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Bachelorarbeit, 2021
53 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung…..
2. Die Autismus-Spektrum-Störung
2.1. Die geschichtliche Entwicklung des Begriffes „Autismus-
2.2. Die Diagnose: was genau ist Autismus?
2.2.1. Die Erscheinungsformen des Autismus
2.2.1.1. Der frühkindliche Autismus
2.2.1.2. Der Atypische Autismus
2.2.1.3. Das Rett-Syndrom
2.2.1.4. Das Asperger-Syndrom
2.2.2. Autismus bei Mädchen und Frauen
2.2.3. Die Diagnose im Kindesalter
2.2.4. Die Diagnose im Erwachsenenalter
2.3. Ursachen und Risikofaktoren
2.4. Häufigkeit in der Bevölkerung
2.5. Einblicke in das Leben Betroffener
2.5.1. Intelligenz und spezielle Begabungen – positive Aspekte des Autismus
2.5.2. Die Wahrnehmung – Detailreichtum und Overload
2.5.3. Rituale, Planungsprozesse und Ordnungsliebe
2.5.4. Die Kommunikation – bloß kein Smalltalk
2.5.5. Theory of mind – empathisch oder nicht?
2.5.6. Spezialinteressen – Züge, Geräusche oder Helikopter?
2.5.7. Die Beachtung des Kontextes – bloß nicht den Überblick verlieren!
2.6. Therapiemöglichkeiten
3. Der Bezug zum polizeilichen Dienst..
3.1. Praktische Hinweise zur Erkennung
3.2. Konfliktpotential und Lösungsansätze
4. Schlusswort.
5. Quellenverzeichnis.
5.1. Buchquellen
5.2. Internetquellen
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Bachelorarbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.
„Wer nicht kann, was er will, muss das wollen, was er kann. Denn das zu wollen, was er nicht kann, wäre töricht.“ (Leonardo Da Vinci)1
Diese Arbeit beginnt ganz bewusst mit einem Zitat zu Ehren Leonardo Da Vincis – einem Tüftler, Erfinder, Künstler – und Autisten (jedenfalls würde man ihn nach heutigen Maßstäben als einen solchen bezeichnen). Auch wenn Da Vinci mit dieser Aussage vielleicht etwas ganz anderes ausdrücken wollte, so kann man sie doch auch auf das Thema Autismus beziehen. Autisten führen ein Leben, welches sich oftmals von dem der Neurotypischen (also solchen Menschen, die Nicht-Autisten sind), unterscheidet und sind oftmals gezwungen, Dinge zu erlernen, zu wollen, die sie nicht können – wobei hingegen meist das, was sie können, ihre Andersartigkeit, nicht gewollt ist.
„Menschen mit Autismus geben sich in der Regel durchaus Mühe, die Erwartungen anderer zu erfüllen, es wird jedoch deutlich, dass sie dabei immer wieder an ihre Grenzen stoßen.“2
Von dieser Andersartigkeit, dem Autismus, handelt die nachfolgende Arbeit. Sie soll vorrangig eine Darstellung der wichtigsten Fakten zur sogenannten Autismus-Spektrum-Störung liefern und einen Überblick geben über die geschichtliche Entwicklung und die grundlegenden Erscheinungsformen - die Auflistung und Erläuterung verschiedener Diagnosekriterien soll dabei einen wichtigen Bestandteil ausmachen.
Es stellt sich die Frage, ob es sich bei Autismus in jedem Fall um eine mit Leidensdruck einhergehende Erkrankung oder doch in einigen Fällen „nur“ um eine besondere Ausprägung der menschlichen neurologischen Vielfalt handelt - mit ebenso positiven wie negativen Aspekten. Zur Beurteilung dieser Frage sollen auch Einblicke in das Leben verschiedener Autisten und deren Schilderungen in diese Arbeit einfließen. Ist Autismus vielleicht in manchen Aspekten sogar eine „geniale Störung “3 ? Wie häufig tritt Autismus in der Gesellschaft auf?
Zu guter Letzt soll ein Bezug zur Arbeit im polizeilichen Dienst hergestellt werden. Polizisten haben nahezu tagtäglich mit Menschen zu tun, die psychische Störungen aufweisen – so ist es wahrscheinlich, dass ein jeder Polizist in seinem Dienst auch Menschen mit Autismus begegnet. Es stellt sich die Frage, wie durch „Laien“, die Polizisten auf dem Gebiet der Psychologie nun einmal weitestgehend sind, erkannt werden kann, wann es sich bei ihrem Gegenüber um einen Autisten handelt und wie diesem unter Betrachtung des polizeilichen Ziels am besten zu begegnen sein könnte. Einsatzsituationen lassen sich dabei wohl genau wie Autisten nicht pauschalisieren, sodass hier das primäre Ziel für das Aufeinandertreffen der Polizei mit einem Menschen mit Autismus kein Handlungskonzept sein soll - es sollen aber gleichwohl gewisse Denkanstöße und Handlungsempfehlungen für den polizeilichen Dienst abgeleitet werden können.
„Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung nehmen die Welt auf eine besondere Art wahr, wodurch sie selbst und ihr soziales Umfeld oft vor besondere Heraus-forderungen gestellt werden.“4
Auch jene besonderen Herausforderungen sollen hierbei Betrachtung finden.
Aufgrund des doch begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit und der Fülle an Informationen über die Autismus-Spektrum-Störung und an spannenden Aspekten, die eine nähere Betrachtung verdienten, soll im Nachfolgenden aber nur der Kern des Themas behandelt werden.
Zuallererst sollte geklärt werden, was unter „Autismus“ zu verstehen ist. Zum Verständnis des Begriffes und der psychischen Erkrankung, welche durch diesen beschrieben wird, sind im Nachfolgenden unter anderem die wichtigsten Informationen zur geschichtlichen Entwicklung, den Erscheinungsformen und ihren Diagnosekriterien, den Ursachen nach heutigem Stand der Forschung, der Häufigkeit in der Bevölkerung sowie zu den Therapiemöglichkeiten zusam-mengefasst.
Am Ende dieses Kapitels finden sich Einblicke in das Leben Betroffener wieder, die die meist abstrakten Diagnosekriterien womöglich etwas greifbarer und verständlicher machen können.
Heutzutage wird allgemein der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung verwandt, unter dem die verschiedensten Erscheinungsformen des Autismus zusammengefasst sind. Durch diesen Begriff kann ausgedrückt werden, dass es grundsätzlich nicht den einen typischen Autisten gibt, sondern eine große Bandbreite an verschiedenen und auch verschieden starken Ausprägungen des Autismus. In der Literatur und in Schilderungen von Betroffenen stößt man gelegentlich auf die Aussage „Kennt man einen Autisten, kennt man einen“5 – dies spiegelt die Verschiedenartigkeit der Betroffenen mit all ihren Persönlichkeits-merkmalen, Fähigkeiten und Problemen wider, welche sich der Autismus-Spektrum-Störung zuordnen lassen.
Der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung hat sich allerdings erst in den letzten Jahren durchgesetzt6 – wie kam es zur Entwicklung des Begriffes? Zur Beantwortung dieser Frage werden im Nachfolgenden die Anfänge der Diagnostik im Bereich autistischer Störungen Betrachtung finden.
Diese Anfänge reichen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Zu dieser Zeit war noch nicht die Rede von „Autismus“, gleichwohl wurden aber Störungsbilder diagnostiziert, welche heute als Autismus bezeichnet würden.7
Als „Entdecker“ des Autismus gelten vor allem die Herren Leo Kanner aus den USA und Hans Asperger aus Österreich, welche anscheinend unabhängig voneinander in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts den Begriff „autistisch“ verwandten und im Rahmen dessen ähnliche Störungsbilder bei Kindern erkannten und beschrieben. Kanner sprach hierbei von „early infantile autism“ und Asperger von „autistischer Psychopathie“. Der Begriff „autistisch“ scheint von beiden aus dem begrifflichen Repertoire des Herrn Eugen Bleuler übernommen worden zu sein, welcher diesen im Rahmen seiner Beschreibung einer anderen psychischen Erkrankung, der Schizophrenie, verwandte.8 Bleuler führte den Begriff hierbei vermutlich ein, um dadurch die Selbstbezogenheit seiner Patienten zu beschreiben. Er war im Jahr 1911 der erste, der den Begriff „autistisch“ im Rahmen psychischer Erkrankungen verwandte.9
Mitte der 20er Jahre beschrieb die russische Ärztin Grunja Jefimowna Sucharewa in verschiedenen Artikeln Störungsbilder bei Kindern, welche heutzutage überwiegend als autistische Störungsbilder beschrieben werden könnten. Sie verwandte für ihre Beschreibung allerdings nicht den Begriff „autistisch“, sondern subsumierte sie unter der Bezeichnung „schizoide Psychopathie“. Allein die Auffälligkeiten und Beurteilungs-kriterien lassen heute auf eine Verortung der Störungsbilder im Bereich der inzwischen bekannten Autismus-Spektrum-Störung schließen.10 Somit kann auch Sucharewa zu den bedeutenden Persönlichkeiten gezählt werden, welche dazu beigetragen haben, dass die heute als Autismus-Spektrum-Störung bekannte Erkrankung unter anderem erkannt und beschrieben wurde.
Die Artikel von Sucharewa und jene von Asperger zeigen, dass der Begriff „autistisch“ zu dieser Zeit noch vor allem bei der Beurteilung psychischer Störungen von Kindern verwandt wurde.11
Asperger verfasste 1938 seine erste Abhandlung über ein Kind mit „autistischer Psychopathie“ und beschrieb 1944 in seiner Habilitation allerhand diagnostische Kriterien zur Beurteilung des von ihm entdeckten Störungsbildes.12
Laut Asperger galten für das Vorliegen einer autistischen Psychopathie folgende Kriterien:
„Starke Störungen der sozialen Anpassung,
Schwierigkeiten, einfache praktische Fähigkeiten im Alltag zu erlernen,
Auffälliges Blickverhalten,
Wenig Mimik und Gestik,
Stereotype Bewegungen,
Auffällige Sprache und Intonation,
Störung der aktiven Aufmerksamkeit,
Prinzenhaftes Aussehen,
Motorische Ungeschicklichkeit,
Konstanz der Symptomatik ab dem 2. Lebensjahr,
Auffällige Persönlichkeiten in den Familien“13
Der wohl inzwischen allseits (spätestens seit dem Auftreten der Klimaaktivistin Greta Thunberg) bekannte Begriff „Asperger-Syndrom“, auf dem im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher eingegangen wird, wurde nicht von Asperger selbst, sondern erst nach seinem Tod im Jahr 198114 von der Psychaterin Lorna Wing15 im Rahmen einer Zusammen-fassung seiner Beschreibungen bekannt gemacht. Dies geschah trotz einer ebenso erfolgten Zusammenfassung der Schilde-rungen Aspergers durch Krevelen und Kuipers im Jahr 196216 erst zu einem solch vergleichsweise späten Zeitpunkt.17 Lorna Wing erkannte, dass es einige Kinder gab, welche sich im Laufe ihrer Entwicklung „innerhalb des autistischen Spektrums voranbewegt hatten“18, also anscheinend Symptome ganz oder teilweise ablegten.
Kanner beschrieb 1943 in seiner Abhandlung „Autistic disturbances of affective contact“ ebenfalls Diagnosekriterien für die seines Erachtens angeborene Störung:19
„Unfähigkeit, soziale Beziehungen aufzunehmen,
Ausgeprägter sozialer Rückzug,
Sprache wird nicht kommunikativ eingesetzt,
Pronominale Umkehr,
Bestehen auf Gleichheit,
Monotone repetitive Handlungen,
Gute Intelligenz,
Gutes Gedächtnis,
Intelligentes Aussehen,
Symptomatik beginnt im ersten Lebensjahr,
aus Familien mit hohem Bildungsgrad“20
Beim Vergleich der Diagnosekriterien von Asperger und Kanner wird deutlich, dass beide Herren ähnliche Kriterien zugrunde legten. So beschreiben sie zusammenfassend eine Störung im sozialen Bereich, vor allem im affektiven Kontakt, welche sich durch eine gewisse Problematik im Bereich der allgemeinen Kommunikation und der Führung sozialer Beziehungen äußert. Bei den betroffenen Kindern handelt es sich um solche mit normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz aus gutem Hause, welche oftmals nicht nur kommunikative, sondern auch motorische Auffälligkeiten aufweisen. Auf die heutzutage angewandten Diagnosekriterien wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eingegangen. Sie unterscheiden sich erstaunlicherweise nicht in großem Maße von den durch Asperger und Kanner geschilderten.
Asperger und Kanner sahen in den von ihnen beschriebenen Störungen schon ein eigenständiges Krankheitsbild; dennoch wurde das Störungsbild z.B. von Lauretta Bender im Jahr 1958 noch der Schizophrenie zugeordnet. Auch in der sogenannten ICD-9, wobei „ICD“ für „ International Classification of Diseases“21 steht , einer von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichten Klassifikation aller Krank-heiten, wurde noch ein Zusammenhang mit der Schizophrenie angenommen.22 Bei der Veröffentlichung im Jahr 197923 „wurde der frühkindliche Autismus erstmals aufgenommen und noch unter den „anderen Psychosen“ zusammen mit den „Schizophrenien“ und den „affektiven Psychosen“ klassifiziert.“24 In der darauffolgenden Entwick-lung der ICD-10 im Jahr 198925 bildet die autistische Störung als sogenannte tiefgreifende Entwicklungsstörung zusammen mit den spezifischen Entwicklungsstörungen eine eigene Kategorie. Die ICD-10 ist in der Version „2021“ (Am 01.Januar 2022 soll die „ICD-11“ in Kraft treten26 ) bis heute gültig.27 Somit wird heutzutage kein Zusammenhang mehr zur Schizophrenie angenommen und Autismus gilt praktisch als eigenständige Störung.
Im Jahr 1979 kam aufgrund einer Untersuchung von Wing und Gould erstmals die Idee auf, nicht von einer klar definierbaren Störung, sondern eher von einem Spektrum zu sprechen. Der Begriff Spektrum drückt dabei aus, dass es sich bei Autismus um eine Vielfalt von Störungsbildern handeln kann. Wing und Gould erkannten in ihren Untersuchungen, dass es einige Kinder gab, die die Kriterien des frühkindlichen Autismus nicht erfüllten, sehr wohl aber ein sozial auffälliges und somit ein psychatrisch diagnostizierbares Verhalten zeigten.28 „Sie sprachen von einem autistischen Spektrum.“29
Zur besseren Lesbarkeit soll im weiteren Verlauf der Arbeit die Kurzform „Autismus“ zur Bezeichnung der Autismus-Spektrum-Störung ihre An-wendung finden.
Nachfolgend lässt sich die geschichtliche Entwicklung des Begriffes „Autismus-Spektrum-Störung“ anhand der wichtigsten Entwicklungs-schritte in einer Grafik nachvollziehen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie bereits eingangs beschrieben, handelt es sich bei Autismus um ein Störungsbild, welches sehr verschiedenartig ausgeprägt auftreten kann. Es lassen sich aber einige Grundzüge ausmachen, welche je nach Fall mehr oder weniger stark ausgeprägt sind und welche eine Diagnose anhand festgelegter Kriterien ermöglichen.
Charakteristische Beeinträchtigungen im Bereich der sozialen Interaktion können sich hierbei zum Beispiel in Form von Schwächen bei der Führung von zwischenmenschlichen Beziehungen in sämtlichen Lebensbereichen (Familie, Freundschaft, Beruf) äußern. Auf kommuni-kativer Ebene kann es zu Beeinträchtigungen in der Sprachentwicklung sowie im Verstehen und Äußern von nonverbaler Kommunikation, wie zum Beispiel Mimik, kommen. Viele Autisten verfügen zudem über Spezialinteressen und fühlen sich nur mit streng ritualisierten Tagesabläufen wohl – plötzliche Veränderungen können dabei zu großen Problemen führen. Oft erscheinen Autisten aufgrund all dessen nicht altersgemäß entwickelt. „Diese Auffälligkeiten zeigen sich seit frühester Kindheit und bleiben ein Leben lang bestehen.“30
Autisten weisen also gewisse Besonderheiten auf im Gegensatz zu neurotypischen Menschen. „Durch diese Besonderheiten, die kognitive, sensorische, motorische, kommunikative und sprachliche sowie sozial-emotionale Funktionen betreffen, sind Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in unterschiedlichster Weise darin beeinträchtigt, mit der Umwelt und ihren Menschen in eine wechselseitige Interaktion zu treten.“31
Oftmals tritt Autismus nicht als alleinige Störung auf, sondern geht zum Beispiel mit sprachlichen, kognitiven und motorischen Entwicklungs-störungen oder aber psychischen Erkrankungen im Sinne von beispielsweise Phobien, Zwangsstörungen oder Aufmerksamkeitsstörungen einher. Zudem können zusätzlich neurologische, genetische oder stoffwechselbezogene Erkrankungen auftreten. Man spricht dabei auch von komorbiden Störungen.32
Auch wenn die Auffälligkeiten, welche mit dem Autismus einhergehen, oft mehr oder weniger stark ausgeprägt bereits seit dem Kindesalter bestehen, erhalten einige Betroffene die Diagnose erst im Jugend- oder sogar Erwachsenenalter. So unterscheiden sich die Beurteilungskriterien und Indizien für das Vorliegen der Autismus-Spektrum-Störung auch je nach Lebensalter. Da die Konfrontation mit bereits jugendlichen oder gar erwachsenen Autisten im polizeilichen Dienst wahrscheinlicher ist als die mit betroffenen Kindern, soll hierauf im Nachfolgenden der Fokus gelegt werden.
Psychische Störungen können allgemein vor allem anhand zweier Klassifikationssysteme kategorisiert werden: anhand der bereits genannten ICD und anhand der DSM (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen, Aktuell DSM-IV) – letzteres umfasst entgegen der ICD, welche sämtliche medizinische Fachbereiche umfasst, lediglich psychische Erkrankungen. Beide Klassifikationssysteme verorten den Autismus im Bereich der Entwicklungsstörungen.33 Genauer gesagt lässt sich der Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung bezeichnen, die vor allem mit Schwierigkeiten im sozialen Bereich einhergeht.34 Es kommt hierbei oft auch zu schwerwiegenden Entwicklungsproblemen im Sinne von Abweichungen oder Verzö-gerungen im Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion, der Kommunikation allgemein und der Ausprägung von Interessen und Aktivitäten.35 Gemäß ICD ist „diese Gruppe von Störungen durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten charakterisiert“36 und findet sich unter dem Punkt „F84“ wieder. Das DSM fasst die Entwicklungsstörungen unter dem Punkt „299: Pervasive Development Disorders“ zusammen.37 Aufgrund der Ähnlichkeit der Diagnosekriterien in den Kategorisierungen der ICD und des DSM soll die Betrachtung der ICD hier als Beispiel genügen.
Die ICD-10 umfasst insgesamt elf Kategorien. In diesen werden unter den Punkten F00 bis F99 Erkrankungen im Bereich der organischen Störungen, der psychotropen Substanzen, der Schizophrenie und wahnhaften Störungen, der affektiven Störungen, der neurotischen Störungen, der Verhaltens-auffälligkeiten, der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, der Intelligenzminderung, der Entwicklungs-störungen, dem Kinder- und Jugendalter und der sonstigen psychischen Störungen erfasst. In der Kategorie der Entwicklungsstörungen, welche die Punkte F80 bis F89 beinhaltet, findet sich unter Punkt F84 der Autismus wieder.38
Grundlegende Gemeinsamkeiten der Entwicklungsstörungen, die neben dem Autismus, also einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, auch zum Beispiel kombinierte Entwicklungsstörungen oder eine reine Beeinträchtigung der motorischen Funktionen umfassen, sind „der Beginn ausnahmslos im Kleinkindalter oder der Kindheit; eine Entwicklungseinschränkung oder -verzögerung von Funktionen, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verknüpft sind [und ein] stetiger Verlauf ohne Remissionen und Rezidive.“39 Die Sprache, visuell-räumliche Fähigkeiten und die Bewegungskoordination sind am häufigsten von Defiziten betroffen. Einige dieser Defizite können dabei während des Älterwerdens abnehmen, obgleich meist ein Teil bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt.40
Der Punkt F84 (tiefgreifende Entwicklungsstörungen) gliedert sich in weitere Unterpunkte:
F84.0 - Frühkindlicher Autismus
F84.1 - Atypischer Autismus
F84.2 - Rett-Syndrom
F84.3 - Andere desintegrative Störung des Kindesalters
F84.4 - Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungs-stereotypien
F84.5 - Asperger Syndrom
F84.8 - Sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen
F84.9 - Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, nicht näher bezeichnet
Alle unter diesen Unterpunkten erfassten Störungen haben gemeinsam, dass Defizite in der wechselseitigen sozialen Interaktion und der allgemeinen Kommunikation auftreten. Zudem weisen Betroffene häufig ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire an Interessen und Aktivitäten auf.41
Aufgrund der Fülle an Diagnosekriterien soll hier nur näher auf jene zum Frühkindlichen Autismus, zum Atypischen Autismus, zum Rett-Syndrom und zum Asperger-Syndrom eingegangen werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grundsätzlich handelt es sich beim frühkindlichen Autismus um eine auffällige oder beeinträchtigte Entwicklung, welche sich bereits vor dem dritten Lebensjahr äußert. Dabei tritt eine Beeinträchtigung in mindestens einem der drei genannten Bereiche auf:
- „rezeptive oder expressive Sprache, wie sie in der sozialen Kommunikation verwandt wird
- Entwicklung selektiver sozialer Zuwendung oder reziproker [gegenseitiger (A.d.V.)] sozialer Interaktion
- funktionales oder symbolisches Spielen“42
Auffälligkeiten im Bereich der Sprache äußern sich hierbei häufig durch ein mangelndes Sprachverständnis (die Kinder verstehen nur schlecht, was andere ihnen mitteilen möchten).
Zudem müssen insgesamt sechs Aspekte aus weiteren drei Kategorien erfüllt sein:
Kategorie Nummer eins: Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Interaktion (diese müssen mindestens in drei Bereichen vorliegen)
- „Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden
- Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen, mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen (in einer für das geistige Alter angemessenen Art und Weise trotz hinreichender Möglichkeiten)
- Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder devianten [von der gesellschaftlichen Norm abweichenden (A.d.V)] Reaktion auf die Emotionen anderer äußert; oder Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext; oder nur labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltens
- Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen (zum Beispiel Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder zu erklären).“43 Kategorie Nummer zwei: Auffälligkeiten im Bereich der allgemeinen Kommunikation (mindestens in einem Bereich)
- „Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik als Alternative zur Kommunikation (vorausgehend oft fehlendes kommunikatives Geplapper)
[...]
1 https://zitatezumnachdenken.com/leonardo-da-vinci
2 Preißmann, 2011, S. 11
3 So lautet der Titel des Buches von Steve Silbermann, welches sich mit der Geschichte verschiedenster Betroffener beschäftigt: „Geniale Störung – Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken“, Steve Silbermann, Dumont Köln, 2019
4 https://autismus-institut-luebeck.de/autismus-im-detail/was-ist-autismus.html
5 https://www.autismus-owl.de/fileadmin/news/_Kennt_man_einen_Autisten__kennt_man_einen_Autisten_.pdf
6 vgl. „Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) – Ein integratives Lehrbuch für die Praxis“, Michele Noterdaeme, Angelika Enders (Hrsg.), Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 2010 (nachfolgend genannt: „Noterdaeme, Enders, 2010)
7 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.13-20
8 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.13
9 vgl. http://www.autismushamburg.de/was-ist-autismus.html
10 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.13 sowie https://www.biologie-seite.de/Biologie/Grunja_Jefimowna_Sucharewa
11 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.13
12 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.14
13 Noterdaeme, Enders, 2010, S.14, Übersicht 1.1. „Diagnostische Kriterien der autistischen Psychopathie nach Asperger 1944“
14 vgl. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/7208735/
15 vgl. https://www.biologie-seite.de/Biologie/Lorna_Wing
16 vgl. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/14459626/
17 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.14
18 Attwood, 2008 S.18
19 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.15
20 Noterdaeme, Enders, 2010, S.14, Übersicht 1.2. „Diagnostische Kriterien des frühkindlichen Autismus nach Kanner 1943“
21 https://reimbursement.institute/glossar/icd-10/
22 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.16
23 vgl. https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/historie/icd-vorgaenger/icd-9/
24 Noterdaeme, Enders, 2010, S.16
25 vgl. https://reimbursement.institute/glossar/icd-10/
26 vgl. https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-11/
27 vgl. https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/
28 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.16
29 Noterdaeme, Enders, 2010, S.16
30 Tröster, Lange, 2019, S.1
31 https://autismus-institut-luebeck.de/autismus-im-detail/was-ist-autismus.html
32 vgl. Tröster, Lange, 2019, S.8
33 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.19
34 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.11
35 vgl. Tröster, Lange, 2019, S.8
36 Noterdaeme, Enders, 2010, S.20
37 vgl. Noterdaeme, Enders, 2010, S.19
38 vgl. https://www.therapie.de/psyche/info/index/icd-10-diagnose/f8-entwicklungsstoerungen/f8-ueberblick/
39 https://www.therapie.de/psyche/info/index/icd-10-diagnose/f8-entwicklungsstoerungen/f8-ueberblick/
40 vgl. https://www.therapie.de/psyche/info/index/icd-10-diagnose/f8-entwicklungsstoerungen/f8-ueberblick/
41 https://www.therapie.de/psyche/info/index/icd-10-diagnose/f8-entwicklungsstoerungen/f84-tief-greifende-entwicklungsstoerungen/
42 https://autismus-kultur.de/autismus/icd-diagnosekriterien.html
43 ebenda (ebd.)