Bachelorarbeit, 2021
55 Seiten, Note: 1.0
1. Einleitung
2. Michel Foucault und die Macht
2.1. Die Macht und das Subjekt
2.2. Machtbeziehungen
2.3. Macht - Auf Handeln gerichtetes Handeln
2.4. Machtverortung
2.5. Disziplinäre Technologie
3. Funktionale Musik als Mittel der Produktions- und Konsumkontrolle
3.1. Funktionale und autonome Musik
3.2. Muzak - Macht der funktionalen Musik
3.2.1. Ursprung und Forschung
3.2.2. Muzak - Eine neue disziplinäre Technologie
3.2.3. Die Funktionalität von Muzak
3.2.4. Die Vordergrundmusik im Postfordismus
3.3. Die disziplinäre Technologie der Moderne
4. Musik als disziplinäres, repressives und ideologisches Instrument des NS- Regimes
4.1. Musik - Omnipräsenz und Omnipotenz
4.2. Musik-Innenpolitik im NS-Staat: „Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens“
4.3. Musik-Außenpolitik des NS-Staates: Musik und Besatzung
4.4. Die Konformität stiftende Macht der Musik
5. Musik, Sound und die Grenzen der Macht
5.1. Häftlingsorchester in Konzentrations- und Vernichtungslagern
5.2. Sonic Warfare
5.3. Musik und Sound - Instrumente omnipräsenter Macht
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
8. Anhang
Musik ist mittlerweile in jeder Art und Weise ein wesentlicher Bestandteil des Lebens der Moderne geworden. Sei es die Musik, die aktiv bei Konzerten und Aufführungen oder passiv beim Sport oder Einkaufen gehört wird.
Doch Musik ist nicht bloß Musik und geht weit über die additive Kombination von Tönen hinaus. Schon die Sprichwörter „jemandem die Flötentöne beibringen“ oder „andere Saiten aufziehen“ deuten auf erzieherische, disziplinierende und ordnende Eigenschaften der Musik hin.
Genau diese Eigenschaften sollen in dieser Arbeit aufgegriffen werden. Es soll gezeigt werden, wie in der Zeitgeschichte Musik in vielen unterschiedlichen Kontexten instrumentalisiert wurde, um auf Individuen bzw. Subjekte Macht auszuüben und bestimmte Machtverhältnisse zu erzeugen, zu erodieren oder zu stabilisieren. Sei es im Rahmen der Produktions- und Konsumkontrolle im Fordismus und Postfordismus des frühen 20. Jahrhunderts, im Rahmen der repressiven, ideologischen und disziplinären Musikpolitik des NS-Regimes, oder im Rahmen der Entwicklung akustischer Waffen und musikalischer Folter. Trotz der vielen weiteren Bereiche, in denen man die Macht der Musik und Musik der Macht untersuchen könnte, liegt der Fokus auf den genannten Beispielen, da sie diverse Bereiche der Musikanwendung thematisieren und inhaltlich ineinander übergehen. Das Ziel dieser Arbeit ist es, ein tieferes Verständnis von der Rolle der Musik in der Gesellschaft und ihrer Klanglandschaft der Gegenwart und Vergangenheit zu schaffen.
Um die einzelnen Machtbeziehungen greif- und sichtbarer zu machen, werden Michel Foucaults Überlegungen zum Machtbegriff und seine Praktiken in Betracht gezogen. Foucaults Machtbegriff bietet sich auf besondere Weise an, da er nicht nur den Begriff der „disziplinären Technologien“ einführt, der sich auf die Musik der Moderne anwenden lässt, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich seine Überlegungen zu Machtbeziehungen nicht auf einzelne Institutionen beschränken und eine weite Fläche der Anwendbarkeit anbieten.
Die mit der Musik im Zusammenhang stehenden Machtbeziehungen begrenzen sich im Folgenden nicht nur auf die klanglichen Eigenschaften der Musik selbst, sondern fokussieren sich zudem auf die mit Musik verbunden Praktiken.
Im ersten Abschnitt der Arbeit wird sich mit Michel Foucault Machtbegriff auseinan-dergesetzt. Es wird auf die Entstehung, die Eigenschaften und Bedingungen von Machtverhältnissen eingegangen. Foucaults Überlegungen dienen als machttheoretische Grundlage für die daran anschließenden Kapitel. In jedem folgenden Themen-feld werden die von Foucault aufgestellten Überlegungen zur Macht verhandelt und in Relation zur Musik gesetzt.
Das erste Themenfeld beschäftigt sich mit der Instrumentalisierung von Musik in Produktionsstätten des Taylor- und Fordismus und in Konsumstätten des Postfordis-mus. Hierbei wird die Firma Muzak und ihre Vermarktung der funktionalen Musik im Vordergrund stehen. Zudem soll gezeigt werden, inwiefern funktionale Musik eine moderne disziplinäre Technologie im Sinne von Foucault darstellt.
Das zweite, zeitgeschichtlich parallel stattfindende Themenfeld befasst sich mit der Instrumentalisierung der Musik des NS-Regimes im Rahmen repressiver, ideologischer und disziplinärer Machtverhältnisse. Dabei wird der Umgang mit Musik sowohl in der Innen- als auch Außenpolitik berücksichtigt.
Das dritte und letzte Themenfeld umfasst die Instrumentalisierung von Musik und vor allem Klang als Mittel der Gewalt, Folter und des Krieges. Daneben sollen in diesem Kapitel die Grenzen des foucault'schen Machtbegriffes verhandelt und ge-zeigt werden, wie in Umgebungen der Gewalt disziplinäre Machtverhältnisse von souveränen Machtverhältnissen begleitet werden.
Im Fazit sollen die Forschungsergebnisse gebündelt und pointiert herausgestellt werden. Außerdem soll ein Ausblick und mögliche Lösungsvorschläge für das Auflösen der nach Foucault überzogenen Machtverhältnisse im Kontext der Musikpraktiken vorgestellt werden.
Bevor eine umfangreiche Analyse von instrumentalisierter Musik im Sinne der Machtausübung durchgeführt werden kann, muss vorerst der Machtbegriff geklärt werden. Die machttheoretische Grundlage dieser Arbeit sollen Michel Foucaults Überlegungen zum Machtbegriff und seiner Ausprägungen sein.
Michel Foucault ist ein französischer Philosoph des 20. Jahrhunderts, dessen Arbeit sich größtenteils mit der kritischen und forensischen Analyse der Machtverhältnisse der modernen kapitalistischen Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Entwicklung und Legitimierung befasst. Einige seiner Ziele waren es, die Hintergründe der Objektivierung des Individuums zu erfassen, alternative Arten der Subjektivierung aufzusuchen und die, seiner Meinung nach, überzogenen Machtverhältnisse zu hinterfra- gen.1 Foucault unterscheidet grundsätzlich zwischen drei verschiedenen Machtformen, welche sich auf die Subjekte beziehen und sich durch diese konstituieren. Die erste Form nennt er die souveräne Macht. Diese Machtform ist die zentralisierte Manifestation der Macht und kann bspw. an der Herrschaftsform der Monarchie veranschaulicht werden, wobei das Volk den Regulierungen des Monarchen Folge zu leisten hat und bei Missachtung oftmals physisch bestraft wird. Die zweite Machtform nennt Foucault disziplinäre Macht. Diese ist v.a. in der modernen Gesellschaft aufzufinden, in welcher Macht durch disziplinäre Mechanismen u.a. in einer Vielzahl von Institutionen wie Schulen und Gefängnissen ausgeübt wird. Insbesondere in diesen disziplinären Machtverhältnissen und Institutionen entfaltet sich der Macht-WissenKomplex, auf welchen später noch eingegangen wird.2 Die dritte Machtform beschreibt Foucault mit dem Begriff der sog. Gouvernmentalität. Gouvernmentalität bezeichnet einen Zustand, in welchem die zentralisierte Macht dezentralisiert auf die einzelnen Subjekte der Gesellschaft verteilt wird. Durch diese Prozesse soll das Subjekt sich selbst regieren, anstatt regiert zu werden.3
Zwar liegt der Ursprung der überzogenen Machtverhältnisse laut Foucault im Zeitalter der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, der Zeit der Herausbildung des modernen Staates. Allerdings müsste man noch weiter in die Vergangenheit gehen, würde man verstehen wollen, durch welche Mechanismen die Menschen Gefangene ihrer eigenen Geschichte wurden.4 Der Ausgangspunkt für Foucaults Analyse der Machtbeziehungen liegt in den Widerständen gegen die vorherrschenden Machtformen. Der Widerstand bildet den Funken, der die Machtbeziehungen sichtbar werden lässt. Er zeigt, wo sie zu finden sind, wo sie ansetzen und mit welchen Methoden sie arbeiten. Um den Begriff der Gesetzlichkeit zu verstehen, müsse sich die Frage nach der Gesetzlosigkeit stellen. Wolle man verstehen, was die Gesellschaft unter geistiger Gesundheit begreift, müsse observiert werden, was auf dem Gebiet der Geisteskranken geschieht usw.5 Einige Beispiele dieser Widerstände der letzten Jahrzehnte sind die Widerstände gegen die Macht der Männer über Frauen, der staatlichen Gewalt über die Lebensart der Menschen und der Medizin über die Bevölkerung.
Bereits im 15. und 16. Jahrhundert sieht Foucault die Ursprünge der Kämpfe für eine neue Subjektivität im Rahmen der Reformation. Hier kämpfte man für das direkte, nur durch Gott garantierte Seelenheil. Die Heilsarbeit und die unmittelbare Beteiligung am spirituellen Leben sollte folglich keiner Institution unterliegen.6 Ein weiteres Beispiel aus der Geschichte, welches Foucault nennt, war das Zeitalter der Feudalgesellschaft, in welcher Kämpfe gegen die ethnische und soziale Herrschaft im Vordergrund standen.7 Im 19. Jahrhundert stand wiederum der Kampf gegen die Ausbeutung im Fokus. Heutzutage ist v.a. der Kampf gegen die Formen der Objekti- vierung bzw. des Objektwerdens im Vordergrund, auch wenn Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden sind.
Im Rahmen der Aufklärung hat sich eine neue politische Macht entwickelt, der Staat. Foucault behauptet, dass der Staat in den meisten Fällen als politische Macht verstanden wird, die keine Rücksicht auf den Einzelnen nimmt und allein das Interesse der Gemeinschaft bzw. einzelner Gruppen oder Klassen verfolgt. Diese Annahme sei zwar richtig, aber dennoch ist es ihm wichtig hervorzuheben, dass der Staat ein zeitgleich totalisierendes und globalisierendes und somit äußerst mächtiges Phänomen darstellt. Für Foucault gab es zu keinem Zeitpunkt in der menschlichen Geschichte innenhalb politsicher Strukturen eine so komplexe Verbindung zwischen den Techniken der Individualisierung und Totalisierung.
Der Ursprung dieser neuen Macht der modernen Staaten ist eine alte Machttechnik, welche in christlichen Institutionen entstand und wieder aufgegriffen wurde. Foucault nennt die neue Machttechnik Pastoralmacht 8.
Die Funktion der Pastoralmacht liegt in der Beförderung des Prozesses der Subjekti- vierung bzw. des Subjektwerdens. Zwar ist die Wirksamkeit der Pastoralmacht innerhalb der Institution Kirche im Laufe der Zeit weniger geworden, hat sich jedoch außerhalb der Kirche weiterentwickelt, wodurch es zur Umverteilung dieser individualisierenden Machtform kam.9 Zeitgleich zur Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft spielt diese neue, umverteilte Pastoralmacht eine wichtige Rolle in der Reproduktion und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Bei der Pastoralmacht liegt insbesondere die menschliche Seele im Mittelpunkt der Machtverhältnisse. Hierbei geht es um das Regieren der Seele. Für die Verbildlichung dieser Machttechnik lässt sich die Übersetzung vom lateinischen Wort „Pastor“, zu deutsch: Hirte, benutzen. Vor der Säkularisierung hatte der Pastor bzw. der Hirte jegliche Macht. Der Hirte war für das Seelenheil seiner „Schafe“ im Jenseits verantwortlich. Um das Seelenheil garantieren zu können, musste der Pastor alles über seine Gläubigen wissen, denn nur so konnte er kontrollieren, dass sie den „richtigen“ Weg zum Seelenheil einschlagen würden.10 Die benötigten Informationen erhielt der Pastor durch die Technik der Diskursivierung, z.B. durch die Beichte. Wie sich noch zeigen wird, hat sich die auf Wissen aufbauende Pastoralmacht auf weitere Bereiche des außerkirchlichen Lebens ausgebreitet.
Für Foucault ist der moderne Staat eine neue Form der Pastoralmacht. Es ist ein Staat, dessen Teil man nur sein kann, wenn man sich einer Reihe von Mechanismen unterwirft und sich als Subjekt neu formen lässt.11 Dieser moderne Staat erhielt eine neue Zielsetzung. Aus der Sorge um das Heil im Jenseits wurde die Sorge um das Heil im Diesseits.12 In dem Kontext des Diesseits erhält der Begriff Heil eine neue Bedeutung. Nun wird mit Heil Gesundheit, Wohlergehen, Sicherheit und Schutz vor Unfällen jeglicher Art assoziiert. Ebenso verstärkte man die Verwaltung der Pastoralmacht im modernen Staat. Zum einen wurde die neue Machtform und ihre Zielsetzung von einem Staatsapparat oder einer öffentlichen Institution ausgeübt, zum anderen wurden sie durch private Einrichtungen übernommen. Schließlich übten im Laufe der Zeit auch komplexe Strukturen wie der Bereich der Medizin die pastorale Macht aus. Es wird einem nur Heil im Sinne von Heilung angeboten, wenn der Patient bereit ist, alle Informationen über sich preiszugeben, die von ihm verlangt werden. Dank dieser Vermehrung der o. g. Zielsetzungen und, noch wichtiger, der Träger der Pastoralmacht, konnte sich die Entwicklung des Wissens über den Menschen auf zwei wesentliche Pole konzentrieren: den quantitativen, globalisierenden Pol, in dem die Subjekte einer Gesellschaft zu einer statistisch messbaren biologischen Masse verallgemeinert werden und einen analytischen Pol, der dem Individuum gilt.13 Folglich verbreitete sich die Pastoralmacht über Jahrhunderte auf eine Reihe von Institutionen aus. Daraus resultierend entwickelten sich Taktiken der Individualisierung, welche für unterschiedlichste Machtformen typisch war: für die der Medizin, der Psychiatrie, des Bildungswesens, der Arbeitgeber und der Familie.14 Dement- sprechend ist für Foucault die kritische Analyse der Welt, in der wir leben, das wichtige Ziel der Philosophie. Es sei nicht unsere Aufgabe uns von den Zwängen des Staates zu befreien, sondern uns von den Formen der Individualisierung, die uns über Jahrhunderte aufgezwungen wurden. Es sind neue Formen der Subjektivierung, die jeder anstreben sollte.15
Foucault unterscheidet die Macht, die über andere ausgeübt wird, zu der Macht, die man über Dinge ausübt, um sie zu benutzen, zu verbrauchen oder zu zerstören. Er nennt diese unmittelbare Form der Macht „objektive Fähigkeiten“16. Die Form der Macht, die den Mittelpunkt von Foucaults Forschungen darstellt ist jene, die Beziehungen zwischen Individuen oder auch Gruppen integriert. Die Macht der Gesetze, Ideologien und Institutionen bedeutet für Foucault nichts anderes, als dass Menschen stets auf andere Menschen Macht ausüben. Foucault unterscheidet zu den Machtbeziehungen die sog. „Kommunikationsbeziehungen“17, welche Information durch bspw. Zeichensysteme oder die Sprache vermittelt. Bei Machtbeziehungen, Kommunikationsbeziehungen und objektiven Fähigkeiten handelt es sich um drei Arten von Beziehungen, die zwar in ihren Eigenheiten voneinander getrennt, aber miteinander stark verwoben sind, sich einander stützen und sich gegenseitig als Instrumente die- nen.18 Die Verhältnisse zwischen den einzelnen Beziehungen sind in einer Gesellschaft nie ausgeglichen und auch nie die gleichen, da sie von unterschiedlichen Faktoren abhängen, wie Ort, Umständen und Möglichkeiten. Gleichwohl beobachtet Foucault sog. Blöcke, in denen die wechselseitigen Anpassungen der Fähigkeiten, Kommunikationsbeziehungen und Machtbeziehungen kohärente und abgestimmte Systeme bilden. Als Beispiel nennt er die Institution Schule:
„[...] die räumliche Anordnung; die penible Regulierung des schulischen Lebens; die verschiedenen Tätigkeiten, die dort organisiert werden; die verschiedenen Personen, die darin leben und zusammen kommen und jeweils ihre Aufgabe, ihren Platz, ihr Gesicht haben - all das bildet einen »Block« aus Fähigkeiten, Kommunikation und Macht“19.
Das Handeln, welches den Erwerb von Fertigkeiten und Wissen oder von spezifischen Verhaltensweisen sicherstellt, äußert sich über einen Komplex geregelter Kommunikation und über eine Reihe bestimmter Machttechniken. So findet man in der Institution Schule klare kommunikative Reglementierungen wie z.B. Fragen und Antworten, Anordnungen, Ermahnungen, codierte Zeichen des Gehorsams usw. Die Machttechniken beinhalten Verhaltensweisen wie Überwachung, Belohnung und Bestrafung.
In solchen Blöcken, wo Fähigkeiten, wechselseitige Kommunikation und Machtbeziehungen in geplanter Weise aufeinander abgestimmt sind, entstehen Formen der Disziplin.20 Unterschiedliche Disziplinarformen können unterschiedliche Gewichtungen haben. So sind im Kloster und Gefängnis die Machtbeziehungen und Gehorsam im Mittelpunkt, während in der Werkstatt die Fähigkeiten gekoppelt mit zweckrationalem Handeln im Fokus stehen. Das Voranschreiten der disziplinierten Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert heiße jedoch nicht, dass die Gesellschaft gehorsamer werde. Es zeige lediglich, in welchen Bereichen der Gesellschaft eine Disziplinierung besonders erwünscht ist. Es waren die Bereiche wie bspw. der aufstrebenden kapitalistischen Wirtschaft des 19. und 20 Jahrhunderts oder im Militär, wo eine kontrollierte Abstimmung zwischen den produktiven Tätigkeiten, den Kommunikationsnetzen und Machtbeziehungen angestrebt wurde. Die Macht von der Foucault spricht ist dementsprechend nicht fundamental, sondern findet sich zwischen den einzelnen Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen.21
Wie bereits angedeutet, definieren sich Machtbeziehungen durch eine Art des Handelns, die nicht unmittelbar wirkt, wie es bei der Machtausübung auf Gegenstände der Fall ist, sondern sich auf das Handeln selbst auswirkt. Machtbeziehungen sind Einwirkungen auf mögliches und tatsächliches Handeln der Gegenwart oder Zukunft. Gewaltbeziehungen hingegen beugen, zerstören oder brechen den Körper oder Gegenstände. Gewaltbeziehungen schneiden alle Möglichkeiten potentiellen Handelns ab. Machtbeziehungen beruhen dagegen auf zwei Elementen: die Person auf die Macht ausgeübt wird, muss als handelndes Subjekt anerkannt werden und vor den Einwirkungen der Machtbeziehungen muss eine Reihe möglicher Antworten und Reaktionen vorhanden sein.22 Gewalt kann Wirkung oder auch Mittel der Machtbeziehungen, jedoch nie das Wesen oder Prinzip von Machtbeziehungen sein. Folgendes Zitat gibt eine definitorische, stichhaltige Wiedergabe Foucaults Vorstellung der handlungsorientierten Machtausübung:
„Sie [Macht] ist ein Ensemble von Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und sie operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln“.23
Macht gehört für Foucault weniger in den Bereich der Auseinandersetzung zwischen Feinden, sondern in den der Regierung. Hierbei bezieht er sich auf die breitere Bedeutung des Wortes Regierung aus dem 16. Jahrhundert, wo es u.a. die Lenkung vom Verhalten von Individuen oder Gruppen bezeichnete und nicht ausschließlich im Bereich der Politik aufzufinden war. Regieren hieß in dem Sinne das mögliche Handlungsfeld zu strukturieren.24 Wie bereits erwähnt, kann Macht nur über handelnde und somit freie Subjekte ausgeübt werden. Frei insofern, als dass die Subjekte jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen.25 Die Freiheit gilt für Foucault als die Vorbedingung der Macht. Wo die Macht auftaucht, schwindet zeitgleich die Freiheit. Wo es keine Freiheit mehr gibt, dort enden auch die Handlungsmöglichkeiten und aus Macht wird Zwang.
Auf die Extrema der Machtbeziehungen in Form von Zwang und Gewalt wird noch in späteren Kapiteln weiter eingegangen.
Für Foucault lassen sich Machtbeziehungen besonders gut an Institutionen feststellen, da diese besondere Möglichkeiten eröffnen, Machtbeziehungen in vielfältigen, geordneten, konzentrierten, produktiven und effizienten Formen zu beobachten.26 Dort kann man die Logik der einzelnen Machtmechanismen erkennen. Dennoch ist Foucault der Meinung, dass es ratsamer wäre, die Formen der Machtbeziehungen außerhalb von Institutionen zu suchen, da sie in diesen zwar klare Gestalt annehmen, ihre Ursprünge aber außerhalb von Institutionen liegen.
Handlungsorientierte Macht ist tief in der Gesellschaft verankert. Für Foucault gäbe es ohne Machtbeziehung keine Gesellschaft.27 Die Machtbeziehungen stehen somit nicht überhalb der Gesellschaft, sondern sind Teil dieser. Dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, heißt nicht im Umkehrschluss, dass alle bestehenden Machtbeziehungen notwendig sind. Es ist also eine ständige politische und gesellschaftliche Aufgabe die Verhältnisse zwischen Machtbeziehungen und Freiheit zu analysieren und infrage zu stellen.
Machtausübung ist für ihn in dem Zusammenhang keine bloße Tatsache, keine Struktur und auch keine institutionelle Gegebenheit, die einen expliziten Bestand hat. Sie organisiert und entwickelt sich und setzt mehr oder weniger effektive Mechanismen ein. Aus diesem Grund beschränkt sich Foucault bei der Analyse von Machtbeziehungen nicht auf Institutionen. Er verordnet die Machtbeziehungen im gesamten gesellschaftlichen Komplex. Weiterhin gibt es nicht eine, die Gesellschaft durchdringende Machtbeziehung, sondern viele Formen und zahlreiche Orte des zwischen- menschlichen Regierens. Diese überlagern und kreuzen, verstärken und hemmen sich gegenseitig. Trotz dieser gesamtgesellschaftlichen Verteilung der Macht verbleibt der Staat für Foucault der Bezugspunkt aller Machtbeziehungen. Jegliche Machtbeziehungen werden seit der Entstehung des modernen, neu-pastoralen Staates „zunehmend »gouvernementalisiert«“28, d.h. sie werden unter den Vorbedingungen der staatlichen Institution ausgearbeitet, zentralisiert und rationalisiert.29
Seit dem Zeitalter der Aufklärung und der zerstreuten neuen Pastoralmacht entstand eine neue Wissenschaft und daraus resultierende Technologien des Körpers als Objekte der Macht. Foucault nennt diese auf das Handeln und den Körper bezogene Machttechnologie „disciplinary technology“30. Das grundlegende Ziel dieser disziplinären Macht ist es, einen Menschen zu schaffen, der als „docile body“31, zu deutsch: fügsamer bzw. unterwürfiger Körper, beeinflusst werden kann. Der docile body ist ein Objekt, welches in seine Einzelteile, z.B. in die Bereiche Hörsinn, Extremitäten und Sehsinn, zerlegt, manipuliert und subjektiviert werden kann. Das Ziel dieser Zerlegung ist die Kontrolle und Effektivitätssteigerung der einzelnen Körperteile und dementsprechend auch des gesamten Körpers.32
Laut Foucault wurden die Technologien der Macht in Werkstätten, Barracken, Gefängnissen und Krankenhäusern entwickelt und perfektioniert. Besagte Technologien wurden größtenteils auf die Menschen der Arbeiterklasse angewandt, wenn auch nicht ausschließlich. So wurden diese Technologien ebenfalls in den Blöcken der Universitäten und Schulen angewandt. Das Erschaffen fügsamer und produktiver Körper setzt Foucault mit der Entstehung des Kapitalismus in Verbindung. Ohne die Einführung von disziplinierter und produktiver Arbeiter in der Maschinerie der Produktion wäre die kapitalistische Nachfrage der Zeit nie erfüllt worden. Foucault
[...]
1 Vgl. Foucault, Michel: Afterword by Michel Foucault. In: Dreyfus, Hubert L., und Paul Rabinow: Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics. Hrsg. 2. ed. Chicago, Ill: Univ. of Chicago Pr, 1982, S. 208-226, hier S. 209.
2 Vgl. Foucault, Michel. Überwachen Und Strafen: Die Geburt Des Gefängnisses. 14. Aufl. Frankfurt am Main. Suhrkamp, 2013, S38ff.
3 Vgl. Foucault, Michel und Daniel Defert: Analytik der Macht. 1. Aufl., Orig.-Ausg. Frankfurt am Main. Suhrkamp, 2005, S. 170ff.
4 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 210.
5 Vgl. Foucault: Analytik der Macht, S. 243.
6 Vgl. Ebd., S. 212f.
7 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 212.
8 Siehe Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 213.
9 Vgl. Foucault: Analytik der Macht, S. 244ff.
10 Vgl. Foucault: Analytik der Macht, S. 213f.
11 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 214.
12 Vgl. Foucault: Analytik der Macht, S. 248.
13 Vgl. Ebd., S. 249.
14 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 215.
15 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 216.
16 Siehe Foucault: Analytik der Macht, S. 252.
17 Siehe Ebd.
18 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 217.
19 Siehe Foucault: Analytik der Macht, S. 253.
20 Vgl. Foucault: Analytik der Macht, S. 253.
21 Vgl. Ebd., S. 254.
22 Vgl. Foucault: Analytik der Macht, S. 255.
23 Siehe Ebd., S. 256.
24 Vgl. Ebd., S. 256.
25 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 221.
26 Vgl. Foucault: Analytik der Macht, S. 257f.
27 Vgl. Foucault: Afterword by Michel Foucault, S. 222.
28 Siehe Foucault: Analytik der Macht, S. 260.
29 Vgl. Ebd.
30 Siehe Dreyfus, Hubert L., und Rabinow, Paul: Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics. Hrsg. 2. ed. Chicago, Ill: Univ. of Chicago Pr, 1982, S. 134.
31 Siehe Ebd., S. 135.
32 Vgl. Ebd., S. 135.
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