Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Bachelorarbeit, 2021
42 Seiten, Note: 1,3
Gendererklärung
A. Einleitung
B. Die Versammlungsfreiheit
I. Historische Herkunft
II. Aktuelle Bedeutung
III. Schutzbereich
1. Sachlicher Schutzbereich
2. Infrastruktureinrichtungen
3. Persönlicher Schutzbereich
4. Eingriffe
5. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
C. Das Versammlungsgesetz
I. Hintergrund
II. Systematik
III. Verfahren
1. Anmeldung
2. Konzentrationswirkung
3. Kooperation
IV. Maßnahmen
1. Allgemeines
2. Feststellung über die Versammlungseigenschaft
3. Verbot und Auflage
4. Auflösung
5. Anwendungsbeispiele
F. Fazit
Literaturverzeichnis
In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die Sprachform des generischen Maskulinums verwendet. Die ausschließliche Verwendung der männlichen Form ist geschlechtsunabhängig zu verstehen und hat keine diskriminierende Intention.
Das Verständnis der Grundrechte unterliegt trotz des seit Erlass des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 überwiegend unveränderten Wortlauts einem stetigen Wandel.1 Hiervon stellt die Versammlungsfreiheit keine Ausnahme, sondern viel mehr ein aufschlussreiches Beispiel dar. So erfahren im Zeichen gesellschaftlicher Dynamik alte Problemstellungen neue interpretative Impulse und gleichzeitig entstehen erstmalig Fragestellungen aufgrund von neuen Formen der Versammlung. Zuletzt verdeutlichte die Corona-Pandemie, dass auch äußere Umstände große Einflüsse auf die Versammlungsfreiheit haben können.
Brisant sind dabei die Herausforderungen, die sich für diejenigen ergeben, die sich als Erste mit den rechtlichen Fragen beschäftigen und am Ende eines mitunter zeitlich sehr kurzen Verfahrens eine Entscheidung treffen, die den Einklang der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit mit kollidierenden Rechten und Interessen bestmöglich verwirklichen soll. Nicht selten werden die Maßnahmen der Versammlungsbehörden und der Polizei dann vor Gericht überprüft.
Wie viel Zündstoff das Versammlungsgeschehen auf der einen und hoheitliche Maßnahmen und gerichtliche Entscheidungen auf der anderen Seite bieten können, zeigte eindrucksvoll das Beispiel des G20-Gipfels in Hamburg2. Eine der vielen rechtlichen Fragen, die Behörden und Gerichte zu jenem Zeitpunkt des Gipfeltreffens beschäftigte und dies aufgrund fehlender gefestigter Rechtsprechung des BVerfG3 nach wie vor tut, ist, ob und in welchem Umfang Art. 8 Abs. 1 GG die Errichtung und Unterhaltung von Infrastruktureinrichtungen von Protestcamps schützt.4
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Protestcamp als Form der Versammlung rechtlich zu würdigen und an erster Stelle aufzuzeigen, wie weit der sachliche Schutzbereich im Detail reicht. Schließlich wird sich der Frage gewidmet, inwieweit etwaige Eingriffe in den Schutzbereich gerechtfertigt sein können. Dazu wurden Literatur und Rechtsprechung bis einschließlich August 2021 berücksichtigt.
Zunächst wird der verfassungsrechtliche Rahmen beleuchtet, in dem ein Fokus auf die Gestaltungsfreiheit des Veranstalters im Hinblick auf den Einsatz von Infrastruktureinrichtungen gelegt wird. Anschließend wird das Versammlungsgesetz5 in den Blick genommen, durch das der Bundesgesetzgeber Eingriffsmöglichkeiten geschaffen hat. An entscheidenden Stellen wird auf die Form des Protestcamps Bezug genommen und sich so der Versammlungsform und Maßnahmen, die dieser gegenüber erfolgen können, schrittweise angenähert. Den Abschluss bilden kritische Überlegungen.
Die Geschichte der Versammlungsfreiheit ist das Resultat andauernder Wechselwirkungen zwischen aufbegehrenden Bürgern und unterdrückenden Staaten.6 Ursprünglich verwurzelt mit dem Petitionsrecht, wurde die Versammlungsfreiheit erstmals während der Französischen Revolution Ausdruck des Volkswillens gegen den etablierten Staat, was 1791 schließlich in ihrer verfassungsrechtlichen Garantie mündete.7 Unter diesem Eindruck unterdrückten die reaktionären Kräfte in Deutschland zunächst das Aufbegehren des Volkes beim Hambacher Fest 1832, konnten aber eine Etablierung der Versammlungsfreiheit, die unter anderem in Art. VIII § 161 der Paulskirchenverfassung gewährleistet wurde, nicht verhindern.8 Einer Phase der Beschränkung des Grundrechts folgte 1918 eine weit gefasste Verfassungsgarantie (Art. 123 WRV), die dann 1933 wiederum durch Notverordnung des Reichspräsidenten außer Kraft gesetzt wurde.9
Der Grundgesetzgeber normierte die Versammlungsfreiheit in Art. 8 GG10, dessen Wortlaut seit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 unverändert ist. Nach Art. 1 Abs. 3 GG bindet das Grundrecht seit jeher Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Seit 1953 sind die Grundrechte gemäß Art. 2 Abs. 1 LV11 Bestandteil der Landesverfassung Baden-Württemberg.
Zunächst spiegelte sich die durch den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund angedeutete große Bedeutung der Versammlungsfreiheit nicht in der Wirklichkeit der Bundesrepublik wider. In der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre wurde auf der einen Seite nur wenig von der Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht12 und auf der anderen Seite hatten Behörden und Gerichte eine repressive Haltung13 gegenüber Versammlungen. Stattdessen rückte das Grundrecht erst ab 1970 unter anderem durch die Großdemonstration beim Kernkraftwerk Brokdorf14 zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.15
Mit der ersten Grundsatzentscheidung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit – dem Brokdorf-Beschluss16 – begann ein liberal-demokratisches Verständnis17 des Grundrechts. Hiernach gehört es zu den „unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens […], welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist“ und bietet damit dem Bürger die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die politische Willensbildung.18 Diese hohe Bedeutung der Versammlungsfreiheit solle beim Erlass grundrechtsbeschränkender Maßnahmen berücksichtigt werden.
In Zeiten der Corona-Pandemie wird überdies die Funktion der Versammlungsfreiheit deutlich, „andersdenkende Minderheiten“ zu schützen,19 wie etwa „Querdenker“, die gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie demonstrieren.20
a) Verhältnis zu anderen Grundrechten
Die Versammlungsfreiheit ist spezielles Freiheitsgrundrecht und Teil der Kommunikationsgrundrechte.21 Praxisrelevant ist insbesondere das Verhältnis zur Meinungsfreiheit; die Grundrechte ergänzen sich (Komplementärfunktion).22 Art. 5 Abs. 1 GG schützt dabei den Inhalt der Meinungskundgabe und Art. 8 Abs. 1 GG die Art und Weise der Versammlungsdurchführung.23 Für den Fall, dass die speziellen Grundrechte nicht eingreifen, kann auf die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden.24
b) Versammlungsbegriff
In sachlicher Hinsicht schützt die Versammlungsfreiheit das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Der Begriff „Versammlung“ wird im Gesetz nicht definiert. Nach dem BVerfG ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.25
Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, dass eine Versammlung die gleichzeitige körperliche Anwesenheit einer Personenmehrheit voraussetzt, weshalb virtuelle Veranstaltungen keine Versammlungen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG sind.26
Umstritten ist, wie viele Personen zusammenkommen müssen, damit eine Versammlung vorliegt.27 Eine Auffassung, nach der in Hinblick auf § 56 BGB28 sieben Personen notwendig sind, wird kaum noch vertreten und ist wegen eines methodischen Fehlers29, der den Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht übersieht, nicht zu folgen.
Einer anderen Auffassung zufolge erfordert der Versammlungsbegriff mindestens drei Personen30, wofür der allgemeine Sprachgebrauch spreche. Indes geht die wohl herrschende Meinung vom Erfordernis mindestens zweier Personen31 aus. Die Schutzbedürftigkeit des kollektiven Handelns von bereits zwei Personen sei ausschlaggebend.32 Aufgrund fehlender praktischer Relevanz33 – Versammlungen und insbesondere Protestcamps bestehen überwiegend aus weit mehr als zwei Teilnehmern – kann die Beantwortung der strittigen Frage unterbleiben. Lediglich im Ausnahmefall dürfte darüber zu entscheiden sein.34 Zudem sind bei Versammlungen mit wenigen Teilnehmern potentielle Kollisionen mit Rechten Dritter im Ausmaß eher gering.
Unweigerlich ergibt sich bereits aus dem Wort „Versammlung“, dass Aktionen eines Einzelnen keine Versammlung i.S. des Art. 8 Abs. 1 GG sind und lediglich von der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG geschützt sind.35
Durch den gemeinsamen Zweck, den die Teilnehmer verfolgen, unterscheiden sich Versammlungen von bloßen Ansammlungen wie zum Beispiel Schaulustige bei einem Verkehrsunfall.36 Streitig ist, worin der gemeinsame Zweck liegen muss. Ein Großteil der Literatur37 vertritt den weiten Versammlungsbegriff, wonach jeder beliebige gemeinsame Zweck ausreicht. Dies gehe schon auf das Postulat des BVerfG in der Brokdorf-Entscheidung zurück.38 Zudem ergebe es sich aus dem Wortlaut, der einen bestimmten Zweck des Versammelns nicht voraussetzt.39 Gegen diese Position spricht indes die systematische Stellung des Grundrechts. So ist der Versammlungsfreiheit nach der oben ausgeführten Komplementärfunktion eine untrennbare Verbindung zur Meinungsfreiheit immanent.40 Außerdem ist es nicht nachvollziehbar, sich eng auf den Wortlaut zu stützen, da eine weitere Auslegung von kurzen Verfassungsbestimmungen, wie der Versammlungsfreiheit, notwendig ist.41
Vertreter des engen Versammlungsbegriffs42 sind der Auffassung, dass der gemeinsame Zweck in der öffentlichen Meinungsbildung und Meinungsäußerung liegen muss und zudem das Versammlungsthema eine öffentliche Angelegenheit erfordert. „Öffentliche“ Meinungsbildung und -äußerung ist im Sinne einer öffentlichkeitsbezogenen Meinungsbildung und -äußerung zu verstehen und bedeutet in diesem Zusammenhang, dass auf die öffentliche Meinung eingewirkt werden soll.43 Die Verengung des Versammlungsthemas beruht indes auf historischen Erwägungen und wird heute kaum mehr vertreten.44
Die aktuelle Rechtsprechung des BVerfG und der Verwaltungsgerichte hält zwar ebenfalls die kollektive öffentlichkeitsbezogene Meinungsbildung und -kundgabe für erforderlich, allerdings könne das Thema sowohl öffentlicher als auch privater Natur sein (erweiterter Versammlungsbegriff).45 Gegenüber dem weiten Versammlungsbegriff spreche hierfür zum einen die Entstehungsgeschichte des Grundrechts und damit vor allem die Anknüpfung an Art. 123 WRV, der Konzert-, Vortrags- und Theaterveranstaltungen nicht umfasste.46 Zum anderen sei die Anwendung des Versammlungsrechts auf Veranstaltungen jeder Art mit unangemessenen Rechtsfolgen verbunden, da etwa auch eine Geburtstagsfeier unter freiem Himmel nach § 14 Abs. 1 VersG47 anmeldepflichtig wäre.48 Gleichzeitig wäre für ein Konzert auf öffentlicher Verkehrsfläche keine Sondernutzungserlaubnis nach dem Straßenrecht erforderlich.49
Dem erweiterten Versammlungsbegriff des BVerfG ist beizupflichten. Eine Abgrenzung von privaten und öffentlichen Themen erweist sich in der Praxis als schwierig; ein eigentlich privates Thema kann durch bewusste Inszenierung in der Öffentlichkeit auch jederzeit politisch-öffentlich werden. Zudem gibt Art. 8 Abs. 1 GG keinen Anhaltspunkt für die Beschränkung auf private Angelegenheiten. Das Erfordernis der öffentlichkeitsbezogenen Meinungskundgabe wiederum ist logische Konsequenz aus der systematischen Nähe zu Art. 5 Abs. 1 GG. Zudem sind die Rechtsfolgen, die sich bei einem weiten Verständnis des Versammlungsbegriffs für sämtliche denkbaren Veranstaltungen ergeben würden, abwegig. Auch Protestcamps müssen demzufolge auf die öffentliche Meinungsbildung und -äußerung gerichtet sein. Fraglich ist insoweit, wie dies zu bewerten ist, wenn diese nicht ausschließlich meinungsbildende und -äußernde Elemente enthalten.
Bei „gemischten“ Veranstaltungen, bei denen nicht alle Elemente auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, ist entscheidend, ob das Gesamtgepräge im Schwerpunkt auf eine Versammlung schließen lässt.50 Insofern ist aus der Sicht eines objektiven Betrachters eine Abwägung zwischen den auf die Meinungsbildung gerichteten Elementen und denen, die diesen Zweck nicht verfolgen, zu treffen.51 Nach erfolgter Abwägung verneinte das BVerfG bei der „Loveparade“ die Versammlungseigenschaft, da deren Mittelpunkt die Zurschaustellung eines kollektiven Lebensgefühls gewesen sei.52 In seinem Urteil vertrat das BVerfG diese Ansicht auch bei der „Fuckparade“, die als Gegenveranstaltung zur Loveparade dieselben darstellerischen und tänzerischen Elemente benutzte wie die Loveparade.53 Demgegenüber entschied das BVerwG, die Fuckparade als Versammlung i.S. des Art. 8 Abs. 1 GG zu behandeln.54
Nicht nur in der gerichtlichen, sondern auch in der versammlungsbehördlichen Praxis stellt die aufgeworfene Abwägungsfrage bei gemischten Veranstaltungen – wozu regelmäßig auch Protestcamps zählen – eine große Schwierigkeit dar. Anhaltspunkt für die Entscheidung eines Sachverhalts, bei dem ein Übergewicht der kommunikativen bzw. nichtkommunikativen Elemente sich nicht eindeutig bestimmen lässt, bietet die Vorgabe des BVerfG55: In Zweifelsfällen ist die Veranstaltung wie eine Versammlung zu behandeln.
Abzugrenzen ist der meinungsbildende und -äußernde Versammlungszweck von der selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener Forderungen, die nach Rechtsprechung des BVerfG56 nicht geschützt ist. Deshalb ist bei Vorliegen von Anhaltspunkten zu prüfen, ob das kommunikative Anliegen nicht Zweck, sondern Nebenfolge der Durchsetzung eigener Forderungen ist. Anzunehmen ist dies etwa, wenn ein Veranstalter eines Protestcamps vorträgt, dass es ihm um die „Besetzung“ öffentlichen Raums gehe.57
c) Geschütztes Verhalten
Geschützt ist der gesamte Vorgang des Sich-Versammelns, wozu die Teilnahme sowie der Zugang58 zu einer sich bildenden Versammlung gehören.59
Die Versammlungsfreiheit entfaltet Vor- und Nachwirkungen: Die Organisation, die An- und Abreise60 sind ebenfalls geschützt.61
Ferner gewährleistet die Versammlungsfreiheit den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeit, Art und Inhalt der Versammlung.62 Zunächst ist zu beachten, dass das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters nur das Recht einräumt, sein Versammlungsinteresse zu konkretisieren.63 Es ist das Interesse des Veranstalters geschützt, auf einen Beachtungserfolg zu zielen, wie etwa der Nähe zu einem symbolhaltigen Ort.64 Ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht ist nicht zwangsläufig unzulässig, sondern kann im Einzelfall verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.65
Die Freiheit über die Wahl des Ortes einer öffentlichen Versammlung setzt voraus, dass es sich um einen Ort allgemeinen kommunikativen Verkehrs handelt,66 der der Öffentlichkeit allgemein zugänglich ist.67 Insbesondere ist dies der öffentliche Straßenraum.68 Im Wege der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten69 kann das Selbstbestimmungsrecht über die Ortswahl sich auch auf im Privateigentum stehende Grundstücke erstrecken,70 wenngleich auch diese der Öffentlichkeit allgemein zugänglich sein müssen.71 Es folgt, dass Versammlungen etwa in Verwaltungsgebäuden, der Allgemeinheit nicht geöffneten Anlagen, öffentlichen Schwimmbädern oder auch Krankenhäusern nicht geschützt sind; Versammlungen in Einkaufszentren oder Ladenpassagen hingegen sind geschützt.72 Vorbehaltlich eines symbolhaltigen Bezug können auch Versammlungen auf privaten Waldflächen geschützt sein.73 Ferner müssen Versammlungen nicht zwangsläufig ortsfest sein. Geschützt sind auch sich fortbewegende Versammlungen (Aufzüge)74 und erst recht Mischformen.
Die Form der Versammlung knüpft an die Art und Weise der Meinungsbildung und -äußerung an.75 Das BVerfG betonte schon in der Brokdorf-Entscheidung, dass der Schutz nicht nur auf Veranstaltungen beschränkt ist, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern dass er vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nonverbalen Ausdrucksformen umfasst.76 Zulässig können neben der klassischen Form der öffentlichen Debattenversammlung also auch neuere Versammlungsformen wie Schweigemärsche oder stationäre Mahnwachen sein.77
Eng verknüpft mit der Versammlungsform Dauermahnwache, zum Beispiel in Gestalt eines Protestcamps, ist die Frage nach der Reichweite des Selbstbestimmungsrechts hinsichtlich der Dauer der Versammlung. Aus Art. 8 Abs. 1 GG ergibt sich keine Angabe zur Dauer – insbesondere nicht einer Höchstdauer. Zwar wird in der Literatur und Rechtsprechung regelmäßig auf die Zeitweiligkeit78 einer Versammlung im Hinblick auf die Abgrenzung zu einer Vereinigung nach Art. 9 Abs. 1 GG hingewiesen;79 indes verliert eine Veranstaltung allein durch ihre Dauer nicht den Versammlungscharakter.80 Vielmehr muss bei unbefristet angelegten Protestcamps vom Veranstalter dargelegt und von Behörden im Zweifel mehrfach geprüft werden, ob alle Merkmale des Versammlungsbegriffs weiterhin erfüllt sind.81
Erwägungen von Behörden, ein Protestcamp zu befristen, um die Örtlichkeit für andere potentielle Versammlungen freizuhalten,82 steht das vorwiegend angewandte Prioritätsprinzip entgegen, nach dem der Erstanmelder einer Versammlung privilegiert wird83.
Wenngleich auf der Ebene des Schutzbereichs eine zeitliche Grenze weit zu ziehen ist,84 werden mit fortschreitender Dauer Beeinträchtigungen des Grundrechts – auf Rechtfertigungsseite – wohl leichter möglich sein.85 Dies ergibt sich daraus, dass Belästigungen gegenüber Dritten zunehmen.86
Bei den genannten Versammlungsformen dominiert der demonstrative Charakter. Demonstrationen stellen einen bedeutsamen Unterfall von Versammlungen dar und zeichnen sich dadurch aus, dass der Schwerpunkt nicht auf der Kommunikation der Versammlungsteilnehmer untereinander liegt, sondern vor allem eine plakative und aufsehenerregende Meinungskundgabe nach außen stattfindet.87
Von der Versammlungsfreiheit erfasst kann überdies der Einsatz von Hilfsmitteln wie der Einsatz von Lautsprechern und Megafonen,88 das Verteilen von Flugblättern oder etwa das Zeigen von Transparenten und Plakaten sein.89 Inwieweit der Einsatz von infrastrukturellen Einrichtungen geschützt ist, wird unter Kapitel B.III.2 näher beleuchtet.
[...]
1 Vergleiche Hufen, StaatsR, § 6 Rn. 28.
2 Bei dem G20-Gipfel in Hamburg am 7. und 8. Juli 2017 handelte es sich um das zwölfte Treffen der Gruppe der zwanzig führenden Industrie- und Schwellenländer, das durch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizeikräften begleitet wurde (Mehde, DÖV 2018, 1).
3 Diese und alle nachfolgenden Abkürzungen werden zitiert nach Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache.
4 Vergleiche BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 28. Juni 2017 – 1 BvR 1387/17 –, juris Rn. 22.
5 In der vorliegenden Arbeit wird sich auf das Bundesversammlungsgesetz beschränkt, s. dazu Kapitel C.II.1.
6 Scharlau, Versammlungen auf privatem Grund, S. 1.
7 Hufen, StaatsR, § 30 Rn. 1; ausführlich Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 12 ff.
8 Sachs/Höfling, GG, Art. 8 Rn. 2.
9 Sachs/Höfling, GG, Art. 8 Rn. 2 f.
10 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 u. 2 Satz 2 des Gesetzes vom 29. September 2020 (BGBl. I S. 2048) geändert worden ist.
11 Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 (GBl. S. 173), die zuletzt durch Gesetz vom 26. Mai 2020 (GBl. S. 305) geändert worden ist.
12 Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersR, Einleitung Rn. 5.
13 Scharlau, Versammlungen auf privatem Grund, S. 26.
14 Gegen den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf gab es ab 1975 Proteste, die sich 1981 zu Massendemonstrationen und deren Verbot zuspitzten. Der Brokdorf-Beschluss des BVerfG erging 1985 (Doering-Manteuffel/Greiner/Lepsius, Brokdorf-Beschluss, S. 2).
15 Hufen, StaatsR, § 30 Rn. 2.
16 BVerfGE 69, 315.
17 Hufen, StaatsR, § 30 Rn. 2.
18 BVerfGE 69, 315, 344 f.
19 BVerfGE 69, 315, 343.
20 Vergleiche VG Kassel, Beschluss vom 16. Juni 2021 – 6 L 1115/21.KS –, juris Rn. 16.
21 Epping, Grundrechte, Rn 34.
22 Epping, Grundrechte, Rn 34.
23 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2004 – 1 BvQ 19/04 –, BVerfGE 111, 147-160, juris Rn. 19.
24 Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersR, Einleitung Rn. 104.
25 BVerfGE 104, 92, 104; auch BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 6 C 46/16 –, BVerwGE 160, 169-193, juris Rn. 25.
26 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 46; a.A. Pötters/Werkmeister, Jura 2013, 5, 9.
27 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 45.
28 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 16. Juli 2021 (BGBl. I S. 2947) geändert worden ist.
29 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 45.
30 Noch Jarass/Pieroth/Jarass, GG, Art. 8 Rn. 4.
31 So deutlich Hettich, VersR, Rn. 3; dazu tendierend Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 45; ebenso Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 67; auch Rechtsprechung wie etwa Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 25. April 2007 – 1 S 2828/06 –, juris, Rn. 22 f; ebenso Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 31. Mai 2012 – 8 A 514/12 –, juris Rn. 17.
32 Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 67.
33 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 45.
34 Etwa zu einem Hungerstreik Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 1. Juli 1995 – 21 CS 95.2131 –, BeckRS 1995, 16373: Die notwendige Mindestteilnehmeranzahl war nur noch ganz selten anzutreffen.
35 Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 68 m.w.N.
36 Hettich, VersR, Rn. 2.
37 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 51; Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 99; Sachs/Höfling, GG, Art. 8 Rn. 16.
38 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 51.
39 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 51.
40 Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersR, Einleitung Rn. 80.
41 Hettich, VersR, Rn. 6.
42 Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 1994 – 1 S 1397/94 –, juris Rn. 4.
43 Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersR, Einleitung Rn. 30; von Vertretern des weiten Versammlungsbegriffs wird das Wort „öffentlich“ regelmäßig als Hinweis auf die Beschränkung auf öffentliche Angelegenheiten interpretiert und damit missverstanden, so etwa von Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 49; auf die Unklarheit der Wortwahl des BVerfG hinweisend Volkmann, StaatsR, § 13 Rn. 29; betonend, dass die Frage in der überwiegenden Rechtsprechung und Literatur geklärt ist Hettich, VersR, Rn. 4.
44 Hettich, VersR, Rn. 4.
45 Hettich, VersR, Rn. 6; verweisend auf BVerfGE 104, 92, 104; auch BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 6 C 46/16 –, BVerwGE 160, 169-193, juris Rn. 25.
46 Hettich, VersR, Rn. 6.
47 Versammlungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 30. November 2020 (BGBl. I S. 2600) geändert worden ist.
48 Hettich, VersR, Rn. 7.
49 Hettich, VersR, Rn. 7.
50 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 12. Juli 2001 – 1 BvQ 28/01 –, juris Rn. 29; BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 – 6 C 23/06 –, juris Rn. 16; kritisch Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 53.
51 Zum Vorgehen bei Abwägungsentscheidungen Hettich, VersR, Rn. 11; beruhend auf BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 – 6 C 23/06 –, juris Rn. 17 f.
52 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 12. Juli 2001 – 1 BvQ 28/01 –, juris; a.A. Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 54.
53 Vergleichend Schmidt, PolR, Rn. 1047.
54 BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 – 6 C 23/06 –, juris Rn. 25.
55 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 12. Juli 2001 – 1 BvQ 28/01 –, juris Rn. 29; dem folgend BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 – 6 C 23/06 –, juris Rn. 16.
56 BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 –, BVerfGE 104, 92-126, juris Rn. 44; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 07. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 35.
57 Siehe etwa VG Hamburg, Urteil vom 15. Juli 2020 – 10 K 307/18 –, juris Rn. 87.
58 Im Umkehrschluss ist auch der Abgang erfasst.
59 BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1991 – 1 BvR 772/90 –, juris Rn. 16.
60 BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 6 C 46/16 –, BVerwGE 160, 169-193, juris Rn. 28; ablehnend Hettich, VersR, Fn. 55.
61 Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 195; ebenso Sachs/Höfling, GG, Art. 8 Rn. 26 f.
62 BVerfGE 69, 315, 343.
63 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 9/01 –, juris Rn. 16.
64 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 06. Juni 2007 – 1 BvR 1423/07 –, juris Rn. 23, a.A. Hettich Rn. 190.
65 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 9/01 –, juris Rn. 16.
66 BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 699/06 –, BVerfGE 128, 226-278, juris Rn. 68.
67 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09. Dezember 2020 – 1 BvR 2734/20 –, juris Rn. 10: Die Versammlungsfreiheit gewährt kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten.
68 Hettich, VersR, Rn. 189.
69 zurückgehend auf BVerfG, Urteil vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51 –, BVerfGE 7, 198-230, juris Rn. 24.
70 BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 18. Juli 2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 6; kritisch Hettich, VersR, Rn. 189.
71 BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 18. Juli 2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 5.
72 Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 11. September 2020 – 2 B 2255/20 –, juris Rn. 22.
73 Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – 2 B 2546/20 –, juris Rn. 21; ebenso Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 02. Juli 2021 – 2 M 78/21 –, juris Rn. 33.
74 Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, Art. 8 Rn. 59.
75 Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 163.
76 BVerfGE 69, 315, 343.
77 Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 165.
78 Zurückgehend auf Lisken, NJW 1995, 2475.
79 Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 160; VG Würzburg, Urteil vom 14. März 2013 – W 5 K 12.322 –, juris Rn. 31.
80 Hettich, VersR, Rn. 12; ebenso VG Berlin, Beschluss vom 29. Mai 1996 – 1 A 171.96 –, juris Rn. 11: Schon gar nicht verliert die Versammlung ihre Versammlungseigenschaft nach einem von der Ordnungsbehörde bestimmten Zeitpunkt.
81 Hettich, VersR, Rn. 12; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. August 2020 – OVG 1 S 99/20 –, juris Rn. 10: Für die Dauer von vier Monaten ist darzulegen, dass es sich durchgehend um eine Versammlung handelt.
82 Vergleiche VG Berlin, Beschluss vom 29. Mai 1996 – 1 A 171.96 –, juris Rn. 11.
83 Darauf hinweisend, dass eine Ausrichtung allein nach dem Prioritätsprinzip nicht allen Konstellationen gerecht wird BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 06. Mai 2005 – 1 BvR 961/05 –, juris Rn. 25; BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 06. Mai 2005 – 1 BvR 961/05 –, juris Rn. 26: Kein Erstanmelderprivileg liegt indes vor, wenn die Anmeldung einer Versammlung mit dem Ziel erfolgt, durch Belegung der Örtlichkeit, eine andere Versammlung zu verhindern.
84 VG Würzburg, Urteil vom 14. März 2013 – W 5 K 12.322 –, juris Rn. 31.
85 Friedrich, DÖV 2019, 55, 59: Die Ausübung eines Grundrechts kann nicht dauerhaft gegenüber der Ausübung anderer Grundrechte zurücktreten.
86 Vergleiche Friedrich, DÖV 2019, 55, 62.
87 Koll, Liberales VersR, S. 66; zurückgehend auf BVerfGE 69, 315, 343.
88 Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. November 2008 – OVG 1 B 2.07 –, juris: Lautsprecher und Megafone sind geschützt, wenn sie erforderlich sind. Dies hängt von der Teilnehmeranzahl und dem Versammlungsort ab; a.A. Dietel/Gintzel/Kniesel/Kniesel, VersG, Teil I Rn. 176.
89 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 10. Januar 2020 – 10 B 19.2363 –, juris Rn. 24.