Bachelorarbeit, 2021
48 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Grundlagen
2.1 Morphologie
2.2 Syntax
3. Forschungsstand
3.1 Lexikalische Integrität
3.2 Relationale Morphologie
3.3 Konstruktionsmorphologie
3.4 Distribuierte Morphologie
4. Diskussion
4.1 Begriff der Komponente und des Moduls
4.2 Aufbau des Sprachsystems
4.2.1 Module des Sprachsystems
4.2.2 Das Lexikon
4.3 Phrasale Wortbildung
4.3.1 Phrasenkomposition
4.3.2 Phrasenderivation
4.3.3 Phrasenkonversion
5. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Anhang: Abkürzungsverzeichnis
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“
(Ludwig Wittgenstein)
Bis aus einem Gedanken ein ausgesprochener Satz wird, müssen eine Reihe von Prozessen ablaufen. Die Untersuchung dieser Prozesse ist der Gegenstand der kognitiven Linguistik. Bei der Betrachtung der Sprache als kognitive Leistung wird je nach Theorie entweder angenommen, dass es allgemeine Prinzipien für alle kognitiven Fähigkeiten gibt oder dass die Sprache als unabhängiges Subsystem im kognitiven System eigene Prinzipien umfasst (vgl. Friederici 1987: 4f.).
Im Sinne der letzteren Theorie, der sogenannten Modularitätstheorie, wird die Sprache als eigenständiges, komplexes Netzwerk verstanden, das sich aus einer Reihe von kleineren, modularen Prozessebenen zusammensetzt (vgl. Friederici 1987: 25, 50). Die Frage, welche Module innerhalb des Sprachsystems angenommen werden sollten, wird in der Forschung häufig diskutiert. Beispiele für ein solches Modul stellen die Phonologie, die die lautlichen Aspekte sowie die lautlichen Einheiten einer Sprache behandelt und die Semantik, die die Bedeutung von Wörtern und Sätzen behandelt, dar (vgl. Pafel 2011: 2f.). Während sich die Natur der Gegenstände in diesen zwei Systemen offenkundig unterscheidet und somit zwei voneinander getrennte Module angenommen werden müssen, ist diese Trennung nicht bei allen Modulen derart ersichtlich. Insbesondere hinsichtlich der Morphologie, die die Wortstruktur behandelt (vgl. Haspelmath & Sims 2010: 1), und der Syntax, die sich mit der Satzstruktur beschäftigt (vgl. Pafel 2011: 2), gibt die Ähnlichkeit dieser Gegenstände Anlass zur Diskussion, inwieweit sich diese Systeme unterscheiden. Die Frage, ob die Wortbildung und die Satzbildung zu derselben Komponente im Sprachsystem gehören oder verschiedene Module darstellen, bedarf einer genaueren Auseinandersetzung mit den morphologischen und syntaktischen Strukturen. Nimmt man unterschiedliche Module an, muss ebenfalls diskutiert werden, ob die beiden Module miteinander interagieren und falls ja, wie umfassend diese Schnittstelle auszusehen hat.
Dass ein Satz gebildet wird, indem Wörter miteinander verknüpft werden, ist plausibel. Im Gegensatz dazu ist die Frage, wie diese Wörter wiederum gebildet werden, bereits deutlich kontroverser und setzt gewisse Vorstellungen und Annahmen hinsichtlich des Aufbaus des Sprachsystems voraus. Auf den ersten Blick scheint die Unterscheidung zwischen Wortbildungen und Satzbildungen eindeutig. Ist das Produkt ein Wort, handelt es sich um einen Prozess der Morphologie. Ist das Produkt ein Satz, handelt es sich wiederum um einen Prozess der Syntax. Betrachtet man komplexe Wörter, wird die Unterscheidung jedoch schwieriger. Beispielsweise wird ‚ Ich-werde-dich-ewig-lieben ‘ -Briefchen zwar als ein Wort verstanden, aber enthält zeitgleich einen vollständigen Satz (vgl. Pafel 2017: 244).
Aufgrund von komplexen Wörtern wie diesem wird der Anschein erweckt, die Hintereinanderschaltung von Morphologie und Syntax müsse aufgehoben und die Syntax stattdessen als Teil der Wortbildung angesehen werden. Zur Analyse dieser Wörter drängt sich zudem eine genauere Auseinandersetzung mit der Morphologie und der Syntax und insbesondere derer Schnittstelle auf. Bezogen hierauf stellt sich die Frage, inwieweit sich die morphologischen und syntaktischen Strukturen ähneln. Ausgehend von dieser Problemstellung gilt es zu untersuchen, ob sich die Strukturen insoweit ähneln, als dass eine einheitliche Komponente für beide Strukturen angenommen werden kann oder ob sich die Strukturen in zu vielen Aspekten unterscheiden und es deshalb zwei unterschiedlicher Module im Sprachsystem bedarf. Hierbei sollen einerseits die Einheiten und Prinzipien der jeweiligen Strukturen miteinander verglichen und anderseits der Umgang mit bestimmten Phänomenen an der Schnittstelle zwischen der Morphologie und der Syntax analysiert werden.
In der vorliegenden Arbeit werden die Ansätze der Forschung nebeneinandergestellt und anhand empirischer Daten in ihrer Aussagekraft erprobt. Die Untersuchung wird demnach textbasiert sowie in Teilen datenbasiert vorgenommen. Hierzu sollen zuerst die Morphologie und die Syntax mit den jeweiligen Einheiten und Prinzipien kurz vorgestellt werden. An zweiter Stelle wird auf den aktuellen Stand in der Forschung bezüglich der Schnittstelle zwischen der Morphologie und der Syntax mit drei möglichen Ansätzen eingegangen. Im Fokus stehen die Lexikalische Integritätshypothese, die Keine-Phrasen-Beschränkung sowie die Theorien der Relationalen Morphologie, der Konstruktionsmorphologie und der Distribuierten Morphologie. In der darauffolgenden Diskussion soll die Unterscheidung zwischen Komponenten und Modulen, der Aufbau des Sprachsystems und insbesondere das morphosyntaktische Verhältnis durchdacht werden. Bezüglich des Aufbaus des Lexikons soll zudem die Stellung des Lexikons als eigene Komponente oder Teil der Grammatik diskutiert werden, um den Prozess der Wortbildung besser nachvollziehen zu können. In Hinsicht auf das morphosyntaktische Verhältnis werden die oben genannten Theorien verglichen und deren Annahmen hinterfragt. Von den Theorien zur Phrasenkomposition, -derivation sowie -konversion wird auf das Verhältnis zwischen den morphologischen und syntaktischen Systemen geschlossen. In einem anschließenden Resümee werden die Problematiken der Analyse sowie die daraus resultierenden Erkenntnisse zusammengefasst.
Der Phänomenbereich der phrasalen Wortbildung ist aufgrund mehrerer Aspekte besonders gut geeignet zur Untersuchung des morphosyntaktischen Verhältnisses. Erstens scheinen phrasale Wortbildungen die Sprachtheorien vor die Problematik zu stellen, eine Erläuterung zur Interaktion zwischen morphologischen und syntaktische Strukturen finden zu müssen. Zweitens stellen Phrasenkomposita sowie Phrasenkonversionen eine äußerst produktive Wortbildungsart dar, die in einer Reihe von Sprachen festgestellt werden kann (vgl. Lawrenz 1996: 1). Neben westgermanischen Sprachen werden aufgrund dessen ebenso das Türkische und Farsi beleuchtet. Demnach können basierend auf der Untersuchung sprachübergreifende Aussagen über das Verhältnis der Morphologie und der Syntax getroffen werden.
In der Forschung werden teilweise sehr unterschiedliche Theorien hinsichtlich des Sprachsystems und insbesondere hinsichtlich der morphosyntaktischen Schnittstelle, insofern eine solche angenommen wird, vertreten. Aufgrund dessen ist zu erwarten, dass einige Unterschiede in Bezug auf die Komponenten sowie in Bezug auf die Eigenschaften und Prinzipien der Morphologie und Syntax festzustellen sind. Zudem liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit auf der phrasalen Wortbildung, welche ein gewisses Maß an Interaktion zwischen der Morphologie und der Syntax voraussetzt. Dementsprechend ist zu erwarten, dass insbesondere diejenigen Theorien, die eine strenge Unterscheidung zwischen diesen Komponenten befürworten, keine oder wenig zufriedenstellende Erläuterungen für solche Wortbildungsprodukte liefern können.
Bevor man die Schnittstelle zwischen der Morphologie und der Syntax näher behandelt, empfiehlt es sich, sich mit den beiden Systemen einzeln auseinanderzusetzen. Im Folgenden soll vorgestellt werden, was man unter der Morphologie bzw. unter der Syntax versteht und welche Einheiten und Prinzipien diese umfassen.
Als Morphologie bezeichnet man die Theorie, die den internen Aufbau von Wörtern zum Gegenstand hat (vgl. Haspelmath & Sims 2010: 1). Diejenigen Linguist*innen, die eine solche Komponente im Sprachsystem annehmen, verstehen unter der morphologischen Komponente dementsprechend jene Ebene, auf der die im Lexikon gespeicherten Einheiten zu Wörtern und Wortformen gebildet werden (vgl. MLS 2016: 350, Booij 2012: 24). Unter Wortformen versteht man die konkreten, meist flektierten Vorkommen in einem Satz, wie walk, walked und walking. Diese Wortformen werden von Wörtern im abstrakten Sinn, den sogenannten Lexemen, unterschieden. Die eben genannten Wortformen sind demnach Realisierungen des Lexems walk (vgl. Booij 2012: 3, MLS 2016: 399). Die Lexeme werden im Lexikon gespeichert. Unter dem Lexikon versteht man „eine Komponente eines theoretischen Modells der menschlichen Sprachfähigkeit“ (Meibauer 2015: 16).
Die interne Struktur eines Wortes baut auf sogenannten Morphemen auf. Unter einem Morphem versteht man eine nicht weiter zerlegbare sprachliche Einheit, die eine Bedeutung trägt, wobei diese Bedeutung von semantischer oder grammatischer Natur sein kann (vgl. Haspelmath & Sims 2010: 14, 19). Dabei unterscheidet man zwischen Wurzeln und Affixen. Als Wurzeln bezeichnet man lexikalische, meist frei vorkommende Morphemen wie Haus oder rot, wohingegen man unter Affixen gebundene Morphemen wie -er in Lehrer oder un- in unschön versteht (vgl. Meibauer 2015: 29). Als morphologischer Kopf wird dabei jenes Morphem bezeichnet, das die Kategorie, das Genus und die Flexionsklasse der Wortbildung bestimmt (vgl. Meibauer 2015: 38f.).
In der Morphologie wird zwischen der Wortbildung und der Wortformbildung unterschieden. Aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit soll hierbei nur auf die Wortbildung näher eingegangen werden. Diese wird in drei Prozesse unterteilt. Die Derivation bezeichnet den Prozess, dass ein neues Wort, ein sogenanntes Derivat, aus der Verknüpfung einer Basis mit einem Affix gebildet wird (vgl. MLS 2016: 5). Die Basis kann dabei sowohl eine morphologisch nicht weiter zerlegbare Wurzel sein wie in dem Derivat Lehrer oder komplex wie in dem Derivat versachlichen, bei dem das Affix ver- an die komplexe Basis sachlich herantritt (ibid.).
In Bezug auf die Derivationsaffixe ist überdies zu nennen, dass diese ihre Basis selegieren. Dieses sogenannte Selektionsprinzip äußert sich beispielsweise bei dem Affix -bar, insofern - bar nur an verbale Basen herantritt. So lassen sich beispielsweise die Adjektive machbar und waschbar bilden, da diese aus den verbalen Basen mach- und wasch- abgeleitet werden (vgl. Meibauer 2015: 31, 38).
Die Konversion bezeichnet einen ähnlichen Prozess wie die Derivation mit dem Unterschied, dass die Wortbildung hierbei ohne ein Affix auskommt. Beispielsweise handelt es sich bei dem Nomen Lauf um ein Wortbildungsprodukt der Konversion, da aus dem Verbstamm lauf- das neue Wort Lauf abgeleitet wird (vgl. MLS 2016: 369).
Der dritte Prozess der Wortbildung wird Komposition genannt. Hierbei wird ein neues Wort, ein sogenanntes Kompositum, aus mindestens zwei Kompositumsgliedern gebildet. Ein Beispiel hierfür stellt das Kompositum Haustür dar, das aus den Nomina Haus und Tür zusammengesetzt wird (vgl. Meibauer 2015: 29).
Zudem umfasst die Morphologie bestimmte Prinzipien. Beispielsweise besagt das Kopfvererbungsprinzip, dass die morphologischen Eigenschaften eines Wortes durch dessen morphologischen Kopf bestimmt werden. Das Prinzip der Rechtsköpfigkeit besagt außerdem, dass das rechte Element eines komplexen Wortes prinzipiell den morphologischen Kopf darstellt (vgl. Meibauer 2015: 39). Dies ist anhand des Kompositums Spielautomat erkennbar. Das Maskulinum Automat gibt aufgrund seiner Position als rechtes Element seine morphologischen Eigenschaften an das Kompositum weiter. Deswegen handelt es sich bei dem Kompositum Spielautomat ebenfalls um ein Maskulinum.
Zudem dürfen laut dem Binaritätsprinzip jeweils nur zwei sprachliche Einheiten zu einer größeren Einheit zusammengefasst werden. Für Komposita wie Steuererhöhungsbeschlussvorlagensitzungsprotokoll, das aus sechs Kompositumsgliedern besteht, ergibt sich daraus, dass jeweils nur zwei Wörter wie Steuer und Erhöhung zu einem Kompositum miteinander verbunden werden dürfen. Erst danach tritt das Wort Beschluss an dieses Kompositum heran, um Steuererhöhungsbeschluss zu bilden (vgl. Meibauer 2015: 32, 36).
Während die Morphologie die Wortstruktur behandelt, versteht man unter der Syntax „die Lehre vom formalen Aufbau und den formalen Eigenschaften von Wortgruppen und ihren Teilen“ (Pafel 2011: 2). Die kleinsten Einheiten in der Syntax sind Wörter verschiedener syntaktischer Kategorien wie Nomina, Adjektive, Verben, etc. Diese werden zu größeren Einheiten, den Phrasen, zusammengefügt (vgl. Pafel 2011: 7, 24). Die meisten Syntaxmodelle stimmen darin überein, dass eine solche Phrase einen syntaktischen Kopf enthält, mit dem die anderen Bestandteile der Phrase verknüpft werden. Beispielsweise ergibt sich für eine Nominalphrase (NP) wie ein neues Präsidium daraus, dass das Nomen Präsidium den Kopf der Phrase darstellt (vgl. Pafel 2011: 25, 204).1
Eine sehr bekannte Syntaxtheorie stellt die sogenannte X-bar-Theorie dar. Diese Theorie setzt voraus, dass jede Phrase (XP) einen Kopf (X°) hat. Dieser Kopf wird mit einem phrasalen Komplement zu einer Zwischenkategorie (X‘) verknüpft. Daraufhin kann entweder eine größere Zwischenkategorie (X‘) oder eine maximale Phrase (XP) generiert werden (vgl. Pafel 2011: 209f., MLS 2016: 779).
Zu den syntaktischen Prinzipien gehören die Valenz, die Rektion, die Kongruenz und die Binarität. Als Valenz bezeichnet man die Eigenschaft von Ausdrücken, eine bestimmte Art von Wörtern und Phrasen zu selegieren. Damit wird gemeint, dass sie Anforderungen an diese stellen (vgl. Pafel 2011: 28), wie in (1) exemplarisch anhand des Verbs besiegen dargestellt wird.
(1) Alexander der Große besiegte den Perserkönig Dareios.
(Pafel 2011: 29)
Anhand des Satzes (1) ist erkennbar, dass das Verb besiegen zweistellig ist. Das heißt, besiegen fordert zwei Ergänzungen: eine NP im Nominativ und eine NP im Akkusativ. Die NP im Nominativ wird in (1) durch Alexander der Große und die NP im Akkusativ durch den Perserkönig Dareios realisiert (ibid.).
Die Rektion besagt, dass Argumente bestimmte syntaktische Merkmale wie beispielsweise einen bestimmten Kasus oder Status tragen müssen. Das Nomen Schauspieler in der NP der berühmte Schauspieler fordert von dem Adjektiv berühmt, dass es die Merkmale [nom, m, sg] trägt (vgl. Pafel 2011: 34f., 46). Aus der Rektion ergibt sich die Kongruenz. Darunter versteht man den Sachverhalt, dass Wörter und Phrasen übereinstimmende Merkmale aufweisen (vgl. Pafel 2011: 46). In der NP der berühmte Schauspieler kongruieren das Determinativ, das Adjektiv und das Nomen miteinander, insofern alle drei die Merkmale [nom, m, sg] tragen.
Das letzte Prinzip der Syntax, die Binarität, besagt, dass „syntaktische Einheiten höchstens aus zwei unmittelbaren Konstituenten bestehen“ (Pafel 2011: 223). In den meisten Syntaxmodellen wird daher angenommen, dass beispielsweise NPs wie keine wertvollen Gemälde nicht aus drei sprachlichen Einheiten unmittelbar zu einer größeren Einheit zusammengesetzt werden, sondern dass zuerst zwei Einheiten verknüpft werden, an die eine dritte Einheit angefügt wird. Das heißt, erst werden wertvolle Gemälde als syntaktische Einheit und daraufhin keine wertvollen Gemälde gebildet (vgl. Pafel 2011: 224).
Das Verhältnis zwischen der Morphologie und der Syntax ist in der Literatur noch umstritten. Im Folgenden soll ein Überblick über die bedeutendsten Forschungsergebnisse zu dieser Thematik gegeben werden. Dazu werden zwei extreme Standpunkte hinsichtlich des morphosyntaktischen Verhältnis sowie drei mögliche Theorien vorgestellt.
Eine der grundlegenden Fragen, mit denen sich in der linguistischen Forschung auseinandergesetzt wird, befasst sich mit dem Aufbau des Sprachsystems. Insbesondere das Verhältnis zwischen der Syntax und der Morphologie ist in der Forschung nach wie vor kontrovers. Über die letzten Jahrzehnte bildeten sich verschiedene Theorien heraus. Zwei extreme Standpunkte lassen sich wie folgt darstellen.
Auf der einen Seite wird das Sprachsystem als syntaxzentriert angesehen, insofern lediglich die Syntax als generatives System verstanden und die Morphologie als eigenständige, unabhängige und generative Komponente abgelehnt wird (vgl. Desjardins 2020: 25). Auf der anderen Seite wird das Sprachsystem als kognitives System konzipiert, das wiederum aus kleineren Modulen wie beispielsweise der Syntax und der Morphologie besteht (vgl. Friederici 1987: 25, MLS 2016: 440).
Die Theorien, die zum letzteren Standpunkt tendieren und eine Unterscheidung zwischen wortinternen und -externen Strukturen befürworten, bejahen zu einem gewissen Grad die Lexikalischen Integritätshypothese („Lexical Integrity Hypothesis“, LIH) (vgl. Harley 2015: 1134). Diese besagt: „The syntax neither manipulates nor has access to the internal structure of words“ (Anderson 1992: 84, zitiert nach Booij 2009b: 86). Das heißt, syntaktische Regeln nehmen Wörter lediglich als Einheiten ohne interne Struktur wahr (vgl. Haspelmath & Sims 2010: 203). Aus der LIH folgt, dass es nicht-syntaktischer Regeln bedarf, um wortinterne Strukturen zu bilden. Dementsprechend wird angenommen, dass komplexe Wörter durch morphologische Prinzipien gebildet werden und diese von den syntaktischen Prinzipien zu unterscheiden sind. Vertreter*innen der LIH nehmen demnach an, dass das morphologische System von dem syntaktischen System getrennt wird (vgl. Desjardins 2020: 6fn7, 25, Williams 2004: 353).
Booij (2009b: 86) teilt die LIH hinsichtlich zweier Aspekte auf. Der erste Aspekt bezieht sich darauf, ob syntaktische Prinzipien wortinterne Strukturen manipulieren können. Als Manipulation wird hierbei „the syntactic movement of a word constituent, and the splitting up of words by intermediate constituents“ (ibid.) verstanden. Laut Booij (2009b: 97) handelt es sich bei dem ersten Aspekt um kein universales Verbot, sondern um ein Resultat der Eigenschaften, die Wörtern zugewiesen werden. Da Wörter als die kleinsten syntaktischen Einheiten angesehen werden, könne die Syntax nur Wörter, nicht jedoch wortinterne Strukturen manipulieren. Demnach ergibt sich der erste Aspekt der LIH per Default (ibid.). Der zweite Aspekt behandelt die Frage, ob syntaktische Prinzipien Zugriff auf wortinterne Strukturen haben. Hinsichtlich diesen Aspekts argumentiert Booij (2009b: 98) dafür, dass die Zugänglichkeit der syntaktischen Prinzipien auf wortinterne Strukturen erlaubt bleiben müsse, um verschiedene linguistische Phänomene erklären zu können.
Im Zuge der LIH wird zudem die sogenannte Keine-Phrasen-Beschränkung („No Phrase Constraint“, NPC) aufgestellt. Diese besagt: „Morphologically complex words cannot be formed […] on the basis of syntactic phrases“ (Botha 1981: 152f., zitiert nach Desjardins 2020: 5). Phrasale Wortbildungen sind für diese Beschränkung problematisch. Inwiefern die Beschränkung durch diese Wortbildungen verletzt wird, soll in §4.3 eingehend untersucht werden.
Die Relationale Morphologie („relational morphology“, RM) ist ein theoretischer Ansatz, der die Frage behandelt, wie die Morphologie in die Parallelarchitektur (PA) einzuordnen ist (vgl. Jackendoff & Audring 2020: 3). Die PA ist eine von Ray Jackendoff geprägte Darstellungsweise der Grammatik, bei der die Semantik, Syntax und Phonologie jeweils als unabhängige, generative Systeme verstanden werden. Diese drei Komponenten werden wiederum in zwei Subkomponenten aufgeteilt, wovon eine Subkomponente Strukturen auf phrasaler Ebene und die andere Subkomponente Strukturen auf Wortebene behandelt. Die Subkomponente der Syntax, die syntaktische Strukturen auf Wortebene behandelt, bezeichnen Jackendoff & Audring (2020: 17) als Morphosyntax. Wie die Subkomponenten der Phonologie und der Semantik interagieren die Morphosyntax und die phrasale Syntax in der PA durch Schnittstellen miteinander. Zudem nehmen Jackendoff & Audring (2020: 17) Schnittstellen zwischen der Phonologie und der Syntax sowie zwischen der Semantik und der Syntax sowohl auf phrasaler Ebene als auch auf Wortebene an.
Für das Lexikon wird in der PA keine separate Komponente angenommen. Stattdessen werden die lexikalischen Einheiten als Teil der Schnittstellen verstanden, da sie mit Strukturen in mindestens einer, aber meist in allen drei der oben genannten Komponenten assoziiert werden (vgl. Jackendoff & Audring 2020: 9ff.). Genaueres bezüglich des Lexikons wird in §4.2.2. erläutert. Hinsichtlich der lexikalischen Einheiten argumentieren Jackendoff & Audring (2020: 3f.) dafür, dass aus diesen mittels grammatischer Regeln, den sogenannten Schemata, neue Wörter und Wortformen generiert werden. Ein Beispiel für ein solches Schema zur Wortbildung ist in (2) veranschaulicht.
(2) Semantics: [BECOME (X, [<MORE> PROPERTY]x)]y
Morphosyntax: [V Ax aff3]y
Phonology: //σ [-son]/x ən6 /y
(Jackendoff & Audring 2020: 88)
Mittels des Schemas (2) kann beispielsweise das Verb widen abgeleitet werden, indem die Variable x durch das Adjektiv wide ersetzt wird. Insofern das Verb widen neben dem Affix - en das Adjektiv wide beinhaltet, werden die semantischen, morphologischen und phonologischen Strukturen ebenfalls aus dem Adjektiv für das Verb abgeleitet2. Die Verbindungen wie die zwischen der adjektivischen Wurzel wide und dem Stamm widen werden relationale Verknüpfungen genannt (Jackendoff & Audring 2020: 88, 91).
Neben Schemata zur Wortbildung werden zudem Schemata wie (3), mit denen Phrasen generiert werden, angenommen.
(3) [VP V NP] ‘A VP can consist of a V followed by NP’
(vgl. Jackendoff & Audring 2020: 12)
Während der Prozess der Wortbildung mittels des Schemas (2) in der Morphosyntax verortet wird, handelt es sich bei dem Schema (3) um einen Prozess der phrasalen Syntax. Dies ist daran erkennbar, dass kein neues Wort, sondern eine neue Phrase gebildet wird.
[...]
1 Die Analyse als Determinativphrase ist hierbei ebenfalls möglich. Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist die Unterscheidung jedoch irrelevant, weshalb hierauf nicht näher eingegangen werden soll.
2 Da sich die vorliegende Arbeit lediglich mit der Schnittstelle der Morphologie und Syntax befasst, soll hierbei weder auf die Semantik und die Phonologie noch auf deren Schnittstellen näher eingegangen werden.
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