der Gesellschaftsentwicklung [...]. ”17 Habermas steht insgesamt dafür ein, dass trotz der Schwächen der menschlichen Vernunft das „Projekt einer Vernunftgesellschaft“ niemals aufgegeben werden sollte.18 Ein Ansatz, der einen optimistischen Gegenpol zu den Annahmen aus Dialektik der Aufklärung, das als eines der wichtigsten Werke Horkheimers und Adornos gilt, darstellt. 1983 erhielt Habermas einen Lehrstuhl für Philosophie in Frankfurt und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung 1994. Es folgen viele weitere schriftliche Publikationen.19 Ein weiterer vor allem für diese Arbeit entscheidender Wandel in Habermas' Denken ist sein Verhältnis zur Religion. Während Habermas in Theorie des kommunikativen Handelns noch der festen Überzeugung war, dass Religion als Erscheinung zu charakterisieren ist, die in der Moderne schwinden und privatisiert werden wird, zeigen sich 2001 in seiner Friedenspreisrede, die unter dem Titel Glauben und Wissen geschrieben ist, im Zuge der Anschläge des 11. Septembers neuere Überlegungen.20 Diese Überlegungen werden vor allem in seinem 2005 erschienenen Werk Zwischen Naturalismus und Religion ausgebreitet. Habermas sieht nun in den religiösen Traditionen einen wichtigen Verbündeten der säkularisierten Vernunft. Einen Höhepunkt der Auseinandersetzung Habermas' mit der Religion stellt wohl der Dialog mit dem damaligen Kardinal Ratzinger im Jahre 2004 d ar.21 Schon in seinem 1992 erschienenen Werk Nachmetaphysisches Denken, worauf sich im nächsten Kapitel bezogen werden soll, zeigen sich bereits pro-religiöse Tendenzen:
„Die ihrer Weltbildfunktionen weitgehend beraubte Religion ist, von außen betrachtet, nach wie vor unersetzlich für den norminalisierenden Umgang mit dem Außeralltäglichen. [...]. Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können.“22
Um sich Habermas' Analyse der geistigen Situation unserer Zeit sinnvoll zu nähern, lohnt sich die Betrachtung einiger Grundannahmen seiner Philosophie, die für das weitere Verständnis relevant sind. Diese Betrachtung kann nur sehr grob ausfallen, da Habermas' Ansätze interdisziplinär und enorm umfangreich sind. Deswegen wird sich auf die Ausführungen im Werk Nachmetaphysisches Denken beschränkt werden.
Dort definiert Habermas Motive des nachmetaphysischen Denkens, die wesentlich für seine Philosophie sind, indem er die historische Entwicklung des metaphysischen Denkens zu einem nachmetaphysischen Denken subtil nachzeichnet. Gleichzeitig zeigt er aktuelle Herausforderungen des nachmetaphysischen Denkens, die er mit Ansätzen der Theorie des kommunikativen Handelns bearbeitet.
In diesem Kapitel soll versucht werden, wichtige Grundannahmen des nachmetaphysischen Denkens Habermas' herauszuziehen.
Nach Habermas ist die Philosophie in ihren metaphysischen Anfängen von einer Vernunft ausgegangen, die sich in einer vernünftig strukturierten Welt vorfindet oder diese vernünftig strukturiert. Es sei von einer „in sich vernünftigen Totalität“ der Wirklichkeit ausgegangen worden, die dem Einzelnen ermöglicht, an dieser Vernunft teilhaben zu können.23
Diese Vorstellung sei von einer neuen Verfahrensrationalität der modernen Erfahrungswissenschaften und einer „autonom gewordene Moral“ maßgeblich verändert worden. Diese beschränken sich nach Habermas auf die Rationalität ihrer Verfahren und ihres Vorgehens, um möglichst gültige Resultate zu erzielen. Mit der „autonom gewordenen Moral“ meint Habermas eine Moral, die sich diskursiv rechtfertigen muss und nicht mehr bloß einem Weltbild folgt. Überholte metaphysische Annahmen wie der Bezug auf eine totale Einheit oder Ordnung der Dinge seien dadurch nicht länger Maß der Erkenntnis. Diese Rolle würde viel mehr den Prozessen der Problemlösung zufallen.24
Habermas betont, dass auch ein entstandenes fallibilistisches Selbstverständnis der Wissenschaft wichtig für diese Entwicklung war. Mit einem fallibilistischen Selbstverständnis ist die Einsicht gemeint, dass Irrtümer in der Wissenschaft nicht auszuschließen sind und es deshalb keine totalitäre Gewissheit geben kann. Ein in sich geschlossenes nachmetaphysisches Weltbild sei unvereinbar mit dem Fallibilismus der Wissenschaften. Die moderne nachmetaphysische Philosophie muss sich nach Habermas an die Verfahrensrationalität und an das fallibilistische Selbstverständnis der Erfahrungswissenschaften anschließen und darf keinen besonderen „Zugang zur Wahrheit“ in Form eines metaphysischen Weltbildes beanspruchen. Nur so könne sie einen Status als Kooperationspartner im Wissenschaftssystem legitimieren.25 Die Verfahrensrationalität und das fallibilistische Selbstverständnis sind damit ein wichtiger Bestandteil des Nachmetaphysischen Denkens.
Habermas betont aber, dass die Philosophie ihren Bezug auf etwas Ganzes, den sie zuvor über die Metaphysik hergestellt hat, nicht völlig verwerfen muss. Eine nachmetaphysische Philosophie darf sich laut Habermas mit den Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt des Menschen, die er allgemein als „Commonsense“26 oder „Alltagswissen“ bezeichnet, befassen bzw. diese kritisch beleuchten.27 Indem sich die Philosophie mit vortheoretischem Wissen wie der nicht greifbaren Lebenswelt befasse, könne sie zudem von dieser praktischen Perspektive aus mögliche „Deformationen der Lebenswelt“ - zum Beispiel in Form von verzerrter Kommunikation - ausmachen und zur Sprache bringen. Damit könne sie als interpretierender Vermittler zwischen Wissenschaft und „orientierungsbedürftiger Alltagspraxis“ fungieren.28
Auch eine Selbstreflexion der Wissenschaften sei dadurch möglich. Habermas schreibt:
„Von dort aus kann sich dann das philosophische Denken auf die Wissenschaft im ganzen zurückwenden und eine Selbstreflexion der Wissenschaft betreiben, die über die Grenzen von Methodologie und Wissenschaftstheorie hinausgreift und — im Gegenzug zur metaphysischen Letztbegründung von Wissen überhaupt — die Sinnesfundamente der wissenschaftlichen Theoriebildung in der vorwissenschaftlichen Praxis freilegt.“29
Mit dieser Ausrichtung der Philosophie hängt ein wichtiger Bestandteil nachmetaphysischen Denkens zusammen: die „Situierung“ der Vernunft. Die „Situierung“ meint eine Detranszendentalisierung. Im Verlauf der Geschichte wurden nach Habermas die Konzepte transzendentaler Vernunft versucht zu detranszendentalisieren.30 Als transzendental werden Instanzen im menschlichen Bewusstsein bezeichnet, die als notwendige Bedingung der Welterschließung betrachtet werden und aller Erfahrung vorausgehend im Menschen verankert sind. Eine solche Konzeption der Philosophie wurde maßgeblich von Kant geprägt. Ein Beispiel einer solchen Instanz ist der Verstand, der ermöglicht, etwas in der Welt zu erkennen.31 Mit einer Detranszendentalisierung ist demnach gemeint, dass die Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr in Instanzen, die vor aller Erfahrung des Menschen liegen, gesucht werden. Von einer solchen Bewusstseinsphilosophie will Habermas absehen. Die Vernunft werde also nicht mehr über beispielsweise Kant'sche apriorische32 Verstandeskategorien und Anschauungsformen definiert.33 Die Bedingungen der Erkenntnis lassen sich nach Habermas erst mit Blick auf die „[s]prach- und handlungsfähigen Subjekte, die sich vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Lebenswelt miteinander über etwas in der Welt verständigen [,..]“34\ vernünftig detranszendentalisieren. Die Philosophie habe also eine „[...]in der kommunikativen Alltagspraxis selbst operierende Vernunft [.]“ 35 entdeckt.
Das erkennende Subjekt solle sich in der Welt vorfinden, aber diese gleichzeitig auch erzeugen können.36 An anderer Stelle schreibt Habermas:
„Die Detranszendentalisierung führt einerseits zur Einbettung der vergesellschafteten Subjekte in lebensweltliche Kontexte, andererseits zur Verschränkung der Kognition mit Sprechen und Handeln.“37
Habermas hält fest, dass Menschen sich schon immer in einer gemeinsamen Lebenswelt befunden haben, die sie strukturieren und sich sprachlich erschließen. Die Betonung liegt an dieser Stelle auf „sprachlich“. Habermas schreibt dazu sehr eindrücklich: „ Die Sprache ist nicht der Spiegel der Welt, sondern eröffnet uns einen Zugang zur [sic!] ihr. Dabei lenkt sie unsere Blicke immer schon in einer bestimmten Weise auf die Welt. “38 Davon ausgehend können nun Habermas' Überlegungen zur Sprache ausgebreitet werden.
Die Sprache sei einerseits als Regelsystem bereits vorhanden, an dem sich der Mensch von Beginn an orientieren könne und sich der vorgegebenen „grammatischen Sinnzusammenhänge“ bediene, andererseits werde dieses System und die damit erschlossene Lebenswelt nur durch die kommunikative Praxis einer „Sprachgemeinschaft“ gebildet und reproduziert. Sprachen würden den Menschen den „Horizont“ zu einer spezifischen Lebenswelt öffnen, aber gleichzeitig zu einer stetigen Reflexion der individuellen Welterschließung drängen.39
Das gegenseitige Verstehen der Kommunikationsteilnehmer sei nicht einzig und allein von den grammatischen Regelsystemen abhängig, da es in der Kommunikation immer „Differenzen der Sprecherperspektiven“ geben könne. Die Intentionen der Sprecher könnten beispielsweise von den eigentlichen Bedeutungen der Ausdrücke abweichen.40 Die Lebenswelten der Menschen sind nach Habermas different. Es bestünden unterschiedliche Kontexte wie Traditionen, Gewohnheiten oder grammatische Vorverständnisse.41 Deswegen spricht Habermas von einer „gebrochenen Intersubjektivität“, die durch „konstruktive Verständigungsleistung“ aufrechterhalten wird.42
Eine absolute Wahrheit oder Objektivität könne durch eine solche Verständigungsleistung also nicht erzielt werden, aber man könne wahrheitsorientiert versuchen, die größtmögliche rationale Akzeptabilität durch einen Diskurs zu erzielen.43 In einem Diskurs müssten die Geltungsansprüche der Gesprächsteilnehmer akzeptiert werden.44 An dieser Stelle sei mithilfe von Greve ergänzt, dass der Versuch der Verständigung mit Bezug auf die eigenen Geltungsansprüche von Habermas als „kommunikatives Handeln“ definiert wird. „ Werden Geltungsansprüche kritisiert, so schließt sich die Bereitschaft an, dies in einem Diskurs zu überprüfen.“45
[...]
1 Vgl. Greve, Jens: Jürgen Habermas. Eine Einführung. Konstanz: 2009, S. 10.
2 Vgl. Iser, Mattias/ Strecker, David: Jürgen Habermas zur Einführung. Hamburg: 2016, S. 20.
3 Vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main: 2005, S. 17-19.
4 Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 19.
5 Vgl. a.a.O ., S. 20-21.
6 Vgl. Greve: Jürgen Habermas, S. 10.
7 Vgl. Iser/ Strecker: Jürgen Habermas zur Einführung, S. 24.
8 Vgl. Greve: Jürgen Habermas, S. 11.
9 Vgl. a.a.O., S. 12.
10 Vgl. Greve: Jürgen Habermas, S. 13-14.
11 Vgl. a.a.O., S. 14.
12 Vgl. Iser/ Strecker: Jürgen Habermas zur Einführung, S. 64.
13 Vgl. Greve: Jürgen Habermas, S. 14.
14 Vgl. a.a.O., S. 16-17.
15 Iser/ Strecker: Jürgen Habermas zur Einführung, S. 67-68.
16 Vgl. Greve: Jürgen Habermas, S. 17-18.
17 A.a.O., S. 17.
18 Vgl. a.a.O., S. 18.
19 Vgl. ebd.
20 Vgl. a.a.O., S. 162.
21 Vgl. Müller-Doohm, Stefan: Jürgen Habermas. Frankfurt am Main: 2008, S.61.
22 Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main: 1992,
S. 60.
23 Vgl. a.a.O ., S. 42.
24 Vgl. Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 42-43.
25 Vgl. a.a.O ., S. 43-46.
26 Die Schreibungen variieren in den Quellen. In Nachmetaphysisches Denken verwendet Habermas die Klein- und Getrenntschreibung („common-sense“), in den aktuelleren Quellen jedoch die Groß- und Zusammenschreibung. Deswegen soll die aktuellere Schreibung, soweit möglich, übernommen werden.
27 Vgl. Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 46.
28 Vgl. a.a.O., S. 57-59.
29 A.a.O., S. 57.
30 Vgl. a.a.O ., S. 48-51.
31 Vgl. Förster, Eckart: Transzendentalphilosophie. In: Kant-Lexikon 3 (2015), Sp. 2319-2325.
32 Dieser Begriff meint die Unabhängigkeit von Erfahrung.
33 Vgl. Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 35.
34 Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 51.
35 A.a.O., S. 59.
36 Vgl. Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 28.
37 A.a.O ., S. 33.
38 A.a.O ., S. 20.
39 Vgl. Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 51.
40 Vgl. a.a.O., S. 55-56.
41 Vgl. Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S.39.
42 Vgl. Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 55-56.
43 Vgl. Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 37-38.
44 Vgl. Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 51.
45 Greve: Jürgen Habermas, S. 194.
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