Bachelorarbeit, 2021
49 Seiten, Note: 1,7
EINLEITUNG
1 GESELLSCHAFTSHISTORISCHER KONTEXT
1.1 DAS BESITZBÜRGERTUM
1.2 DAS BILDUNGSBÜRGERTUM
1.3 THEODOR FONTANES LITERARISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK
2 FRAU JENNY TREIBEL: DAS ARRANGEMENT DER INDIVIDUELLEN LEBENSWEGE
2.1 INSZENIERUNG SOZIALER MOBILITÄT IN FRAU JENNY TREIBEL
2.2 BESITZ UND BILDUNGSBÜRGERTUM IN „FRAU JENNY TREIBEL“
2.2.1 EINORDNUNG DES EHEPAAR TREIBELS IN DIE BOURGEOISE
2.2.2 JENNY TREIBEL ALS INKARNATION DER BOURGEOISEN GESINNUNG
2.2.3 KOMMERZIENRAT TREIBEL ALS OPPORTUNISTISCHER BESITZBÜRGER
2.2.4 DAS NETZWERKMODELL „SCHMIDT“
2.2.5 CORINNA ALS GRENZGÄNGERIN ZWISCHEN DEN BEIDEN SPHÄREN
2.3 ZWISCHENFAZIT
3 DIE POGGENPUHLS: DER SOZIALE WANDEL DES ADELS
3.1 FAMILIE POGGENPUHL:DAS STATISCHE BILD DES AUSSTERBENDEN ADELS
3.1.1 WOHNUNGSARCHITEKTUR ALS WELTSICHT
3.1.2 AUSVERKAUF DER ARISTOKRATIE:LEO UND MANON VON POGGENPUHL
3.1.3 Albertine und Josephine - bürgerliche Kontrahentinnen der Aristokratie.
3.1.4 THERESE UND EBERHARD:KONSTITUTION ARISTOKRATISCH-STÄNDISCHEN DENKENS.
3.2 ALSo ALLES BEiM ALTEN?
3.3 ZWiSCHENFAZiT
4 SCHLUSSBETRACHTUNG
LiTERATURVERZEiCHNiS
Wilhelm von Humboldt gilt als unbestrittener Urvater der modernen Auffassung von Bildung. Er führte im deutschen Sprachraum eine fundamentale Bildungsreform durch. Der Humboldt'sche Bildungsbegriff umfasst „die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“ (Ohidy 2009: 286). Demzufolge betont Humboldt, dass der Bildungsbegriff aus zwei sich gegenseitig komplementierenden Dimensionen besteht: der kollektiven und der individuellen Dimension (vgl. ebd.: 286). Selbmann (1994: 1) fasst den Bildungsbegriff als ein „unübersetzbares Wort“ auf. Aufgrund der Vielzahl an Bildungstheorien löst sich die Einheitlichkeit des Bildungsbegriffs auf (vgl. Mayer 1992: 11). Der Bildungsroman thematisiert vor diesem Hintergrund das „Gelingen der Persönlichkeitsveränderung“ (Steinmayr 2021: 2). Folglich greifen Bildungsgeschichten die „Verweigerung von kultureller, familiärer und sozialer Reproduktion“ (ebd.: 2) auf, worauf im Folgenden näher eingegangen wird. Zudem wird die Adressierung des sozialen Problems der Bildung aufgedeckt. Die vorliegende Arbeit befasst sich in vier Kapiteln mit der Inszenierung sozialer Mobilität in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen „Frau Jenny Treibel: Wo sich Herz zum Herzen find't“ 1 und „Die Poggenpuhls“ . Aufgrund des Umfangs ist diese Darstellung nicht auf Vollständigkeit angelegt. Zunächst soll der gesellschaftshistorische Kontext erörtert werden, insbesondere Fontanes gesellschaftskritischer Standpunkt. Abschließend wird die Einordnung der Romane in die Epoche des Realismus kritisch reflektiert.
Die Quellen dieser Arbeit wurden in einer kombinierten Literatur- und Internetrecherche gewonnen. Im Rahmen der Literaturrecherche kamen der Online-Katalog „Primo“ der Universität Duisburg-Essen und der „ Katalog Plus“ der Technischen Universität Dortmund zum Einsatz. Bei der Internetrecherche wurde mithilfe der Suchmaschine „Google Scholar“ nach weiterführenden Artikeln gesucht. Neben der Fachliteratur wurde auf die Homepages von Duden, Pons etc. zugegriffen. Mit der Maßgabe, möglichst zeitnah publizierte Werke zu verwenden, wurde die Auswahl verfeinert.
Für diese Arbeit wurde zum einen die Reclam-Ausgabe des Romans „Frau Jenny Treibel“ aus dem Jahr 1973 verwendet und zum anderen die Reclam-Ausgabe des Romans „Die Poggenpuhls“ aus dem Jahr 1969. Die zitierten Passagen wurden diesen gedruckten Vorlagen entnommen. Bei Zitaten aus der Sekundärliteratur, die mit Textstellennachweisen arbeiten, wurden die Seitenangaben an die hier verwendeten Ausgaben angepasst.
Das 19. Jahrhundert porträtiert einen gesellschaftlichen Wandel, der durch die Aufklärung und die industrielle Revolution begünstigt wurde. Bei dem gesellschaftlichen Wandel handelt es sich um einen Übergang von der adeligen Feudalgesellschaft zu einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft (vgl. Motzkin 1988: 141ff.). Diese Entwicklung bewirkte auf politischer Ebene den Abbau der Adelsprivilegien. In den Jahren 1848/9 wurde dem Adel die patrimoniale Gerichtsbarkeit entzogen. Mit dieser Deprivilegierung ging ein Emanzipationsstreben des Bürgertums einher (vgl. Bieback 1976: 60). Der besitzende Bürger profitierte von dem industriellen Aufschwung der Fünfzigerjahre sowie von der wirtschaftlichen Konjunktur in der Gründerzeit (vgl. ebd.: 141ff.). Die verbesserte materielle Situation ermöglichte sowohl einen Anstieg der politischen Relevanz des Besitzbürgers als auch des gesellschaftlichen Ansehens. Der Besitzerwerb stand über dem Bildungserwerb. Bildung diente nicht der kritischen Selbsterkenntnis, sondern der persönlichen Bereicherung (vgl. Kaelble 1988: 120ff.). Die Entwicklung einer eigenständigen bürgerlichen Kultur wird als gescheitert angesehen. Vielmehr dominierte sowohl im Besitz- als auch im Bildungsbürgertum der Versuch, die Ranghierarchie des sozialen Status zu erhöhen (vgl. ebd.: 120ff.). Die Spaltung in ein Besitz- und ein Bildungsbürgertum wird nachfolgend expliziert.
Der Begriff „Bourgeois“ steht in Opposition zu dem Wort „Bürger“, mit dem er stammverwandt ist. Diese Opposition dient zur Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung. „Bürger“ gilt hier als Synonym für „Staatsbürger“ (Pelster 1997: 61). „Bourgeois“ dagegen meint einen „Bürger, der zu Besitz gekommen ist“ (ebd.: 61), also den Besitzbürger. Unter anderem wird „Bourgeois“ mit „Spießbürger“ gleichgesetzt (vgl. Pons 2001). Mommsen (1973: 39) erfasst unter dem Begriff Wohlsituierte, die keine Kultur besitzen, aber den „Anstrich der Bildung“ vermitteln. Die Bürger wollten als „citoyens“, also als Staatsbürger, angesehen werden (vgl. Pons 2001). Nach Karl Marx besaß das preußische Großbürgertum keinerlei Klassenbewusstsein. Der Fokus lag allein auf den privaten wirtschaftlichen Erfolgen. Somit unterstützte die Bourgeoisie die konstitutionelle Monarchie. Marx hat die deutsche Bourgeoisie von der englischen und französischen abgegrenzt. Er nahm sie als eine nationale Klasse ohne Mut, Verstand und Energie wahr. Außerdem habe sie es zu nichts gebracht und existiere „provinzial, städtisch, lokal, privatim“ (Marx 1959: 152). Des Weiteren richte der Bourgeois seinen gesamten Fokus auf den Klassenaufstieg (vgl. ebd.: 62). Demzufolge setzten die Großbürger auf altbürgerliche Werte, die den Erwerb des Reichtums förderten. Das Ehrbewusstsein wurde durch adlige Repräsentationsformen legitimiert. Nach Fontanes Beobachtungen resultierte aus der integration des Großbürgertums in den Adel eine Durchmischung der Ehrenwerte. Dementsprechend veredelte sich die Bourgeoise, „indem sie sich feudalisiert“ (Greif 1992: 281). Sie versuchte, den Adel in seiner Lebensform nachzuahmen. Außerdem rivalisierte sie mit den Bildungsbürgern. Die Entwicklung der Besitzbürger wurde weitervererbt, das heißt, die Kinder von Fabrikbesitzern bzw. Unternehmern übernahmen die Rolle ihrer Väter oder bauten sich neue Betriebe auf (vgl. Mommsen 1973: 39).
Das Bildungsbürgertum setzte sich im 19. Jahrhundert aus Ärzten, Anwälten, Richtern, Beamten und Gymnasiallehrern zusammen. Die Bildungsbürger wirkten bei dem Ausbau des Hochschulsystems mit und die Ebene der Wissenschaft wurde für viele interessanter. Demzufolge nahm die Anzahl der Berufe mit akademischer Qualifikation und höherer Bildung zu (vgl. Haupt 1989: 237). Je nach „sozialer Öffnung“ können zwei typische Arten von Bildungsbürgern abgegrenzt werden.
„Der erste schottete sich ab, zementierte seine Einheit durch einen spezifischen Corpsgeist und reservierte de facto die erfolgreichen Karrieren den Erben aus besitz- und bildungsbürgerlichen Familien“ (ebd.: 237).
Im Gegensatz dazu steht „der zweite, der die mittleren Beamten, Gymnasiallehrer und Intellektuellen umfaßte“ (ebd.: 237). Aufgrund des Ausmaßes an Bildung entstand eine Gruppe von Meinungsführern und Meinungsträgern - die intellektuellen (vgl. ebd.: 237). Folglich war das Bildungsbürgertum durch die Auseinandersetzung mit humanistischer Bildung und die Ausübung akademischer Berufe mit Qualifikation gekennzeichnet (vgl. Haupt: 1989: 237).
Abschließend kann festgehalten werden, dass dem „Aufgeklärtsein der Citoyens die Abgeklärtheit des Bourgeois“ folgte (Trunk 1998: 140).
Wie bereits ausgeführt wurde, fokussiert sich die vorliegende Arbeit auf die Inszenierung sozialer Mobilität in Fontanes Gesellschaftsromanen „Frau Jenny Treibel“ und „Die Poggenpuhls“. Aufgrund dessen wird sich das nächste Kapitel mit Fontanes literarischer Gesellschaftskritik befassen.
Fontane äußert sich in seiner brieflichen Korrespondenz nicht nur gegenüber dem Besitzbürgertum kritisch, sondern auch gegenüber seiner eigenen Schicht, dem Bildungsbürgertum. Insbesondere kritisiert er das „wohlhabend gewordene Speckhökertum“ (Erler 1969: 7), das aus kleinen Verhältnissen stammend zu Reichtum gekommen ist. Er stört sich zum einen an der protzigen Zurschaustellung ihres Reichtums und dem „Bourgeoiston“ (ebd.: 7), der sich aus der Überheblichkeit und dem Geltungsbedürfnis zusammensetze (vgl. ebd.: 7f.). Fontane kritisiert zudem die Überbewertung materieller Güter, die er als die niedrigste Form menschlichen Daseins charakterisiert. Seiner Ansicht nach denken die „philisterhaften Neureichen“ (Mommsen 1973: 39) nur an Geld und zu wenig an die allgemeine Menschheit bzw. an das Menschsein (vgl. ebd.: 39). „Bourgeoisie“ meint die „gestiegene, gesellschaftlich und kulturell immer mehr sich durchsetzende Klasse“ (Mecklenburg 2018: 70). Fontane bezeichnet sie als die „trostlose Miserabelschaft“ (ebd.: 70), da sie keinerlei Gefühle zeige, sondern in einer Scheinwelt bestehend aus Lügen lebe (vgl. ebd.: 70).
„Alle geben sie vor, Ideale zu haben; in einem fort quasseln sie vom ,Schönen, Guten, Wahren‘ und knixen doch nur vor dem goldnen Kalb, entweder indem sie tatsächlich alles was Geld und Besitz heißt, umcouren oder sich doch innerlich in Sehnsucht danach verzehren“ (Pelster 1997: 62).
Ergänzend erfasst Fontane unter dem Begriff der „Bourgeoisie“ Leute, die zwar keinen Geldsack, aber trotzdem eine Geldsackgesinnung2 besitzen (vgl. Trunk 1998: 283).
Die Geldsucht bzw. „Geldsackgesinnung“ ist nach Fontane auch im Bildungsbürgertum anzutreffen. Er beklagt daher eine Entleerung des Bildungsbegriffs, der vom Bürger lediglich als Mittel zur Sicherung des gesellschaftlichen Ansehens aufgefasst wird. Hierfür macht er die gesellschaftliche Sichtweise verantwortlich, die den Inhalt nicht hinterfragt und Bildung nicht als ideellen Wert betrachtet. Außerdem sieht er in dem „Approbationsdenken“ die Ursache für die „Aushöhlung“ des klassischen Bildungsbegriffs (vgl. Müller- Seidel 1975: 132). Seine Kritik „zielt in erster Linie auf den Bildungshochmut der wilhelminischen Zeit“ (ebd.: 132). Wie Fontane seine Kritik literarisch verarbeitet, wird im Folgenden zu "Frau Jenny Treibel" und „die Poggenpuhls“ verdeutlicht.
Fontane äußert in einem Brief an seinen Sohn, dass die intention des satirischhumorvollen Gesellschaftsromans, der 1892 erschienen ist, in der Akzentuierung des „Hohen, Phrasenhaften, Lügnerischen, Hochmütigen, Hartherzigen des Bourgeoisstandpunkts“ (Pelster 1997: 58) bestehe. Frau Jenny Treibel ist der „klassische Spiegel der bourgeoisen Halbbildung“, zugleich gehört der Roman zu den „heitersten Romanen der deutschen Literatur“ (Mommsen 1973: 40). Peter Wruck (1991: 195) bezeichnet den Roman als „ein Buch der Lebenswege“. Folglich kann Frau Jenny Treibel als ein Arrangement der individuellen Lebenswege verstanden werden. Das vorliegende Kapitel fokussiert sich auf jene scheiternden beziehungsweise gescheiterten Werdegänge, die die „repräsentative Aufsteigerklasse der industriellen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Grave 2000: 615) nachzeichnen, hierunter der arrivierte Klassenaufstieg Jenny Treibels durch ihre Ehe mit dem Kommerzienrat, die misslungene Politikkarriere des Kommerzienrats, das Netzwerk um Wilibald Schmidt und der geplante beziehungsweise erhoffte Klassenaufstieg Corinna Schmidts.
„Soziale Mobilität“ meint die „Bewegung zwischen hierarchisch geordneten Schichten oder Klassen, also die sozialen Auf- und Abstiege“ (Federspiel 1999: 15). Außerdem gilt sie als indikator für die Flexibilität und offenheit von Gesellschaften. Hierbei wird die Frage nach den Aufstiegschancen von einer niedrigeren in eine höhere Schicht gestellt. Hohe Aufstiegschancen kennzeichnen demnach eine „offene Gesellschaft mit geringen Standesschranken“ (ebd.: 15). Bei Frauen wird die soziale Mobilität am Heiratsverhalten gemessen, wofür auch der Begriff „Heiratsmobilität“ verwendet wird (vgl. ebd.: 20). Der Mobilitätsbegriff schließt Frauen aus, die über ihren Beruf und ihre Berufstätigkeit sozial klassifiziert werden (vgl. ebd.: 1). Darüber hinaus spiegeln sich in dem „Hinauf-Heiraten“ der Frauen die Ausbildungsunterschiede zwischen den Geschlechtern wider (vgl. Henke/Lengsfeld/Rückert 1979: 91). Zugleich ist sie ein Beleg dafür, dass der niedrigere Bildungsstand einer Frau kein geschlechtsspezifisches, sondern ein soziales Phänomen verkörpert (vgl. Henke/Lengsfeld/Rückert 1979: 91).
Der Roman „Frau Jenny Treibel“ ist durch ein Wechselspiel zwischen den Schauplätzen gekennzeichnet. Der häufige Wechsel der Schauplätze arrangiert ein Spiel mit Orten, Schichten, Differenzen und Milieus (vgl. D'Aprile 2018: 364). Dies führt dazu, dass die Charaktere in dem Roman mobil werden. Nach Lübbe (1998: 38) ist die Gesellschaft ein „Schauplatz der Geschehnisse. Jedoch versteckt sich hier keine „abstrakte, programmatisch fixierte Gesellschaftskritik“ (ebd.: 38), also liegt keine „poetisch verkleidete Soziographie“ (ebd.: 38) vor. Dieser Roman spielt in Berlin (vgl. Fontane 1973: 7f.).3 Der Straßenverlauf im historischen Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbindet die einzelnen Bausteine der auftretenden Figurenbiographien miteinander. Zum einen erfolgt eine Verschiebung der sozialen Topographie durch die Mobilität der Rollen (vgl. Seeba 2018: 1). Zum anderen reflektiert der Roman die „Gesellschaft lediglich in ihren Zuständen“ (ebd.: 38), das heißt, dass geschichtliche Veränderungen und Umstürze nicht beachtet werden (vgl. ebd.: 38). „Interessant ist, dass es gerade die Frauenfiguren sind, an denen Fontane exemplarisch die gesellschaftlichen Widersprüche aufzeigte, die er zu kritisieren suchte“ (Brühl 2018, Vorwort). Dies zieht die Frage nach sich, weshalb die Frauen zu den Trägerinnen der Kritik wurden, worauf nachfolgend näher eingegangen werden soll.
„Wenn es einen Menschen gibt, der für Frauen schwärmt und sie beinah doppelt liebt, wenn er ihren Schwächen und Verirrungen, dem ganzen Zauber des Evatums, bis zum infernal Angeflogenen hin, begegnet, so bin ich es [...]“ (Trunk 1998: 137).
Mit diesem Zitat, das von dem fünfundsiebzigjährigen Theodor Fontane stammt, leitet Trunk (1998: 137) ihren Aufsatz „Weiber weiblich, Männer männlich. Frauen in Welt Fontanes“ ein. Demnach ist Theodor Fontane der einzige deutsche Schriftsteller, der „tief und kenntnisreich“ (ebd.: 137) das weibliche Seelenleben und die Erfahrungswelt mitfühlt (vgl. ebd.: 137). Folglich agierte er als „der Seismograph des preußischen Bürgertums“ (ebd.: 137).4 Fontanes Protagonistinnen werden mit Konflikten seiner Zeit konfrontiert, was der Aufdeckung gesellschaftlicher Erschütterungen dient (vgl. Trunk 1998: 137). „In jedem Fall ist die Rechtsstellung der Frau in Ehe und Familie klassenübergreifend prekär, vor dem herrschenden Gesetz sind alle Frauen gleich- rechtslos“ (ebd.: 138). Aufgrund dessen konnte eine Frau nur „unter Einsatz der vielbeschworenen weiblichen Waffen“ (ebd.: 137) Einfluss auf einen Mann und demnach auf gesellschaftliche Prozesse nehmen (vgl. ebd.: 137). Im Bürgertum des 19. Jahrhunderts dominierte die Zweckheirat, Liebesheiraten waren dementsprechend selten (vgl. ebd.: 138). Schlussfolgernd diente die „Frau als schönes und schwaches Geschlecht“ (ebd.: 139) zur glanzvollen Repräsentation. Sie suchte in der Verehelichung „einen Modus, eine Natur und gesellschaftliche Anerkennung zu vereinbaren, um ihre Identität nicht zu verlieren“ (ebd.: 139). Fontane gehört zu den wenigen Autoren, die eindrückliche Frauenporträts geschaffen haben. Die Frauen werden zu Verliererinnen der wilhelminischen Gesellschaft und somit zu „Opfern einer restriktiv handelnden Gesellschaft“ (Becker 2003: 243). Den Protagonistinnen in Fontanes Romanen gelingt es in Erinnerung zu bleiben. Dazu gehören auch Frauenbiographien in Frau Jenny Treibel, was sich im Folgenden bestätigen wird.
„Frau Jenny Treibel“ ist einer von Fontanes Berliner Romanen, er reflektiert die sozialen Zustände und Entwicklungen innerhalb des Berliner Bürgertums (vgl. Pelster 1997: 58). Nachfolgend steht die hierin verarbeitete Profilierung des Besitz- und Bildungsbürgertums im Fokus.
Familie Treibel wohnt in einer Villa an der Spree (vgl. JT: 17f.). Sie betreibt in dritter Generation eine Fabrik in Berlin. Der Fabrikant und gleichzeitig Kommerzienrat Treibel ist der Familienvorstand (vgl. JT: 17ff.). Er lebt zusammen mit seiner Frau Jenny Treibel und seinen zwei Söhnen Otto und Leopold Treibel. Otto Treibel ist mit der reichen Helene von Hamburg verheiratet. Familie Treibel ist als Vertreterin des Besitzbürgertums zu verstehen (vgl. JT: 17ff.).
Der Gymnasiallehrer Professor Wilibald Schmidt stammt aus der Akademikerfamilie Schmidt (vgl. JT: 15f.). Das Bildungsbürgertum wird demnach durch Familie Schmidt und den Vetter Marcell dargestellt, den Corinna am Ende des Romans heiratet. Wilibald Schmidt lebt gemeinsam mit seiner Tochter Corinna Schmidt und der Haushälterin Frau Schmolke in der Spreegasse (vgl. JT: 8ff.). Frau Schmidt lebt offenbar schon lange nicht mehr, wie dem Handlungsverlauf zu entnehmen ist.
Fontane äußert ein Urteil über das Ehepaar Treibel, indem er sie in die „hassenswerte Bourgeoisie“ (Pelster 1997: 62) einordnet. Folglich deskribiert Fontane einen „exemplarischen Aufstieg“ und die daraus resultierende Approximation an den Adel. Enger gefasst wird die Übernahme exklusiver Ehrvorstellungen und die Anpassung an die adlige Loyalität expliziert (vgl. Greif 1992: 281). Die Familie Treibel spiegelt dies sowohl im Verhalten als auch im Selbstverständnis wider. Auch die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen lassen sich ablesen, zum Beispiel an der ungleichen Entschiedenheit gegen die Konkurrenz. Demgemäß lässt sich ihr Reichtum mit dem „Nimbus der Unerreichbarkeit verschleiern“ (ebd.: 281). Beachtenswert ist, dass das allgemeine Streben nach Reichtum den sozialen Status gefährdet. Dies versucht die kommerzienrätliche Familie durch Repräsentation auszugleichen. Nicht umsonst leben sie in einer „Prunkvilla, nebst Palmen, Garten, Kakadu und Fontäne“ (ebd.: 281f.). Das äußere Erscheinungsbild des Hauses ist ein Prestigesymbol für den individuellen Erfolg. Die Qualität und der Name eines Produktes stellen in der pluralistischen Gesellschaft den Status des Käufers und seine potenzielle Kaufkraft dar (vgl. ebd.: 282). Jedoch gewährleistet die potenzielle Kaufkraft keine Ehrzuweisung. Hierfür muss das Kaufobjekt öffentlich eine Verbindung zwischen dem Käufer und dem Produkt herstellen . Erst dann werden dem Käufer gehobene Wertvorstellungen zugeschrieben (vgl. : 282f.). Nicht umsonst informiert der Erzähler kurz vor Beginn des Diners darüber, dass „das zuvor lange bewohnte Haus in der Alten Jakobstraße nicht mehr zeit- und standesgemäß sei“ (Wichard 2012: 192).
Sombart macht 1913 auf die Synkrise von Bescheidenheit und Verschwendung aufmerksam und kommt zu dem Schluss, dass der moderne Bourgeois seine Geschäfte mit spartanischer Disziplin führt, dessen „Privatwirtschaft“ sich jedoch aus „Wohlleben und Prachtentfaltung“ (Greif 1992: 282) zusammensetzt.
[...]
1 „Frau Jenny Treibel: Wo sich Herz zum Herzen find't“ wird im Folgenden mit „Frau Jenny Treibel“ abgekürzt.
2 Der Terminus „Geldsackgesinnung“ meint die Mediokrität, die einer Imitation der traditionellen Machtentfaltung, aus seiner Sicht, eigen bleibt (vgl. Trunk 1992: 283).
3 Im Folgenden zitiert als JT: Seitenzahl
4 Ein „Seismograph“ dient zur „Messung und Aufzeichnung von Bewegungen des Bodens, insbesondere bei Erdbeben“ (wortbedeutung.info 2021).
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