Bachelorarbeit, 2020
48 Seiten, Note: 2,0
1. Vorwort
1.1. Apokalypse - Ursprünge, Bedeutung, Funktion
1.2. Die Apokalypse im Zeichen der Moderne
1.3. Arbeitsvorgehen und Textauswahl
2. Jakob van Hoddis: Weltende
2.1. Weltende : Bruch oder Aufbruch der bürgerlichen Welt?
2.2. Die groteske Apokalypse
3. Georg Heym: Der Gott der Stadt
3.1. Das apokalyptische Potential der Großstadtbeschreibung
3.2. Mythos und bedrohliche Dämonologie
4. Georg Trakl: Grodek
4.1. Exkurs: Die „persönliche Apokalypse“ Georg Trakls
4.2. Religiosität in Trakls Werk?
5. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Weltuntergang, Weltende, der Tag des Jüngsten Gerichts, Endzeiterwartung, Apokalypse. Die verschiedenen Möglichkeiten, das abrupte Ende der Welt zu umschreiben, sind scheinbar grenzenlos. Auch das 21. Jahrhundert ist in Literatur, Kunst, Film und Musik von dem Motiv der Apokalypse durchzogen. Sei es, dass Roland Emmerich in seinem Katastrophenfilm 2012 das auf Grundlage des Maya-Kalenders errechnete Weltende im Jahr 2012 aufgreift oder dass heutzutage die Berliner Hiphop-Gruppe K.I.Z. in ihrem Lied Hurra die Welt geht unter die Gesellschaftsform der Anarchie für erstrebenswert hält: Die Adaption ist teils angsteinflößend, teils verharmlosend komisch. Doch so vielfältig sich die alternativen Darstellungsweisen für ein katastro- phisches Untergangsszenario auch darstellen, so gemeinsam ist ihnen offensichtlich die Integration eines populären Motivs in den jeweiligen Genres. Populär meint zum einen - zumindest für die heutige Zeit - eine partikuläre Assoziation des Begriff Apokalypse mit Untergang und Chaos. Es ist geradezu bezeichnend, dass die Vorstellung von durcheinanderrennenden Menschenmassen oder von Naturkatastrophen, die all das in Trümmer schlagen, was den Bestand der gegenwärtigen Welt garantiert hat, so verbindlich zu sein scheint. Zum anderen bezieht sich die Popularität auf die Tatsache einer weit zurückreichenden Tradition des Apokalypse-Motivs. Denn zweifelsohne sind es die Inhalte „de[s] kanonische[n] alt- und neutestamentliche[n] Text- bestand[s] und seine Symbolressourcen“1, auf die Autoren, Regisseure und Künstler zurückgegriffen haben. Im Fokus stehen dabei vor allem die DanielApokalypse und die als letztes Buch des Neuen Testaments aufgeführte Offenbarung des Johannes. Valentin geht im religionsgeschichtlichen Kontext näher auf diese Definition ein:
Apokalyptik ist [die] textuell vermittelte Weissagung über eine generelle Verschlechterung der Zustände in Natur und Menschenleben bis hin zur völligen Katastrophe, die Auflösung menschlicher Bindungen und zunehmender Drangsale, das Einbrechen eines göttlichen Zeitalters [...]. Der darauffolgende Anbruch der endgültigen Heilszeit gilt oft als Wiederherstellung urzeitlich-paradiesischer Zustände.2
Zwei grundlegende Erkenntnisse müssen dabei festgehalten werden. Denn einerseits wird auf die Tatsache verwiesen, dass im theologischen Sinn die völlige Zerstörung gleichzeitig mit der prognostizierten Vorstellung einer veränderten, hoffnungsvoll erwarteten Welt einhergeht: die zwei-Äonen-Lehre.3 Die Apokalypse war also nichts anderes als eine Erlösungsvision, in der sich die notwendige Vernichtung verdorbener Zustände als essentiell für die Verbesserung ebenjener erwiesen hat.4 Andererseits - und das ist von großer Bedeutung - lässt sich daraus die Wichtigkeit zwischen Apokalyptik und textgebundener bzw. schriftlich formulierter Vermittlung ableiten. Das kann auch bei Jürgen Ebach beobachtet werden. Dieser geht scheinbar von der sachgemäßen Übersetzung des altgriechischen Wortes dnoKdkuyig aus - es bedeutet demnach die „,Enthüllung [und] Offenbarung‘ göttlicher Geheimnisse”5 - distanziert sich dann aber von ihr, indem er sie umformt und sich einer konkreten Funktionsbestimmung „apokalyptische[r] Literatur“6 widmet. Aus einem Grundrepertoire aus vier Verben bestehend, versuche sie den geheimen Verlauf der Geschichte zu enthüllen, die tatsächlichen Kräfte hinter den historischen und politischen Verhältnissen aufzudecken, die vordergründig bestehenden Macht- und Gewaltverhältnisse zu entlarven und die wahre Macht Gottes zu offenbaren.7
Die apokalyptische Literatur, die auf die jüdische Tradition zurückgeht, ist somit die Anprangerung der politischen Umstände, Transformation der historischen Ereignisse in die Heilsgeschichte Israels, die Zerstörung der bestehenden Welt durch das Eingreifen der Gottesmacht und Hoheitszuspruch an das jüdische Volk zugleich.8
Diese Funktionen erfüllt auch die christliche Offenbarung des Johannes. Zwar sei hier gesagt, dass zumeist nur spezifische Inhalte die Grundlage anderer apokalyptischer Texte darstellen, dass aber ihr Ruf als „einer der wirkungsmächtigsten und meistrezipierten Texte der Weltliteratur“9 nicht geschmälert wird. Doch was ist das Distinktive der inhaltlichen Ebene, dass sie als „modifizierte Wiederaufnahme in verschiedenen Epochen und Genres“10 zu finden ist?
Der Text als solcher, um 100 n. Chr. verfasst11, nimmt sich der Weltgeschichte zwischen Gott und seinem Gegenspieler bis zu ihrer Vollendung an.12 Man kann den Inhalt folgendermaßen zusammenfassen: Der Gemeinde Jesu Christi wird in verschiedenen Visionen offenbart, „was [in Kürze] folgen muss“13, um den Untergang des Römischen Reichs und die Auferstehung eines Neu-Jerusalems in Form eines von Gott einsetzenden Weltgerichts zu ge- währleisten.14 Sein Knecht Johannes sei dahingehend als „legitimierter Of- fenbarungsträger“15 zu verstehen, dem von Christus in einer ekstatischen Schau die Inhalte der Offenbarung kenntlich gemacht worden sind.
Die unmittelbare Einsicht des Johannes in das himmlische sowie das künftige Geschehen wird mit voller Bildgewalt in den verschiedensten Untergangsszenarien repräsentiert. Beispielhaft zu nennen ist hier das Öffnen eines Buches mit sieben Siegeln, wodurch die Menschen von Naturkatastrophen wie „Erdbeben, Sonnenverfinsterung [oder] Blutregen“16 heimgesucht werden. Aber auch die Posaunen- und Schalenvisionen, die sich durch Plagen wie Dürre, Hagel, alles versengendes Feuer und ausgelöschtes Leben in der Natur kennzeichnen, sind Teil von Gottes Endgericht. Dieses Endgericht konfrontiert das Volk mit dem größtmöglichen Übel, um der Unterjochung durch das römische Imperium ein Ende zu setzen und die neue Heilszeit mit dem neuen Jerusalem anbrechen zu lassen. Nachdem die tradierten Grundlagen der Apo- kalyptik erläutert wurden, sollen im nächsten Teilkapitel die verschiedenen Entwicklungen und Tendenzen, die die Aufnahme des Apokalypse-Motivs in die Literatur der Moderne begründen, dargestellt werden.
Wer das Wort Apokalypse nur im Hinblick auf einen religiösen Kontext verwendet, der irrt und ist sich offenbar nicht bewusst, in welch enger Verwobenheit die jüngere Vergangenheit oder gar die Umstände, in denen er oder sie sich befindet, mit ihm oder ihr stehen. Denn gerade der heutige Gebrauch des Wortes entfernt sich deutlich vom biblischen Verständnis, das das Ende der Welt mit Gottes Gericht korrelieren lässt.17 Der Ursprung dieser Entwicklung fußt vor allem auf einem „zivilisatorischen Prozess“18, wie Kesting anmerkt. Dieser sei insbesondere um das Jahr 1900 so weit fortgeschritten, dass die Menschen durch die eigens geschaffenen technisch-industriellen Grundlagen ihren Untergang selbst herbeiführen könnten.19 Wenn sich aber Züge der Apokalypse in der modernen Gesellschaft beobachten lassen, müssen entsprechende Modernisierungsprozesse in Gang gesetzt worden sein, die als Auslöser in Betracht gezogen werden können. Ausgehend von Anz sind derartige Vorgänge als Bestandteil der zivilisatorischen Moderne zu erachten, „einer sich seit dem Jahrhundert der Aufklärung rapide beschleunigt ha- ben[den]“20 Reihe von diversen Entwicklungsschritten. Nicht nur Prozesse der Rationalisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung werden von einer Modernisierung erfasst, sondern ebenso der geisteswissenschaftliche Bereich.
In Abgrenzung zur zivilisatorischen Moderne avanciert der Begriff der ästhetischen Moderne zum großen Gegenspieler, zumal sich seine Eigenart in den künstlerischen Ausdrucksformen der Literatur, Malerei, Musik oder Architektur zeigt. Hierin müsse man ihn „in jedem Fall [als] ambivalente Reaktion auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse begreifen“21, der in gleicher Weise „in einem spannungsvollen Verhältnis [zu ihnen steht].“22 Obwohl Anz anmerkt, dass dieses Verhältnis sowohl von Affinitäten als auch Differenzen geprägt sei23, lässt sich eine überwiegende Abneigung gegenüber der Modernität - gerade in der Literatur des Expressionismus - nicht leugnen:
Die ästhetische Modernität von der Art, wie sie durch Werke von [...] vielen [...] Autoren aus dem Umkreis des Expressionismus repräsentiert wird, besteht nicht zuletzt darin, daß sie sich [.] den zivilisatorischen Modernisierungsprozessen thematisch und formal zu stellen versucht, sie nachdrücklich in sich aufnimmt - und gleichzeitig [.] gegen sie opponiert [.].24
Einen intensiven Anreiz für eine sich meist negativ darstellende Erfahrung vieler Autoren schafft der urbane bzw. städtische Raum, der aufgrund einsetzender Veränderungen in der Gesellschaft einem spürbaren Wandel unterliegt. Nicht zuletzt am Beispiel der Großstadt Berlin kann beobachtet werden, wie eine starke Binnenwanderung der Menschen vom Land in die industrialisierten Regionen einsetzte, weil sie sich dort eine bessere Erwerbsgrundlage erhofften.25 Die „zwangsläufige Folge der Mechanisierung und Industrialisierung ist eine geradezu polypenartige Ausdehnung der Großstädte.“26 Der Zeitraum zwischen den Jahren 1871 und 1910 wird zu einer entscheidenden Phase, zeichnet sich hier doch der starke Zuwachs an Menschen in den deutschen Großstädten ab. Zwar muss im Hinblick auf das schon angesprochene Beispiel Berlin dabei berücksichtigt werden, dass ein solches Bevölkerungswachstum in diesem Zeitraum (von ca. 900.000 auf ca. 3.400.000) auch die umliegenden Gemeinden und neuansässigen Stadtteile miteinbezieht27, aber dennoch die Vorstellung eines sich zentrierenden Ballungsraums nicht ausbleibt.
So solide das urbane Gebilde, das scheinbar von seinen neuen Errungenschaften gestützt wird, in dieser Phase auch sein mag, so sehr schwankt es aufgrund der gespaltenen Empfindungen ihnen gegenüber. Wie in obigem Zitat bereits erkenntlich wird, perspektivieren expressionistische Autoren ihre Eindrücke meist, indem sie einen opponierenden Stil pflegen. Einer zwingenden Erwähnung bedürfen hier die Endzeitvisionen und aufkommenden Untergangsstimmungen, die sich in einer für die Jahrhundertwende typischen „apokalypti- sche[n] Sensibilität“28 niederschlagen. Denn das Aufkommen der Massengesellschaft steht in einem unmittelbaren Verhältnis mit einer wachsenden Orientierungslosigkeit des Individuums. „Der schnelle Wechsel der Ereignisse, die enorme Fülle der [...] Eindrücke und die hektische Aufgeregtheit“29, aber auch die Angst, als ohnmächtiges Wesen im Chaos der Großstadt zu vereinsamen und unterzugehen, drängen gerade Künstler dazu, ihre Umgebung als feindlich einzuordnen und ihren Werken einen apokalyptischen Stempel auf- zudrücken.30
Trotz klar erkennbarer Tendenzen, die Großstadtwelt als Hauptauslöser für apokalyptisches Schreiben anzusehen, schlägt sich das abendländische Bewusstsein auch anderweitig nieder. Denn bereits ab 1909/10 reagierte der Expressionismus auf eine weltpolitisch bedrohliche Situation, die seit den beiden Marokkokrisen von 1905/6 und 1911 in der Luft gelegen habe.31 Zu nennen sind hier die Werke, die sich auf die Vorwegnahme und die Erfahrungen des Krieges konzentrieren. Bogner merkt dazu an, dass der Gang in den Krieg von vielen Schriftstellern euphorisch begrüßt und im Voraus ästhetisiert worden sei, da sie sich eine Flucht aus dem öden Großstadtleben erhofften.32 Auch von Vietta wird eine ähnliche Einschätzung vorgenommen: „Mit ihrem ,brachliegenden Enthousiasmus [sic!] in dieser banalen Zeit‘ hungerte[n] sie nach Ereignissen, die jene ,banale Zeit‘ aufbrächen.“33 Es war allerdings nicht nur die reine Freude über den bevorstehenden Krieg, die vorherrschend war. Noch vielmehr inkludierten sie apokalyptisches Gedankengut in ihre tollkühnen Vorstellungen: Der Krieg wurde als Mittel zur Herbeiführung des Untergangs der alten Welt und zum Anbruch einer neuen Welt herbeigewünscht.34 Während unter anderem Gottfried Benn und auch Alfred Döblin zu den enthusiastischen Kriegsbefürwortern und sogar -teilnehmern gehört hätten35, hätte sich die über die Landesgrenzen hinausgehende Freude über den Kriegsausbruch durch die reale Kriegserfahrung bei manch einsichtigen Leuten auch schnell wieder gelegt.36 Oftmals sind es die subjektive Erlebnisperspektive und Eindrücke aus dem Kriegsgeschehen, die sich in den meisten Gedichten wiederfinden.37 Bei genauerer Betrachtung der Gedichte aus Viettas Anthologie stechen auch hier messianische Erlösungsvisionen heraus, die mit einer Reihe von Beschreibungen kombiniert werden, wie man sie auch in der Offenbarung des Johannes hätte erwarten können. Beispielsweise finden sich, wie in Oskar Kanehls Gedicht Schlachtfeld, Passagen, in denen „[m]ilitäri- sche Einheiten [.] die Funktion der biblischen Kämpfer [übernehmen]“38 : „Dunkle Meldereiter galoppieren / mit neuen Mordbefehlen.“39 Eine weitere Dimension, die sich an die Beschreibungen des Johannes anlehnt, ist die veränderte Gestalt der Erde. In Walter Hasenclevers Gedicht 1915 heißt es in einem Vers: „Der Erde Bauch bricht Blut.“40 Eine komparable Beschreibung findet man ebenso im biblischen Text. Zuletzt sei noch auf Alfred Lichtenstein verwiesen. Dessen Wortgewandtheit schafft eine immense Reichhaltigkeit an zerstörerisch wirkenden Darstellungen: „Finster wird der Himmelsklumpen, / [.] / Fische faulen in dem Flusse. / Alles nimmt sein ekles Ende.“41 Durch ebenjene Verse aus dessen Gedicht Prophezeiung wird eine starke Anlehnung an die Schalenvisionen aus der Apokalypse des Johannes deutlich.
Die tief schlagenden Wurzeln des Apokalypse-Motivs in der Literatur des (Früh-)Expressionismus, in besonders nachhaltiger Ausprägung in der zeitgenössischen Lyrik, kommen also nicht von ungefähr. In den expressionistischen Werken scheint es in überwiegend düsterem Gewand zu erscheinen, wodurch apokalyptische Visionen eine neue Qualität bekommen. Während in den Apokalypsen zurückliegender Epochen eine Verbesserung der Zustände prognostiziert wird, vernachlässigen Schriftsteller der vergangenen Jahrzehnte den Aspekt einer Erlösung offenbar.42 Insbesondere die Generation des Frühexpressionismus, die Schriftsteller wie Jakob van Hoddis, Georg Heym und Georg Trakl hervorgebracht hat, erahnen oder greifen die Apokalypse in ihrer Untergangslyrik noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf.43 Ziel dieser Arbeit wird es nun sein, die verschiedenen Umgangsformen mit dem Apokalypse-Motiv ebenjener drei frühexpressionistischen Lyriker anhand von drei Gedichten darzustellen.
Ist der Untergang in der expressionistischen Lyrik wirklich endgültig? Hat der Mensch trotz des Endes der Welt keinen Grund zur Hoffnung? Oder stellt das Ende doch keinen totalen Bruch, sondern vielmehr einen Aufbruch dar? Um diese Frage adäquat beantworten zu können, ziehe ich im dreigliedrigen Hauptteil zunächst das Gedicht Weltende von Jakob van Hoddis hinzu. Im Mittelpunkt stehen dabei einerseits die bereits genannten Fragen. Es soll - unter anderem mithilfe des Aufsatzes von Wolfgang Müller-Funk - geklärt werden, ob das Gedicht van Hoddis‘ einen totalen Bruch bzw. ein unwiderrufliches Ende der zivilisatorischen Welt darlegt oder ob ihm vielmehr der Aufbruchswunsch zu einem neuen gesellschaftlichen Dasein innewohnt. Ein zweiter Untersuchungsschwerpunkt in diesem Gedicht soll das Groteske in der herrschenden Angst des Weltuntergangs sein. Dafür widme ich mich der Frage, auf welche Art und Weise van Hoddis diese Angst bedient und versucht eine humoristische Parodie davon zu erzeugen. Das zweite Kapitel des Hauptteils beschäftigt sich thematisch mit einem der prägendsten Großstadtgedichte des Frühexpressionismus: Der Gott der Stadt von Georg Heym. Der Fokus des ersten Teilkapitels beschränkt sich zunächst auf die konkrete apokalyptische Beschreibung der Stadt und auf die urbanen und industrialisierten Faktoren. Darauf aufbauend wird in einem weiteren Schritt geklärt, warum gerade dämonische Gestalten als Vermittler oder Boten des Untergangs gewählt werden. Ebenso soll hier auch der Blick für die Sprache Heyms geschärft werden. Im dritten, den Hauptteil beendenden Kapitel, soll die Apokalypse vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs im Gedicht Grodek von Georg Trakl analysiert werden. Zunächst nehme ich einen historisch-biografischen Exkurs vor und widme mich danach den religiösen Zügen des Gedichts, ehe ich in einer Schlussbetrachtung der Arbeit noch eine übersichtliche Darstellung der Arbeitsergebnisse zu liefern versuche.
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.44
Jakob van Hoddis‘ Gedicht Weltende gilt zweifelsohne „als das meistzitierte Gedicht des Expressionismus“45. Erstmals erschien es am 11. Januar 1911 in der Zeitschrift Der Demokrat und genießt seither die Frontstellung in Kurt Pinthus‘ Anthologie Menschheitsdämmerung. Für realistisch gehalten wird in der jüngeren Forschung eine Entstehungszeit Anfang oder Mitte des Jahres 1910, gibt es doch aussagekräftige Übereinstimmungen mit zeitgeschichtlichem Geschehen, von dem im Mai desselben Jahres berichtet wird.46 Zu nennen sind Zeitungsberichte über Fluten und Überschwemmungen, die drohende Vernichtung der Erde durch den Halleyschen Kometen sowie etwaige Meldungen von Sturmschäden und Zugunglücken.47 Tatsächlich ist eine nicht außer Acht zu lassende Deckungsgleichheit zwischen dem Inhalt des Gedichts und den entsprechenden Zeitungsberichten zu erkennen. Dieser lässt sich in komprimierter Form wie folgt zusammenfassen: Die erste Strophe skizziert das Eintreffen einer Katastrophe. Diese kündigt sich zunächst durch die Zunahme der Windgeschwindigkeit an (vgl. V. 1), die „Abwehrmaßnahmen der Dachdecker [.] kommen zu spät und lassen sich nicht mehr durch- führen“48 (vgl. V. 2) und Zeitungsberichte vermelden das Ansteigen des Meeresspiegels (vgl. V.4). Strophe zwei beschreibt die Anwesenheit der Katastrophe: „Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land / [.] / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken“ (V. 5-8).
Seine unauffällige Form umschließt zwei Strophen mit jeweils vier Versen. Die erste Strophe ist durch das Reimschema des umarmenden Reims gefügt, die zweite durch das des Kreuzreims. Als Metrum lässt sich der fünfhebige Jambus erkennen, der in der ersten Strophe mit einer männlichen Kadenz und in der zweiten mit einer weiblichen Kadenz einhergeht. Auffällig ist also eine konventionelle, geordnete Form, die im starken Widerspruch zum chaotischen Inhalt des Gedichts zu stehen scheint. Dieser Eindruck darf allerdings
[...]
1 Valentin, Joachim: Eschatologie. Paderborn et al.: Schöningh 2013 (= Gegenwärtig Glauben denken 11). S. 14.
2 Ebd., S. 15.
3 Vgl. Stegemann Hartmut: Jüdische Apokalyptik. Anfang und ursprüngliche Bedeutung. In: Jüngste Tage. Die Gegenwart der Apokalyptik. Hrsg. von Michael N. Ebertz u. Reinhold Zwick. Freiburg i. Br. et al: Herder 1999. S. 30-49, S. 31.
4 Vgl. Vondung, Klaus: Mystik und Moderne. Literarische Apokalyptik in der Zeit des Expressionismus. In: Die Modernität des Expressionismus. Hrsg. von Thomas Anz u. Michael Stark. Stuttgart et al.: Metzler 1994. S. 142-150, S. 142.
5 Lanczkowski, Günter: Apokalyptik/Apokalypsen, I. Religionsgeschichtlich. In: TRE Bd. 3. Berlin: de Gruyter 1978. S. 189-191, S. 189.
6 Ebach, Jürgen: Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung. In: Einwürfe 2 (1985). S. 561, S. 12.
7 Ebd.
8 Vgl. Vietta, Silvio: Visionäre Funktionen: Utopie und Apokalypse. In: Literatur und Rationalität. Funktionen der Literatur in der europäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von dems. München: Fink 2014. S. 123-146, S. 132f.
9 Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar. Hrsg. von Stefan Alkier u. Thomas Paulsen. Paderborn: Brill et al. 2020 (= Frankfurter Neues Testament 1). S.1.
10 Valentin: Eschatologie. S. 15.
11 Vgl. Vietta: Utopie und Apokalypse. S. 133.
12 Vgl. Valentin: Eschatologie. S. 15.
13 Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar. S. 45.
14 Vgl. Vietta, Silvio: Utopie und Apokalypse. S. 133.
15 Strobel: Apokalypse des Johannes. In: TRE Bd. 3. Berlin: de Gruyter 1978. S. 174-188. S. 176.
16 Vietta: Utopie und Apokalypse. S. 134.
17 Vgl. Kesting, Marianne: Warten auf das Ende. Apokalypse und Endzeit in der Moderne. In: Poesie der Apokalypse. Hrsg. von Gerhard R. Kaiser. Würzburg: Königshausen & Neumann 1991. S. 169-186, S. 169.
18 Ebd.
19 Vgl. ebd.
20 Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart et al.: Metzler 2010 (= Sammlung Metzler 329). S. 18.
21 Anz, Thomas u. Michael Stark.: Vorwort. In: Die Modernität des Expressionismus. Hrsg. von dens. Stuttgart et al.: Metzler 1994 (= Metzler-Studienausgabe). S. VII-IX, S. VIII.
22 Anz, Thomas: Gesellschaftliche Modernisierung, literarische Moderne und philosophische Postmoderne. Fünf Thesen. In: Die Modernität des Expressionismus. Hrsg. von dems. u. Michael Stark. Stuttgart et al.: Metzler 1994 (= Metzler-Studienausgabe). S. 1-7, S.3.
23 Vgl. ebd.
24 Anz: Gesellschaftliche Modernisierung, literarische Moderne und philosophische Postmoderne. S. 3.
25 Vgl. Siefert, Christa: Die Industrialisierung in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Eine Analyse ausgewählter Texte Gerhart Hauptmanns, Heinrich Manns und Georg Heyms. Bochum: Brockmeyer 1995 (= Bochumer germanistische Studien 5). S. 1f.
26 Jurkat, Angela: Apokalypse. Endzeitstimmung in Kunst und Literatur des Expressionismus. Alfter: VDG 1993. S. 48.
27 Vgl. Siefert: Die Industrialisierung in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. S. 2.
28 Kuschel, Karl-Josef: Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Düsseldorf: Patmos 1997. S. 73.
29 Jurkat: Apokalypse. S. 48.
30 Vgl. ebd.
31 Vgl. Vietta: Utopie und Apokalypse. S. 139.
32 Vgl. Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des Expressionismus. 2. Aufl. Darmstadt: WBG 2016 (= Einführungen Germanistik). S. 69.
33 Lyrik des Expressionismus. Hrsg. von Silvio Vietta. 4., verb. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1999. S. 117f.
34 Vgl. Vondung: Mystik und Moderne. S. 145.
35 Vgl. Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des Expressionismus. S. 69.
36 Vgl. Lyrik des Expressionismus. S. 118.
37 Vgl. ebd.
38 Zawodny, Angelika: „[.] erbau ich täglich euch den allerjüngsten Tag.“ Spuren der Apokalypse in expressionistischer Lyrik. https://d-nb.info/96016166X/34 (05.10.2020). S. 253.
39 Lyrik des Expressionismus. S 128.
40 Ebd., S. 136.
41 Ebd., S. 122f.
42 Vgl. Jablkowska, Joanna: Einleitung. In: Apokalyptische Visionen in der deutschen Literatur. Hrsg. von ders. Lódz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lódzkiego 1996. S. 5-7, S. 6.
43 Vgl. Kuschel: Im Spiegel der Dichter. S. 74.
44 Die Fassung dieses Gedichts wird zitiert nach der Anthologie von Vietta: Lyrik des Expressionismus. S. 93.
45 Giese, Peter Christian: Interpretationshilfen Lyrik des Expressionismus. Stuttgart et al.: Klett 1992. S. 96.
46 Vgl. Nau, Anne-Christin: Schizophrenie als literarische Wahrnehmungsstruktur am Beispiel der Lyrik von Jakob Michael Reinhold Lenz und Jakob van Hoddis. Frankfurt a. M. et al.: Lang 2003. S. 303f.
47 Vgl. ebd.
48 Giese: Interpretationshilfen Lyrik des Expressionismus. S. 97.
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