Examensarbeit, 2021
247 Seiten, Note: 2,5
1 Das Medium Bilderbuch im Literaturunterricht
1.1 Qualitätskriterien von Bilderbüchern
1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung
1.2.1 Early literacy
1.2.2 Verbal literacy
1.2.3 Visual literacy
1.2.4 Literary literacy
1.2.5 Media literacy
1.2.6 Social literacy
2 Ganzheitliches Lernen durch Bilderbücher
2.1 Literale Erfahrungen durch Vernetzung der Kompetenzbereiche
2.1.1 Geförderte literacy-Konzepte in Bilderbüchern
2.1.2 Literarischen Lernen in den Kompetenzbereichen der Bildungspläne
2.2 Ganzheitliches Lernen durch die Berücksichtigung der Lerntypen
3 Umsetzung ganzheitlicher Literaturerfahrung durch den Handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht
3.1 Chancen und Grenzen des HPU
3.2 Kompetenzbereichsvernetzung durch HPU-Verfahren
4 Kompetenzbereichsvernetzende Unterrichtseinheit am Beispiel des Bilderbuchs „Das rote Paket“
4.1 Verortung der kompetenzbereichsvernetzten Lernziele im Kernlehrplan
4.2 Themen-Übersicht der kompetenzbereichsvernetzten Unterrichtseinheit
4.3 Methodisch-didaktische Analyse: Ganzheitliches Lernen durch den medialen Transfer von Bilderbüchern zu Filmen
4.3.1 Methodisch-didaktische Ausführung der Unterrichtseinheit
4.3.2 Schülerorientierung durch Differenzierung
4.4 Weiterführende thematische Anknüpfungspunkte
Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang I
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2: Symmetrisches Verhältnis mit Anreicherung im Bilderbuch "Wo gehst du hin, Opa?" (Quelle: Endres & Schulze 2018)
Abbildung 3: Komplementäres Verhältnis im Bilderbuch "Ich bin für mich!" (Quelle: Baltscheit & Schwarz 2011)
Abbildung 4: Kontrapunktisches Verhältnis im Bilderbuch "Als Mama noch ein braves Mädchen war" (Quelle: Larrando & Desmarteau 2012)
Abbildung 5: Lernchancen beim Rezeptionsprozess traditioneller literarischer Texte (Quelle: eigene Erarbeitung)
Abbildung 6: Lernchancen beim Rezeptionsprozess von Bilderbüchern (Quelle: eigene Erarbeitung)
Abbildung 7: literacy-Vernetzung in den Kompetenzbereichen der KMK (2005: 9-13) (Quelle: eigene Erarbeitung; Bild Tür: Pixabay)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: HPU-Verfahren und ihre Zuordnung zu Kompetenzbereichen der KMK Bildungsstandards Deutsch Primarstufe zur Verdeutlichung des Nutzens von HPU zur Kompetenzbereichsvernetzung
Tabelle 2: Themenübersicht Unterrichtseinheit
Tabelle 3: Abbildungsverzeichnis Bildquellen
Tabelle 1: Exemplarische Vernetzung der Kompetenzbereiche in Klassenstufe 3 (MfBFFK Saarland 2009: 24-35) VI
Tabelle 2: Analyse – Gegenüberstellung der Kompetenzen literarischen Lernens nach Spinner (vgl. 1.2.4 Literary literacy) und der KMK-Bildungsstandards (2005: 9-13).
Tabelle 3: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 1) XII
Tabelle 4: Verlaufsplanung der ersten Doppelstunde
Tabelle 5: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 2) XX
Tabelle 6: Verlaufsplanung der zweiten Doppelstunde
Tabelle 7: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 3) XXX
Tabelle 8: Verlaufsplanung der dritten Doppelstunde
Tabelle 9: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 4) XXXVI
Tabelle 10: Verlaufsplanung der vierten Doppelstunde
Tabelle 11: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 5)
Tabelle 12: Verlaufsplanung fünfte Doppelstunde
Tabelle 13: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 6)
Tabelle 14:Verlaufsplanung der sechsten Doppelstunde
Tabelle 15: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 7)
Tabelle 16: Verlaufsplanung der siebten Doppelstunde
Tabelle 17: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 8)
Tabelle 18: Verlaufsplanung der achten Doppelstunde
Tabelle 19: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 9)
Tabelle 20: Verlaufsplanung der neunten Doppelstunde
Tabelle 21: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 10)
Tabelle 22: Verlaufsplanung der zehnten Doppelstunde
Tabelle 23: Förderung zentraler Kompetenzen der vier Kompetenzbereiche (Doppelstunde 11)
Tabelle 24: Verlaufsplanung der elften Doppelstunde
Tabelle 25: Einbindung exemplarischer Teilkompetenzen des Musikunterrichts
Tabelle 26: Einbindung exemplarischer Teilkompetenzen des Sportunterrichts
Tabelle 27: Einbindung exemplarischer Teilkompetenzen des Kunstunterrichts
Tabelle 28: Einbindung exemplarischer Teilkompetenzen des Religionsunterrichts
Tabelle 29: Einbindung exemplarischer Teilkompetenzen des Sachunterrichts
„Non vitae, sed scholae discimus.“
- Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.
(Lucius Annaeus Seneca, ca. 62 n. Chr. )
Obwohl diese Kritik am Schulsystem seit beinahe 2000 Jahren besteht und sich seitdem sowohl schulisch als auch gesellschaftlich viel geändert hat (vgl. dazu Geiss & De Vincenti 2012; Konrad 2007; Reyer 2006), wird die Nachhaltig- – und damit auch die Sinnhaftigkeit – schulischen Wissens noch heute in Frage gestellt (vgl. z.B. Baller 2019; Kreisel 2019; Deutschlandfunk Kultur 2013). Viele Untersuchungen zeigen, dass die meisten Schüler*innen1 zum erfolgreichen Absolvieren der Bildungsinstitutionen auf das sog. Bulimie-Lernen zurückgreifen. Das ist eine Lern-Methode, in der in kürzester Zeit viele Fakten und Lerninhalte auswendig gelernt und kurz nach den Prüfungen wieder vergessen werden (vgl. Göttlich 2018: 253). Viele Bildungsinstitute kritisieren diese Lern-Methode aufgrund ihrer Oberflächlichkeit und geringen Haltbarkeit. Sie ist eine effiziente Copingstrategie für ein Bildungssystem, das sich zu wenig Zeit nimmt bzw. das Schaffen von Zeiträumen erschwert, in denen Lerninhalte vertieft, hinterfragt und selbstständig angewendet und damit nachhaltig erlernt werden können (vgl. ebd.). Lernen ist ein natürlicher und lebenslanger Prozess und doch verlieren viele Kinder im Laufe ihrer Schullaufbahn ihren Wissensdurst und ihre Freude am Lernen (vgl. Abt & Schumschal 2020: 15). Darin zeigt sich die Notwendigkeit die bisherigen Lehr- und Lernmethoden hinsichtlich ihrer Motivierung und Nachhaltigkeit zu reflektieren, stellt der zentrale Auftrag der Grundschule doch die „Entfaltung grundlegender Bildung“ (KMK 2005: 6) dar.
Für die Ausbildung von Bildung nimmt Motivation und Selbstwirksamkeit einen zentralen Stellenwert ein, da „Bildung immer lebenslange Selbstbildung bedeutet“ (Braun 2020: 2). Es ist nicht mit dem oberflächlichen Einüben vorgegebener Fakten gleichzusetzen. Bildung ist die eigenständige Sinnkonstruktion, das aktive Handeln mit neuen Kompetenzen, das kritische Reflektieren und Transformieren auf neue Situationen sowie die Neugierde, „immer mehr von dem kennenzulernen, was es auf der Welt zu wissen und zu verstehen gibt“ (ebd.). Die Wahrnehmung und Reflexion von Sprache muss dabei als Fundament von Bildung angesehen werden. Durch Sprache begreifen Menschen die Welt, indem sie Dingen Begriffe zuordnen, die immer eine Bedeutung oder Wertung in sich tragen. Dieses Bewusstsein ist notwendig, um die Wahrnehmung der eigenen Person oder gesellschaftliche Werte als Konstruktion zu begreifen und dadurch offen und respektvoll mit anderen Weltanschauungen umzugehen (vgl. ebd.: 3). Infolgedessen entwickelt sich eine explorative, offene, reflektive Grundhaltung, die das Streben nach neuem Wissen und damit die Lernmotivation und die Auseinandersetzung mit der Welt fördert. In einer schriftbasierten Kultur, in der Lesen und Schreiben zu den Kulturtechniken gehören, ist es für eine aktive selbstbestimmte, gesellschaftliche und politische Teilhabe unablässig, mit Schriftsprache kompetent umzugehen (Gehrer & Artelt 2013: 168). In literarischen Werken (Bücher, Filme, Hörspiele, etc.) werden die verschiedensten Lebensformen und Denkweisen zum Kennenlernen und Nachempfinden aufgearbeitet. Damit sind eine tiefgründige Rezeption und Reflexion von Literatur elementar für die eigene Identität, zwischenmenschliche Kommunikation sowie kritischer politischer Teilhabe. Darin zeigt sich, dass Literaturrezeption eine kombinierte Verarbeitung deklarativen und prozeduralen Wissens erfordert (vgl. Braun 2020: 6), da die textbasierten Fakten durch eigenaktive Sinnkonstruktion ergänzt und in Beziehung gesetzt werden müssen, um den das literarische Werk interpretieren zu können. Die aktuelle Literaturdidaktik versteht den Leser nicht als passiven Rezipienten, der die eindeutige Intension des Autors eines perfekten Texts in sich aufnimmt, sondern als aktiven „Co-Autor“ (Frizen et al. 1996: 28). Dieser schafft durch die Verknüpfung des Textes mit eigenen Vorerfahrungen und Einstellungen eigene Textinterpretationen (vgl. ebd.). Diese Offenheit literarischer Texte liegt in den sog. Leerstellen nach Iser begründet, „die von den Vorstellungen, Erfahrungen und Wünschen des Lesers konkretisiert werden müssen“ (Bismarck 2019: 25). Das dient der Verbindung der eigenen Lebenswelt mit der fiktionaler Figuren. Diese Verknüpfung ermöglicht erst einen Wechsel von der Perspektive eines Außenstehenden „in die Perspektive des Dabeiseins“ (Köppert, 1997: 89).
Ein traditioneller, fragen-entwickelnder Literaturunterricht, der die aktive Rolle des Lesers bei der Sinnkonstruktion unterschätzt und Lernziele von feststehenden Textinterpretation anstrebt (vgl. dazu Beutin et al. 2017), ist problematisch: Er unterdrückt die Freude und den Mut der Schüler, selbstständig an einen Text heranzutreten, diesen zu hinterfragen, selbstständig Entdeckungen zu machen und Interpretationen zu wagen. Dadurch wird ein dressiertes Lesen geschult, dass den Rezeptionsprozess eines literarischen Texts nicht als Ausschnitt der Welt und als Teil der eigenen Lebenserfahrung versteht, sondern auf richtigen, der Lehrkraft gefallenden, überprüfbaren Antworten abzielt (vgl. Haas 2013: 39). Folglich bleibt vielen Schülern der Zugang zur Literatur verwehrt, die Lesemotivation sinkt, wodurch auch die Leseleistung stagniert (vgl. Goy 2017: 145-147). Schreibblockaden können durch mangelnde Freude an Literatur sowie der Angst vor der Herausforderung einen perfekten, von den Lehrkräften als hochwertige Literatur eingeschätzten Text zu verfassen, entstehen (vgl. Kruse 2000: 21-24). Eine eindimensionale literarische Beschulung wirkt sich demnach negativ auf viele schulische Kompetenzbereiche aus und verkennt die Verknüpfung der realen und fiktiven Welt und damit die Bedeutung der Selbstbildung.
Daraus erwächst die Verantwortung des Literaturunterrichts, den Leser in seinem Sinnbildungsprozess zu unterstützen, Bezüge zwischen Text und individuellen Erfahrungen zu ermöglichen und dadurch Lesen als Selbstbildung erfahren und genießen zu können. Im Verlauf der Grundschule sind aufgrund der Herausforderung im Lesenlernen sowie dem Umbruch literarischer Interessen im Kindesalter mehrere potenzielle Lesekrisen zu verorten. Diese bergen die Gefahr, dass viele Kinder zu Nicht-Lesern werden und sich dem Literaturangebot verweigern (vgl. Kaufmann 2013: 6). Untersuchungen zeigten, dass sich visuelle Elemente in literarischen Texten auf die Bereitschaft von Kindern auswirkten, sich auf schwierigere Texte einzulassen und sie in ihrem Sinnbildungsprozess unterstützen (vgl. ebd.: 28-29).
Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Literatur zur Ausbildung von Bildung sowie der Kurzweiligkeit der Lerninhalte in Schulen, untersucht die vorliegende Arbeit den Einsatz von Bilderbüchern für einen nachhaltigen Literaturunterricht. Das Ziel dieser Arbeit ist, konkrete Umsetzungsmöglichkeiten an Bilderbüchern zu konstruieren, die es erlauben, Literatur ganzheitlich zu erfahren und erworbene Lerninhalte nachhaltig im Gedächtnis zu sichern. Seit den 1970er Jahren, v.a. in den letzten 25 Jahre, wurden die Chancen von Bilderbüchern für die Lese- und Schreibförderung und Kompetenzförderung anderer Schulfächer in der Fachdidaktik untersucht (vgl. Kurwinkel 2020: 195-196; Ritter & Ritter 2019: 25-27; Hollstein & Sonnenmoser 2017: 30 & 98-99). Die Arbeit „Das Auge liest mit: Bilderbücher im Deutschunterricht der Primarstufe – Sprachliche Grundtätigkeiten ganzheitlich fördern am Beispiel des Bilderbuchs ‚Das rote Paket‘“ zielt darauf ab, einen neuen Fokus auf nachhaltige Lernprozesse durch ganzheitliche Lernsettings zu legen. Dafür nähert sich die Arbeit zunächst einer Definition des Bilderbuchs an (vgl. 1 Das Medium Bilderbuch im Literaturunterricht) und erarbeitet zentrale Charakteristika dergleichen, die zum gewinnbringenden Einsatz im Unterricht erfüllt sein müssen (vgl. 1.1 Qualitätskriterien von Bilderbüchern). Dieser potenzielle Beitrag von Bilderbüchern zur Förderung grundlegender Bildungsinhalte wird daraufhin unter der Perspektive der Grundbildung analysiert (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung). Im Anschluss wird die Bedeutung der, für Bilderbücher charakteristischen, Bild-Text-Interdependenzen für ganzheitliche Fördereinheiten herausgearbeitet (vgl. 2 Ganzheitliches Lernen durch Bilderbücher). Im Rahmen dieser Untersuchung wird die Bedeutung der einzelnen Kompetenzbereiche der KMK bzw. die Notwendigkeit der Kompetenzbereichsvernetzung für ganzheitliches Lernen deutlich (vgl. Literale Erfahrungen durch Vernetzung der Kompetenzbereiche), ebenso wie das Ansprechen verschiedener sinnhafter Zugänge zur Literatur als Mittler zentraler Kompetenzen (vgl. 2.2 Ganzheitliches Lernen durch die Berücksichtigung der Lerntypen). Die verschiedenen theoretischen Prinzipien tiefgründiger Literaturrezeption und nachhaltiger Lernsettings werden im handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht zusammengeführt und auf Eignung zum Einsatz von Bilderbüchern kontrolliert (vgl. 3 Umsetzung ganzheitlicher Literaturerfahrung durch den Handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht). Um die praktische Realisierung der dargelegten theoretischen Zusammenhänge zu überprüfen, wird das Bilderbuch „Das rote Paket. Eine Erzählung über das Schenken“ von Linda Wolfsgruber und Gino Alberti auf seine Unterrichtstauglichkeit analysiert (vgl. 4 Kompetenzbereichsvernetzende Unterrichtseinheit am Beispiel des Bilderbuchs „Das rote Paket“) und in Bezug auf kompetenzbereichsvernetzende, nachhaltige Lernsettings in einer exemplarischen Unterrichtseinheit ausgearbeitet (vgl. 4 Kompetenzbereichsvernetzende Unterrichtseinheit am Beispiel des Bilderbuchs „Das rote Paket“).
Obwohl Bilderbücher eine lange Geschichte aufweisen (vgl. nähere Informationen unter Kurwinkel 2020: 49-62; Doderer & Müller 1973), besteht bis heute keine einheitliche Definition. Je nach Forschungszeitraum und -perspektive, die sich zuweilen insbesondere auf ästhetische, literarische, fachwissenschaftliche oder didaktische Aspekte in Bilderbüchern fokussieren, entstehen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und dadurch unterschiedliche Definitionen, die z.T. stark vereinfacht erscheinen (vgl. Preußer 2015: 67). Im Folgenden sollen zentrale, übergreifende Charakteristika von Bilderbüchern herausgearbeitet werden, um sich in der vorliegenden Arbeit einer über alle Fachdisziplinen hinausgehende Definition anzunähern und damit ein grundlegendes Verständnis zum Bilderbuch und seiner Komplexität zu schaffen.
Zu Beginn müssen weit verbreitete Irrtümer bzgl. des Adressatenalters und des Umfangs von Bilderbüchern revidiert werden, um Auswirkungen dieser nicht mehr zeitgemäßen Vorstellungen auf das Verständnis von Bilderbüchern zu verhindern. Bilderbücher wurden und werden immer noch von Laien in der Kinder- und Jugendliteratur verortet, als „ein für Kinder von 2-8 Jahren entworfenes Buch“ (Künnemann & Müller 1984: 159) mit i.d.R. 30 Buchseiten (vgl. Thiele 2003: 71). Diese festgesetzten Grenzen des Umfangs eines Bilderbuchs stimmen in vielen Fällen mit der tatsächlichen Seitenzahl überein, dürfen jedoch nicht als Kriterium eines Bilderbuchs verallgemeinert werden, da auch modernere Bilderbücher mit bis zu 160 Seiten auf dem Buchmarkt existieren (vgl. Kurwinkel 2020: 17). Die Adressatenzuordnung findet sich auch im weitverbreiteten kommerziellen Nutzen von Bilderbüchern, die sich in der großen Masse an das Säuglingsalter bis hin zu zehnjährigen Kindern bzw. die von diesen Kindern besuchten Bildungseinrichtungen der Krippe, des Kindergartens und der Grundschule richten (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012: 3). Eine solche Definition grenzt jedoch viele All-Age-Bilderbücher aus, die jugendliche und erwachsene Konsumenten ansprechen und damit der Crossover-Literatur zugeordnet werde können (vgl. nähere Informationen unter Blümer 2020; Becket 2009: 7-8). Diese bereiten inhaltlich in ihrer erzählerischen, bildnerischen und medialen Ausarbeitung Themen und Konflikte auf, die die Grenzen der Kinder- und Allgemeinliteratur verschwimmen lassen (vgl. Kurwinkel 2020: 15-16). Damit muss jedes Bilderbuch individuell als ein „komplexe[s], offene[s] Bild-Text-Medium“ (Thiele 2011: 218) betrachtet und als solches hinsichtlich des Adressatenalters und des Umfangs analysiert werden.
Weitere Kategorisierungsversuche von Bilderbüchern konzentrieren sich z.T. auf die mediale Umsetzung des literalen Bilderbuchtextes. Darunter zählen etwa die Schwere des Papiers oder die Form der Bindung oder andere medialen Aufbereitungen im Medienverbund, wie Faltbilderbücher, Bilderbuchverfilmungen, Theaterstücke, Hörbücher bzw. -spiele oder interaktive Versionen in Bilderbuch-Apps (vgl. dazu Kurwinkel 2020: 36-48; Oetken 2019).
Mit der Abkehr von der Kindertümelei um die 1970er Jahre entstehen neue literale Texte, die Kindern sowohl Sensibilität und Geschick für soziale Probleme als auch Sachkompetenz zutrauen. Dabei kann grob zwischen den Kategorien eines problemorientierten und eines Sachbilderbuchs unterschieden werden (vgl. Hollstein & Sonnenmoser 2017: 68-97). Problemorientierte Bilderbücher wenden sich von dem Irrglauben eines „glückliche[n] und von Konflikten freie[n] Kinderleben[s]“ (ebd.: 68) ab: Ihr Ziel ist es, durch Darstellung konträrer Einstellungen und Unsicherheiten das Nachempfinden, die Reflexion und Stellungnahme zum Konflikt und dessen Bewältigung in den Mittelpunkt zu rücken. Die Arten möglicher Konflikte reichen von Aggression, über Einsamkeit, Trennung der Eltern, Armut, Krankheit, bis hin zum Tod, Rassismus, Umweltverschmutzung und diversen anderen (vgl. ebd.: 76-78). Demgegenüber steht die Kategorie der Sachbilderbücher, die primär das Ziel verfolgen, Wissen zu vermitteln (vgl. ebd.: 79). Darunter können unterschiedliche Abstufung des Ziels, das Wissen unterhaltsam zu vermitteln, vom sachlich informierenden, über erlebnishaft gestaltete bis hin zu Mischformen identifiziert werden. Mischformen können ihrer Klassifikation nicht eindeutig systematisiert werden (vgl. ebd.: 79-82; Hussong 1984: 71-74).
Das zentrale Charakteristikum eines Bilderbuchs stellt jedoch in allen Forschungsperspektiven, die Kombination aus Bild und Text sowie deren verschiedenen Wechselwirkungen dar. Diese unterschiedlichen Formen gegenseitiger Einflussnahme auf die Erzählung durch den Bild- und Schrifttext, auch Bild-Text-Interdependenzen genannt, können nach unterschiedlichen Taxonomien klassifiziert werden (vgl. Übersicht in Staiger 2019a: 22). Dabei gilt der Systematisierungsversuch von Nikolajeva und Scott (2006) als differenziert und übersichtlich, da dieser bestehenden Taxonomien aufgreift und zu fünf Abstufungen weiterentwickelt (vgl. Staiger 2019a: 21-22). Bild und Schrifttext stehen in der ersten Abstufung in einem symmetrischen Verhältnis, wenn sich die Informationen aus Bild und Text zu großen Teilen doppeln (vgl. Nikolajeva & Scott 2006: 14), folglich gegenseitig redundant für das Verständnis der Erzählung sind. Der Aussagegehalt kann minimal bis signifikant in den jeweiligen Zeichensystemen des Bild- und Schrifttexts angereichert werden, sodass sich unterschiedliche Grade ergeben, in denen sich die Aussagen des Bild- und Schrifttexts durch Informationsanreicherung gegenseitig ergänzen (vgl. Staiger 2019a: 22). Während der erste Auszug (vgl. Abb.1) aus dem Bilderbuch „Wo gehst du hin, Opa?“ (Endres & Schulze 2018) ein symmetrisches Bild-Text-Verhältnis aufweist, füllen die Bilder in Abb.2 die literarische Leerstelle der Vorstellung der Protagonistin mit Informationen aus und erzählen dadurch weitere Geschichten. Damit wird die ausschließlich unterstützende Funktion von Bild- und Schrifttext zugunsten einer wechselseitigen Korrespondenz und Informationsanreicherung überwunden.
Abbildung 1 : Symmetrisches Verhältnis im Bilderbuch "Wo gehst du hin, Opa?" (Quelle: Endres & Schulze 2018)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 : Symmetrisches Verhältnis mit Anreicherung im Bilderbuch "Wo gehst du hin, Opa?"
(Quelle: Endres & Schulze 2018)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Komplementäres Verhältnis im Bilderbuch "Ich bin für mich!" (Quelle: Baltscheit & Schwarz 2011)
Diese signifikante Anreicherung kann ein solches Ausmaß einnehmen, dass die zusätzlichen Aussagen der Bild- und Schrifttexte so stark erweitert werden, dass „beide narrative[n] Ebenen ineinandergreifen und abwechselnd das Erzählen übernehmen“ (Thiele 2011: 225). Dies bezeichnen Nikolajeva und Scott als komplementäres Verhältnis (vgl. Staiger 2019a: 22). So erzählt ein Drittel der Bilderbuchseiten „Ich bin für mich!“ (Baltscheit & Schwarz 2011) allein durch Bilder ohne Schrifttext die Geschichte der Wahl unter den Tieren weiter. In ihrer Detailtreue werden in der Geschichte sowohl Gefühl als auch Information abgebildet, Fragen teilweise aufgelöst und neue literarische Leerstellen entstehen gelassen, die vom Rezipienten durch Vermutungen und Interpretationen gefüllt werden müssen (vgl. Abb.3).
Abbildung 4: Kontrapunktisches Verhältnis im Bilderbuch "Als Mama noch ein braves Mädchen war" (Quelle: Larrando & Desmarteau 2012)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Greifen Bild- und Textebene jedoch nicht komplementär ineinander, sondern vermitteln gegensätzliche Informationen, die erst in ihrer Kombination die eigentliche Botschaft der Erzählung wiedergeben, so entsteht ein kontrapunktisches Verhältnis (vgl. Kurwinkel 2020: 178). Während der Schrifttext in Abb.4 vom guten Verhalten der Mutter als Kind berichtet, beweist der Bildtext das Gegenteil. Erst die Kombination aus beiden zeigt die Perspektiven der Verklärung bzw. der Lüge und die Perspektive der Wahrheit, die zur Interpretation des Schrifttexts für den Rezipienten führen und zu einer erheiternden Geschichte verschmelzen. Stehen Bild- und Schrifttext hingegen vollkommen unvereinbar gegenüber und schließen sich in ihren Aussagen grundsätzlich aus, spitzt sich das kontrapunktische Verhältnis zum Widerspruch zu (vgl. Nikolajeva & Scott 2006: 12).
Innerhalb eines Bilderbuchs sind häufig mehrere der beschriebenen fünf Bild-Text-Interdependenzen als Mischformen vorzufinden (vgl. Staiger 2019a: 22). Im Gegensatz zu illustrierter Literatur kommen Bildern in Bilderbüchern demnach eine eigene narrative Funktion zu. Schließlich wird der literarische Text nicht allein durch die lesende oder zuhörende Sinnentnahme aus dem Schrifttext aufgenommen, sondern gemeinsam oder z.T. auch allein durch die Bilder. Das Auge liest die Bilder bei der Bilderbuchrezeption mit, und zwar nicht als Illustration des Gelesenen bzw. Gehörten, sondern als eigenständige Vermittlung von codierten literalen Informationen, die den literarischen Text erst vervollständigen und den Schrifttext in seiner Interpretation konkretisieren.
Für den Einsatz von Bilderbüchern im Literaturunterricht muss zunächst die Auswahl eines Bilderbuchs hinsichtlich ihrer Eignung zum Erreichen von Lernzielen analysiert werden. Dabei werden Bilderbücher grob in zwei Qualitätsstufen eingeteilt. Der Mehrwert sog. Warenhausbilderbücher wird aufgrund eindimensionaler Darstellung einer problemlosen Welt als sehr gering beurteilt (vgl. Dehn & Thiele 1985), da Lernen erst durch kognitive Konflikte, die als gerade noch bewältigbare […] Herausforderungen empfunden werden (vgl. Abt & Schumschal 2020: 16), erfolgt. Diese Warenhausbilderbücher trauen den Rezipienten keinen Umgang mit Konflikten zu, sodass sowohl der Bild- als auch Schriftinhalt einfach gehalten und keine tiefgründigen Interpretationsspielräume lässt. Dem gegenüber stehen „künstlerisch und inhaltlich anspruchsvolle Bilderbücher“ (Dehn & Thiele 1985: 142), die sich u.a. durch die Darlegung komplexer Inhalte und nicht eindeutig lösbarer Konflikte, Mehrdeutigkeit, Anregungen zum Perspektivenwechsel sowie durchdachten Bild-Text-Interdependenzen auszeichnen (vgl. Ritter & Ritter 2019: 27). Um literarische Kompetenzen bei den Rezipienten anzubahnen, sollten Bilderbücher nach Merklinger und Preußer (2014: 159) folgende sechs Kriterien erfüllen: Zunächst sollten Bilderbücher für die Rezipienten bedeutsame Fragen oder Konflikte darlegen, damit die Rezipienten in ihrem ganzen Wesen sowohl emotional als auch kognitiv angesprochen fühlen (vgl. 2 Ganzheitliches Lernen durch Bilderbücher). Bilderbücher sollten Leerstellen aufweisen, die die Rezipienten selbst interpretieren und nach ihren Erfahrungen und Eindrücken füllen können. Dabei ist zentral, dass offene Deutungsspielräume existieren, sodass keine eindeutige Interpretation erkennbar ist, sondern verschiedene diskutiert und vom Text auch begründet zugelassen werden können. Das können sowohl Bild und Text unterstützen, indem sie die Imagination der Rezipienten anregen, als auch zu Irritationen führen, um Anlässe zu schaffen, sich selbst und die eigene Wahrnehmung zu reflektieren. All diese Aspekte sollten in einer narratoästhetischen und spannenden Erzählung zusammengefügt werden, um die emotionale Beteiligung zu steigern, die Perspektivenübernahme zu fördern und die Lesemotivation auszubauen.
Wissenschaftler der Universität Erfurt belegten in Studien, dass bereits Leseanfänger nur durch solch komplexe Bilderbücher literarische Erfahrungen und Leseanregungen gewonnen haben (vgl. Plath 2014: 74). Dieser Mehrwert konnte in der Gruppe mit vereinfachten literarischen Texten nicht beobachtet werden (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass komplexe Bilderbücher bereits in der Primarstufe eingesetzt werden sollten, um die Lernchancen, die dieses Medium bietet, so früh wie möglich zu nutzen (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung).
Die Vielfalt des pädagogischen Mehrwerts zum Bilderbucheinsatz in der (Grund-)Schule wurde vielfach belegt und erläutert (vgl. u.a. Kurwinkel 2020: 193-207; Knopf & Abraham 2019a; Knopf & Abraham 2019b; Hollstein & Sonnenmoser 2017: 98-259; Thiele 2010). Die Besonderheit am Bilderbuch liegt darin begründet, dass sich sowohl Lernziele in allen Klassenstufen und Fächern als auch überfachliche Kompetenzen, wie interkulturelle oder Sozialerziehung, im Bilderbucheinsatz gefördert werden können (vgl. ebd.).
Auch wenn eine solch didaktische Klassifizierung für die Unterrichtspraxis sinnvoll erscheint, möchte die vorliegende Arbeit eine neue Perspektive und eine allgemeingültige Legitimation des Bilderbucheinsatzes schaffen. Dies soll anhand der Verbindung der Lernchancen am Bilderbuch und der Kompetenzen einer Grundbildung, die zur aktiven und erfolgreichen Teilhabe an unserer Gesellschaft notwendig sind (vgl. OECD 2005: 6-11), untersucht werden. Vor 1990 führte man Grundbildung v.a. auf die Lese- und Schreibkompetenzen zurück (vgl. nähere Informationen zum Schriftspracherwerb unter Schründer-Lenzen 2013: 66-78; zum Lese- und Schreibprozess ebd.: 59-66; Übersicht didaktischer Diskurs vgl. Becker 2008). Diese Grundkompetenzen fassten Wissenschaftler unter dem Begriff literacy zusammen (vgl. Hoang 2000: 9). Die Bilderbuchrezeption verdeutlicht durch Bild-Text-Interdependenzen, dass Lesen mehr als das Dekodieren der einzelnen Buchstaben und Wörter sein kann. Somit wird im Zuge der Digitalisierung und den New Literacy Studies seit den 90er Jahren der literacy-Begriff in seinen Kompetenzfeldern erweitert (vgl. Kurwinkel 2020: 194). Die globalisierte Gesellschaft und Studien zeigten, dass das Handwerk des Lesens und Schreibens, im Sinne des Decodierens und Produzierens von Buchstaben und Wörtern, allein keine aktive Teilhabe an der Gesellschaft erlaubte. Demnach beinhaltet literacy mehr als Lesen und Schreiben und kann als Grundbildung verstanden werden: „A literate person today is an educated person, a person who has learned the fundamental needes to function as a responsible citizen“ (Seels 1994: 98). Vor diesem Hintergrund wurden die Kompetenzbereiche von literacy ausdifferenziert und weiterentwickelt (vgl. Kritik am literacy-Konzept in 1.2.4 Literary literacy), sodass sie den erforderlichen Kompetenzen in einer modernen und globalen Gesellschaft gerecht werden (vgl. OECD 2005: 6).
Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den sprachbasierten Kompetenzen einer schriftkulturellen Gesellschaft, weswegen im Folgenden die relevanten literacy-Bereiche der Sprachrezeption und -produktion in Bezug zum Bilderbuch gesetzt werden. Vor diesem sprachlichen Hintergrund wird literacy als Kompetenz verstanden, um erfolgreich mit (mündlich, schriftlich oder anders) codierter Sprache umzugehen, um „literal codierte Informationen anzuwenden, in Bezüge zu setzen, an den eigenen Wissensbestand anzuknüpfen und neue Informationen auf der Basis bisheriger zu bewerten“ (Nickel 2005: 85). Demnach kann literacy als ein Sammelbegriff für umfassende Kompetenzen zum Umgang mit Symbolen als Stellvertreter der Sprache oder unterschiedlichen Formen von Sprache(n) verstanden werden, wie bspw. zum Textsinnverständnis unterschiedlicher Erzählformen, zur Strukturierung von Erzählungen, zum Theaterspielen, zur Filmrezeptionen und vielem mehr (vgl. Hurrelmann 2009). Der große Umfang an Anwendungsgebieten verdeutlicht, dass sich literacy aus vielen Kompetenzbereichen zusammensetzt, die sich im Medium Bilderbuch vereinen und bietet damit die Möglichkeit, diese am Bilderbuch zu fördern.
Die literacy-Kenntnisse, die Kinder durch Film, Hörbücher oder (Bilder-)Bücher noch vor Schuleintritt erwerben, werden als early literacy bezeichnet (vgl. Kurwinkel 2020: 194). Der Grundstein zum Lesen wird bereits vor der institutionellen Beschulung gelegt, indem zum einen „Sprachkompetenz […] als Voraussetzung für die Aneignung von […] Wissensinhalten und […] soziale[r] und kulturelle[r] Partizipation“ (Laven 2015: 9) ausgebildet wird. Durch Sprache begreifen Menschen die Welt, erfahren kulturelle Einflüsse und bilden eine individuelle Identität aus (vgl. Hoffmann 2014: 40; Norton 2013). Zum anderen beginnt das Lesen „mit dem Lesen von Bildern […], [da] Kinder das Dekodieren von Symbolen“ (Laven 2015: 9) bereits im Kleinkindalter beherrschen. Zusätzlich ist es Kindern bereits vor Schuleintritt möglich, Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, Schriftsprache als Codierung von mündlicher Sprache durch Zeichen, die Codierungs-Funktion von Buchstaben sowie die allgemeine Aufzeichnungs- bzw. Erfassungsfunktion von Schrift (vgl. Becker 2019: 159-160; Nerius & Baudusch 2007: 28, 379), ebenso wie Konventionen, bspw. die Leserichtung, zu begreifen (vgl Becker 2019: 160-161.). Diese basalen kognitiven, emotionalen und ästhetischen Fertigkeiten der early literacy sind grundlegend für den weiteren Schriftspracherwerb und beeinflussen die weitere schriftsprachliche Entwicklung (vgl. Sauerborn 2015: 20-28, 71-107). Die Kombination aus Bild und Schrift im Medium Bilderbuch und das meistens gemeinschaftliche Rezipieren dieser mit einem erwachsenen „kompetente[n] Andere[n]“ (Abraham 2020: 204) als Experten-Leser und literaler Anschlusskommunikation, zeigen die Bedeutung des Bilderbuchs zur Ausbildung von early literacy. Damit stellt das Bilderbuch eine direkte Verbindung der Grundfertigkeiten zu deren Förderung und Ausdifferenzierung dar, sodass Kinder an Bekanntem anknüpfen und sich im sicheren Umfeld weiterentwickeln können.
Im Rahmen der early literacy (vgl. 1.2.1 Early literacy) bereits angedeutet, bietet das Bilderbuch, viele Gesprächsanlässe, die die Sprach- und Erzählfähigkeit sowohl hinsichtlich Wortschatzerweiterung als auch ein Gespür für Erzählstrukturen erweitern. Zusätzlich sind Bilder entwicklungspsychologisch zentral für den Spracherwerb und damit auch für die verbal literacy (vgl. Laven 2015: 9). Somit bieten Bilderbücher viele Chancen, den Wortschatz der Kinder zu, durch genauere Artikulation beim (Vor-)Lesen morphologische Unterschiede in gesprochener und geschriebener Sprache zu verstehen (vgl. Becker 2019: 157-159) sowie durch Erkennen von Erzählstrukturen und inhaltlichen Anregungen eigene Erzählungen auszubauen (vgl. ebd.: 161; Neumann 1999). Studien belegen, dass sich die Erzählfähigkeit von Kindern durch gemeinsame Bilderbuchrezeption fördern lassen und dass sich diese Förderung stark auf die Erzählfähigkeiten hinsichtlich Erzählstrukturen (vgl. nähere Informationen unter Abraham 2016: 42-43), Spannungserzeugung und Erzähldauer auswirken (vgl. Ohlhus et al. 2006). Zudem konnten Koch und Österreicher (2011: 10-14) beobachten, dass diese Kinder verstärkt zwischenmenschliche Kommunikation nutzten, um sozial zu interagieren und dass sie schriftliche und mündliche Sprachcharakteristika, im Vergleich zu anderen Kindern intuitiver situationsadäquat anwendeten (vgl. Ohlhus et al. 2006).
Die Deutung von Bildern, Filmszenen oder das Auftreten von Personen hinsichtlich ihrer Darstellung zu analysieren, um Bild- und Symbolsprache zu durchdringen, erfordert „visuelle Lesefähigkeit“ oder auch visual literacy genannt (Laven 2015: 9). Die Massenmedien unserer Gesellschaft versuchen neben sprachlichen Slogans v.a. durch visuelle Eindrücke zu beeinflussen, sei es in der Werbung, auf Social-Media-Kanälen oder (propagandierten) Nachrichten, sodass die „Fähigkeiten und Fertigkeiten, Bilder und visuelle Aussagen in verschiedenen Medien bewußt wahrzunehmen, kritisch zu rezipieren, angemessen und sinnvoll zu nutzen sowie aktiv und kreativ zu gestalten“ (Hoang 2000: 14), als lebensnotwendig angesehen werden muss. Die Unveränderbarkeit eines gezeichneten Bilds im Bilderbuch erlaubt damit im geschützten Raum Bildsprache wahrzunehmen, sich Zeit in der Betrachtung zu lassen und dadurch neue Details zu entdecken. Damit können visuelle Eindrücke bewusst reflektiert werden, da sich die Rezipienten die Zeit zur Analyse nehmen können, die sie benötigen. Diese Schulung der Selbstreflexion der Wirkung eines visuellen Eindrucks auf die eigene Position ist essenziell: Es gewährleistet, dass keine fremden Bewertungen als eigene übertragen werden. Dies kann ohne eine reflektierte Bildrezeption geschehen, da „fast alle Hirnrindeareale, die bei der Wahrnehmung sichtbarer Objekte aktiv werden, auch aktiviert sind, wenn man sich Objekte nur vorstellt“ (Singer 2004: 67) und demnach eigene Vorstellungen durch Bildbetrachtungen beeinflusst werden. Des Weiteren schulen Bildrezeptionen, und damit auch Bilderbücher, neben den Wahrnehmungsmöglichkeiten und deren Kritik auch den Wahrnehmungsgenuss und damit die Freude an Ästhetik und Kunstformen (vgl. Hollstein & Sonnenmoser 2017: 175). Durch die Vielfalt an Bilderbüchern lernen Kinder unterschiedliche Kunststile und ihre Wirkungen kennen und haben die Möglichkeit, Freude an Kunst, Ästhetik und der ausdauernden Betrachtung von Dingen zu erleben. Aus sprachlicher Perspektive eignen sich Bilderbücher in ihrer Kombination aus Bild und Schrift, die Bildlichkeit, Symbole und Metaphern von Sprache und im Falle von kontrapunktisches Bild-Text-Verhältnissen (vgl. 1 Das Medium Bilderbuch im Literaturunterricht) auch Phänomene wie Ironie oder Sarkasmus zu begreifen. Das „Zwischen-den-Zeilen-Lesen“ wird durch die bildlichen Darstellungen, folglich der Kombination aus visueller und verbaler Kommunikation gestützt (vgl. Nikolajeva & Scott 2001: 1).
Neben den Fertigkeiten zum Lesen und Schreiben werden zum erfolgreichen Umgang mit Erzählungen auch Kompetenzen der literary literacy benötigt (vgl. 1.1 Qualitätskriterien von Bilderbüchern). Diese Betonung der literary literacy als Ergänzung auditiver und visueller Rezeptionsformen neben den gängigen buchstabenbasierten Erzählungen (vgl. Kurwinkel 2020: 197), zeugt bereits von der Kritik, in die der literacy-Begriff (vgl. 1 Das Medium Bilderbuch im Literaturunterricht) im Zuge der Outputorientierung und Kompetenz-Erhebungsverfahren geraten ist. Dabei wurde literacy zu Gunsten von Testverfahren auf überprüfbare Kompetenzen eingeschränkt, sodass ein wesentlicher Bestandteil literarischer Erfahrungen, nämlich die subjektiven, personal wichtigen Interpretationen und Werte während der Literaturrezeption, entfallen (vgl. kritisch dazu Brune 2020). Damit kommt es zu einer Vernachlässigung ästhetischer Literaturerfahrung sowie der Subjektivität literarischer Interpretationen, die zugunsten der Mess- und Vergleichbarkeit auf ein normativ-statischen Dichtungsverständnis zurückgreifen und nur eine Interpretation als die einzig wahre ansehen (vgl. Kammler 2004; Kämper-van den Boogaart 2003; Karg 2003). Hurrelmann stimmt dieser Kritik der einseitigen Fokussierung kognitiver Leseprozesse zu und betont, dass affektive, motivationale und interaktive Teilkompetenzen ebenfalls fester Bestandteil des Leseprozesses sind und diesen stark beeinflussen bzw. mitbestimmen (vgl. Hurrelmann 2002: 12). Dem Problem der Beschränkung auf eine standardisierte und festgeschriebene Literaturrezeption steht die Ungenauigkeit und Eingrenzung der literarischen Kompetenzen bzw. der scheinbaren Beliebigkeit von literarischen Erfahrungen gegenüber (vgl. Kammler 2012: 12-20). Lypp sieht den Schwerpunkt literarischer Kompetenzen in der „Fähigkeit, auf das im Text inszenierte Rollenspiel zwischen Autor und Leser einzugehen, die […] Bilderwelt imaginativ auszugestalten und […] einen Bedeutungszusammenhang herzustellen“ (Lypp 1989: 70). Folglich ist die Interpretation literarischer Leerstellen durch das Zusammenspiel des Rezipienten-Weltwissen und die Informationen des Autors (und im Falle von Bilderbüchern auch des Illustrators) zentral für Literaturerfahrungen und damit für literarische Kompetenzen. Durch diese Interaktion zwischen Text und Leser wird das eigene Weltwissen stellvertretend erweitert (vgl. Hoffmann 2014: 40), ebenso wie durch Zustimmung oder Abgrenzung zum Handeln und Fühlen der Protagonisten die eigene moralische Urteilsfähigkeit und das eigene Wissen reflektiert und weiterentwickelt wird (vgl. Abraham 2004: 218-220).
Neben verschiedenen Systematisierungs- und Konkretisierungsmodellen literarischer Kompetenzen (vgl. Abraham 2008: 21; Kammler 2012; 12-15), bewährte sich in der Literaturdidaktik v.a. das Konzept literarischen Lernens als Erwerb von steigender Lesekompetenz von Spinner (vgl. Spinner 2006; kritisch dazu Kammler 2012: 19-20). Das literarische Lernen untergliedert sich in elf literarische Teilkompetenzen, die einen Kompromiss zwischen Überprüfbarkeit und Offenheit bzgl. subjektiver Wahrnehmungen, persönlichen Erfahrungen und Textorientierung anzustreben versuchen. Inwieweit sich Bilderbücher zur Förderung der im Modell nach Spinner aufgeführten Teilkompetenzen literarischen Lernens eignen, wird im Folgenden erarbeitet, wobei auf die ersten zehn, für die Primarstufe relevanten Teilkompetenzen, Bezug genommen wird.
Die erste Teilkompetenz umfasst die Entwicklung von Vorstellungen beim Lesen und Hören, die bzgl. ihrer „kindlichen Intensität […] zu erhalten und einer zunehmenden Differenzierung […] und textorientierten Genauigkeit zuzuführen“ (Spinner 2006: 8) ist. Mit anderen Worten ist es für Literaturerfahrungen essenziell, dass die Rezipienten innere Bilder zu der gelesen/gehörten Geschichte entwickeln und die Geschichte durch eigene Vorstellungen vor sich sehen. Bilderbücher präsentieren bereits Bilder zum Text, die zum einen das konzentrierte Folgen der Geschichte erleichtern und zum anderen das Füllen von Leerstellen durch bildliche Informationen anregen und beeinflussen (vgl. 1.2.3 Visual literacy). Es konnte nachgewiesen werden, dass Kinder sich verstärkt auf anspruchsvollere Lesetexte einlassen und sich für diese entscheiden, wenn diese in Verbindung mit Bildern stehen (vgl. Hollstein & Sonnenmoser 2017: 103). Dadurch werden zum einen schwächere Leser in ihrem Leseprozess unterstützt sowie der Zugang zur Literatur wird durch die Bilder erleichtert. Zum anderen wird durch ihre, die Neugier anregende, Gestaltung die Eigeninitiative für Literaturerfahrungen gestärkt und die Leselust gefördert oder zumindest erhalten (vgl. ebd.: 115).
Die zweite Teilkompetenz der Wechselwirkung zwischen der subjektiven Involviertheit und der genauen Wahrnehmung (vgl. Spinner 2006: 8) ergibt sich aus der ersten Teilkompetenz, indem die eigenen Vorstellungen mit den Bildtexten der Bilderbücher verglichen und diskutiert werden. Ebenso können sie sich wechselseitig weiter ausdifferenzieren und dadurch neue Vorstellungen entstehen lassen. Dadurch soll die Text-Leser-Beziehung zwischen Subjektivität und Textorientierung hergestellt werden, um den Eindruck von Beliebigkeit in der Literatur zu verhindern. Dies geht mit der Erkenntnis einer weiteren Teilkompetenz einher, dass sich die Rezipienten „auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen [Hervorhebung J.A.]“ (ebd.: 12) können. Durch das Begreifen der Co-Autorenschaft zwischen dem Leser mit seinen individuellen Erfahrungen und den vom Text vorgegebenen Fakten inklusive der offenbleibenden Leerstellen, entsteht die Möglichkeit, sich über eigene Eindrücke und Interpretationen auszutauschen und Toleranz gegenüber anderen Meinungen zu entwickeln, solange sie am Text begründet werden können. Damit wird erstens das oft intuitive Füllen von Leerstellen bewusst gemacht, wodurch sich Gelegenheiten zur Selbstreflexion ergeben. Zweitens wird die kommunikative Teilkompetenz geschult, sich „ mit anderen über Texterfahrungen angemessen austauschen zu können [Hervorhebung J.A.]“ (ebd.). Eigene Interpretationen können so revidiert, erweitert oder umgedacht werden. Durch das wiederholte Abgleichen der eigenen Interpretationen, dem Text sowie den Eindrücken anderer Rezipienten wird der Text in einem authentischen Setting wiederholt gelesen, mit neuen Ideen und u.a. Fokussierungen betrachtet und damit das Textverstehen gestärkt. Zusätzlich üben die Rezipienten dadurch ihre Leseflüssigkeit, da sie Textabschnitte immer wieder lesen und dadurch den Leseprozess automatisieren (vgl. Hollstein & Sonnenmoser 2017: 125).
Einen Zugang zur Literatur zu finden, ist unabdingbar mit der Teilkompetenz des Nachvollziehens der Perspektiven literarischer Figuren verbunden (vgl. Spinner 2006: 9). Das Bilden und Einlassen auf Vorstellungsbilder während des Rezeptionsprozesses sind erst möglich, wenn es gelingt, die Erzählungen aus der Perspektive der literarischen Figuren wahrzunehmen (vgl. Hoffmann 2014: 40). Die eigenen Wahrnehmungen müssen mit den „Bewusstseinslandschaften“ (ebd.) der im literarischen Text handelnden Charaktere ergänzt werden, sodass ein Gesamtbild entstehen kann. Durch diesen Aushandlungsprozess von Übereinstimmung, Differenz und Widerspruch der eigenen Wertevorstellung und den in der Literatur konfrontierten, nimmt die Rezeption literarischer Texte eine wichtige identitätsbildende Funktion im Leben der Heranwachsenden ein (vgl. ebd.: 39-40). Dabei betont Spinner, dass diese Perspektivenübernahme explizit geschult werden sollte, da sie sowohl für die genussvollen und eindrucksvollen Literaturerfahrungen als auch für die persönliche Entwicklung eines Menschen grundlegend sind. Der Grad der Perspektivenübernahme kann nach Spinner (2006: 9) auf unterschiedlichen Niveaustufen ablaufen, wobei das Verstehen des literarischen Textes aus der Perspektive einer einzelnen Figur die Grundlage bildet. Je mehr Figurenperspektiven, die Wahrnehmung ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenswelten sowie das bestehende Beziehungsgeflecht zwischen den Charakteren einbezogen werden, desto ausdifferenzierter wird die Literaturerfahrung und das Verständnis der Tiefgründigkeit des Textes. Bilderbücher eignen sich durch ihre Kombination aus visuellen und narrativen Informationen besonders zur Förderung der Perspektivenübernahme: Die Bilder illustrieren den Schrifttext nicht nur, sondern stellen den Text selbst aus verschiedenen Perspektiven dar und bilden dadurch Leerstellen (vgl. ebd.). Durch unterschiedlichen Form- und Farbeinsatz werden beim Rezipienten unterschiedliche Eindrücke hervorgerufen, die zum Füllen der Leerstellen auffordern (vgl. ebd.). Dementsprechend ist das ausführliche Betrachten der Bilder, die Rezeption des Schrifttexts, die Verbindung beider Bereiche sowie der Austausch über die eigenen Eindrücke wichtig, um sich mit den Perspektiven auseinanderzusetzen und neue Wirklichkeiten zu erfahren.
Eine mögliche Beeinflussung der Perspektivenübernahme ist die Erzählweise des Autors, der eventuell eine gezielte Adressatenbeeinflussung anstrebt. Demnach ist die aufmerksame Wahrnehmung sprachlicher Gestaltung für eine reflektierte Literaturrezeption unabdingbar, indem die Umsetzung und Wirkung verschiedener sprachlicher Mittel analysiert wird (vgl. ebd.). In Bezug auf Bilderbücher werden die Rezipienten zusätzlich zum Schrifttext auch für die Gestaltung von Bildtexten sensibilisiert, sodass die Rezipienten „Entdeckerfreude“ (ebd.) beim Einsatz sprachlicher und bildlicher Codes und deren Interpretation entwickeln. Sie werden für die Wirkung von Sprache und deren Möglichkeit der Beeinflussung sensibilisiert, wodurch das Erkennen und Verstehen metaphorischer und symbolischer Ausdrucksweisen geschult wird (vgl. ebd.: 10). Die schriftlich übermittelten Informationen werden durch Bilder erweitert und erleichtern damit die Reflexion der Wirkweise sprachlicher Bilder und deren Interpretation.
Des Weiteren ist v.a. bei jüngeren Kindern die Berücksichtigung der sich erst entwickelnden Fähigkeit zur Realitäts-Fiktions-Unterscheidung zu beachten. Nach dem Phasenmodell von Fitch, Huston & Wright (1993) zur Kompetenzentwicklung in der Unterscheidung von fiktionalen und non-fiktionalen Mediendarstellungen, sind Grundschulschüler im Anfangsunterricht teilweise, in den folgenden Klassenstufen größtenteils in der Lage Fiktionalität in Filmen, Büchern etc. von dargestellter Realität zu unterscheiden. Allerdings können Darstellungen von bekannten Eindrücken und Gefühlen sowie das Einstreuen realer Fakten die Kinder in ihrer Einschätzung irritieren (vgl. ebd.). Studien zeigten, dass die emotionale Beteiligung der Rezipienten steigt, wenn diese die literarische Darstellung als real einschätzen (vgl. Castello et al. 2010: 51). Folglich ist ein bewusster Umgang mit Fiktionalität eine zentrale Aufgabe literarischen Lernens (vgl. Spinner 2006: 10), wobei sich Bilderbücher erneut aufgrund ihrer Statik eignen. Ein großer Vorteil ist zudem die leichte Rückkehr in die Realität durch Zuklappen des Buches und dem dadurch erfolgenden Ausschließen der vielleicht erschreckenden, real erscheinenden Fiktionalität.
Diese Teilkompetenzen literarischen Lernens verdeutlichen die Wechselwirkung zwischen subjektiven Wahrnehmungen, entwicklungspsychologischen Voraussetzungen und schriftbezogenen (und visuellen) Fakten sowie konkret vermittelten Informationen. Zusätzlich ist die Einnahme einer Metaebene zur Literatur und dem Medium notwendig, um die Vermittlungsart und seine Wirkweise zu verstehen und selbst adäquat zu nutzen. Dazu gehört das Erkennen und Verstehen narrativer und dramaturgischer Handlungslogik (vgl. ebd.), um ein literarisches Werk in seinem Aufbau und der Wahl seiner sprachlichen Mittel als Ganzes zu analysieren und textorientiert interpretieren zu können. Der Aufbau einer Erzählung von einer Hinführung zur Problematik, dem Aufwerfen von Fragen und dem Aufbau von Spannungen, die in einem Höhepunkt ihre Zuspitzung finden bis zur Auflösung der Problematik, wird erst durch das in Beziehung setzen dieser Textstellen begreiflich (vgl. ebd.). Bilderbücher weisen diesen Verlauf der Dramaturgie nicht nur im Schrifttext versteckt auf, sondern verdeutlichen ihn in der Abfolge und aufeinander angepassten Veränderung der Bilder (vgl. Laven 2015: 7), sodass die Handlungslogik konkret sichtbar wird. Damit bieten Bilderbücher in ihrer Visualität Unterstützung zum eigenen, spannenden und logisch-strukturierten Schreiben von Geschichten sowie Anregungen zum Weiterspinnen der eigenen Fantasie (vgl. Hollstein & Sonnenmoser 2017: 135-136). Neben den textinternen Strukturen können Rezipienten im Vergleich des Genres oder der medialen Aufbereitung auch prototypische Vorstellungen von Gattungen entwickeln (vgl. Spinner 2006: 13), die die verschiedenen Bilderbuchgattungen (vgl. 1 Das Medium Bilderbuch im Literaturunterricht) und die verschiedenen medialen Umsetzungen von Bilderbüchern im Medienverbund verdeutlichen.
Durch die audiovisuelle Konzentration in den Massenmedien (vgl. 1.2.3 Visual Literacy), ist eine weitere wichtige Kompetenz das Verständnis darüber, dass Informationen durch verschiedene Codierungen auf andere visuelle oder auditive Medien übertragen werden können. So können sie neue Wirkungen oder Vorteile erzielen (vgl. Kurwinkel 2020: 197). Die Eigenschaften und Wirkweisen verschiedener Medien sollten reflektiert werden, um mit der Ausbildung intermedialer Kompetenz Unterschiede analysieren und nutzen zu können (vgl. Hollstein & Sonnenmoser 2017: 213; Bönnighausen 2004: 51). Digitale Medien sind fester Bestandteil der Lebenswelt der Kinder, haben sie die im Alltag genutzten Medien der Kinder seit langem ergänzt (vgl. mpfs 2021: 14, 19; Guth 2021: 22). Ebenso fordert die KMK die Förderung von Medienkompetenz als „integrative[n] Bestandteil der Fachcurricula aller Fächer“ (KMK 2017: 12). Sie verortet das „Lernen mit und über digitale Medien und Werkzeuge bereits in den Schulen der Primarstufe“ (KMK 2017: 11). Vor diesem Hintergrund eröffnet das Bilderbuch durch seine breite Einbettung im Medienverbund (vgl. 1 Das Medium Bilderbuch im Literaturunterricht) eine ideale Möglichkeit, eine Erzählung in verschiedene Medien (analoges Buch, digitales Buch, App, Film, Theater, Hörspiel, etc.) selbst zu transferieren. Das Ausprobieren und Vergleichen der unterschiedlichen Wirkungen verschiedener medialer Umsetzungen an der gleichen Erzählung verdeutlicht zudem, die unterschiedlichen Besonderheiten bei der Produktion und Nutzung des Medienangebots. Dabei bieten die Charakteristika des Bilderbuchs mit seinen Bild-Text-Interdependenzen sowie der häufigen Kürze der Schrifttexte eine authentische Grundlage, die codierten Informationen zu interpretieren und auszudifferenzieren. Auf diese Weise können Rezipienten weitere Informationen über die Charaktere erlangen (vgl. ebd.).
Literarische Erfahrungen zu machen, bedeutet auch, sich mit der eigenen sozialen Kultur auseinanderzusetzen: Das (Sozial-)Verhalten der Protagonisten wird bewertet und zu sich selbst in Beziehung gesetzt (vgl. Ehlers 2016: 9). Durch die Stellvertretererfahrungen der Protagonisten, die verschiedene Verhaltensweisen oder Problemlösestrategien und deren Wirkungen für den Rezipienten durchspielen, wird neues Sozialverhalten kennengelernt, überdacht und zum eigenen in Beziehung gesetzt. Das eigene Sozialverhalten wird darauf gefestigt oder revidiert. Außerdem fördern Bilderbücher die social literacy, da sie zumeist gemeinsam rezipiert oder bearbeitet werden, wodurch Anschlusskommunikation zum Inhalt angeregt wird (vgl. 1.2.2 Verbal literacy & 1.2.5 Media literacy). „Bilderbücher können eine Brückenfunktion der gesellschaftlichen Orientierung von Kindern einnehmen“ (Kraft & Müller 2019: 136), indem für die Rezipienten relevante Fragen und Probleme anhand (fiktiver) Figuren aufgearbeitet werden. Die subjektive Involviertheit, die für Literaturrezeption und die Entwicklung sozialer Kompetenzen erforderlich ist, zeigt, dass „Lernerfolge im Deutschunterricht […] nicht allein in einer […] fachlichen Kompetenz, sondern auch in der Entwicklung anderer unterrichtlicher Zielkriterien“ (Stahns et al. 2017: 266) zu sehen sind. Erst mittels Reflexion des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrungen, wird ein Lerninhalt für die Rezipienten relevant (vgl. Abt & Schumschal 2020: 17), sodass Lernziele, wie die Sozialerziehung, im Deutschunterricht nicht unterschätzt werden dürfen.
Obwohl die aufgeführten Kompetenzen, die durch Bilderbücher gefördert werden können (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung), eindeutig das Potential von Bilderbüchern für schulisches Lernen aufzeigen, ergibt sich nicht per se aus jeder Bilderbuchrezeption eine Lerngelegenheit (vgl. Becker 2019: 156). Denn neben der Qualität des Bilderbuchs (vgl. 1.1 Qualitätskriterien von Bilderbüchern) sind v.a. die Rezeptionsart und die Rezeptionssituation für den Aufbau nachhaltigen Wissens entscheidend (vgl. Becker 2019: 156). Hüther postuliert drei zentrale Faktoren, die die Qualität und Intensität eines Lernprozesses beeinflussen und fasst sie unter dem Begriff des ganzheitlichen Lernens zusammen (vgl. Hüther 2007, zit. n. Abt & Schemschal 2020: 16). Demnach bilden erstens für die Lernenden betreffende, herausfordernde und authentisch eingestufte Lernsettings die Grundlage jedes Lernprozesses. Dadurch sehen Schüler Sinn in ihrer Tätigkeit, was zum einen die emotionale und zum anderen die motivationale Teilnahme stärkt. Zweitens ist die Auseinandersetzung mit Vorbildern bzw. Antihelden für stellvertretende Erfahrungen und Problembewältigungsstrategien zentral (vgl. 1.2.4 Literary literacy). Drittens hat eine offene, vertraute Lernumgebung, die Möglichkeiten zum eigenaktiven Handeln am Lerngegenstand bietet, eine herausragende Bedeutung. Es konnte mit Hilfe von Studien bewiesen werden, dass durch eigenaktive und mitbestimmende Handlungen erworbenen Lerninhalte nach einiger Zeit noch zu 90 Prozent von den Probanden wiedergegeben und angewandt werden konnten. Dagegen konnten die Studienteilnehmer Lerninhalte, die durch Frontalunterricht vermittelt wurden, lediglich zu 20 bis 30 Prozent wiedergegeben und nur teilweise anwenden (vgl. Witzenbacher 1985: 17). Darin zeigt sich die Bedeutung sinnhafter Aktivitäten im Lernprozess, da Lerninhalte „im effektiven Umgang leichter erlernt und verstanden [werden] als im reinen Gedankenexperiment“ (Aebli, 2006, S.195).
Kahlert kritisiert die Ungenauigkeit des Begriffs des ganzheitlichen Lernens, wobei er u.a. den Mehrwert verschiedener handelnder und sinnhafter Zugänge zum Lerngegenstand bezweifelt, die isolierte statt ganzheitlicher Erfahrungen schaffen (vgl. Kahlert 2007). Diese Kritik Kahlerts zum ganzheitlichen Lernen berücksichtigend, versteht die vorliegende Arbeit ganzheitliches Lernen nicht als „ein Mehr an Praxis“ (Barzel et al. 2016: 34), sondern als „reflektive Vernetzung der verschiedenen Kompetenzfacetten“ (ebd.). Vernetzung meint nicht die unreflektierte Mischung verschiedener Lernbereiche, sondern „Verschränkungen mehrerer Perspektiven […] [sowie ein] Denken in Übergängen“ (Siebert 2007: 53). Folglich ist für ein ganzheitliches und nachhaltiges Lernen die Integration und Vernetzung der verschiedenen Kompetenzbereiche in der organisierten Lerngelegenheit zentral. Dadurch wird die Ausbildung trägen, lebensweltfernen Wissens verhindert (vgl. Barzel et al. 2016: 33-34). Die Vernetzung der Kompetenzbereiche (vgl. 2.1 Literale Erfahrungen durch Vernetzung der Kompetenzbereiche) ist nicht unauthentisch, sondern entspricht den neuronalen Prozessen des Gehirns (vgl. Siebert 2007: 29): Dieses verknüpfen automatisch Vorerfahrungen, neu gewonnene Eindrücke und Informationen bzw. Handlungsabläufe sowie Emotionen und Kognition miteinander (vgl. Siebert 2007: 33; Paffrath 2001: 4-5). Bei der Analyse der einzelnen literacy-Bereiche wird deutlich, dass sie in ihren Wirkursachen und Lernchancen nicht isoliert zu betrachten sind, sondern in Bezug zueinanderstehen (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung). Literacy fordert bereits in der Begriffsdefinition eine Vernetzung der Kompetenzbereiche. Als Eigenschaft von literacy wird explizit hervorgehoben, dass Bereiche in Beziehung zueinander gesetzt werden, bereits vorhandene Wissensstrukturen angeknüpft sowie alte und neue Informationen verknüpft werden (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung).
Inwieweit sich Bilderbücher zu solch systematisch vernetzten Lerngelegenheiten eignen, verdeutlicht die Analyse weiterer didaktischer und neuronaler Ebenen der Vernetzung nach Siebert (2007: 53-57):
Neues Wissen wird nachhaltig angeeignet, „wenn es anschlussfähig ist und mit vorhandenem Wissen vernetzt werden kann“ (Siebert 2007: 53). Bilderbücher bieten für die Ausbildung der early literacy ein anschlussfähiges Lernsetting (vgl. 1.2.1 Early literacy).
Eine weitere Ebene vernetzter Lerngelegenheiten besteht im systematischen Denken durch Berücksichtigung verschiedener Kontexte und deren Wechselwirkungen aufeinander (vgl. Siebert 2007: 54). An dieser Stelle rücken die Bild-Text-Interdependenzen des Bilderbuchs erneut in den Fokus, die eine Vernetzung zur tiefgründigen Rezeption voraussetzen. Dazu gehört auch die Berücksichtigung der Perspektiven der literarischen Figuren, die erst in ihrer Vernetzung ein ganzheitliches und tiefgründiges Verständnis des literarischen Textes erlauben. Neben der Vernetzung der Kompetenzbereiche ermöglichen die Perspektiven und Forschungsinteressen anderer Schulfächer eine Erweiterung des Erfahrungshorizonts und damit einen tiefgreifenden Erarbeitungsprozess (vgl. Trevisan 2018: 37). Die Fächervernetzung erweitert die zur Verfügung stehende Zeit im Schulalltag, die Zugangsmöglichkeiten zum Lerninhalt und damit die Individualität des Lernprozesses sowie der Lebensweltorientierung der Schüler (vgl. Heursen 1997: 199-200).
Demnach ist vernetztes Lernen gleich Perspektivenverschränkung, dem Wahrnehmen von Differenzen, dem Entdecken von Gemeinsamkeiten und der Akzeptanz von Fremdheit (vgl. Siebert 2007: 54). Die Bildtexte unterstützen die Bildung innerer Vorstellungen zum Schrifttext und setzen gestalterisch Nachrichten der Verfremdung oder der Wärme und des Vertrauten (vgl. 1.2.4 Literary literacy). Damit regen die Bilder in Bilderbüchern bereits dazu an, sich die Perspektiven der einzelnen Figuren auszumalen und auch Beziehungsgeflechte wahrzunehmen, die der Schrifttext lediglich andeutet oder unterschlägt.
Ohne einen Bezug der Lerngelegenheit zum eigenen Leben, fehlt der Sinnzusammenhang zwischen dem Lernprozess und dem Lerngewinn und damit die Gefahr zum Aufbau von trägen und flüchtigem Wissen (vgl. Paffrath 2001: 5). Daher ist nachhaltiges Lernen auch immer biografisches Lernen, in dem Parallelen zum eigenen Leben erkannt und Perspektivenwechsel von anderen Lebensgeschichten auf das eigene bezogen werden (vgl. Siebert 2007: 54). Dafür eignet sich bei Bilderbüchern v.a. der narrative Erzählstil, der bekannte oder neue Lebenssituationen, Visionen, Hoffnungen, kritische Lebensereignisse schildert. Rezipienten können diese Erfahrung stellvertretend durchdringen (vgl. Hoffmann 2014: 39-40). Biographiearbeit ist stark emotional konnotiert, sodass die Kombination aus sprachlichen Mitteln im Schrifttext sowie intuitiv ansprechende Bildeindrücke diesen Prozess unterstützen (vgl. 1.2.3 Visual literacy & 1.2.4 Literary literacy).
In diesem Zusammenhang ist auch die Vernetzung von Kognition und Emotion für die Vorstellungsbildung und auch den neuronalen Lernprozess bedeutsam, da eine große emotionale Beteiligung die Behaltensleistung erhöht (vgl. Egle & Schweiger 2007: 8; Paffrath 2001: 7). Auch in diesem Fall vermitteln die visuellen Eindrücke parallel zum Text Gefühle und unterstützen damit die Verbindung der Kognition und Emotion.
Abbildung 5: Lernchancen beim Rezeptionsprozess traditioneller literarischer Texte (Quelle: eigene Erarbeitung)
Zeichnete es sich bereits in der Analyse zum Bildungsbeitrag durch Bilderbücher (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung) ab, so zeigt sich unter der Perspektive der Vernetzung durch Bilderbücher, dass die Hintergründe der vielfältigen Lernchancen (vgl. ebd.) sowie der vernetzten Lernsettings in der Besonderheit der Bilderbücher mit ihren Bild-Text-Interdependenzen liegen, die durch ihre Eigenheit der Wechselwirkung auch eine vernetzte Rezeption verschiedener Kompetenzbereiche herausfordert. Die Rezeption eines traditionellen literarischen Texts will allein durch die „Verknüpfung von Sache und Begriff“ (Bismarck 2019: 28) literarisches Lernen anstoßen. Die Zwischenschaltung eines Bilderbuchs ermöglicht, den Umgang mit einer fantastischen, verfremdeten und karikierenden Gestaltung der Wirklichkeit, die die Reflexion der eigenen Person sowie der Umwelt im Bezug zur literarischen Welt deutlich hervortreten lässt (vgl. ebd.: 28-29). Am Bilderbuch können demnach viele Zugänge zur Literatur und eine Vielfalt an Kompetenzen gefördert werden, die ohne die Bild-Text-Interdepenzen nicht in dem Ausmaß oder der gleichen Intensivität erworben werden könnten.
Abbildung 6: Lernchancen beim Rezeptionsprozess von Bilderbüchern (Quelle: eigene Erarbeitung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Bildungsstandards führen in Anlehnung an den Kompetenzbegriff nach Weinert (2001: 27-28) vier Kompetenzbereiche auf. Diese sollen von den Schülern bis zum Ende der vierten Jahrgangsstufe durchdrungen sein und sind für alle Lehrplanausarbeitungen der einzelnen Bundesländer verpflichtend. Dabei wird lernbereichsspezifisch zwischen den Kompetenzbereichen „Sprechen und Zuhören“, „Schreiben“, „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ und „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ unterschieden (KMK 2005: 7). Die Trennung der angestrebten Kompetenzen sowie die Zusammenfassung in vier Kompetenzbereiche soll eine gezielte Förderung ohne Vernachlässigung einzelner sprachlicher Grundtätigkeiten bewirken (vgl. ebd.). Gleichwohl wird betont, dass die „Kompetenzbereiche […] im Sinne eines integrativen Deutschunterrichts aufeinander bezogen [sind]“ (ebd.: 8). Ein integrativer Deutschunterricht verfolgt das Ziel, einzelne Perspektiven zusammenzuführen und in ein Gesamtkonzept einzugliedern. Die sprachlichen Grundtätigkeiten Sprechen, Zuhören, Lesen, Schreiben und Sprachreflexion sind elementare Fertigkeiten der Grundbildung. Doch isoliert genügen sie nicht für eine aktive Teilhabe in der Gesellschaft. Insofern muss die Trennung der Kompetenzbereiche als didaktische Orientierungs- und Planungshilfe verstanden werden, die es ermöglicht Schwerpunkte in der Förderung zu setzen. Jedoch darf sie keinesfalls als getrennt voneinander verstanden werden, da es auch die KMK eine Integration aller Bereiche im Unterricht, folglich die Vernetzung der Kompetenzbereiche anstrebt.
Im saarländischen Kernlehrplan wird die Kompetenzbereichsvernetzung nicht explizit aufgeführt, jedoch wiederholen sich die ausgearbeiteten Inhalte der Kompetenzbereiche in den anderen Bereichen, sodass eine gemeinsame Förderung sinnvoll erscheint (vgl. Anhang A1: Exemplarische Vernetzung der Kompetenzbereiche in der Primarstufe). Die Forderung an die Lehrkräfte, „für jedes Fach schuleigene Arbeitspläne neu zu erstellen, die […] die angeführten Kompetenzen […] innerhalb einer Klassenstufe konkretisieren“ (MfBFFK Saarland 2009: 4), sollte explizit um die Forderung nach der Vernetzung ergänzt werden, um stumpfsinnige und eindimensionale Förderpläne zu vermeiden.
Die Chancen von Bilderbüchern zur Vernetzung der sprachlichen Grundtätigkeiten wird weder in den Bildungsstandards der KMK noch im Kernlehrplan des Saarlandes für den Deutschunterricht der Grundschule erwähnt. Jedoch finden sich bei den Hinweisen zur Umsetzung Anregungen, um visuellen und/oder auditiven Input zur Phantasieanregung zu nutzen, indem u.a. „zu Bildern“ (MfBFFK Saarland 2009: 29) geschrieben oder Illustrationen zur Gestaltung (eigener) Texte hinzugefügt werden (vgl. ebd.: 30). Ebenfalls werden Bildergeschichten als Medium empfohlen, eigene Texte vorzulesen und auch, um Arbeitsergebnisse zu präsentieren (ebd.: 47). Demnach wurden die Chancen von Bild-Text-Interdependenzen im Sprachunterricht erkannt, sodass die Verortung von Bilderbüchern im Deutschunterricht der Primarstufe naheliegt. Ob sich die Bildungsmöglichkeiten und Lernziele in Bilderbüchern in den Kompetenzbereichen der Bildungsstandards wiederfinden und inwieweit sie zu einer Vernetzung beitragen, wird im Folgenden durch die Verortung der literacy-Bereiche in den einzelnen Kompetenzbereichen untersucht.
Um die definitorische Offenheit des literacy-Begriffs zu konkretisieren, listet die KMK spezifische Teilkompetenzen auf, die Schüler ihrer Meinung nach bis zum Ende der vierten Klassenstufe in einer Schriftkultur erlangen sollten (vgl. KMK 2005: 9-13). Die Förderung der methodischen, personalen und sozialen Kompetenzen wird übergeordnet als „unverzichtbarer Bestandteil“ (ebd.: 7) vorausgesetzt, sodass sich diese nicht in der expliziten Auflistung der zu fördernden Kompetenzen wiederfinden. Nichtsdestotrotz sind diese immer zuzüglich der fachspezifischen Kompetenzen im Unterricht miteinzuplanen und zu fördern. Darin spiegelt sich die Vielfalt der literacy-Kompetenzen wider, die neben konkret fachlichen auch fächerübergreifenden Kompetenzbereichen miteinbeziehen. Dadurch versuchen sie die vielen Facetten einer Grundbildung in einer Schriftkultur darzulegen. Die folgende Grafik verdeutlicht die Beziehungen zwischen den einzelnen KMK-Kompetenzbereichen und den einzelnen literacy-Bereichen der Grundbildung, die durch Bilderbücher gefördert werden können (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung). Jeder literacy-Bereich findet sich in jedem Kompetenzbereich wieder. Um die einzelnen literacy-Bereichen der Grundbildung zu durchdringen, müssen diese mit allen sprachlichen Grundtätigkeiten und damit allen Kompetenzbereichen begriffen und nutzbar gemacht werden. Erst zusammen entsprechen diese dem Kompetenzumfang einer Grundbildung. Dabei beschränkt sich die Grafik der Übersichtlichkeit halber auf eine exemplarische Auswahl der von den Bildungsstandards aufgeführten Teilkompetenzen (vgl. Abb.7).
Abbildung 7: literacy-Vernetzung in den Kompetenzbereichen der KMK (2005: 9-13) (Quelle: eigene Erarbeitung; Bild Tür: Pixabay)
Für einen kompetenten Umgang mit Sprache und Literatur, folglich einer aktiven Teilhabe an der Gesellschaft und Kultur, ist die Schulung aller literacy-Bereiche unabdingbar: Jede Teilkompetenz in allen sprachlichen Grundtätigkeiten muss durchdrungen, sprich verstanden und selbst angewendet werden. Das Fundament bilden die personalen und sozialen Kompetenzen, also die individuelle Verortung eines Menschen innerhalb der Gesellschaft (social literacy), deren Werte und Traditionen, neben den sozialen Kontakten, auch durch die Medien vermittelt werden (media literacy). Der Input der schriftorientierten, literalen Gesellschaft führt zur Ausbildung von kognitiven und emotionalen Grundfertigkeiten (early literacy). Darauf bauen die sprachlichen Grundtätigkeiten Sprechen, Zuhören, Schreiben, Lesen und das Nachdenken über Sprache auf und können zukünftig ausdifferenziert werden. Diese Fähigkeiten und Fertigkeiten sind Voraussetzung zum Schreiben- und Lesenlernen sowie einem situationsadäquaten und eloquentem Sprachgebrauch, dem Handwerk der sprachlichen Grundtätigkeiten sowie den einzelnen Kompetenzbereichen der KMK (vgl. Abb.7, Sockel). Bei deren Ausdifferenzierung fällt auf, dass sich jede literacy-Kompetenz in jeder sprachlichen Grundtätigkeit, sprich den Kompetenzbereichen, wiederfinden. Erst durch diese ganzheitliche Vernetzung der sprachlichen Grundtätigkeiten werden die einzelnen Lernziele vollständig durchdrungen. Eine einseitige Ausbildung an Kompetenzen wird nicht dem Grad der Grundbildung entsprechen, der zur aktiven Teilhabe in der Gesellschaft notwendig ist.
Die Verortung der literacy-Konzepte in den Kompetenzbereichen verdeutlicht erneut, dass literarische Bildung nicht nur auf die sprachliche Grundtätigkeit des Lesens beschränkt ist, sondern nach einer ganzheitlichen Betrachtung verlangt. Die Erläuterung des Kompetenzbereichs „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ (KMK 2005: 9), dem vorrangig die literarischen Lernziele zugesprochen werden, betont die Eigenaktivität der Sinnkonstruktion im Leseprozess und dass Lesen neben dem informierenden Charakter auch der Lesefreude und dem Vergnügen dient (vgl. ebd.). Dahingehend finden sich viele der zentralen Stichpunkte der ästhetischen und emotionalen Komponente von Literaturerfahrungen in den Bildungsstandards wieder (vgl. 1.2.4 Literary literacy). So wird das genießende, interpretierende Lesen, das Lesen als Auseinandersetzung mit der Welt, das Vergnügen bereiten kann, das Wecken von Leseinteresse und Lesebereitschaft sowie die identifizierende und abgrenzende Auseinandersetzung mit literarischen Figuren hervorgehoben (vgl. KMK 2005: 9).
Diese Betonung findet sich in der expliziten Auflistung der Teilkompetenzen des Kompetenzbereichs auf den ersten Blick nicht wieder. Von 26 Teilkompetenzen beinhalten nur zwei die zuvor betonten subjektiven und affektiven Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Darin zeigt sich, dass die Kritik an der Überbetonung der Überprüfbarkeit des literacy-Konzepts (vgl. 1.2.4 Literary literacy) auch auf die Bildungsstandards zutrifft, obwohl die KMK durch die Beschreibung des Kompetenzbereichs „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ (KMK 2005: 9) auf die Relevanz der ästhetischen und affektiven Literaturrezeption hinweist (vgl. 1.2 Beitrag von Bilderbüchern zur Grundbildung). Die Offenheit bzw. die wage Formulierung der KMK erlaubt viele Deutungsmuster. Dadurch vereinen sich viele Teilbereiche literarischen Lernens darin (vgl. 1.2.4 Literary literacy). Die unpräzisen Formulierungen lassen die Gefahr der Vernachlässigung bzw. des Verlusts der Beziehungen und Hintergründe zwischen diesen Teilkompetenzen entstehen, was zur Bildung nicht anwendbaren Insel-Wissens führt (vgl. Anhang A2: Analyse - Gegenüberstellung der Kompetenzen literarischen Lernens nach Spinner und der KMK-Bildungsstandards). Dieses Spannungsfeld umzusetzen, wird den Schulen und Lehrern zugeschrieben (vgl. 2.1 Literale Erfahrungen durch Vernetzung der Kompetenzbereiche). Positiv betrachtet bedeutet das eine große Freiheit und das Eingehen auf die individuellen Erfahrungen, Interessen etc. der Schülerschaft. Dabei ist jedoch zu kritisieren, dass ohne entsprechendes Fachwissen das Risiko besteht, die affektiv-ästhetische Dimension der Literatur zu vernachlässigen und dadurch vielen Schülern den Zugang zur Literatur (vgl. 2.2 Ganzheitliches Lernen durch die Berücksichtigung der Lerntypen) und damit die Förderung der Lesemotivation zu verwehren.
Der bewusste Einsatz von Bilderbüchern könnte dieser Vernachlässigung entgegenwirken. Die Voraussetzung für deren Rezeption sind die Berücksichtigung und Verbindung der Bild-Text-Interdependenzen.
Positiv hervorzuheben ist das in den Bildungsstandards verwendete Kompetenzverständnis (vgl. 2.1 Literale Erfahrungen durch Vernetzung der Kompetenzbereiche): Es komplementiert sich erst durch das Zusammenspiel von Wissen (Kognition), Fertigkeiten (Handlung) und affektiven Einstellungen (emotionale Bedeutsamkeit).
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1 Im Folgenden wird aufgrund der besseren Lesbarkeit auf gegenderte Sprache verzichtet, wobei jedoch in allen Fällen diverse Geschlechter mitzudenken sind.
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