Bachelorarbeit, 2015
64 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Gesundheit als soziales Konstrukt
3 Theoretischer Hintergrund
3.1 Differenzierungstheoretische Beobachtung von Gesundheit
3.2 Organisationen innerhalb der Differenzierungstheorie
4 Krankenkassen als Leitorganisation für den Funktionsbereich Gesundheitsförderung
5 Fragestellung an das empirische Material
6 Methodisches Vorgehen
6.1 Erhebung
6.2 Auswertung
7 Analyse
7.1 Formale Interpretation
7.2 Reflektierende Interpretation
8 Fazit und Ausblick
9 Literaturverzeichnis
10 Anhang: Empirisches Material
'Viel trinken, täglich Obst und Gemüse essen, ausreichend Bewegung und genug Schlaf' sind Aussagen, die allgemeingültig erscheinen und die wohl niemand in Frage stellen würde, weil sie eben gesund sind. Gesundheit wirkt als unanfechtbares Mantra, nach dem sich im besten Falle jeder richten soll. Gesundheit ist gegenwärtig omnipräsent, dabei ist Eigenverantwortung die Devise dieser neuen Entwicklung. Bei zahlreichen Wahlmöglichkeiten geht es vor allem darum die 'richtige' Entscheidung für die eigene Gesundheit zu treffen. Moderne Gesellschaften ermöglichen eine Vielzahl verschiedener Lebensstile, jeder Mensch muss also jeden Tag Entscheidungen auch in Bezug auf seine Gesundheit treffen. Die "Fähigkeit des Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken" (Kickbusch 2006) wird mit dem Begriff Gesundheitskompetenz bezeichnet. Seit den 1980er Jahren hat sich Gesundheit zu einem der höchsten individuellen sowie gesellschaftlichen Werte und als treibende ökonomische, soziale und politische Kraft entwickelt (vgl. Brunnett 2009). Dies zeigt sich auch am neuen Gesetzentwurf von Dezember 2014, mit dem Gesundheitsförderung und Prävention erneut gestärkt werden soll. In ihm ist das eindeutige Ziel formuliert, Krankheiten zu vermeiden, bevor sie überhaupt entstehen. Der Gesetzentwurf soll die Grundlage dafür schaffen, dass alle Lebensbereiche so gestaltet werden, dass sie die Gesundheit unterstützen (vgl. Referentenentwurf Präventionsgesetz 2014). Eine besondere Rolle wird dabei den Krankenkassen zugesprochen, die das Gesundheitsverhalten ihrer Mitglieder positiv beeinflussen sollen. So werden u.a. Bonusprogramme angeboten mit dem Ziel Motivation für mehr Bewegung, gesündere Ernährung oder die Wahrnehmung von Früherkennungsuntersuchungen zu schaffen. Die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen und gesundheitsfördernden Aktivitäten wird dann durch unterschiedliche Prämien belohnt, nach dem Motto 'Je aktiver Sie sich für Ihre Gesundheit einsetzten, umso mehr lohnt es sich für Sie'.
Die vorliegende Arbeit leistet einen soziologischen Erklärungsversuch dieser aktuellen Entwicklungen. Dabei liegt die These zugrunde, dass die Bedeutung von Gesundheit gesellschaftlich konstruiert ist und die Organisation Krankenkasse als wichtiger Präventionsakteur dabei eine entscheidende Funktion hat. Aus dieser Annahme leitet sich folgende Forschungsfrage ab:
Welche Rolle spielt die Organisation Krankenkasse bei der Konstruktion von Gesundheitskompetenz?
Für die präzise Beantwortung der Fragestellung erfolgt zunächst die Beschreibung des empirischen Gegenstandes, in dem das theoretische Verständnis und die gesellschaftliche Bedeutung von Gesundheit geklärt wird. Daran anschließend wird im theoretischen Hintergrund anhand ausgewählter Literatur das Vorverständnis und der Nutzen der Differenzierungstheorie dargelegt und auf die Funktion von Organisationen im allgemeinen und von Krankenkassen im besonderen eingegangen. Um dann die Bedeutung der Krankenkassenrolle empirisch zu erfassen, wurden im Rahmen der Forschung drei offene Leitfadengespräche mit Krankenkassenmitarbeitern geführt, welche anschließend anhand der dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack ausgewertet wurden. Diese Methode stellt eine Beobachtung zweiter Ordnung in den Mittelpunkt und kann entsprechend Aufschluss über die Fragestellung geben. Das methodische Vorgehen wird in einem eigenen Kapitel näher erklärt und auf die vorliegende Forschung bezogen. Daran anschließend werden Fragen an das empirische Material formuliert, mit deren Hilfe die Transkripte ausgewertet werden. Die darauf aufbauende soziologische Analyse bildet damit den Kern der Arbeit. Abschließend werden im Fazit die Ergebnisse der Forschung zusammengefasst und die Forschungsfrage beantwortet und sich daraus ergebende Anreize aufgezeigt.
Zu Beginn der Arbeit wird zum grundlegenden Verständnis des Forschungsinteresses der empirische Gegenstand bestimmt, um die Frage zu beantworten, was erfasst werden soll. Auf dessen Basis ergibt sich das weitere Forschungsanliegen.
"Gesundheit wird von den Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: Dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben, sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen" (Weltgesundheitsorganisation 1986).
Bereits in der 1986 von der Weltgesundheitsorganisation formulierten Ottawa Charta wird die gesellschaftliche und individuelle Wichtigkeit von Gesundheit und auch aktiver Gesundheitsförderung deutlich. Rund 20 Jahre später schreibt Ilona Kickbusch (2006) von einer "Gesundheitsgesellschaft". Sie liefert eine aktuelle Situationsbeschreibung, in der Gesundheit als machbar und erstrebenswert formuliert wird. Gesundheit gilt als höchstes Gut, welches permanent gesteigert und gefördert werden muss, um es als positive Ressource in einen aktiven Lebensalltag zu integrieren. Durch diese Entwicklung wird bestimmtes Verhalten immer mehr als gesundheitsschädlich bezeichnet und ständig neue Verbesserungen am menschlichen Körper angeboten und angestrebt (vgl. Kickbusch 2006: 8). Der Einzelne soll im täglichen Leben Entscheidungen treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken. Gesundheitsschädigende Lebensbedingungen sollen reduziert und gesundheitsfördernde Bedingungen unterstützt werden. Diese Fähigkeit wird, wie bereits erwähnt, unter dem Begriff der Gesundheitskompetenz zusammengefasst, dessen Herstellung die gesundheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts darstelle (vgl. ebd.: 51). Die Allgegenwärtigkeit von Gesundheit wird zu einer treibenden Kraft in der Gesellschaft, was sich unter anderem durch die veränderte Lebensumwelt der Menschen erklären lässt. Zum einen leben die Menschen länger und sind länger gesund, und auch das Krankheitsspektrum der Gesellschaft hat sich verschoben zu den chronischen, zum Teil vermeidbaren Erkrankungen. Zum anderen ist der expandierende Gesundheitsmarkt zu einem wichtigen Teil des Wirtschaftswachstums geworden und nimmt einen immer größeren Teil am Bruttosozialprodukt ein. Außerdem hat das öffentliche und persönliche Interesse an der Gesundheit durch neue Gesundheitsrisiken signifikant zugenommen (vgl. Kickbusch 2006: 7). In der betitelten "Gesundheitsgesellschaft" erscheint Gesundheit grenzenlos, überall und machbar. Die Menschen sind den Bedrohungen durch Krankheit nicht mehr ausgeliefert, weil jede Entscheidung auch eine Gesundheitsentscheidung ist. Die heutige Lebensweise ist ohne die ständige Präsenz von Gesundheit nicht mehr denkbar, da sie eine bedeutende Rolle einnimmt. Die Lebenswelt und Lebensweise ist dabei bestimmend für die persönliche Gesundheit (vgl. ebd.: 10f). Gesundheit ist nicht mehr ausschließlich durch Experten definiert, sondern gilt als Teil der "modernen Lebensqualität, des Wohlbefindens und des Lebensglücks" (ebd.: 35). Gesundheit wird konkret fassbar und als machbar deklariert: man kann immer und überall seine Gesundheit durch bestimmte Faktoren positiv beeinflussen.
Wie lässt sich diese Momentaufnahme von Kickbusch soziologisch erklären? Im Zentrum des Sozialkonstruktivismus steht die Frage, wie soziale Wirklichkeit und einzelne Phänomene konstruiert werden (vgl. Berger/Luckmann 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit). Die darauf aufbauende Methode untersucht, wie Menschen gesellschaftliche Phänomene erzeugen und institutionalisieren. Demnach wird soziale Wirklichkeit als etwas dynamisch Prozesshaftes angesehen, die ständig durch das Handeln von Menschen und durch deren darauf bezogene Interpretation reproduziert wird. Übertragen auf die vorliegende Forschung lässt sich die Frage formulieren, wie Gesundheit als soziale Erscheinung institutionalisiert wird. Die Konstruktion von Gesundheit und der Wunsch nach Gesundheitskompetenz lässt sich als ein andauernder, fortschreitender Prozess von Veränderungen und Anpassungen beschreiben, der von den Menschen akzeptiert und durch aktive Teilnahme vorangetrieben wird. Da Sozialkonstrukte nicht von Natur aus geschaffen sind, müssen sie laufend durch menschliches Handeln und Bewusstsein unterstützt und erhalten werden. Die Interpretation, Motive und das Wissen der Menschen einer Gesellschaft bilden das Fundament von diesem Prozess.
Es wird von der These ausgegangen, dass Organisationen innerhalb der Differenzierungstheorie eine tragenden Rolle bei der Regulierung von Verhalten spielt und diese Annahme auch auf Gesundheitskompetenz übertragbar ist. Dies soll in den folgenden Abschnitten näher erläutert werden.
Dem theoretischen Hintergrund liegt die These zugrunde, dass in der modernen Gesellschaft Gesundheit nicht nur eine persönliche Angelegenheit ist, sondern eine im hohen Maße gesellschaftliche. Wie es zu dieser Veränderung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und dem zentralen Stellenwert von Gesundheit gekommen ist, wird im folgenden Kapitel mit Hilfe der differenzierungstheoretischen Perspektive gezeigt. Es lässt sich die Behauptung aufstellen, dass Gesundheit als ein Beobachtungschema fungiert, welches unterschiedlich gebaut und laufend gesellschaftlich verhandelt wird. Gesundheit ist somit ein Code, der in der Gesellschaft bearbeitet wird. Um die Forschungsfrage sowie die daran anschließende Befragung möglichst konkret zu gestalten, wird nun die für die Forschung relevante Literatur erläutert.
Wie kann die Beschreibung von Kickbusch soziologisch erklärt werden? Jürgen Pelikan (2009) kritisiert die einseitige Sichtweise einer "Gesundheitsgesellschaft", denn er geht von einer funktional differenzierten Gesellschaft aus, in der spezifische Systeme eine bestimmte gesellschaftliche Funktion erfüllen. Durch die zunehmenden Versuche positive Gesundheit gezielt zu produzieren spricht Pelikan von einem Gesundheitsförderungssystem als ein sich neu ausdifferenzierendes Funktionssystem (vgl. ebd.: 36). Die Organisationen innerhalb des Gesundheitsförderungssystems sehen suboptimale Gesundheit als ein bearbeitbares Problem. Pelikan beschreibt Gesundheit dabei als sozial bewertete und erwartete Qualität, die an Lebewesen beobachtet werden kann. Sie fungiert als Determinante, die das weitere Leben sowohl quantitativ (Lebenserwartung) als auch qualitativ (Lebensqualität) beeinflusst (vgl. ebd.: 31). Im Gegensatz dazu sieht er Krankheit als Ergebnis von verursachenden Faktoren, die die Lebensqualität und die quantitative Lebensdauer beeinträchtigen. Krankheit gilt als Abweichung von einem erwarteten Normalzustand und somit ist deren Entstehung gezielt präventiv vorzubeugen. Nicht nur die Behandlung von Krankheit wird als machbar angesehen, sondern auch die Förderung von positiver Gesundheit (Pelikan 2009: 33f). Positive Gesundheit als Ergebnisqualität muss ständig reproduziert und beeinflusst werden. Sie entscheidet über die Funktionstüchtigkeit als Widerstandsfähigkeit gegenüber der Umwelt und über das subjektive Wohlbefinden bezogen auf Körper, Psyche und Sozialstatus.
Pelikan geht von einer Bedeutungszunahme von Gesundheit in der gegenwärtigen Gesellschaft aus, die durch die funktionale Differenzierung erklärt werden kann. Diese Sichtweise beinhaltet die unterschiedliche Konstruktion von sozialer Realität und kann somit Hilfe bei der Beantwortung der Fragestellung leisten.
Die differenzierungstheoretische Perspektive kann als ein Werkzeug soziologischer Gesellschaftsforschung gesehen werden, mit dessen Hilfe unter anderem generelle Merkmale der modernen Gesellschaft herausgearbeitet werden können (vgl. Schimank 2007: 17). Sie hebt die Ungleichartigkeit der Bausteine der modernen Gesellschaft hervor, denn innerhalb der soziologischen Systemtheorie bedeutet funktionale Differenzierung, dass sich innerhalb eines sozialen Systems einzelne Teilsysteme herausbilden, die jeweils eine bestimmte Funktion für das Gesamtsystem erfüllen. In der vorliegenden Arbeit soll die differenzierungstheoretische Perspektive aufzeigen wie Gesundheit gesellschaftlich bearbeitet wird und welche Rolle Organisationen dabei einnehmen.
In der Interpretation Niklas Luhmanns wird die moderne Gesellschaft in erster Linie als eine funktional differenzierte Gesellschaft dargestellt. Für die Gesamtheit aller einander erreichbarer Kommunikation haben sich abgegrenzte, funktional spezialisierte Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik und Recht ausgebildet. Alle Systeme sind unter dem Gesichtspunkt ausdifferenziert, bestimmte gesellschaftliche Probleme zu lösen, sie erfüllen damit eine bestimmte Funktion für das Gesamtsystem. Die Ausdifferenzierung steigert die Leistungsfähigkeit der Teilsysteme und absorbiert Unsicherheit (vgl. Pelikan 2007: 37). Die Wirtschaft z.B. reguliert das Problem der heutigen und zukünftigen Knappheit und die Wissenschaft das der Verlässlichkeit neuer Erkenntnisse (vgl. Martens/Ortmann 2006: 448).
In der soziologischen Systemtheorie sind die Teilsysteme autonome Funktionssysteme, die sich ihre Strukturen je nach Bedarf und äußerer Anforderung selbst geben. Die selbstreferentiellen Funktionssysteme sind für Luhmann autopoietisch, da sie die Elemente aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Jedes einzelne Teilsystem betrachtet das Gesamtsystem aus einem anderen Blickwinkel. So beobachtet etwa das Teilsystem Wissenschaft Vorgänge im System nur danach, ob etwas wahr ist oder nicht, die Wirtschaft interessiert sich ausschließlich dafür, ob Zahlungen erfolgen oder nicht. Jedes Funktionssystem hat demnach eine binäre Codierung, welche als typisches Kriterium die operative Geschlossenheit eines Funktionssystems garantiert. Die binären Codes bestimmen teilsystemspezifische Kommunikationszusammenhänge durch Sinngrenzen. Durch die Asymmetrie der binären Codierung ist nur eine Seite operativ anschlussfähig. Jedes Teilsystem umrahmt seinen Code durch weitere Erwartungsstrukturen, die die Form von Programmen annehmen. Während die operationalisierten Anforderungen der binären Codes Orientierungssicherheit geben, strukturieren Programme durch spezifische normative und kognitive Orientierung (vgl. Schimank 2007: 147).
Eine funktional differenzierte Gesellschaft ist eine polykontexturale Gesellschaft: Es geht nicht um Arbeitsteilung, sondern um andersartige Blickwinkel auf die Welt. "Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist damit nicht die einzige, sondern so oft und so oft anders vorhanden, wie es divergierende teilsystemische Perspektiven auf sie gibt" (Schimank 2007: 168). Funktionale Differenzierung schafft aber kein Nebeneinander, sondern multiple Überschneidungen von Perspektiven auf den selben Tatbestand (vgl. ebd.). Die funktional differenzierte Gesellschaft ist demnach eine Ansammlung von Teilsystemen, die einander auf gleicher Ebene gegenüber stehen, aber "ohne viel voneinander wissen zu wollen" (Schimank 2007: 171). Die ausdifferenzierten Teilsysteme sind laut Luhmann Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Wissenschaft, Kunst, Massenkommunikation, Erziehung, Krankenbehandlung, Sport, Familie und Intimbeziehung. Die Systeme institutionalisieren die Perspektiven, unter denen die "Realität" behandelt wird (vgl. ebd.: 141f). Etwas, was Gegenstand von Kommunikation ist, wird gesellschaftlich relevant. Bei der Kommunikation geben vor allem Organisationen den Teilsystemen eine Stimme. Formale Organisationen prägen ihren Mitgliedern die teilsystemischen Programmstrukturen besonders nachhaltig ein (vgl. ebd.: 153). Die besondere Funktion von Organisationen in Teilsystemen wird im nächsten Kapitel ausführlicher analysiert, denn sie fungieren als Systemebene zwischen Interaktion und Gesellschaft.
Pelikan (2009) schlägt nun ein Gesundheitsförderungssystem vor, welches Gesundheit zum Gegenstand von Kommunikation macht und das bisherige Krankenbehandlungssystem erweitert. Dieses Teilsystem ist an positiver Gesundheit orientiert und nicht nur an der Behandlung von Krankheit. Luhmann benennt lediglich die Krankenbehandlung als eigenes Funktionssystem, das durch den binären Code krank/gesund operativ geschlossen ist. Nur der Code 'krank' ist anschlussfähig, denn ihm folgt die passende Diagnose und Behandlung mit der Funktion der Therapie. Die Krankheitslehre als Programm ermöglicht Umweltoffenheit: Sie klärt welche Krankheit vorliegt und welche Therapievorschläge an die Diagnose anschlussfähig sind. Die Leitorganisationen im Krankenbehandlungssystem sind Krankenhäuser oder Arztpraxen. Das institutionalisierte Funktionssystem für Krankenbehandlung hat sich evolutionär ausdifferenziert, in dessen Folge sich die krankheitsbezogene Kommunikation in anderen Funktionssystemen vermehrt hat. Pelikan verändert nun den binären Code der Krankenbehandlung in krank/nicht- krank und benennt suboptimale Gesundheit als anschlussfähiges gesellschaftliches Problem, das durch optimale Gesundheit gelöst wird (vgl. Pelikan 2009: 42). Das Gesundheitsförderungssystem hat also den Code suboptimal gesund/gesund und ist spezifisch auf die Lösung eines gesellschaftlichen Problems fokussiert:
"Die gesellschaftliche Funktion eines solchen Systems wäre dann die Verbesserung oder Optimierung der positiven Gesundheit der Bevölkerung, seine Leistung die Bearbeitung der Differenz von aktueller zu optimaler Gesundheit für bestimmte Individuen oder Populationen" (ebd.: 43).
Im Gegensatz zum Krankenbehandlungssystem liegt die Leistung des Gesundheitsförderungssystem dementsprechend nicht in der Heilung von Krankheiten, sondern in der Herstellung von positiver Gesundheit. Für Anschlussfähigkeit und Kommunikation brauchen Funktionssysteme aber wie schon erwähnt die Hilfe von Organisationen.
Organisationen spielen innerhalb der Systemtheorie eine entscheidende Rolle, denn sie sind den gesellschaftlichen Funktionsbereichen zugeordnet. Im folgenden Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, welche genaue Bedeutung Organisationen im Gesundheitsförderungssystem haben und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Organisationen gelten als ein spezifisches Merkmal der modernen Gesellschaft. Ein Großteil gesellschaftlich folgenreicher Kommunikation findet heutzutage innerhalb oder unter Beteiligung von Organisationen statt. Es gibt nahezu keinen Handlungsbereich mehr, der nicht durch Organisationen nachhaltig geprägt ist. So ist die Erziehung geprägt durch Kindergärten und Schulen, das Rechtswesen von Gerichten und Anwaltskanzleien und das Gesundheitssystem durch Krankenhäuser und Pflegeheime (vgl. Kneer 2001: 407). In Luhmanns Systemtheorie steht die Kombination gesellschafts- und organisationstheoretischer Einsichten im Vordergrund: Die Gesellschaft wird als umfassendes Kommunikationssystem und Organisationen als entscheidungsbasierte Sozialsysteme gesehen, die sich als zwei verschiedene Typen sozialer Systeme auf eigene Weise von einer nicht dazugehörigen Umwelt abgrenzen (vgl. Kneer 2001: 408). Im Gegensatz zu Organisationen können Funktionssysteme nicht als Ganzes in kommunikativen Kontakt miteinander treten. Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik, Religion, Erziehung etc. sind keine kommunikationsfähigen Einheiten, die mit Systemen in ihrer Umwelt direkt kommunizieren können. Erst durch die Konstitution von Organisationen wird eine interfunktionale Kommunikation möglich (vgl. ebd.). Organisationen gelten als Untereinheiten gesellschaftlicher Funktionssysteme, es sind jedoch nicht alle Organisationen eindeutig spezifischen Funktionssystemen zugeordnet. Gegen die These einer mehr oder weniger eindeutigen Zuordnung von Organisationen zu Funktionssystemen spricht, dass Organisationen nicht allein an dem operativen Geschehen eines einzigen Funktionssystems beteiligt sind, sondern sich stets an mehreren Teilsystemen orientieren. So sind Gerichte zugleich im Rechts- und im Wirtschaftssystem tätig und Schulen operieren sowohl in der Erziehung als auch in der Wirtschaft (vgl. Kneer 2001: 411f).
Wenn Luhmann nach der Funktion von Organisationen fragt, spielt die Überfülle der Möglichkeiten eine ausschlaggebende Rolle. Durch Kontingenz herrscht eine gewisse Freiheit, aber auch eine Überforderung durch zu viele Möglichkeiten. Institutionen sollen dabei entlasten und Komplexität reduzieren. Organisationen erfüllen dabei mehrere Funktionen gleichzeitig, u.a. Ungewissheitsabsorption und die Respezifikation allgemeiner Ziele. Dabei sind organisationsinterne Entscheidungen bezogen auf zu lösende Probleme und Erwartungen. Organisationen haben die Fähigkeit, bestimmte soziale Probleme systematisch, auf längere Sicht und relativ unabhängig von ihren Mitgliedern zu bearbeiten, weil sie sich besonderen Umständen anpassen: sie bestehen aus kommunizierten Entscheidungen. Die wichtigsten Entscheidungsprämissen einer Organisation sind die Entscheidungsprogramme, die Kommunikationswege und der Personaleinsatz (vgl. Martens/Ortmann 2006: 442). Entscheidungsprogramme bestimmen dabei die Aufgaben und Funktionen, die in einer Organisation zu erledigen sind, Kommunikationswege bestimmen, wie die Stellen, an denen die Entscheidungen gefällt werden müssen, kommunikativ miteinander verbunden werden dürfen. Und erst die Kompetenzen von Personal (Organisationsmitglieder) ermöglichen und begrenzen zugleich die Organisationsoperationen.
Wie bereits dargelegt erfüllt jedes Funktionssystem eine eigene Funktion, dabei spielen Organisationen eine wichtige Rolle, sie stehen im Mittelpunkt der verschiedenen Systeme:
"Wenn Organisationen im Zentrum der Teilsysteme stehen und die Teilsysteme zur Kernstruktur moderner Gesellschaft gehören, kann man daraus nur folgern, dass Organisationen, und zwar jeweils als Organisationen eines Teilsystems, in der modernen Gesellschaft eine Hauptrolle spielen" (Martens/Ortmann 2006: 448).
Teilsysteme treten nicht als Akteure auf, sie haben einen lockeren Operationszusammenhang und schließen prinzipiell niemanden von der Teilnahme aus, denn sie haben keine Mitgliedschaftsregeln. Organisationen hingegen sind die Strukturen, die die systematische Orientierung auf ein besonderes Problem ermöglichen oder zumindest erheblich erleichtern. Die organisationalen Entscheidungen lassen sich durch entsprechende Entscheidungsprämissen lenken, die die entscheidenden Codes und Programme der Funktionssysteme in sich aufgenommen haben (vgl. Martens/Ortmann 2006: 450). Die Codes und Programme der Teilsysteme können mit Hilfe von Organisationen unter anderem deshalb systematischer und wirksamer als ohne sie angewendet werden, weil die Mitglieder in einer Organisation durch Belohnungen und Sanktionen in ihren Handlungsmöglichkeiten konditioniert werden können. Eine weitere Bedingung für die systematische Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems durch Organisationen ist die Abgrenzung der Organisation von ihrer Umwelt. Trotzdem nimmt diese einen mehr oder weniger großen Einfluss auf Entscheidungen und Umstrukturierungen innerhalb einer Organisation. Ebenso kann auch das System Einfluss auf die Umwelt nehmen (vgl. Mar- tens/Ortmann 2006: 451).
Petra Hiller (2005) geht aufbauend auf Karl Weick davon aus, dass Organisationen Teile ihrer Umwelt auch nach eigenen Regeln mitgestalten: Sie legen den Einzugsbereich dessen fest, was in weiteren Sinnerzeugungsprozessen überhaupt Relevanz erlangen kann. Organisationen werden dabei als wissensgenerierende Interpretationssysteme begriffen, die keineswegs passiv ihrer Umwelt ausgeliefert sind. Organisationen sind demnach an Prozessen der Bedeutungskonstruktion sozialer Realität beteiligt. Beim Konzept 'Gesundheit' müssen Eigenschaften und Bedeutung erst konstruiert werden, um soziale Relevanz zu erlangen. Daran anknüpfend muss auch Gesundheitskompetenz erst als soziale Tatsache konstruiert werden, auf die sich dann Handeln beziehen kann. Hiller greift den Gedanken von Weick auf, dass "Leute aktiv Dinge in die Welt setzen, sie dann wahrnehmen und über ihre Wahrnehmung diskutieren" (Weick 1985 in Hiller 2005: 16). Das Wort Gestaltung verdeutlicht dabei diese ursprüngliche Setzung von Realität. Die Annahme von Sinnerzeugung (Sensemaking) betont die aktive Hervorbringung, die Erfindung von sozialer Wirklichkeit. Im Prozess wird die Wirklichkeit als anschlussfähig, brauchbar oder nützlich konstruiert. Organisationen gelten in diesem Zusammenhang als "wissensgenerierende Sinnerzeugungs-, Interpretations- und Beobachtungssysteme" (Hiller 2005: 17).
Nach Lieckweg/Wehrsig (2001: 41) wird die Gesellschaft als ein übergeordnetes System verstanden, das Organisationen einschließt und konditioniert. Die gesellschaftlichen Institutionalisierungen werden der Organisation aufgeprägt. So können sich Organisationen auch der Ausdifferenzierung eines Gesundheitsförderungssystems nicht entziehen. Organisationen sind zunächst jedoch nicht in die jeweiligen Funktionssysteme eingeschlossen. Sie sind vorerst mit der Polykontexturalität ihrer gesellschaftlichen Umwelt konfrontiert und müssen diese selbstselektiv ordnen. Um sich von der Komplexität der modernen Gesellschaft zu entlasten, müssen sinnhafte Relevanzstrukturen aufgebaut werden. Dabei wird zwischen strategischen und parametrischen Umwelten unterschieden: zentrale Handlungsfelder und Randbedingungen (vgl. ebd.: 42). Durch die Konfrontation mit Mehrdeutigkeiten bilden Organisationen unterschiedliche und auch widersprüchliche lokale Rationalitäten und ordnen Interdependenzen selbstständig mit. Der Druck von Umweltveränderungen führt zu einer Steigerung der internen Komplexität und auch die Zwecksetzung ändert sich durch relevante Umweltzustände. In der Kommunikation von Organisation treffen die Leistungserwartungen der verschiedenen Funktionssysteme aufeinander und es kommt zu einem Widerspruch auf der Ebene der Funktionssysteme (vgl. ebd.: 52). Dies kann zu Konflikten innerhalb der Organisationen führen, welche wiederum Chancen der Kommunikation und Innovation eröffnen. Die Voraussetzung für Programmänderungen ist die Prozessreflexivität von Organisationen: erst die Selbstbeobachtung im Hinblick auf die Erwartungen der Umwelt führt dazu, die eigenen Programmstrukturen den fremden Selbstbeschreibungen anzupassen (vgl. Liekweg/Wehrsig 2001: 54ff). Bezogen auf die vorliegende Forschung stellt die Umwelterwartung an Organisationen das Gesundheitsengagement für ihre Mitglieder dar. Durch eine selektive Ordnung innerhalb der Organisation wird entschieden, ob die Gesundheitsförderung ein zentrales Handlungsfeld und dementsprechend das Problem der suboptimalen Gesundheit bearbeitet werden soll. Auch wirtschaftliche Unternehmen, die die Gesundheit ihrer Mitglieder stärken wollen, werden somit Teil des Gesundheitsförderungssystems. Zu entsprechenden Entscheidungen gehören zum Beispiel medizinische Vorträge zu verschiedenen Präventionsthemen, die Durchführung von Gesundheitstagen, Rückenfunktionsdiagnostiken, Ergonomietraining am Arbeitsplatz oder Bewegungs- und Entspannungskurse. Die Ziele dabei sind unter anderem motivierte und leistungsfähige Mitarbeiter, die Bindung von Fachkräften an das Unternehmen, die Senkung der Fehlzeiten und die Verbesserung des Erscheinungsbildes des Unternehmens (vgl. natural fit 2014).
Als zentrale Antriebskraft für die Konstruktion von Gesundheit und Gesundheitskompetenz wird jedoch die Krankenkasse gesehen, diese Annahme wird im folgenden Kapitel erläutert.
In diesem Abschnitt folgt die Beschreibung des Gegenstandsbereiches und das theoretische Verständnis von Krankenkassen sowie Informationen zum konkreten empirischen Feld. Wie dargelegt sind Organisationen sehr wichtige Einrichtungen für die Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme. Übertragen auf die Organisation Krankenkasse bedeutet dies in erster Linie die Finanzierung der Krankenbehandlung, aber auch immer mehr Präventionsleistungen und Gesundheitsförderung:
"Mit Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes am 1. Januar 1989 und der Einführung des §20 SGB V hielten Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung erstmals Einzug in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung" (Steindor 2005: 207).
Die Gesetzliche Krankenversicherung steht im Zentrum des deutschen Gesundheitssystems, denn ihr gehören 90 Prozent der Bevölkerung als Mitglieder an (Bundesministerium für Gesundheit 2014). Im Sozialgesetzbuch sind u.a. die Aufgaben der Krankenversicherung formuliert, die beinhalten, die Gesundheit der Versicherten "zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern sowie die Versicherten aufzuklären, zu beraten und auf gesunde Lebensführung hinzuwirken" (ebd.). Dabei sind die Versicherten mit für ihre Gesundheit verantwortlich: durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen und aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation soll die Entstehung von Krankheit vermieden oder ihre Folgen überwunden werden. Die Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung sind die Krankenkassen. Mit dem Ziel der gesunden Lebensführung hat die Solidargemeinschaft Krankenversicherung einen umfassenden Auftrag von Gesundheitsförderung und Prävention über Krankenbehandlung bis zur Rehabilitation. Die Krankenkassen sind finanziell und organisatorisch selbstständig, unterliegen allerdings staatlicher Aufsicht. Seit 1996 erlaubt das Gesundheitsstrukturgesetz den gesetzlich Versicherten, ihre Kasse selbst zu wählen (vgl. Krankenkassen Deutschland 2015). Die Kassenwahlfreiheit rückte die Krankenkassen in eine Wettbewerbssituation. Hartmut Rosa (2006) beschreibt Wettbewerb als Interaktionsmodus, in dem immer mehr Ressourcen und Energien in die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gesetzt werden. Die Herstellung oder Aufrechterhaltung von Wettbewerbsfähigkeit stellt demnach ein dominantes Handlungsziel dar (Rosa 2006: 82). Dabei bestimmen die Akteure selbst darüber, welche Ziele sie sich setzen und folgen nicht unbedingt einer vorgegeben Nachfrage, sondern spekulieren auf deren aktive Erzeugung. So ist die Definition der Zielsetzung selbst ein entscheidendes Instrument im Kampf um die Wettbewerbsfähigkeit (vgl. ebd.: 85). Bezogen auf die Organisation Krankenkasse würde dies bedeuten, dass sie möglicherweise die Aufgabe der Gesundheitsförderung als Wettbewerbsmerkmal nutzen.
Ingo Bode (2003) beschreibt Krankenkassen als hybride Organisationen, die multireferenziell ausgerichtet sind: Sie haben eine Mehrzahl von Zielen und plurale Entscheidungsstrukturen. Organisationen als "Multireferenten" sind nicht darauf fixiert, "sich in ihren Entscheidungsprozessen auf bestimmte (Selbst- bzw. Teilsys- tem)Referenzen festzulegen" (Bode 2003: 442). Zwar verfügen nahezu alle Organisationen über eine eindeutige Identität im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu einem Funktionssystem, aber gleichzeitig sind immer mehrere Funktionssysteme an der Organisationskommunikation beteiligt: Rechtskommunikation, Wirtschaftskommunikation oder Wissenschaftskommunikation finden sich in nahezu jeder Organisation. In diesem Blickwinkel kann Gesundheitsförderung nur als ein Teil der organisationalen Ausrichtung gesehen werden. Zudem sind Krankenkassen eng mit dem politischen System verbunden, ihnen werden durch Gesetzgebung Aufgaben zugeteilt und so sind die Leistungen erheblich politisch normiert (vgl. Bode 2003: 438). Die Stärkung der Vorsorge ist also auch eine politische Reaktion auf den Kostenanstieg im Gesundheitswesen. Aktuell ist im Referentenentwurf des Präventionsgesetzes (2014) formuliert, dass die Aufgabenwahrnehmung von Krankenkassen u.a. im Bereich 'gesund aufwachsen, Lebenskompetenz, Bewegung, Ernährung fördern, gesundheitliche Kompetenz erhöhen, Souveränität der Patienten stärken und gesund älter werden' liegt. Die Leistungen umfassen individuelle Verhaltensprävention, Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten und Gesundheitsförderung in Betrieben. So stellen Krankenkassen z.B. Präventionsprogramme für ihre Mitglieder auf, die an dieser Stelle zunächst exemplarisch erwähnt werden sollen: Ein Großteil der Krankenkassen bietet Bonusprogramme an, mit denen sich die Mitglieder Prämien sichern können. Durch verschiedene Aktivitäten soll ein Anreiz zur Teilnahme an gesundheitsförderlichen Programmen und ärztli- chen Untersuchungen geschaffen werden. Jeder Teilnehmer muss eine bestimmte Anzahl von gesundheitsfördernden Maßnahmen absolvieren, um deren Nachhaltigkeit abzusichern. Zu den Leistungen gehören z.B. ärztliche Gesundheits-Check- Ups und Belastungstests, Maßnahmen zur Förderung der Herz-Kreislauffunktion, zur Stärkung des Muskel- und Skelettapparates, zur Stressreduktion, zur Vermeidung von Mangel- und Fehlernährung und Seminare zur gesunden Lebensführung. Das Ziel hierbei ist eine langfristige selbstständige Gesunderhaltung.
Die Krankenkassen führen jedoch nicht nur an sie formulierte Ansprüche aus, sondern adressieren auch die politische Umwelt mit Anliegen und Forderungen (vgl. Bode 2003: 438f). Dies könnte ein erster Hinweis auf die Gestaltungsmöglichkeit der Krankenkassen sein und wird in der empirischen Untersuchung näher betrachtet. Durch die tragende Rolle bei Prävention und Gesundheitsförderung können Krankenkassen als Leitorganisation des Gesundheitsförderungssystems gesehen werden, die das Problem der suboptimalen Gesundheit bearbeiten. Im Rahmen der Forschung wurden deshalb drei Interviews mit Mitarbeiter/innen von bundesweit tätigen Krankenkassen geführt, jeweils mit Niederlassung im Raum Hannover. Die Auswahl des Samples erfolgte nach theoretischem Vorverständnis und Erkenntnisinteresse: Es wurde versucht typische Fälle auszuwählen, die als charakteristisch für die Gesetzliche Krankenversicherung angesehen werden. Durch die geringe Fallzahl wird dabei kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben. Das gewonnene empirische Material soll dann Aufschluss über die Forschungsfrage geben, die im nächsten Kapitel mithilfe der relevanten Theorie hergeleitet wird und die bestimmt, wonach im Material gesucht wird.
In diesem Teil soll zunächst die Fragestellung aus der referierten Literatur abgeleitet werden, um anhand dessen zu klären, wonach im empirischen Material gesucht wird. Wie eingangs beschrieben, wird davon ausgegangen, dass die soziale Wirklichkeit und Phänomene wie Gesundheitskompetenz durch die Gesellschaft konstruiert wird. Erst durch das Handeln von Individuen entstehen soziale Erscheinungen und werden zur Realität institutionalisiert. Wie im Theorieteil gezeigt, sind Organisationen sowohl Umweltanforderungen ausgesetzt als auch bei der Konstruktion der Umwelt beteiligt. Nach ihrer Zielsetzung haben Krankenkassen einen bedeutenden Anteil an der Wirklichkeitskonstruktion im Bereich von Gesundheit. Das daraus resultierende Forschungsinteresse bezieht sich auf die Einflussnahme von Krankenkassen auf ihre Umwelt und ihre Interaktion mit dieser. Aus der Annahme der gesellschaftlichen Beeinflussung leitet sich folgende Forschungsfrage ab: Welche Rolle spielt die Organisation Krankenkasse bei der Konstruktion von Gesundheitskompetenz?
Diese Frage spiegelt das Interesse wieder, den Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Gesundheit und Gesundheitskompetenz zu analysieren. Im empirischen Material soll anhand einer Beobachtung zweiter Ordnung der Frage nachgegangen werden, wie Krankenkassenmitarbeiter stellvertretend für ihre Organisation in Erzählungen ihre Umwelt beschreiben und gestalten. Welchen Beitrag leistet die Organisation Krankenkasse bei der Erzeugung der veränderten Bedeutung von Gesundheit? Welche Rolle spielen sie bei der Ausdifferenzierung eines Gesundheitsförderungssystems im Sinne Luhmann's? Kann die Krankenkasse als Akteur angesehen werden, der das Problem der suboptimalen Gesundheit bearbeitet und auf welche Weise versuchen sie dieses Problem zu lösen? Wie erlangt Gesundheitskompetenz soziale Relevanz? Wird wie bei Kickbusch (2006) davon ausgegangen, dass Gesundheit als höchstes Gut, erstrebenswert und machbar gilt? Sind Handlungen der ständigen Frage ausgesetzt, wie die eigene Gesundheit zu verbessern ist? Da für jeden Menschen eine wiederum von Menschen produzierte institutionalisierte Gesellschaftsordnung vorgeben ist, lässt sich davon ausgehen, dass die Krankenkasse als Organisation an dem Gestaltungsprozess von Gesundheitskompetenz maßgeblich beteiligt ist. Durch die Kommunikation von Gesundheit wird diese gesellschaftlich als wichtig erachtet und zur sozialen Realität.
Laut Bode (2003) sind die Krankenkassen eng mit dem politischen System verbunden, wie wird diese Beziehung in den Interviews thematisiert? Welchen Einfluss hat die Umwelt auf die Organisation Krankenkasse? Werden die eigenen Programmstrukturen durch Umwelterwartungen angepasst? Welche Auswirkung hat die Gesetzgebung und werden Ansprüche an die politische Umwelt formuliert?
Von Hiller (2005) ausgehend, dass die Wirklichkeit von Organisationen als "anschlussfähig, brauchbar und nützlich" konstruiert wird, lässt sich die Vorannahme formulieren, dass Gesundheitskompetenz diese Eigenschaften für Krankenkassen aufweist. Gestaltet also die Krankenkasse ihre Umwelt nach eigenen Regeln mit? Wie sind sie an der Bedeutungskonstruktion von Gesundheitskompetenz beteiligt? Greift man den Gedanken des Sensemaking auf, lässt sich vermuten, dass die Krankenkassen den Sinn von Gesundheit aktiv generieren. Mit der Bedeutung von Gesundheitskompetenz schaffen die Krankenkassen scheinbar eine Aufgabe für sich, mit der sie sowohl Mitglieder durch Engagement werben als auch die Kosten der Krankenbehandlung senken wollen. Wird auch die installierte Wettbewerbssituation angesprochen und welche Effekte könnte dieser möglicherweise haben? Will sich die Krankenkasse als Gesundheitsexperte darstellen, um damit Wettbewerbsvorteile zu erzielen?
Um den Prozess der Bedeutungskonstruktion von Gesundheit zu verstehen, ist sowohl die Thematisierung der Gesundheitskompetenz als auch die Interaktion zwischen Organisation und Umwelt Grundlage der Auswertung. Zunächst wird jedoch für eine angemessene Bearbeitung der Forschungsfrage die geeignete Erhe- bungs- und Auswertungsmethode vorgestellt.
In diesem Kapitel geht es um die passende Bearbeitung des empirischen Gegenstandes: Um die Frage nach der Rolle von Krankenkassen bei der Konstruktion von Gesundheitskompetenz zu beantworten, wird eine qualitative Forschungsmethode gewählt, die sich für die Subjektivität des Befragten interessiert. Sie setzt eine gewisse Offenheit und einen tendenziell flexiblen Ablauf voraus, um Aspekte zu erschließen, die im Vorfeld noch nicht betrachtet wurden.
Das Sample für die Forschung wurde unter dem Gesichtspunkt typischer Fälle ausgewählt, die Auskunft über latente Sinnstrukturen geben können. Die Repräsentativität spielt durch die geringe Anzahl eine untergeordnete Rolle. Anhand der Vorüberlegungen wurden potentielle, bundesweit tätige Krankenkassen in der Region Hannover angeschrieben, um passende Interviewpartner zu finden. In diesem Prozess wurden drei Leitfadeninterviews mit thematisch vertrauten Krankenkassenmitarbeitern geführt, die alle in leitenden Funktionen tätig sind. Die anschließenden Transkripte wurden mithilfe der dokumentarischen Methode analysiert. Die gewählte Erhebungs- sowie Auswertungsmethode und deren Gewinn für die vorliegende Arbeit wird nun näher erläutert.
Bei den Einzelinterviews handelt es sich um offene Leitfadengespräche. Ziel dieser Gespräche ist der Einblick in Relevanzstrukturen und Erfahrungshintergründe des Befragten, der gewissermaßen stellvertretend für die Organisation Krankenkasse spricht. Die Offenheit bezieht sich dabei auf die Möglichkeit des Befragten, sich frei zu äußern und das wiederzugeben, was ihm bezüglich zum Thema Gesundheit und Prävention als wichtig erscheint. Es ist ein theoretisches Konzept vorhanden, anhand dessen zielorientiert gefragt werden kann, aber das trotzdem Raum für neue Aspekte lässt. Der Leitfaden soll gewährleisten, dass alle forschungsrelevanten Themen auch tatsächlich angesprochen werden, bzw. dass zumindest eine rudimentäre Vergleichbarkeit der Interviewergebnisse gewährleistet werden kann (Mayring 2002: 66). Die Fragen des Leitfadens werden jedoch nicht strikt abgearbeitet, sondern werden flexibel im Gesprächsverlauf eingebaut und durch immanente Nachfragen erweitert. Bestandteile des Leitfadens beziehen sich unter anderem darauf, welche Bedeutung Gesundheit im Unternehmen spielt und wie diese sich z.B. durch Maßnahmen und Programme äußert. Außerdem soll das Verhältnis zu den Versicherten angesprochen werden: wie können sie erreicht werden und wie nehmen sie Angebote auf. Ebenso werden die Aufgaben der Krankenkasse innerhalb der Gesundheitsförderung und Prävention thematisiert.
Die offenen Fragen beabsichtigen eine möglichst freie Erzählung der Interviewpartner, die nicht durch vorformulierte Fragen gestört werden soll. Der Erzählfluss wird dabei durch themenbezogene, vertiefende Nachfragen aufrechterhalten. Zu Anfang des Interviews gibt es zunächst die Information, dass das Interview im Rahmen einer Abschlussarbeit innerhalb der Leibniz Universität Hannover geführt wird, dass alle Daten streng vertraulich behandelt werden, sowie ein Hinweis auf die Tonbandaufnahme während des Interviews. Als Gesprächseinstieg dient die Frage nach den Aufgabenbereichen und Tätigkeiten des Befragten. Die folgende Beschreibung wird durch weitere Nachfragen der Interviewerin fortgeführt, die dann besonders den Themenbereich Gesundheit und Prävention umfassen. Der Kommunikationsstil, d.h. das Interviewverhalten ist hierbei als weich einzustufen, um eine lockere, vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der die Erzählbereitschaft gesteigert wird und ein 'natürlicher' Interaktionsfluss erreicht wird.
Die Tonbandaufzeichnungen der Gespräche wurden anschließend aufbereitet und ausgewertet, die entsprechende methodische Vorgehensweise wird im nächsten Abschnitt dargelegt.
Als Auswertungsmethode wird die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack (2009) gewählt, denn ihr Ziel ist die Rekonstruktion des handlungsleitenden Wissens. Zuvor werden die Tonbandaufzeichnungen jedoch vollständig transkribiert, um die Kommunikation zu fixieren und die Interviews kritisch nachvollziehen zu können und die methodische Sicherheit zu erhöhen. Bei der Verschriftlichung wird das vereinfachte Transkriptionssystem nach Dresing/Pehl (2013) genutzt, das für eine bessere Verständlichkeit sorgt, aber keine Auswirkungen auf den Inhalt hat. Das vorliegende empirische Material wird nun systematisch analysiert, wobei die Analyse über den manifesten Inhalt hinaus gehen soll und latentes Wissen hervorbringen soll. Dabei bietet sich die dokumentarische Methode an, die einen methodisch kontrollierten Zugang zu diesem Wissen eröffnet.
Die Prämisse der Methode liegt in der Unterscheidung von kommunikativtheoretischem Wissen einerseits und dem impliziten atheoretischen-konjunktivem Wissen andererseits. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Forschung das in die Alltagspraxis eingelassene implizite 'stillschweigende' Wissen: "es handelt sich um ein Wissen, welches von den Erforschten selbst nicht so ohne weiteres auf den Begriff gebracht, also begrifflich-theoretisch expliziert werden kann" (Bohnsack 2009: 324). Diese Explikation und Rekonstruktion des handlungsleitenden Wissens ist die Aufgabe und Leistung der dokumentarischen Methode. Die Sinnstruktur ist bei den Akteuren zwar wissensmäßig repräsentiert, aber ohne Gegenstand der Reflexion zu sein. Von Interesse sind die mit den Erzählungen verbundenen Orientierungen, diese Orientierungsmuster verleihen dem Handeln Dauer und Kontinuität.
Die Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode gliedern sich in die formulierende und reflektierende Interpretation. Im ersten Schritt wird durch den Inhalt das kommunikativ-generalisierte Wissen rekonstruiert. Ziel ist es, die verschiedenen im Material befindlichen Themen herauszufiltern und diese in Beziehung zueinander zu setzen. Es folgt eine induktive sowie deduktive Kategorienentwicklung, bei der Auswertungsaspekte sowohl aus dem Material heraus entwickelt werden, als auch aus der Fragestellung abgeleitete und theoretisch begründete Gesichtspunkte, die auch im Leitfaden formuliert wurden oder zu welchen Themen sich besonders aus- führlich geäußert wurde. Die Abstraktion des Materials führte zu thematischen Verläufen, die anzeigen welche Aspekte von besonderer Bedeutung sind. Diese markanten Themen werden zunächst inhaltlich zusammengefasst, dazu gehören unter anderem die Bedeutung von Gesundheit, gesundheitsfördernde Maßnahmen, das Verhältnis zu den Versicherten sowie die Wettbewerbssituation der Krankenkassen, der gesetzliche Auftrag und Präventionsangebote in Lebenswelten, vor allem in Schulen.
Die daran anschließende reflektierende Interpretation schafft als nächsten Schritt Zugang zum konjunktiven Erfahrungswissen, das über den Inhalt hinaus geht. Im Mittelpunkt steht der Orientierungsrahmen, in dem ein Thema bearbeitet wird (Frage nach dem Wie). Es soll identifiziert werden auf welche Art und Weise ein Thema oder eine Problemstellung innerhalb des Gesprächs bearbeitet wird und in welchem Prozess Handlungen hergestellt werden (Beobachtung zweiter Ordnung). Anknüpfend an die Forschungsfrage wird danach gesucht, wie die Befragten mit ihren Erzählungen die spezifische Umwelt konstruieren.
Die eben beschriebenen Schritte der Analyse werden im folgenden Kapital angewandt und näher erläutert.
Basierend auf dem erläuterten empirischen Gegenstand, der dargestellten theoretischen Grundlage sowie der hergeleiteten Forschungsfrage wird davon ausgegangen, dass Krankenkassen eine grundlegende Rolle bei der Konstruktion von Gesundheitskompetenz und somit auch bei der Gesundheitsförderung spielen. Die Krankenkasse wird dabei als formale Organisation betrachtet, die spezifischen Umwelterwartungen ausgesetzt ist und mit ihren Handlungen und Kommunikationen eine bestimmte Umwelt und ein bestimmtes Verständnis von Gesundheit konstruiert.
Das vorliegende empirische Material wird anhand der beschriebenen methodischen Vorgehensweise ausgewertet und zunächst nach Maßnahmen, Zielgruppen und Zielen, der Konstruktion von Gesundheit, Umwelterwartungen und Rollenerwartungen bzw. -darstellung und Schwierigkeiten hin untersucht. Wie bereits dargelegt wird in der formulierenden Interpretation überprüft über welche Themen in den Interviews gesprochen und in der reflektierenden Interpretation das handlungsleitende latente Wissen analysiert: wie äußern sich die Befragten über diese Themen. Die Beobachtung zweiter Ordnung ist der Kern der soziologischen Analyse.
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