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Bachelorarbeit, 2020
37 Seiten, Note: 1,0
1. Die Reformdebatte über die Zukunft der Europäischen Union
2. Darstellung der Auswirkungen der Krisen auf den Status quo der Europäischen Union
3. Vorstellung der Reformkonzepte verschiedener Akteure für die zukünftige europäische Integration
3.1 Die Europäische Kommission: „Weißbuch zur Zukunft Europas“
3.2 Die deutsch-französische Perspektive mit Fokus auf der Erklärung von Meseberg
3.3 Die Union Europäischer Föderalisten: “A united Europe now more than ever”
4. Analytischer Vergleich der ausgewählten Reformkonzepte
4.1 Art der Reformvorschläge und Zielsetzung der Gesamtkonzepte
4.2 Verhältnis der Reformvorschläge zu den krisenverursachten Mängeln
5. Fazit: Reparatur oder Neugründung?
6. Abkürzungsverzeichnis
7. Literaturverzeichnis
„Wie [sic] stehen an einer Weggabel: Wird uns dieses Virus endgültig in Arm und Reich spalten? In die Wohlhabenden und die Habenichtse? Oder werden wir ein starker Kontinent bleiben, ein ernstzunehmender Akteur in der Welt? Können wir aus dieser Lage vielleicht sogar stärker und besser herauskommen? Können unsere Gemeinschaften im Angesicht der Krise näher zusammenrücken, unsere Demokratien an Ansehen gewinnen?“1
Ersetzt man in diesem Ausschnitt einer kürzlichen Rede der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum Ausbruch des Coronavirus „dieses Virus“ durch „diese Krise“, hätten diese Wörter genauso gut vor zehn Jahren oder vor fünf Jahren aus dem Mund des damaligen Kommissionspräsidenten stammen können. Damals war es kein Virus, das den europäischen Kontinent und die ganze Welt auf den Kopf stellte, sondern zuerst der Einbruch der Konjunktur und später der Ausbruch massiver Flüchtlingsströme. Seit einem Jahrzehnt steht die Europäische Union (EU) daher fast permanent an einer solchen Weggabel und muss Krise für Krise neu entscheiden, auf welchem Weg das europäische Projekt voranschreiten soll.
Vor drei Jahren nahm der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das 60. Jubiläum der Römischen Verträge zum Anlass, diesen Entscheidungsprozess vor dem Hintergrund des erstmaligen Austritts eines Mitgliedstaates aus der EU erneut in Gang zu setzen.2 Somit wurde die aktuelle Debatte über die Zukunft Europas und der europäischen Integration im März 2017 mit dem „Weißbuch zur Zukunft Europas“3 von der Europäischen Kommission eröffnet. In den Folgemonaten und -jahren erhielt die Diskussion von vielen führenden Politikern und Politikerinnen weitere Impulse, wobei besonders die pro-europäischen Beiträge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron4 herausstachen.
Diese politische Reformdebatte wurde auch zum Mittelpunkt des wissenschaftlichen Diskurses, in dem die Reformvorschläge und Zukunftsvisionen der europäischen politischen Führungsschicht einen Rahmen für die wissenschaftliche Analyse von Mängeln der EU zur Aufstellung theoriegestützter Handlungsempfehlungen bilden.5 Die Europäische Kommission lieferte einen Vergleich der Reformvorschläge Junckers Rede zur Lage der Union 2017 und Macrons „Initiative für Europa“. Dadurch wurde festgestellt, dass sie im Wesentlichen die gleiche Vision einer besseren Zukunft der Union mit leichten Abweichungen vorwiegend hinsichtlich der zeitlichen und methodischen Umsetzung verfolgen.6 Weber und Ottmann regen nach eingehender Ausarbeitung struktureller, funktionaler und demokratischer Defizite eine Neugestaltung der Union mit „gut-konstituierte[n] nationale[n] Mitgliedstaaten und [...] begrenzter Supranationalität“7 an. Damit schließen sie sich dem Politikprofessor Jan Zielonka an. Mit einer anti-neoliberalistischen Haltung plädiert er in seinem Werk „Konterrevolution“ für eine fundamentale Neuerfindung der Union mit einer schlankeren Zentrale in Brüssel und deutlich gestärkten europäischen Fachagenturen, um das Entscheidungsmonopol der Nationalstaaten zu brechen.8 Hingegen lässt Jan Hoffmann in seinem Beitrag zur Reformdebatte die Frage „Europäische Union quo vadis?“ offen. Allerdings bietet er einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Zukunftsvorstellungen der Kommission und spezifischer europäischer Länder mit dem Ergebnis von zehn zur Diskussion gestellten Thesen.9
An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an und bringt zudem, zusätzlich zum Standpunkt der Kommission und der gemeinsamen Position Deutschland und Frankreichs, noch die Sichtweise einer supranationalen Nichtregierungsorganisation (der Union Europäischer Föderalisten) ins Spiel. Außerdem fokussiert sich diese Arbeit auf drei ausgewählte Politik- und Reformbereiche der jeweiligen Konzepte: Wirtschaft und Währung, Asyl und Migration sowie Sicherheit und Verteidigung. Dadurch können die einzelnen Vorschläge detaillierter betrachtet sowie genauer danach verglichen und untersucht werden, ob und wie sie die bestehenden krisenbedingten Schwächen der EU beseitigen und die Union für künftige Krisen widerstandsfähiger machen können. Anhand dessen lässt sich ausgehend von der Analyse des Reformbedarfs und der Reformvorschläge der drei Politikfelder ableiten, auf welchem Weg (‚reparieren‘ oder ‚neu gründen‘) die künftige europäische Integration gelingen kann.
Nach einer kurzen Darstellung des krisengeschädigten Status der Union (Kapitel 2) und der Vorstellung der ausgewählten Reformkonzepte für die Zukunft der EU (Kapitel 3) erfolgt eine vergleichende Analyse der einzelnen Reformvorschläge für die ausgewählten Politikbereiche (Kapitel 4). Diese dient dazu herauszufinden, auf welche Art und Weise die Verfasser der Konzepte beabsichtigen, die Union zu reformieren und welche Zielsetzung sie damit verfolgen: eine simple Reparatur oder eine Neugründung der EU. Daraufhin erfolgt eine Beurteilung der einzelnen Reformvorschläge, inwiefern sie die vorher herausgearbeiteten Mängel der EU beheben oder sogar verschlechtern würden. Zudem muss geklärt werden, ob die Vorschläge überhaupt in direktem Bezug zu den Mängeln stehen oder abgehoben davon formuliert wurden. Sodann ist es möglich, im Fazit die folgende Forschungsfrage zu beantworten: Ist eine Reparatur des europäischen Hauses ausreichend oder tatsächlich eine radikale Neugründung der Union notwendig für die Beseitigung der krisenbedingten Schäden der EU und die Zukunft der europäischen Integration?
Dass Europa oder vielmehr die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten schwierige Phasen geprägt von Unsicherheit, Ungewissheit und Uneinigkeit bewältigen müssen, ist kein neuartiges Phänomen des 21. Jahrhunderts. Bereits Jean Monnet, einer der Vordenker der europäischen Idee, prognostizierte: „Europa wird in den Krisen geschaffen werden und es [Europa] wird die Summe der Lösungen sein, die für diese Krisen gefunden werden.“10 Von der bisherigen Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber wirtschaftlichen oder politischen Krisen jedoch darauf zu schließen, aus der aktuellen Lage ebenfalls vereint und gestärkt hervorzugehen, ist mitunter aufgrund des multidimensionalen, langwierigen Charakters der derzeitigen Krisen sehr gewagt.11
Doch bevor der Blick in die Zukunft und auf mögliche Krisenauswege fällt, gilt es zunächst die Auswirkungen der Krisen auf den Status quo der Union zu betrachten. Schließlich ist die „Voraussetzung für Reformen in der EU [...] die Identifizierung von Mängeln der EU“12. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit allerdings auf der Analyse der Reformkonzepte liegt, werden nur diejenigen krisenverschuldeten Mängel der Union dargelegt, welche hauptsächlich die in der späteren Analyse genannten Politikfelder betreffen und enorme Herausforderungen für die europäische Integration darstellen.
Der Anfang des letzten (Krisen-)Jahrzehnts war stark geprägt von der Krise der Eurozone, welche als Teil der 2007 ausgebrochenen globalen Finanzkrise in den Folgejahren eine Staatsschulden-, Banken- und letztendlich Wirtschaftskrise für die gesamte Europäische Union bedeutete.13 Obwohl seit ihrem Ausbruch bereits mehr als zehn Jahre vergangen sind und in der allgemeinen Öffentlichkeit nur noch wenig von den wirtschaftlichen Nachwehen zu spüren ist, kann bei weitem nicht die Rede von einer allumfassend erfolgreichen Krisenlösung und Vollendung einer krisenstandhaften Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sein. Denn laut WirtschaftsexpertInnen ist trotz bisheriger Reformanstrengungen weder die Banken- oder Kapitalmarktunion vollständig ausgebaut, noch sind für die weiteren Krisenursachen (problematische Abhängigkeiten zwischen einigen Staaten und ihrem Bankensystem14, selbsterfüllende Marktpaniken und Boom-und-Bust-Zyklen) langfristig wirksame Lösungen getroffen worden.15
Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, betont indessen hinsichtlich krisenverursachter Schwächen der Eurozone die unterschiedliche Entwicklung der Wirtschaftsleistungen einzelner Euro-Länder. Besonders stark betroffene Länder wie Griechenland und Italien lägen noch weit unter dem Wert ihrer 2007 erreichten Leistung im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich. Dies habe zu einer bisher scheinbar unüberbrückbaren Spaltung der EU-Mitgliedstaaten aufgrund ihrer divergierenden Reformforderungen geführt: Während höher verschuldete Länder mehr Absicherungsmechanismen (wie beispielsweise eine europäische Einlagensicherung oder eine europäische Fiskalkapazität) innerhalb der Eurozone fordern, verlangen weniger stark getroffene EU-Mitgliedstaaten nach jahrelanger Mitfinanzierung der Rettungspakete künftig mehr Selbstverantwortung der schwächeren Nationen für ihre eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik.16
Was ebenfalls am Beispiel Italiens durch den Konflikt um dessen jüngste Verschuldungspolitik zum Ausdruck kommt, beschreibt Webber in seinem Werk „European Disintegration?“ anhand dem damaligen Verhalten Frankreichs. Die institutionelle Architektur der Eurozone weise unter anderem in Bezug auf die Einhaltung beziehungsweise Verletzung der im Fiskalpakt beschlossenen Regeln und Bedingungen erhebliche Schwachstellen auf.17 Auf dem Papier existiere zwar laut Fuest die Möglichkeit finanzieller Sanktionen bei Nichteinhaltung der Fiskalregeln, tatsächlich wurde davon allerdings noch nicht Gebrauch gemacht. Dafür dürfe die Entscheidung über die Sanktionierung von Verstößen nicht bei dem gleichen Organ, der Europäischen Kommission, liegen, welches auch die Analyse- und Kontrollfunktion hinsichtlich der Fiskalpolitiken der Mitgliedstaaten innehabe.18
Doch nicht nur im Wirtschafts- und Finanzsektor stehen dem zukünftigen europäischen Integrationsprozess Hindernisse im Weg, auch im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik herrschen aktuell erhebliche Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Als die Erschütterungen der Eurokrise allmählich abflachten, kündigte sich 2015 eine weitere, bis heute zu den schwierigsten Herausforderungen für die EU zählende Krise in Gestalt der über eine Millionen Asylsuchenden an den europäischen Außengrenzen an.19 Diese enormen Menschenmassen setzten Europa als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR) erheblich unter Druck20, wobei die Praktiken einiger EU-Mitgliedstaaten nicht immer zweifelsfrei konform mit dem Schengener Grenzkodex21 oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union abliefen.22 Demnach hat die Migrations- oder Flüchtlingskrise einige Missstände in der europäischen Asylpolitik aufgezeigt: ein unzureichendes System zum Schutz der EU-Außengrenzen und zur Verhinderung „illegaler“ Migration, ein Versagen des „Dublin-Systems“23 sowie ein Mangel an europäischen Gemeinschaftslösungen.24 Stattdessen ist die europäische Asylpolitik entsprechend dem Politikwissenschaftler Schimmelfennig nach wie vor infiziert mit nationalen Alleingängen, wie beim eigenmächtigen Aufbau und Fortsetzen der Binnengrenzkontrollen. Desgleichen kritisiert er das folgenschwere unsolidarische Verhalten und die fehlende Kompromissbereitschaft einiger europäischer Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Bezug auf die Umverteilung und Aufnahme von Flüchtlingen.25
Nettesheim sieht jedoch die Ursachen des Ausmaßes der Migrationskrise nicht in erster Linie im Mangel an Solidarität, Rechtsbeachtung, Humanität oder Gerechtigkeit, sondern in der Überschneidung der Zuständigkeiten im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS). Die Verflechtung der drei Verantwortungs- und Funktionsbereiche „Kontrolle [und Sicherung] des [europäischen] Raumes“, „menschenrechtliche Schutzverantwortlichkeit“ (Auswahl der Migranten mit Schutzanspruch) und „Aufnahmeverantwortlichkeit“ (Aufnahme, Betreuung und Integration der Migranten) habe zu schwerwiegenden Funktionsdefiziten im GEAS geführt, wodurch Mitgliedstaaten unbehelligt ihre rechtmäßigen Verpflichtungen umgehen konnten.26
Zudem hat sich während der Hochphase der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016 ein weiterer EU-Politikbereich als defizitär herausgestellt, nachdem Europas Großstädte vermehrt das Ziel terroristischer Anschläge wurden, wie Dr. Funda Tekin in ihrem Artikel zu differenzierter Integration im RFSR anführt. Ihr zufolge mangele es im Bereich Justiz und Inneres an einer effektiven Kooperation der Mitgliedstaaten zur Terrorismusbekämpfung und Gewährleistung der inneren Sicherheit. Deshalb sind institutionelle Reformen (wie die Stärkung von Europol, Eurojust und Frontex) wie auch eine intensivere parlamentarische Beschäftigung in diesem Bereich nötig geworden und weiterhin nötig.27 Der daraus hervorgehende Sonderausschuss TERR des Europäischen Parlaments hat überdies festgestellt, dass die finanziellen Mittel und Ressourcen, die grenzüberschreitende nachrichtendienstliche Zusammenarbeit sowie die Interoperabilität der nationalen Informationssysteme und Datenbanken zur erfolgreichen Terrorismusbekämpfung verbessert werden müssen.28
Anhand dieser Krisen wurde entsprechend dieser Ausführungen eines sehr klar: Obwohl ihre ursprünglichen Krisenherde außerhalb der europäischen Grenzen lagen (in den USA sowie im Nahen Osten und Afrika), wurden sie zu europäischen Krisen, „weil sie auf ungeeignete europäische Institutionen trafen“ und die EU von ihren Mitgliedstaaten „nicht mit den Kompetenzen und Instrumenten für eine wirksame Bewältigung von Krisen ausgestattet“ worden war.29 Diese „Konstruktionsmängel“ des Europäischen Hauses sowie die weitere politische Handhabung und Auswirkungen der Krisen haben laut EU-Abgeordnetem Bütikofer nicht nur für einen Vertrauensverlust der EU-Bevölkerung bezüglich des europäischen Projekts gesorgt. Ferner bekräftigen sie europaskeptisches, nationalistisches und populistisches Gedankengut in ganz Europa, welches den künftigen europäischen Integrationsprozess – sogar die grundlegenden Werte der Union wie Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit30 – zusätzlich gefährdet. Dies erfordere einen besonderen Kraftakt von europäischen Institutionen und PolitikerInnen zur Wiedergewinnung des Vertrauens und der europäischen Zukunftsfähigkeit.31
Zum einen haben die genannten Krisen, welche neben der Ukraine-Krise, dem Brexit, den Verfassungskrisen in Polen und Ungarn etc. nur einen Teil der gesamteuropäischen Krisensituation ausmachen, folglich eine Vielzahl von Mängeln in der Europäischen Union aufgedeckt. Zum anderen könnten sie aber auch als „Motoren der Reform“32 einen letztlich positiven Effekt für die europäische Integration besitzen. Zumindest haben sie bislang eine breite Diskussion über Reformen der Europäischen Union ausgelöst, wie im anschließenden Kapitel genauer ausgeführt wird.
Wie im vorherigen Kapitel beschrieben ist der gegenwärtige Zustand der Europäischen Union seit einiger Zeit mit multiplen Mängeln belastet und dringend reformbedürftig. Das wirft die Frage auf, wie es mit der EU-27 in Zukunft weiter gehen soll. Wie kann die EU reformiert werden, um erstens gestärkt aus den Krisen hervorzugehen und zweitens für künftige Krisen widerstandsfähiger gemacht zu werden? Damit beschäftigen sich wie bereits erwähnt schon seit Anfang 2017 viele europäische PolitikerInnen wie auch die breite Öffentlichkeit, weshalb mittlerweile diverse Reformpakete im Raum stehen.
Für die spätere Analyse wurden daher drei Reformkonzepte ausgewählt, um zum einen anhand verschiedener Akteursgruppen einen umfangreichen und vielfältigen Blick auf die möglichen Reformen werfen zu können. Zum anderen wurden explizit Reformkonzepte von denjenigen Akteuren ausgewählt, welche maßgeblich am Reformprozess beteiligt beziehungsweise daran interessiert sind und die künftige europäische Integration zum Wohl der EU-Bürgerschaft gestalten möchten. Um den Analyserahmen entsprechend dem Umfang dieser Arbeit auf ein sinnvolles Maß zu reduzieren, liegt der Fokus jeweils auf Reformgedanken bezüglich der Politikfelder Wirtschaft und Währung, Asyl und Migration sowie Sicherheit und Verteidigung. Schließlich besitzen diese zu reformierenden Bereiche auch in der derzeitigen Strategischen Agenda 2019-2024 des Europäischen Rates33 oberste Priorität.
Die Europäische Kommission verkörpert gemäß Art. 17 Abs. 1 EUV die Exekutive der Europäischen Union mit der Funktion, die Wahrung der Verträge sicherzustellen und die europäische Integration zu fördern. Dementsprechend hat sie die Debatte um die Zukunft Europas im März 2017 mit der Veröffentlichung des „Weißbuch[s] zur Zukunft Europas“ ins Rollen gebracht.34 Aus diesen Gründen finden die Vorschläge beziehungsweise Zukunftsszenarien der Kommission hier Einzug und werden im Folgenden genauer dargestellt. Zum besseren Vergleich mit den beiden anderen Konzepten werden sie um die konkreten Reformvorschläge des damaliger Kommissionspräsidenten Jean-Claude Junckers aus seiner Rede zur Lage der Union von 201735 ergänzt.
Im Weißbuch stellt die Kommission fünf mögliche Zukunftsszenarien für die EU-27 im Jahr 2025 vor, welche bewusst rein bildlichen Charakter besäßen und nach dem funktionalistischen Prinzip „form follows function“ verfassungsrechtliche oder institutionelle Angelegenheiten vorerst aussparen.36 Im ersten Szenario würden die EU-Mitgliedstaaten die nächsten fünf Jahre einfach „Weiter wie bisher“ am Kurs der Kommission ohne wesentliche Änderung oder Neuerungen festhalten, was in Krisenzeiten kaum sinnvoll oder hilfreich erscheint.37 Deswegen, und um sich tatsächlich mit Reformvorschlägen zu befassen, wird direkt auf das zweite Szenario „Schwerpunkt Binnenmarkt“ näher eingegangen. Den diesbezüglichen Ausführungen der Kommission zufolge würde sodann die wirtschaftliche Zusammenarbeit der EU-27 innerhalb des Binnenmarkts oberste und wohl auch einzige Priorität haben. In allen anderen Politikbereichen werde die Kooperation und Konsensfindung erschwert bis unmöglich beziehungsweise ausschließlich auf wirtschaftliche Vorteile für den Binnenmarkt ausgerichtet sein.38 Nachdem dadurch nicht einmal alle vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts vollkommen gegeben sein würden, entspräche dieses Szenario laut Hoffmann den Verhältnissen der europäischen Integration von vor rund 35 Jahren – von „der ‚kostspieligen‘ Regional- und Kohäsionspolitik“ der Union keine Spur mehr.39
Dahingegen sehen die „Mögliche[n] Ausblicke“40 der restlichen drei Zukunftsszenarien grundsätzlich eine Vertiefung der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten vor, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Im dritten werde die grundlegende Kooperation der Mitgliedstaaten „weiter wie bisher“ verlaufen, jedoch mit der Möglichkeit der vertieften Integration in ausgewählten Politikbereichen nach dem Motto „Wer mehr will, tut mehr“41. Den entsprechenden Ausführungen der Kommission zufolge werde es zur Bildung verschiedener „Koalitionen der Willigen“ kommen, zum Beispiel in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Sinne einer engeren zwischenstaatlichen Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, einem gemeinsamen Verteidigungsprogramm zur grenzüberschreitenden (Cyber-)Terrorismusbekämpfung und einer gemeinsamen europäischen Staatsanwaltschaft42. Ebenfalls denkbar sei eine solche verstärkte Zusammenarbeit einiger EU- respektive Euro-Länder zur Angleichung der Steuervorschriften und -sätze sowie der Sozialstandards und rechtlichen Vorschriften im Rahmen eines gemeinsamen „Wirtschaftsgesetzbuches“.43
Im vierten Kommissionszenario „Weniger, aber effizienter“ würden alle 27 Mitgliedstaaten zunächst gemeinsam zu priorisierende Integrationsbereiche definieren und demnach die übrigen Politikfelder auf europäischer Ebene weniger bis gar nicht mehr gemeinsam angehen. Im Rahmen der europäischen Innenpolitik werde laut Kommission der Fokus auf Innovation, Digitalisierung, Entkarbonisierung, Konsolidierung des Euroraums und Sicherstellung der stabilen gemeinsamen Währung gesetzt. Im Rahmen der europäischen Außenpolitik auf Handel, Migration, Grenzmanagement, Sicherheit und Verteidigung. Zur Implementierung der in diesen Bereichen beschlossenen neuen Regelungen sollten einerseits neue Institutionen (wie eine Europäische Agentur für Terrorismusbekämpfung oder eine Europäische Asylagentur) geschaffen sowie die Kompetenzen der vorhandenen (etwa der Europäischen Grenz- und Küstenwache) deutlich gestärkt werden.44
Die letztgenannte Möglichkeit der Europäischen Kommission für das zukünftige Wesen und die Arbeitsweise der EU sieht „[v]iel mehr gemeinsames Handeln“ der gesamten EU-27 vor. Unter der Prämisse, die Vorstellungen aller Mitgliedstaaten hinsichtlich der Handlungsprioritäten der Union und notwendigen Entscheidungen zur Krisenlösung kongruieren, würden die Nationalstaaten mehr Kompetenzen an die Union übertragen und unisono über handels-, sicherheits- und außenpolitische Fragen entscheiden. Besonders vage im Vergleich zu den restlichen Szenarien wird in diesem beschrieben, wie die EU durch die Gründung einer Europäischen Verteidigungsunion und die Realisierung der Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalunion zu „einer immer engeren Union der Völker Europas“45 werde.46
In seiner Rede zur Lage der Union 2017, auf die sich im Folgenden gestützt wird, präsentierte Juncker ein weiteres sechstes Szenario einer enger vereinten „Union der Werte“ basierend auf den drei Pfeilern „Freiheit, Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit“. Zu seinen Reformvorschlägen für die Garantie dieser Werte zählen aus sicherheitspolitischer Sicht die Schaffung einer Europäischen Agentur für Cybersicherheit, einer europäischen Aufklärungseinheit und eines Systems für legale Migration durch eine Reform der „Blauen Karte EU“. Der Schutz der EU-Außengrenzen solle unter anderem durch die Erweiterung des Schengen-Raumes um Bulgarien, Rumänien und Kroatien (unter den entsprechenden Auflagen) gestärkt werden und der Zugang zur WWU für beitrittswillige Länder durch die Schaffung eines Euro-Vorbeitrittsinstruments erleichtert werden. Weiter forderte er einen Europäischen Wirtschafts- und Finanzminister oder -Finanzministerin sowie die Entwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), Teil des Euro-Rettungsschirms, zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF).47
In Bezug auf das Vorantreiben der europäischen Verteidigungsunion nannte er lediglich den Ausbau bereits angestoßener Projekte, wie den europäischen Verteidigungsfonds und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit. Notwendige sicherheitspolitische Reformen sind seines Erachtens die Schaffung einer neuen Agentur für Cybersicherheit und einer europäischen Aufklärungseinheit sowie die Einführung quali-fizierter Mehrheitsentscheidungen in ausgewählten (außen-) und sicherheitspolitischen Beschlüssen.48 Die Europäische Kommission als „Hüterin der Verträge“ kann jedoch nicht ohne Zustimmung der „Herren der Verträge“ zentrale Entscheidungen über die Gestaltung der Europäischen Union treffen49, weshalb im Anschluss den Reformplänen ausgewählter Mitgliedstaaten Beachtung geschenkt wird.
[...]
1 Leyen, Ursula von der: Rede von Kommissionspräsidentin von der Leyen vor dem Plenum des Europäischen Parlaments zur koordinierten europäischen Antwort auf den Ausbruch von COVID-19, Brüssel 2020 (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/speech_20_532, letzter Zugriff am: 10.04.2020).
2 Vgl. Juncker, Jean-Claude, Vorwort in: Europäische Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, Brüssel 2017, S. 3.
3 Europäische Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, Brüssel 2017.
4 Online abrufbar unter: https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2017/09/26/initiative-pour-l-europe-discours-d-emmanuel-macron-pour-une-europe-souveraine-unie-democratique (letzter Zugriff am: 10.04.2020), https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2018/04/17/die-rede-des-franzosischen-staastprasidenten-vor-dem-europaischen-parlament-im-wortlaut.de (letzter Zugriff am: 10.04.2020).
5 Vgl. Ribbe, Darius/Wessels, Wolfgang: Die Europapolitik in der wissenschaftlichen Debatte, in: Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2018, Baden-Baden 2018, S. 26.
6 Vgl. Europäische Kommission: Zwei Visionen, eine Richtung. Pläne für die Zukunft Europas entsprechend der Rede zur Lage der Union von Präsident Juncker und der Initiative für Europa von Präsident Macron, Europäisches Zentrum für politische Strategie 2017 (http://ec.europa.eu/epsc/sites/epsc/files/epsc_-_zwei_visionen_eine_richtung_-_plane_fur_die_zukunft_europas.pdf, letzter Zugriff am: 20.11.2019).
7 Weber, Klaus: Eigene Vorschläge zur Neugestaltung der EU, in: Weber, Klaus/Ottmann, Henning: Neugestaltung der Europäischen Union, Baden-Baden 2019, S. 306.
8 Vgl. Gavalakis, Nikolao: 'They are strong because we as liberals are weak'. Jan Zielonka on whether the outbreak of the coronavirus could help illiberal, populist and nationalist forces, 2020 (https://www.ips-journal.eu/interviews/article/show/they-are-strong-because-we-as-liberals-are-weak-4341/, letzter Zugriff am: 10.04.2020).
9 Vgl. Hoffmann, Jan: Europäische Union quo vadis? – Ein Beitrag zur „Debatte über die Zukunft Europas“, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht, Jg. 30, Nr. 2, 2019, S. 77-84.
10 Monnet, Jean: Mémoires, Paris 1976, S. 488, zit. nach Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela/Rüger, Carolin: Die Außenpolitik der EU, Berlin/Boston 2015, S. 373, Fn. 26.
11 Vgl. Webber, Douglas: European Disintegration? The Politics of Crisis in the European Union, London 2019, S. 9-11.
12 Weber, Klaus/Ottmann, Henning: Neugestaltung der Europäischen Union, Baden-Baden 2019, S. 157.
13 Vgl. Hoffmann: Europäische Union quo vadis?, a.a.O., S. 72.
14 Für detaillierte Ausführungen zu den wechselseitigen Beziehungen zwischen Bankenzusammenbrüchen und Staatsverschuldungen in einigen europäischen Ländern siehe Dijsselbloem, Jeroen: Die Eurokrise. Erfahrungsbe-richt eines Insiders, Wiesbaden 2018, S. 30-43.
15 Vgl. Schreyer, Markus, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, in: Dullien, Sebastian: Wie weiter mit der Euro-Zone? Aktuelle Reformvorschläge im Vergleich, in: WISO Diskurs, Nr. 20, 2018, S. 2.
16 Vgl. Fuest, Clemens: Die Reform der Europäischen Währungsunion muss weitergehen, in: ifo Schnelldienst, Jg. 72, Nr. 10, 2019, S. 3-5.
17 Vgl. Webber: European Disintegration?, a.a.O., S. 105.
18 Vgl. Fuest: Die Reform der Europäischen Währungsunion muss weitergehen, a.a.O., S. 5-6.
19 Vgl. Leggeri, Fabrice: Zusammenarbeit an den Außengrenzen Europas. Die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex), in: Hoebink, Hein/Reul, Herbert (Hrsg.): Wir brauchen das vereinte Europa!, Essen 2017, S. 205-206.
20 Vgl. Luft, Stefan: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen, München 2016, S. 46.
21 Im Schengener Grenzkodex (Verordnung (EU) 2016/399) sind gemäß Art. 1 die Regeln für die Grenzkontrollen von Personen an den EU-Außengrenzen festgelegt, nachdem grundsätzlich keine Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raumes stattfinden zu haben.
22 Vgl. Carrera, Sergio/Stefan, Marco/Chun Luk, Ngo u.a.: Die Zukunft des Schengenraums: Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen des Schengen-Regelungsrahmens seit 2016, Brüssel 2018, S. 6.
23 Die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 („Dublin III“) regelt laut Art. 1, welcher EU-Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags und die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Einige Mitgliedstaaten missachteten jedoch die ihnen danach zugeschriebene Zuständigkeit und ließen Asylsuchende in andere Länder weiterziehen, was zur sogenannten Sekundärmigration führte.
24 Vgl. Luft: Die Flüchtlingskrise, a.a.O., S. 46-47.
25 Vgl. Schimmelfennig, Frank: Von Krise zu Krise: Versagt die EU in der Flüchtlingspolitik?, in: Wirtschaftsdienst, Jg. 95, Nr. 10, 2015, S. 650.
26 Vgl. Nettesheim, Martin: Jenseits von „Dublin“: Differenzierung von Raum-, Schutz- und Aufnahmeverantwortlichkeit, in: Ludwigs, Markus/Schmahl, Stefanie (Hrsg.): Die EU zwischen Niedergang und Neugründung. Wege aus der Polykrise, Baden-Baden 2020, S. 76-78.
27 Vgl. Tekin, Funda: Differenzierte Integration im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Span-nungsfeld von Problemlösungsinstinkt und Souveränitätsreflex, in: integration, Jg. 40, Nr. 4, 2017, S. 263-274.
28 Vgl. Théron, Francois: Bericht des Sonderausschusses Terrorismus, Wissenschaftlicher Dienst des Parlaments, 2018 (https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2018/630320/EPRS_ATA(2018)630320_DE.pdf, letzter Zugriff am: 15.03.2020).
29 Vgl. Schimmelfennig: Von Krise zu Krise, a.a.O., S. 650.
30 Art. 2 EUV.
31 Vgl. Bütikofer, Reinhard: Skeptizismus der Vernunft? Optimismus des Willens!, in: Hoebink/Reul (Hrsg.): Wir brauchen das vereinte Europa!, a.a.O., S. 59-64.
32 Schimmelfennig: Von Krise zu Krise, a.a.O., S. 650.
33 Darin lauten die ersten beiden Hauptprioritäten: „Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Freiheiten“ und „Entwicklung einer soliden und dynamischen wirtschaftlichen Basis“, vgl. Generalsekretariat des Rates: Eine neue Strategische Agenda 2019-2024, 2019 (https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/06/20/a-new-strategic-agenda-2019-2024/, letzter Zugriff am: 15.03.2020).
34 Vgl. Juncker, Jean-Claude: Vorwort, in: Europäische Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, a.a.O., S. 3.
35 Juncker, Jean-Claude: Rede zur Lage der Union 2017, Brüssel 2017 (https://ec.europa.eu/commission/ presscorner/detail/de/SPEECH_17_3165, letzter Zugriff am: 13.03.2020).
36 Vgl. Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, a.a.O., S. 15.
37 Vgl. Hoffmann: Europäische Union quo vadis?, a.a.O., S. 77.
38 Vgl. Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, a.a.O., S. 18-19.
39 Vgl. Hoffmann: Europäische Union quo vadis?, a.a.O., S. 77.
40 Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, a.a.O., S. 21, 23, 25.
41 Ebd., S. 20.
42 Dem Generalsekretariat des Rates zufolge (Stand: 06.03.2020) kursiert bereits seit 2013 ein Kommissions-vorschlag für eine Europäische Staatsanwaltschaft, doch wegen Uneinigkeit im Rat konnte erst im April 2017 die Einrichtung der „EUSta“ durch eine Verstärkte Zusammenarbeit (Art. 20 EUV) von 16 Mitgliedstaaten begonnen werden.
43 Vgl. Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, a.a.O., S. 20-21.
44 Vgl. Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, a.a.O., S. 22-23.
45 Art. 1 EUV nach Hoffmann: Europäische Union quo vadis?, a.a.O., S. 78.
46 Vgl. Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas, a.a.O., S. 24-25.
47 Vgl. Juncker: Rede zur Lage der Union 2017, a.a.O.
48 Vgl. Ebd.
49 Vgl. Hoffmann: Europäische Union quo vadis?, a.a.O., S. 79.