Masterarbeit, 2018
81 Seiten, Note: 1,9
Kurzfassung
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Vorgehensweise
2 Industrie 4.0
2.1 Veränderungstreiber und die Folgen für die Materialbereitstellung
2.2 Cyber-physische Systeme
2.3 Dezentralisierung und Selbststeuerung
2.4 Fazit zur Industrie
3 Grundlagen der Materialbereitstellung
3.1 Begriffsabgrenzung:
3.2 Aufgaben und Funktionen
3.3 Relevante Prinzipien
3.4 Relevante Strategien
4 Anforderungen für die zukünftige Materialbereitstellung
4.1 Komplexität mit Multiagentensystem handhaben
5 Stand der Technik
6 Grundlagen der Agenten / Multiagentensysteme
6.1 Definitionen
6.2 Logistisch Relevante Merkmale der Agenten
6.3 Grundlegende Agentenstruktur / -Architektur
6.4 Kommunikation
6.5 Interaktionskonzepte im Multiagentensystem
6.6 Konzeption dezentral gesteuerte Logistikprozesse mit Agentensystemen
7 Ausarbeitung eines dezentralen Steuerungskonzepts zur Materialbereitstellung mit Agenten im CPPS
7.1 Strukturelle Rahmenbedingungen
7.2 Entitäten / Sofitwareagenten / Bestandsarten
7.3 UML-Sequenzdiagramm für Nachschub
7.4 Versorgungsablauf mit Ereignisgesteuerter Prozesskette
7.4.1 Bedarfsauslösung
7.4.2 Bestandsprüfung & Möglichkeit der Auftragsreihenfolgenänderung
7.4.3 Ausschreibung
7.4.4 Fähigkeitsprüfung
7.4.5 Angebotsberechnung
7.4.6 Angebotsbewertung
7.4.7 Reservierung der der Teile
7.4.8 Durchführung
7.5 UML-Sequenzdiagramm für Entsorgung
7.6 Entsorgungsablauf mit EPK
7.6.1 Entsorgungsauslösung und Zielortbestimmung
7.6.2 Ausschreibung und Fähigkeitsprüfung
7.6.3 Angebotserstellung und -bewertung
7.6.4 Zuschlag / Bestätigung / Reservierung und Durchführung
7.7 Zusammenfassung
8 Theoretischer Versuchsplan
8.1 Kenngrößen
8.2 Versuchsplan des neuen Konzepts
8.2.1 Teileliste: Hexacopter und Quadrocopter
8.2.2 Montageanweisungen Hexacopter und Quadrocopter
8.2.3 Fähigkeiten der Arbeitsstationen und Teilezuweisung
8.2.4 Zuweisung der Kundenanonymen Teile zu den Arbeitsstationen
8.2.5 FTF-Agenten
8.2.6 Lager, Kommissionierung, Mitarbeiter & Tablet
8.2.7 Multiagentenverhandlung
8.3 Versuchsplan Klassische Materialbereitstellung
8.4 Vorbereitung & Durchführung der Messung
9 Fazit
10 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
Ausarbeitung eines dezentralen Steuerungskonzepts zur Materialbereitstellung im cyber-physischen Produktionssystem
Toni Nguyen
Die vorliegende Arbeitet thematisiert die Materialbereitstellung im cyber-physischen Produktionssystemen. Das Ziel ist die Entwicklung eines Steuerungskonzeptes zur Ver- und Entsorgung von frei verketteten Arbeitsstationen in der Einzel- und Serienfertigung mit einem zellulären Transportsystem. Zunächst wurden die Herausforderungen für die Produktion von morgen aus den Trends der Kundenanforderungen abgeleitet und auf die Materialbereitstellung übertragen. Dabei war eines der entscheidenden Punkte der Umgang mit der Systemkomplexität. Es stellte sich heraus, dass die Steuerung dezentral erfolgen muss und dies in der Materialbereitstellung realisiert werden kann, indem cyber-physische Systeme, gesteuert durch ein Multiagentensystem eingesetzt werden. Für die Darstellung des Ablaufs und der Verhandlungen der Agenten zur Entscheidungsfindung wurden die Prozesse in zwei ereignisgesteuerten-Prozessketten, sowie in UML-Sequenzdiagrammen jeweils für die Ver- und Entsorgung modelliert. Beide Darstellungsweisen ergänzen sich, wobei die EPKs die Algorithmen beinhalten, während hingegen die UML-Sequenzdiagramme die Rollen und somit die Beziehungen der Agenten untereinander übersichtlich darstellen. Das Steuerungskonzept zeigt, wie die Versorgungs- und Entsorgungsabläufe einer dezentral gesteuerten Materialbereitstellung, die den Komplexitäts- und Flexibilitätsanforderungen gerecht wird ausschauen könnte. Zum Ende hin wurde ein theoretischer Versuchsplan erstellt, mit dem man das Konzept testen und im Vergleich zu einer klassischen Materialbereitstellung evaluieren kann.
Deutschland ist eines der führenden Industrienationen weltweit. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung betrug 23,4% im Jahr 20171, ebenso wurden im gleichen Zeitraum Waren im Wert von 1279,07 Milliarden Euro exportiert, wodurch Deutschland der drittgrößte Exporteur weltweit ist2. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, wie wichtig die Produktion für das Wachstum, die Beschäftigung und den Wohlstand ist. Um diese Position zu halten, oder weiter auszubauen muss sich in den nächsten Jahren die Industrie weiterentwickeln und ihre Innovationspotenziale nutzen.
Die Produktlebenszyklen werden kürzer und die Kundenanforderungen, sowie der Wettbewerbsdruck steigen, so dass der Markt nach individuelleren Gütern bei gleichbleibender Qualität und gleichzeitig kürzerer Lieferzeit verlangt. Die Folge ist eine komplexere Herstellung der Produkte. Die Losgrößen werden geringer (bis zu Losgröße 1) und die Zahl der Varianten wird höher, wodurch die Produktionssysteme flexibler werden müssen, damit sie mit dem höchst volatilen Markt umgehen können.
Die industrielle Fertigung verspricht den künftigen Anforderungen, mithilfe der sogenannten vierten industriellen Revolution in den nächsten Jahren gerecht zu werden. Industrie 4.0 ermöglicht es den Unternehmen schnell und flexibel auf den Markt zu reagieren und dabei kundenindividuelle Produkte zu den Kosten eines Massenproduktes herstellen zu können, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Die Produkte werden sich mit den Maschinen und Transportsystemen abstimmen und sich selbst organisieren können. Grundlage dafür ist die Vernetzung, durch den flächendeckenden Einzug von Informations- und Kommunikationstechnik. Die Entitäten - sogenannte Cyber-Physische-Systeme (CPS) in der intelligenten Fabrik sind mit Sensoren, Mikrochips und Funktechnik ausgestattet. Die benötigten Daten können in Echtzeit erfasst, verarbeitet und ausgetauscht werden. Die CPS treffen ihre Entscheidungen auf lokaler Ebene und können selbständig Störungen erkennen und diese lösen3. Diese Idee der Selbststeuerung scheint als neues Steuerungsparadigma geeignet zu sein, da es mit ihr möglich ist die oben genannte Komplexität und Dynamik auf einfache Art und Weise handhabbar zu machen. Für die Produktion der Zukunft bedeutet dies, eine dezentrale Koordination autonomer Objekte in einer heterarchischen Organisationsstruktur. Demzufolge muss die Materialbereitstellung für die Fertigung dezentralisiert werden. Die Grundidee ist das autonome Entscheiden von logistischen Objekten in einer dynamischen Umgebung. Aus diesem Grund wird ein Konzept für die Selbststeuerung in der Materialbereitstellung benötigt4. Hier setzt die Arbeit an
Hohe Nachfrageschwankungen und steigende Komplexität erschweren es effiziente und robuste logistische Prozesse mit zentralisierten traditionellen Planungs- und Steuerungsmethoden zu realisieren5. Die Komplexität der logistischen Systeme steigt aufgrund des hohen Individualisierungsgrad der Produkte und der sich stetig ändernden Kundenanforderungen. Aufgrund dessen wird die Aufnahme und Verarbeitung von für Entscheidungen benötigte Daten für zentrale Planung- und Steuerungsstrukturen schwieriger6. Aus diesem Grund beschäftigt sich die Masterarbeit mit der Erstellung eines dezentralen gesteuerten Materialbereitstellungskonzepts im Cyber- Physischen Produktionssystem. Die Idee der dezentralen Steuerung besteht darin, einzelne Teilprobleme mithilfe lokal verfügbarer Informationen zu lösen. Dadurch ergeben sich verschiedene Vorteile gegenüber einer zentralen Planungs- und Steuerungsinstanz, die ein Gesamtproblem löst. Es kann schneller auf Veränderungen im System reagiert werden und der Aufwand für Neuplanungen wird verringert. Die Komplexität und Dynamik werden somit handhabbar7. Ziel der Arbeit ist es ein Konzept für eine dezentrale gesteuerte Materialbereitstellung zu entwickeln. Dabei sollen folgende Forschungsfragen und -Aufgaben erarbeitet werden.
Forschungsfragen:
1. Welche neuen Anforderungen für die Materialbereitstellung der Zukunft ergeben sich aus den Veränderungstreiben?
2. Welche Methode ist als Steuerung geeignet?
3. Wie soll die Materialbereitstellung ablaufen und wie können diese Prozesse dargestellt werden?
4. Wird das neu entwickelte Konzept den Anforderungen gerecht?
Um die zuvor beschriebene Problemstellung anzugehen, müssen differente Themen erörtert werden, so dass die Arbeit in 8 Kapitel gegliedert ist.
Im ersten Kapitel werden, sowohl die Hintergründe über die Wichtigkeit der Produktion in Deutschland, als auch die Veränderungstreiber der steigenden Komplexität veranschaulicht.
In Kapitel 2 wird konkretisiert, wie sich diese zunehmende Komplexität in der Fertigung auf die Materiabereitstellung auswirkt. Anschließend wird darauf eingegangen welche Möglichkeiten die CPS bieten, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Dabei liegt der Fokus auf der Selbststeuerung, welche für eine dezentrale Materialbereitstellung notwendig ist8
Im Rahmen des dritten Kapitels werden, einerseits die verschiedenen wichtigsten Materialbereitstellungstrategien und -prinzipien erörtert, anderseits werden auch die neuen Anforderungen für die Materialbereitstellung der Zukunft definiert und es wird darauf eingegangen, warum das Multiagentensystem die dafür geeignete Steuerungsmethode ist, um mit der gestiegenen Komplexität umgehen zu können.
In Kapitel 4 wird der Stand der Technik betrachtet. Das heiß, es werden verschiedene Arbeiten, wie Dissertationen und Projekte, die sich mit dem gleichen Themengebiet beschäftigen vorgestellt und deren Unterschiede zu dieser Arbeit erklärt.
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den Grundlagen der Agenten bzw. des Multiagentensystems. Es werden die Themen, welche für die Erarbeitung des Konzepts notwendig sind ausgearbeitet. Dabei werden, sowohl die Definitionen und logistisch relevanten Merkmale der Agenten betrachtet, als auch die Grundlegenden Strukturen, Kommunikations- und Interaktionskonzepte innerhalb eine Multiagentensystems vorgestellt. Am Ende des Kapitels wird auf das grundsätzliche Vorgehen zur Erstellung von dezentral gesteuerten Logistikkonzepten eingegangen.
Im Teil 6 der Arbeit findet die Entwicklung des Materialbereitstellungskonzeptes statt. Aufgeteilt ist das Konzept in die beiden Abläufe, Ver- und Entsorgung. Diese Abläufe werden jeweils in einer EPK und einem UML-Sequenzdiagramm modelliert, wobei die EPK und das UML- Sequenzdiagramm sich gegenseitig ergänzen. Zu Beginn der Konzeptionierung müssen die strukturellen Rahmenbedingungen gesetzt werden, indem Annahmen über die Entitäten und Prämissen getroffen werden. Es soll sich z.B. bewusst nicht mit den technischen Details befasst werden, stattdessen soll der Fokus auf der Entwicklung des grundsätzlichen Ablaufs liegen. Es wird angenommen, dass der technische Fortschritt bei den Informations- und Kommunikationstechnologien und den damit verbundenen Möglichkeiten weiter vonstattengeht, welche für die technische Realisierung von dezentralen Steuerungskonzepten im Allgemeinen notwendig sind9. Es werden zuerst die einzelnen Entitäten charakterisiert, indem ihre Fähigkeiten und Beziehungen zu anderen Entitäten beschrieben werden. Veranschaulicht wird das in einem übersichtlichen UML-Se- quenzdiagramm, um anschließend die detaillierten Abläufe in der EPK aufzuzeigen. Am Ende des Kapitels folgt eine Zusammenfassung des Konzepts.
Kapitel 7 beschreibt einen theoretischen Versuchsplan, wie man die Machbarkeit des Konzepts an dem Beispiel der Fertigung zweier Drohnen erproben könnte. Dazu werden die Teile klassifiziert (kundenanonym / kundenindividuell), die Montageschritte und kundenanonyme Teile den verschiedenen Arbeitsstationen zugewiesen und die zumessenden Kennzahlen definiert, sowie der Ablauf einer „klassischen“ Materialbereitstellung festgelegt, um das neue Konzept damit zu vergleichen.
Eine Zusammenfassung des Konzepts, sowie ein Ausblick werden im letzten Kapitel gegeben.
In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff Industrie 4.0 anhand von verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten erklärt. Danach werden die Veränderungstreiber und die daraus entstehenden Folgen für die Materialbereitstellung diskutiert, um anschließend auf die relevanten Themengebiete von Industrie 4.0, welche notwendig sind, um mit diesen neuen Herausforderungen für die Materialbereitstellung umgehen zu können einzugehen.
Industrie 4.0 ist eines der Zukunftsprojekte in der Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung. Projektziel ist, sowohl den Produktionsstandort zu stärken10, als auch einen Leitmarkt durch die die zunehmende Verwendung von CPS zu verwirklichen und der deutschen Ausrüsterindust- rie durch den Verkauf von CPS-Produkten und Technologien zu einem Leitmarktanbieter zu ermöglichen11.
Der Kemgedanke der vierten industriellen Revolution, die Fertigung IT-technisch zu vernetzen, bestand bereits in den 80er Jahren unter den allgemeinen Begriff Computer Integrated Manufacturing. Das CIM Konzept beinhaltete die komplette Automatisierung der Planung bis zur Produktion, vollständig durch Leitrechner gesteuert. Allerdings konnte das Konzept nicht erfolgreich umgesetzt werden, da zur damaligen Zeit die notwendigen Datensysteme, Datenübertragungstechnologien und Sensoren zu kostspielig und gleichzeitig zu leistungsarm waren12. Diese Technologien sind mittlerweile ausgereift und bezahlbar, um den nächsten Sprung zur vierten industriellen Revolution zu begünstigen. Industrie 4.0 ermöglicht viele verschiedene Anwendungen, Produkte und Geschäftsmodelle. Einige davon werden im Folgenden dargestellt:
Datenmarktplatz:
Global vernetzte Fertigungssysteme haben das Potenzial Informationen schnell und einfach auszutauschen. Eine Lasermaschine kann z.B. aufgrund der Technologiedaten, welche sich auf ihr befindet die Kundenteile, bestehend aus Blechtafeln nicht in der gewünschten Qualität fertigen. Zudem kann wegen fehlender Materialien keine klassische Schneiddatenoptimierung vollzogen werden. Die Lösung besteht darin, auf interne und externe Technologiedaten zuzugreifen, um den Auftrag in der verlangten Qualität termintreu ausführen zu können
Kundenintegriertes Engineering:
Der Kunde beteiligt sich am Prozess der Wertschöpfung. In der Automobilherstellung kann der Kunde z.B. über die Konfigurierung durch Nutzung von aktuellen Informationen der Wertschöpfungskette zuverlässige Lieferzeiten und Verfügbarkeiten erfassen. Damit besteht die Möglichkeit den Liefertermin zu ändern, indem der Kunde die Ausstattungsvariante ändert.
Resiliente Fabrik:
Bearbeitungsstationen werden zukünftig sich flexibel, durch den Einsatz von IT und modularen Konzepten sich an einen sich verändernden Produktmix anpassen können.
Up-Cycling:
Die Eigentumsrechte der Produkte verbleiben beim Hersteller, wodurch neue Geschäftspraktiken machbar sind. Montage-, Herstellungs-, und Nutzungsdaten der Produkte bilden die Grundlage. Der Zustand der Bauteile kann durch diese Informationen zu jeder Zeit erfasst werden und mit geringen Änderungen oder Austausch kann das Bauteil auf den neuestens Stand angepasst werden. Dadurch ist ein Up-Cycling möglich, so dass komplette Baugruppen wiederverwendet werden können.
Intelligentes Instandhaltungsmanagement:
Ein Permanentes Monitoring der Maschinen findet mit Hilfe von Sensoren statt. Dabei werden Daten über die Lasten erfasst, so dass diese in Kombination mit Algorithmen in Zusammenhang mit einer von der Last abhängige Zuverlässigkeitsbewertung Prognosen über die Lebensdauer entscheidender Bauteile der Maschine erstellt werden können. Das ermöglicht eine verbesserte Wartungsein- satzplanung und Ersatzteilverfügbarkeit, so dass unvorhersehbarere Produktionsausfälle durch rechtzeitige Wartung gestoppt werden können.
Smart Factory Architecture:
In der Fabrik der Zukunft werden z.B. nach einem Auftragseingang, mit Hilfe unterschiedlicher Kriterien wie z.B. Durchlaufzeit oder Bestand, andere ähnliche bereits ausgeführte Aufträge gesucht. Daraufhin erfolgt eine dynamische Analyse der erfolgreichsten Durchläufe, welche dann als Empfehlung in die Auftragsplanung eingehen. Das hat zur Folge, dass die Methoden, die im Hintergrund abspielen sich nicht mehr mit den komplexen Ursachen, sondern mit den Relationen der Ein- und Ausgangsdaten befassen.
Vernetzte Produktion:
Die zukünftige Fertigung wird vollständig digital in Echtzeit abgebildet sein und hat die Fähigkeit autonom und flexibel auf ungeplante Ereignisse reagieren zu können. Es werden z.B. bei der Planung und Steuerung der Fertigung neben den Daten, wie z.B. aktueller Zustand, Fähigkeiten und Ortskoordinaten eines Produktionsmittels auch wichtige Informationen (wie Ausfälle, Eilaufträge, Änderungen der Produktspezifikation bei bereits gestarteter Herstellung etc.) von Zuliefern in der Wertschöpfüngskette berücksichtigt.
Selbstorganisierende adaptive Logistik:
Ein zuverlässiger Ablauf der Logistikprozesse in der Fertigung ist die Voraussetzung für effiziente und fehlerfreie Wertschöpfungsprozesse. Engpässe und Fehler in der Belieferung werden wahrscheinlicher, aufgrund des Verlangens nach individuelleren Produkten durch den Markt, da die Herausforderungen an die Stückzahl- und Variantenflexibilität zunehmen. Mit dem Einsatz von cyber-physischen Systemen (Kapitel 2.2) kann die Materialbereitstellung den neuen Anforderungen gerecht werden13.
Das übergeordnete Thema mit dem sich die Arbeit befasst, ist die sich selbstorganisierende adaptive Logistik in der Fertigung. Das bedeutet, dass die Steuerung des Materiaflusses dezentral ist und eine künstliche Intelligenz bzw. Logik vorhanden ist, indem sich die Entitäten miteinander kommunizieren und über ihre Aktionen sich abstimmen.
Mit der zunehmenden Globalisierung von Supply Chains, sich dauernd verändernden Kundenbe- dürfhissen, der Verringerung der Kundenloyalität, sowie dem ständigen Verlangen nach immer kürzeren Lieferzeiten führt die Individualisierungsentwicklung zu einen starken Anstieg der Anzahl der Varianten im Bereich der Produktportfolios der Unternehmen, zu einer hohen Geschwin- digkeits- und Komplexitätssteigerung von Wertschöpfungsnetzwerken, kürzeren Produktlebenszyklen, sowie einer massiv steigenden Volatilität bezüglich der Abrufimengen durch den Kunden. Die Betroffenen Firmen müssen die Fähigkeit der Anpassung ihrer Prozesse und Geschäftsmo- delle erhöhen, damit die zuvor genannten Herausforderungen effizient und effektiv gehandhabt werden können. Anpassungsfähigkeit setzt sich aus Flexibilität (bereits vorhandene Systemfahig- keiten) und Wandlungsfähigkeit (Möglichkeit zur günstigen und schnellen Anpassung des Systems) zusammen14. Konventionelle Lean-Konzepte und die zugrundeliegenden hierarchisch organisierten Prozessstrukturen stoßen an ihre Grenzen beim Versuch die Fähigkeit der Anpassung zu steigern15. Exakte Planbarkeit, die deterministische Abarbeitung und die Steuerung von starren im Voraus bekannten Abläufen sind charakteristisch für heutige Steuerungsarchitekturen. Feste Systeme, wie z.B. Kanban in der Produktionssteuerung oder der Routenzug in der Materialbereitstellung sind für die neuen Herausforderungen nicht geeignet. Klassisch erstellte Systeme sind oft nicht in der Lage, oder können nur mit erheblichem Aufwand sich an neue unvorhersehbare Aufgabenstellungen anpassen. Deren Steuerungslogik inklusive der kaum handelbaren Komplexität stellen große Herausforderungen dar, deren Überwindung viel Zeit und Geld kostet.
Das bedeutet für die zukünftige Materialbereitstellung, dass sie dezentral gesteuert sein muss, um mit der Komplexität umgehen zu können. Die zentrale Steuerung wird durch einen Verbund aus autonom agierenden und frei kombinierbaren Modulen ersetzt16. Die grundsätzlichen Ziele der Lean-Philosophie, wie z.B. kurze Durchlaufzeiten, hohe Liefertreue, geringe Bestände, Einfachheit etc. bleiben weiterhin erhalten. Ergänzt werden diese Lean-Ansätze, durch den in Zukunft entscheidenden Faktor der Anpassungsfähigkeit. Die Schlüsselkriterien für die Materialbereitstellung der Zukunft werden die Flexibilität und die Wandlungsfähigkeit sein17.
Cyber-physische Systeme bilden die technologische Grundlage für eine dynamische Intralogistiksteuerung in einer flexiblen Fabrik. In der Fertigung der Zukunft werden CPS, wie z.B. Produkte, Maschinen, Betriebsmittel und Lagersysteme eingebettete Systeme enthalten und über die komplette Wertschöpfüngskette miteinander kommunizieren und vernetzt sein. Die Umgebung wird von den CPS in Echtzeit mit ihren Sensoren erfasst und mithilfe weltweit verfügbarer Informationen und Dienste verarbeitet, um darauffolgend durch Aktoren auf die reale Welt einzuwirken. CPS werden dezentral gesteuert, sind in der Lage sich selbst zu überwachen und zu optimieren und können Probleme in Zusammenarbeit mit Menschen lösen. Die Echtzeitfähigkeit bzw. das permanente Aktualisieren von Daten erlauben es, ein vollständiges Abbild der Realität zu erschaffen und ermöglicht somit völlig neue Anwendungen18.
Im Folgenden wird zunächst eine allgemeine Definition, welche von dem Sonderforschungsbereich 637 der Universität Bremen erarbeitet wurde gegeben:
Definition Selbststeuerung:
„Die Selbststeuerung wird als ein Bündel von Prozessen dezentraler Entscheidungsfindung in heterarchischen Strukturen verstanden. Sie setzt die Fähigkeit und Möglichkeit interagierender Systemelemente zum autonomen Treffen von zielgerichteten Entscheidungen voraus. Ziel des Einsatzes von Selbststeuerung ist das Erreichen einer höheren Systemrobustheit sowie eine Vereinfachung der Prozesse durch die verteilte Bewältigung von Dynamik und Komplexität in Form von höherer Flexibilität und Autonomie der Entscheidungsfindung. “19
Die zuvor genannten Komplexitätstreiber (Kapitel 2.1) stellen herkömmliche zentrale Planungsund Steuerungssysteme vor großen Herausforderungen bezüglich der Datenbereitstellung und - Verarbeitung20. Vor dem Hintergrund wird die Selbststeuerung als ein dezentraler, autonomer Steuerungsansatz für CPS bevorzugt. Auch konnte im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 637 „Selbststeuerung - Ein Paradigmenwechsel und seine Grenzen“ gezeigt werden, dass der Einsatz von dezentrale Steuerungsmethoden für CPS in logistischen Systemen Flexibilitäts- (welches eines der Schlüsselkriterien für die Materialbereitstellung der Zukunft ist, siehe Abschnitt 2.1) und Robustheitsvorteile gegenüber klassischen zentralen Steuerungsarchitekturen bringt21.
Die Selbststeuerung kann durch eine Agentensteuerung realisiert werden (siehe Kapitel 3.5.1) . In dem Multiagentensystem treffen autonome Agenten nach vorgegebenen Regeln bzw. durch Verhandlungen die Entscheidungen für ihre nächsten Aktion. Die Grundlagen für die Agenten werden dazu ausführlich in Kapitel 5 vorgestellt.
In diesem Kapitel wurden die für die Arbeit wichtigen Aspekte von Industrie 4.0 zusammengefasst. Es wurde aufgezeigt, dass aufgrund der Veränderungstreiber die Produktions- und Logistiksysteme der Zukunft, um die Ziele der Lean-Philosophie, trotz gestiegener Komplexität weiterhin erfüllen zu können flexibel und wandelbar sein müssen. Und um das zu erreichen, muss die Steuerung der Produktion und damit auch die der Materialbereitstellung dezentral erfolgen, da die heutigen zentralen Planungs- und Steuerungsinstanzen aufgrund der gestiegenen Komplexität an ihre Grenzen kommen. Grundlage für eine dezentrale Steuerung sind CPS, die die Objekte in der Fertigung durch eingebettete Systeme dazu befähigen Informationen aufzunehmen, Daten zu verarbeiten, Entscheidungen zu treffen, sowie diese umzusetzen und mit anderen CPS zu kommunizieren zu können. Aus diesem Grund, werden die Produktionssysteme der Zukunft dezentral gesteuert sein und CPS enthalten.
In diesem Abschnitt werden neben der Abgrenzung der Begriffe und den Aufgaben der Materialbereitstellung die verschiedenen Prinzipien und Strategien der Materialbereitstellung betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf den Prinzipien und Strategien, welche für die Erstellung des Konzepts notwendig sind. Des Weiteren wurde die Morphologie der Prinzipien der Materialbereitstellung von Bullinger und Lung adäquat auf das Konzept angepasst.
Vor der Montage durchqueren die Teile mehrere Bereiche außer- und innerhalb eines Fertigungssystems. Daher wird zwischen der internen und externen Materialbereitstellung unterschieden.
Externe Materialbereitstellung:
Die externe Materialbereitstellung wird der Beschaffung bzw. der Beschaffungslogistik zugeteilt und beinhaltet die Planung und Steuerung des Materiaflusses vom Lieferantenwareneingang bis hin zum Verbrauchereingang
Interne Materialbereitstellung:
Die interne Materialbereitstellung wird der Produktionslogistik zugeteilt und beinhaltet die Planung und Steuerung des Materialflusses vom Wareneingang bis zum Speicherort am Montageort. Der Speicherort ist die letzte Lagerstufe, an der das Werkstück montiert wird. Das Material wird den verschiedenen Lagerstufen durch den innerbetrieblichen Transport zur Verfügung gestellt22.
Der Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Untemehmensentwicklung (REFA) definiert die Materialbereitstellung wie folgt:
„Die Materialbereitstellung hat die Aufgabe, das im Betrieb verfügbare Material für die Verwendung bei der Aufgabendurchführung in der benötigten Art und Menge termingerecht am Bereitstellungsplatz zur Verfügung zu stellen.“23
Dazu gehören die folgenden drei Aufgaben:
Planung:
Die Verantwortungsbereiche, sowie Kompetenzen werden zugeteilt und die organisatorischen Abläufe und Bereitstellungsprinzipien müssen definiert werden. Ebenso wird festgelegt, welche Technik für den Material- und Informationsfluss eingesetzt wird.
Steuerung:
Unter der Steuerung der Materialbereitstellung versteht man alle Aufgaben für die Überwachung und Sicherstellung der Materialbereitstellung, von der Veranlassung des Bereitstellaufitrags bis hin zur Bestätigung der durchgeführten Bereitstellung.
Durchführung:
Darunter versteht man alle für die Materialbereitstellung benötigten physischen Handlungen, wie z.B. Lagern, Kommissionieren, Transport und Materialhandhabung an der Arbeitsstation24.
Bullinger und Lung leiten aus den Definitionen der Materialbereitstellungen verschiedene Prinzipien ab und stellen diese übersichtlich in einer Morphologie dar. Diese wurde für eine adaptive Materialbereitstellung mit zellulären Transportsystem und frei verketteten Arbeitsstationen ange-passt, da es zur damaligen Zeit keine CPS gab und einige Prinzipien auf Basis von menschlichen Arbeitern oder starren und zentralen Strukturen (wie z.B. eine zentrale Fertigungssteuerung, wel-ches in Zukunft durch eine dezentrale abgelöst wird, siehe dazu Abschnitt 2.1) aufbauen. Mit dem Aufkommen der neuen Technologien, sowie der neuen Anpassungsanforderungen ergeben sich neue Prinzipien bzw. werden bestimmte alte nicht mehr relevant sein. Im Folgenden wird jedes Kriterium und jede Ausprägung der angepassten Morphologie für eine adaptive Materialbereit-stellung in Abbildung x diskutiert und es wird argumentiert warum diese Ausprägung ausgewählt bzw. gestrichen wurde.
Art der Bereitstellung:
Die Art der Bereitstellung ist rein verbrauchsorientieit. Das bedeutet, dass der Bedarf durch einen Verbrauch ausgelöst wird und es wird das Pull- Prinzip angewendet. Pull-Prinzip bedeutet, dass der Informationsfluss entgegengesetzt des Materiaflusses läuft bzw. die nachgelagerte Stelle die vorgelagerte Stelle steuert. Während hingegen die bedarfsgesteuerte Materialbereitstellung mit einer zentrale Fertigungssteuerung den Informationsfluss koordiniert und die Materialbereitstellung veranlasst, indem sie festlegt warm welche Teile wo sein sollen. Aufgrund der Zentralität der bedarfsorientierten Materialbereitstellung, ist die Art der Bereitstellung rein verbrauchsorientiert unter Anwendung des Pull-Prinzips.
Form der Bereitstellung:
Beschreibt die Form, in der die Teile bereitgestellt werden. Für Losgröße 1 ist das „Einzelprodukt“ die geeignetste Form. Alle anderen Ausprägungen wie „zusammengefasste Auftragsbereitstellung“, „Gesamtauftrag“, „Teil eines Auftrags“ werden der Anforderung mit einer hohen Anzahl an Varianten umgehen zu können nicht gerecht und sind unflexible, weil z.B. mehr angeliefert wird als gebraucht wird. Die Form Einzelprodukt bedeutet, dass nur genau die Montageteile angeliefert werden, die auch zur Montage genau eines Produktes benötigt werden.
Bereitstellmenge:
Die Bereitstellmenge für eine adaptive Materialbereitstellung ist stückzahlgenau, da gebindeorientierte Mengen für Produktionssysteme mit einer hohen Variantenanzahl, aufgrund der begrenzten Platzverhältnisse an den Arbeitsstationen nicht geeignet sind.
Bereitstellquelle:
Die vier grundsätzlichen möglichen Bereitstellquellen Arbeitsplatznähe, Arbeitssystem - Zwischenlager, Arbeitssystem - Neutrales Lager und Sonstige vorgelagerte Bereiche wurde vollständig übernommen mit dem Zusatz, dass diese CPS sein müssen, da diese sich mit den zellulären Transportsystem, welches auch ein CPS ist, abstimmen müssen, wie z.B. für die Behälterübergabe oder die Informationen weitergeben, ob noch ausreichend Platz vorhanden ist.
Bereitstellort:
Alle drei möglichen Bereitstellorte wurden komplett übernommen. Bereitstellort ist der Platz, an dem der Mitarbeiter oder der Roboter die benötigten Teile für die Montage entnimmt. Die meistübliche Art der Versorgung geschieht über Behälter „am Arbeitsplatz“. „In Arbeitsplatznähe“ kommt als Ort zur Bereitstellung zur Anwendung, wenn die Teile sperrig sind und für Teile die nicht oft benötigt werden und von mehreren Arbeitsplätzen gebraucht werden bietet sich der Ort „im Arbeitssystem“ an.
Auslösung der Bereitstellung:
Mit Auslösung der Bereitstellung ist die organisatorische Entität gemeint, welche die Bestellung der benötigten Teile durchführt. Die Auslösung einer adaptiven Materialbereitstellung erfolgt automatisiert und dezentral, um mit der Komplexität umgehen zu können (siehe Abschnitt 2.3 und Abschnitt 3.5.1). Dabei kann die
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1, Morphologie der Prinzipien einer adaptiven Materialbereitstellung, in Anlehnung an Bullinger und Lung 1994, S. 17
Im Folgenden werden die beiden relevanten Strategien Kanban und Just-in-Time nähergebracht, da deren Philosophien - die Komplexitätsreduzierung durch die Dezentralisierung der Steuerung bei Kanban, sowie die Erreichung einer synchronen Materialbereitstellung bei JIT dieser beiden Strategien in die Modellierung des Konzepts mit einfließen. Zu den weiteren Strategien, welche unten aufgelistet sind, wird auf eine detaillierte Erklärung verzichtet, diese können bei Bedarf bei Bullinger und Lung nachgeschlagen werden25.
- Zusammengefasste Auftragskommissionierung
- Gesamtauftragskommissionierung
- Teilauftragskommissionierung
- Einzelkommissionierung
- Periodische Bereitstellung
- Mehr-Behälter-System
- Handlager
Zielsteuerung Just-in-Time / Just-in-Sequence:
Just-in-Time wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Aufgeteilt wird diese Strategie in verschiedenen Stufen, von der wöchentlichen Anlieferung, bis hin zur Produktionssynchronen Anlieferung26 Einerseits wird gepredigt, dass JIT Teil der Philosophie des Unternehmens sein soll und nicht nur die Lieferbeziehung zwischen Zulieferer und Kunde27, andererseits wird JIT auch als eine Synchronisation der kompletten Stufen des Herstellungsprozesses und der Transporte, von der letzten Lieferantenfertigungsstufe bis hin zur Kundenfertigungslinie definiert28. In Kontext zur Materialbereitstellung ist daher eine Fertigungssynchrone Versorgung gefordert. Es soll nur die Teile in der Menge zeitnah bereitgestellt werden, welche, die für die Montage des Werkstücks nötig sind29. Bullinger und Lung verstehen die JIT-Materialbereitstellung als eine Synchronisation zwischen Fertigung und Lieferung - eine Anlieferung mit starrer Reihenfolge. Diese Definition wird auch als Just-in-Sequence bezeichnet.
Die JIT- oder JIS-Bereitstellung ist auf Basis von stabilen Produktionsprogrammen bedarfsgesteuert. Angewendet wird diese Strategie bei großen, sperrigen Basisteilen mit einer hohen Anzahl an Varianten, sowie einer kurzen Wie- derbeschaflüngszeit. Vorteile sind durch die feste Reihenfolge die geringe Verwechslungsgefahr (bei JIS), als auch durch die entfallende Lagerhaltung kurze Durchlaufzeiten und geringe Kapitalbindung, sowie der hohe Lieferbereitschaftsgrad. Nachteilig ist dafür der hohe Aufwand für die Steuerung und des Transports, der Anforderung von 100% in der Teilequalität, sowie des möglichen Fertigungsstillstands bei auftreten von Störungen (Risikominimierung durch Notfalllager möglich).
Angewendet wird diese Strategie weitgehend in der Automobilindustrie. Online bestellt der Kunde mit gegebenem Liefertermin und Reihenfolge bei Zulieferern, welche räumlich in der Nähe sind (z.B. Industriepark) Baugruppen, die mit stundenweisem Vorlauf gefertigt bzw. kommissioniert werden, um sie direkt an die Produktionsstraße zu liefern30.
Kanban:
Die Kanban Bereitstellung wird nach dem Pull-Prinzip organisiert, ist kundenanonym und verbrauchsgesteuert. Es erfolgt eine sortenreine Anlieferung in Kleingebinden. Die Auslösung der Bereitstellung erfolgt dezentral durch selbststeuernde Regelkreise zwischen zwei Arbeitssystemen, die direkt aufeinanderfolgenden31. Bei erreichen eines bestimmten Mindestbestand am Ort der Bereitstellung wird die Versorgung angefordert, indem die Senke (darauffolgende Prozess), die für ihn notwendigen Teile in der benötigten Menge und zur optimalen Zeit beim Pufferlager der Quelle (vorgelagerten Prozess) holt. Der Informationsfluss wird beim klassischen Kanban durch sogenannte Kanban-Karten gesteuert, welche mit den vollen Behältern von der Quelle bei der Senke angeliefert werden. Die Verantwortung für die termintreue Versorgung der notwendigen Teile nach Entgegennahme der Kanban-Karte liegt beim vorgelagerten Prozess.
Das Kanban-Konzept ist dem Supermarktprinzip sehr ähnlich. Das Prinzip sorgt dafür, dass leere Regale verhindert werden, indem durch eine verbrauchsorientierte Teilebedarfsrechnung dafür sorgt, dass im Lager ausreichen Material zur Verfügung steht. Wenn Kunden Materialien aus dem Regal entnehmen (zeitunabhängig) und somit eine Lücke entsteht, wird diese mit Teilen aus dem Lager wieder aufgefüllt32.
Aus Kapitel 2 lassen sich folgende Anforderungen für die zukünftige Materialbereitstellung in einer Industrie 4.0 Umgebung ableiten:
Die Materialbereitstellung...
- ... muss mit einer hohen Anzahl an Varianten umgehen können, das heiß sie muss fähig sein, viele verschiedene Teile bei begrenztem Platz am Montageort bereitstellen zu können.
- ... soll flexibel auf Schwankungen in der Nachfragemenge umgehen können.
- ... muss robust sein, dass bedeutet Ausfälle von Maschinen oder Robotern sollten nicht zu einen Produktionsstopp führen.
- ... muss mit der dadurch gestiegenen Systemkomplexität umgehen können. Die Planung bzw. Entscheidungsfindung darf nicht zu lange dauern und zu aufwändig sein.
Weiterhin sollen die Lean-Ziele, wie Vermeidung von unnötigen Beständen, Wartezeiten, Bewegungen, Transporte und überflüssigen Tätigkeiten gelten33.
In diesem Kapitel wird dargelegt, warum das Multiagentensystem die geeignete Wahl ist, um die Dezentralität der Steuerung in der Materialbereitstellung zu ermöglichen und es werden auch die Begriffe wie Autonomie, Lokalität, sowie deren Zusammenhang zur Selbststeuerung erklärt.
Der Grundgedanke der Dezentralisierung der Steuerung besteht darin, die Probleme bzw. Entscheidungen auf einzelne lokale Instanzen zu verteilen, um damit die Komplexität bei Entscheidungsproblemen zu reduzieren, mit dem Ziel das Treffen einer „guten“ Entscheidung in einer akzeptablen Zeit, sowie Aufwand zu ermöglichen. Die Dezentralisierung ist daher eine Möglichkeit, um die Komplexität handzuhaben34 Verteiltes Problem lösen bzw. die Verteilung von Aufgaben hat im Bereich der Künstlichen Intelligenz zu dem Konzept der „Agentensysteme“ geführt.35 In Zukunft werden intelligente Objekte durch dezentrale Konzepte organisiert. Die Anforderungen für zukünftig verteilte logistische Anwendungen definieren die Eigenschaften der Entitäten und entsprechen weitgehend den generellen Definitionen von Software-Agenten36. Mit Hilfe von Software-Agenten wird es möglich sein die Selbstorganisation bzw. Selbststeuerung der einzelnen Entitäten zu realisieren. Das bedeutet ein Zusammenschluss von Agenten ist dazu fähig einen komplexen Problemlösungsprozess eigenständig auszuführen, so dass eine externe zentrale Instanz für die Steuerung der Prozesse nahezu nicht mehr benötigt wird. Die Agenten beschränken sich dabei nur auf die Vorgabe des Ausgangsproblems und die Entgegennahme des Lösungsergebnisses. Selbststeuerung ist eine Erscheinung lebendiger, biologischer Systeme und normalerweise nicht in einem künstlichen System vorzufinden. Das bedeutet Selbstorganisation ist in diesem Sinne nicht mehr als eine spezifische Form der Automatisierung, welche die steuerungsrelevanten Daten in die zu steuernde Teilsysteme, die Agenten nämlich integriert. Die Zustände und Interaktionen von Agenten bestimmen das Verhalten und die Zustände von anderen Agenten. Wie sich ein Agent verhält, wird nur durch Entscheidungen innerhalb des Agenten getroffen, deswegen ist er autonom. Die Agenten handeln treffen ihre Maßnahmen auf lokaler Ebene, das bedeutet, dass das für die Steuerung benötigte Wissen auf die Agenten selbst verteilt ist und nirgendwo extern repräsentiert ist. Lokalität und Autonomie sind die bestimmenden Konzepte für die Realisierung eins selbstorganisierenden Systems.37
Zusammenfassend kann man sagen, dass ein Multiagentensystem in dem sich die Agenten selbst- organisieren, durch Verteilung der Aufgaben auf autonom agierende Agenten, die die Entscheidungen lokal treffen, maßgeblich zur Komplexitätsreduktion beitragen.38 Aus diesem Grund ist der Einsatz eines Multiagentensystem für die Steuerung der Materialbereitstellung für diese Arbeit die geeignete Wahl.
In der aktuellen Literatur gibt es bereits ähnliche Arbeiten, welche sich mit dem Themengebiet der Materialbereitstellung im flexiblem Produktionsumfeld beschäftigen. Vojdani und Knop39 befassen sich mit der adaptiven Materialbereitstellung. Dabei liegt der Fokus auf kurzfristige Planungsprobleme, wie die der Transportplanung und die damit zusammenhängende Form der Bereitstellung. Diese Probleme sollen mit situationsspezifischem Wechsel von Materialbereitstellungsstrategien, begegnet werden. Ziel ist es, die Auswahl einer zur Situation passenden Strategie zu ermöglichen. Basis für die Auswahl sind die Kennzahlen, welche durch das Monitoring der aktuellen Materialbereitstellungsstrategie erhoben werden. Das Monitoring inklusiver Bewertung und Umplanung der Strategie wird mit Softwareagenten dezentral realisiert. Der Unterschied liegt darin, dass auf bereits bestehende Materialbereitstellungsstrategien zurückgegriffen wird. In der Abschlussarbeit wird ein neues Vorgehen entwickelt, indem die Philosophien des Kanban, Lean- und JIT-Konzepte aufgegriffen werden und in Verbindung mit neuen Industrie 4.0 Technologien gebracht werden.
Das Forschungsprojekt „SMART FACE“ aus dem Jahr 2016 steht für Smart Micro Factory für Elektrofahrzeuge mit schlanker Produktionsplanung und hat ein ähnliches Ausgangsszenario. Das Szenario ist die Kleinserienproduktion von Elektromobilen in einem flexiblen Produktionssystem. Ziel ist es, ein dezentral gesteuertes Produktionssystem zu konzipieren und pilotieren. Basis für das System sind die Entitäten, welche cyber-physische Systeme sind. Der Fokus liegt auf der Produktionsprogrammplanung und -Steuerung40. Es wurde eine Methodik für die übergreifende globale Programmplanung, welche alle wichtigen Ziele sowie Beschränkungen erfasst und den Anforderungen der Kleinstserienproduktion gerecht wird entwickelt. Der Materialbereitstellung an sich, wird weniger Beachtung geschenkt. Es wird vomehmend auf den Routing-Algorithmus eingegangen41. Smartface hat den Fokus auf die Produktionsprogrammplanung, die Masterarbeitet beschäftigt sich detailliert mit der Materialbereitstellung durch FTS und geht dabei detailliert auf die Entscheidungsfindung und Abläufe der FTS ein.
Eine weitere Arbeit mit dem Titel „Materialbereitstellung On Demand“ beschäftigt sich mit der Transformation eines Klassischen Routenzugskonzeptes zu einer bedarfsorientierten Materialbereitstellung. Die Steuerung wird durch ein Multiagentensystem realisiert. Es werden dabei zwei verschiedene Ausbaustufen konzeptionell aufgezeigt, wobei Ausbaustufe 2 in die gleiche Richtung der Masterarbeit geht. In der ersten Stufe ist der Routenzug noch das Kemelement. In Ausbaustufe zwei werden die Routenzüge durch autonome FTS, welche sich selbst steuern ersetzt. Sie können durch Verhandlungen die Entscheidungsfragen wie z.B. welche Arbeitsstation benötigt welche Komponenten in welcher Menge, welches Fahrzeug übernimmt die Belieferung welcher Arbeitsstationen oder wann muss der nächste Auslieferungszyklus gestartet werden klären. In dieser Stufe werden die Entscheidungen dezentral mittels Auktionsverfahren getroffen42. Dieser Beitrag geht nicht darauf ein, wie genau die Entscheidungen getroffen werden, während hingegen in dieser Abschlussarbeitet detailliert auf die Multiagentenverhandlung eingegangen wird. In der Dissertation „Methoden zum selbststeuemden Routing autonomer logistischer Objekte“ von Rekersbrink, wird das Distributed Logistics Routing Protocol entwickelt, welches allgemein anwendbar ist. Das Protokoll ist für die optimale Wegfmdung zuständig und beschreibt keine Materialbereitstellungsstrategie43. Die Dissertation hat ihren Fokus auf das Routing zur optimalen Wegfmdung und Vermeidung von Staus.
Das Materialbereitstellungskonzept der Dissertation von Popp besteht aus den drei neuartigen Konzepten Riegelkonzept, Einzel-FTF (ähnlich zur Masterarbeit) und Warenkorb-Konzept. Weiterer Bestandteil ist ein Auswahlwerkzeug, welches das passende Konzept anhand der Kosten bestimmt. Nach der Auswahl verhandeln die FTF untereinander, bezüglich der Annahme des Transportauftrags. Dabei wird das FTF mit dem geringsten Abstand zum Ladungsträger und dabei frei ist bevorzugt. Es wird die lediglich erwähnt, dass die CPS über Agentensysteme die Entscheidung treffen44. Auch bei dieser Arbeit findet keine tiefere Beschreibung der Multiagentenverhandlung statt, es wird lediglich das Kriterium des Abstandes zur Auswahl des FTS verwendet.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Konzept in dieser Arbeit den Fokus auf die detaillierte Modellierung der Materialbereitstellungsprozesse und der Multiagentenverhandlung anhand eines Minimal Szenarios mit gesetzten Entitäten hat. Als Basis für die Modellierung der Prozesse dienen die Philosophien von Kanban, JIT und die Lean-Ziele. In dem Konzept wird dabei darauf eingegangen, wie die Agenten genau sich mithilfe des Kontrakt-Netzt-Protokoll organisieren, indem sie Angebot erstellen und abgeben. Diese werden bewertet, um eine Entscheidung zu treffen. Dabei findet eine detaillierte Betrachtung der Angebotserstellung und -bewertung statt.
Dieser Abschnitt soll in das Themengebiet der Agenten und Multiagentensysteme einfuhren. Die Einführung kann nur einen oberflächlichen Blick in das sehr breit gefächerte Themengebiet zeigen, da dies sonst den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Daher werden nur die relevanten Informationen erläutert, mit dem Ziel, um einerseits die Zusammenhänge zu verstehen und um, andererseits das nötige Hintergrundwissen für die Entwicklung des Konzepts für die dezentral gesteuerte Materialbereitstellung zu erörtern. Für eine weiterführende ausführliche Einführung über alle Teilgebiete hinweg wird auf das Lehrbuch von Wooldrige45, sowie auf die Monographie von Weiss46 verwiesen. In Kapitel 6.1 wird der Begriff des Agenten und der des Multiagentensystems erklärt, in dem die gängigsten Definitionen erläutert und die Charakteristika von Systemen, welche für den Einsatz eines Multiagentensysteme geeignet sind beschrieben werden. Anschließend werden die Rahmenbedingungen der Agenten, sowie deren Merkmale, welche nach Scholz-Reiter und Höhns47 für logistische Prozesse relevant sein könnten diskutiert. Danach wird die grundlegende Agentenstruktur aufgezeigt, indem die wiederkehrenden Phasen aufgezeigt werden und es werden die verschiedenen gängigen Agententypen genannt. Darauffolgend werden verschiedene gängige Konzepte für die Interaktion der Agenten im Multiagentensystem werden vorgestellt. Am Schluss wird für die Konzeption von dezentral gesteuerten Logistikprozessen für die Mikro- und Makroebene die grundsätzliche Vorgehensweise betrachtet.
In den Anfangsjahren gab es für den Begriff „Agent“ unterschiedlichste Definitionen, aufgrund verschiedener Sichtweisen, wie aus der künstlichen Intelligenz und der Theorie der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften. Mittlerweile hat sich folgende Definition, welche beide Sichtweisen vereinigt durchgesetzt.48
Softwareagent:
„Ein Softwareagent ist ein längerfristig arbeitendes Programm, dessen Arbeit als eigenständiges Erledigen von Aufträgen oder Verfolgen von Zielen in Interaktion mit einer Umwelt beschrieben werden kann. “49
Demzufolge kann man folgende Definition für Multi-Agentensysteme folgern:
Multiagentensystem:
„Allgemein bezeichnet man eine Menge von interagierenden Agenten als ein Multi-Agentensystem. Bei Softwareagenten beruht die Interaktion insbesondere auf dem Austausch von Nachrichten, während in der Robotik auch die gemeinsame physische Arbeit in Betracht kommt. “50
[...]
1 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018.
2 Vgl. Statistisches Bundesamt 2018.
3 Vgl. Spath 2013, S. 2, Deloitte AG 2014, S. 4 ff., Maier et al. 2017, S. 1 ff.
4 Vgl. Rekersbrink 2012, S.l
5 Vgl. Scholz-Reiter et al. 2004, S.l
6 Vgl. Nyhuis 2008, S.128
7 Vgl. Windt et al. 2007, S. 1
8 Vgl. Nyhuis 2008, S. 128
9 Vgl. Freitag et al. 2004, S. 24
10 Vgl. Bundesregierung 2012, S. 52
11 Vgl. Henning et al. 2013, S. 33
12 Vgl. Soder2014, S. 86
13 Vgl. Henning et al. 2013, S. 105 -112
14 Vgl. Zeidler et al. 2018, S. 487; Scholz-Reiter und Höhns 2006a, S. 654
15 Vgl. Hompel 2010, S. 4
16 Vgl. Günthner und Hompel 2010, S. 349 f.; Zeidler et al. 2018, S. 488
17 Vgl. Zeidler et al. 2018, S. 488f.
18 Vgl. Bauemhansl et al. 2014, S. 15
19 Scholz-Reiter und Höhns 2006a, S. 657
20 Vgl. Scholz-Reiter et al. 2014, S. 63 f.
21 Vgl. Scholz-Reiter eta!. 2014, S. 74
22 Vgl. Bullinger und Lung 1994, S. 8f
23 REFA 1979, zit. nach Bullinger und Lung 1994, S. 7
24 Vgl. Bullinger und Lung 1994, S. 8
25 Vgl. Bullinger und Lung 1994, S.20-37
26 Vgl. Bullinger und Lung 1994, S. 44
27 Vgl. Zeilinger 1989, zit. nach Bullinger und Lung 1994, S. 28
28 Vgl. Bogert 1988, zit. nach: Bullinger und Lung 1994, S. 28
29 Vgl. Golz2014, S. 36
30 Vgl. Bullinger und Lung 1994, S. 28 - 31
31 Vgl. Bullinger und Lung 1994, S. 32
32 Vgl. Nyhuis et al. 2006, S. 342 f.
33 Vgl. Koether2017, S. 9
34 Vgl. Nyhuis 2008, S. 122
35 Vgl. Bechtolsheim 1993, Hinterer Klappentext
36 Vgl. Ferber 2001 S. 29 f.
37 Vgl. Bechtolsheim 1993 S. 81 f.
38 Vgl. Hompel 2007 S. 282 f.
39 Vgl. Vojdani und Knop 2014.
40 Vgl. SMART FACE 2016.
41 Vgl. Weichert und Böckenkamp 2016, S. 16
42 Vgl. Zeidler et al. 2018, S. 487 ff.
43 Vgl. Rekersbrink 2012, S. 1
44 Vgl. Popp 2018, S. 101 f.
45 Vgl. Wooldridge 2009.
46 Vgl. Weiss 1999.
47 Vgl. Scholz-Reiter und Höhns 2006b, S. 752 ff.
48 Vgl. Klügl 2013, S. 528
49 Burkhard 2010, S. 951, Vgl. Klügl 2013, S. 528
50 Burkhard 2010, S. 999
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